Während die anderen am nächsten Morgen das Lager abbrachen, gingen wir zu fünft bis zu der Stelle an der Piste zurück, wo wir den Hamadryadenbaum gesehen hatten. Von dort bis zu dem mächtigen Stamm war es nur ein kurzer, wenn auch recht unbequemer Weg durch den dichten Dschungel. Ich setzte mich an die Spitze und schnitt mit weiten Schwüngen der Monofil-Sense eine Schneise in das Gestrüpp.
»Er ist noch größer, als es von der Piste aus zu sehen war«, sagte Cahuella. Er hatte rote Wangen und war heute Morgen prächtiger Laune. Am Abend zuvor war ihm das Jagdglück hold gewesen, das bezeugten die vielen Kadaver, die vor der Lichtung hingen. »Wie alt mag er wohl sein?«
»Er stand auf jeden Fall schon vor der Landung da«, sagte Dieterling. »Vielleicht vierhundert Jahre. Für eine genauere Altersbestimmung müssten wir ihn fällen.« Er schlenderte um den Baum herum und klopfte mit den Fingern die Rinde ab.
Gitta und Rodriguez hatten uns begleitet. Sie legten den Kopf in den Nacken, schauten am Stamm empor und blinzelten in das Sonnenlicht, das durch das Blätterdach fiel.
»Mir ist es hier nicht ganz geheuer«, sagte Gitta. »Was ist, wenn…?«
Dieterling antwortete sofort, obwohl ich gedacht hatte, er wäre zu weit weg. »Die Chancen, dass eine zweite Schlange hier vorbeikommt, sind minimal. Besonders, nachdem die letzte Verschmelzung erst vor kurzem erfolgt ist.«
»Sind Sie da sicher?«, fragte Cahuella.
»Sehen Sie doch selbst nach.«
Er war fast auf der anderen Seite angekommen. Wir schlugen uns durch das Unterholz, bis wir bei ihm waren.
Den ersten Forschungsreisenden in jenen unwirklich fernen Jahren vor Beginn des Krieges waren die Hamadryadenbäume ein Rätsel gewesen. Sie waren im Eiltempo durch diesen Teil der Halbinsel gerast, hatten mit großen Augen die immer neuen Wunder dieser fremden Welt bestaunt und sich vorgenommen, irgendwann in Zukunft alles genau zu studieren. Wie Kinder, die ihre Geschenke aufrissen und kaum den Inhalt des einen Pakets zur Kenntnis nahmen, bevor sie sich dem nächsten zuwandten. Es gab einfach zu viel zu sehen.
Wären sie systematischer vorgegangen, dann hätten sie die Bäume entdeckt und festgestellt, dass man sie sofort eingehend untersuchen sollte, anstatt sie einfach auf die ständig wachsende Liste planetarer Anomalien zu setzen. Hätten sie nur ein paar Bäume für einige Jahre unter Beobachtung gestellt, dann wäre das Geheimnis bald gelüftet worden. So wurde das wahre Wesen dieser Bäume erst nach vielen Kriegsjahren erkannt.
Sie waren selten, aber großräumig über die ganze Halbinsel verteilt. Gerade ihre Seltenheit rückte die Bäume schon früh ins Zentrum der Aufmerksamkeit, denn sie unterschieden sich unübersehbar von allen anderen Lebensformen im Wald. Jeder erreichte genau die Höhe des Blätterdachs, aber nicht mehr — vierzig bis fünfzig Meter über dem Waldboden, je nachdem, wie hoch die anderen Pflanzen waren. Jeder hatte die Form eines spiralförmig gedrehten Kerzenleuchters mit breitem Fuß. Oben bildeten sie einen weit ausladenden, flachen Hut von zwanzig bis dreißig Metern Durchmesser, der an einen dunkelgrünen Pilz erinnerte. Dank dieser Pilze waren die Hamadryadenbäume schon den ersten Forschern, die in einem der Shuttles der Santiago den Dschungel überflogen, sofort aufgefallen.
Hin und wieder hatten sie unweit eines Baums eine Lichtung gefunden und waren gelandet, um die Umgebung zu Fuß zu erkunden. Die Biologen unter ihnen hatten sich eifrig bemüht, eine Erklärung für die Form der Bäume oder die seltsam differenzierten Zelltypen zu finden, die an ihrer Oberfläche auftraten und sich strahlenförmig durch das Innere zogen. Klar war nur, dass das Holz im Kern der Bäume tot war und lebendes Gewebe nur in einer vergleichsweise dünnen Außenschicht existierte.
Der Vergleich mit dem spiralförmig gedrehten Kerzenleuchter war bis zu einem bestimmten Punkt durchaus treffend, nur hätte ich eher von einer ungewöhnlich hohen und schmalen Rutschbahn gesprochen, ähnlich dem baufälligen alten Exemplar auf dem verlassenen Rummelplatz in Nueva Iquique, dessen pastellblauer Anstrich mit jedem Sommer etwas mehr abblätterte. Die Grundform des Stammes war eigentlich ein sich verjüngender Zylinder, doch der war bis hinauf zum Gipfel von einem schraubenförmigen Gebilde umwickelt, dessen Windungen sich nicht ganz berührten. Die Spirale war glatt und hatte geometrische braune Muster und grüne Flecken, die glänzten wie gehämmertes Metall. In den Zwischenräumen, wo der Stamm sichtbar wurde, fanden sich oft Spuren einer ähnlichen Struktur, die abgerieben oder vom Baum absorbiert worden war. Vielleicht lagen darunter noch weitere Schichten, aber um solche Feinheiten im Wachstum eines Baumes beurteilen zu können, musste man schon ein erfahrener Dendrologe sein.
Dieterling hatte die Hauptspirale um den Baum identifiziert. Am Fuß, genau dort, wo sie eigentlich wie eine Wurzel in den Boden münden sollte, war ein großes Loch.
Er zeigte es mir. »Das Ding ist fast bis oben hin hohl, Bruder.«
»Und das heißt?«, fragte Rodriguez. Er konnte zwar mit dem Jungtier umgehen, verstand aber nicht viel vom biologischen Zyklus der Hamadryaden.
»Das heißt, dass das Nest leer ist«, sagte Cahuella. »Die Jungtiere sind bereits geschlüpft.«
»Sie fressen sich durch die Mutter nach draußen«, erklärte ich. Wir wussten immer noch nicht, ob es bei den Hamadryaden verschiedene Geschlechter gab, es war also durchaus möglich, dass sie sich auch durch den Vater gefressen hatten — oder durch keinen von beiden. Wenn der Krieg erst vorbei war, konnten sich Tausende von Wissenschaftlern mit der Erforschung der Hamadryaden-Biologie ihre akademischen Sporen verdienen.
»Wie groß wären die Jungen wohl gewesen?«, fragte Gitta.
»So wie unser Jungtier«, sagte ich und trat mit dem Fuß gegen das Loch am Fuß der Spirale. »Vielleicht eine Spur kleiner. Jedenfalls möchte man ihnen nicht ohne schwere Artillerie über den Weg laufen.«
»Ich dachte, sie wären zu langsam, um eine Gefahr darzustellen.«
»Das sind die Präadulten«, sagte Dieterling. »Und selbst vor denen könnte man nicht unbedingt davonlaufen — nicht, wenn das Unterholz so dicht ist wie hier.«
»Würden sie uns fressen wollen — ich meine, könnten sie uns überhaupt als Nahrung erkennen?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Dieterling. »Aber das ist nicht unbedingt ein Trost, wenn so ein Ungeheuer über einen weg kriecht.«
»Nicht übertreiben«, mahnte Cahuella und legte den Arm um Gitta. »Sie sind wie alle wilden Tiere — nur dann gefährlich, wenn man nicht weiß, was man tut. Und wir wissen das, nicht wahr?«
Hinter uns brach etwas durch das Unterholz. Erschrocken fuhren wir herum, halb darauf gefasst, den augenlosen Schädel einer Präadulten durch den Dschungel auf uns zukommen zu sehen wie einen Güterzug, der langsam und unerbittlich eine Nebelwand teilte.
Doch wir sahen nur Doktor Vicuna.
Der Doktor hatte keine Anstalten gemacht, uns zu folgen, als wir das Lager verließen. Nun fragte ich mich, was ihn wohl umgestimmt haben mochte. Was nicht hieß, dass ich von der Gesellschaft des Vampirs allzu begeistert gewesen wäre.
»Was gibt’s, Doktor?«
»Mir wurde es zu langweilig, Cahuella.« Der Doktor stieg wie ein Storch durch das niedergemähte Unterholz. Seine Kleidung war wie immer makellos, während die unsere nach einiger Zeit in der Wildnis unweigerlich jede Menge Flecken und Risse aufwies. Seine knielange, graubraune Feldjacke stand vorne offen. Um seinen Hals hing eine zierliche Bildverstärkerbrille. Mit seinen Schmachtlocken sah er aus wie ein schmieriger, magersüchtiger Cherub. »Aha, da ist ja unser Baum!«
Ich trat beiseite, um ihn durchzulassen. Die Hand, mit der ich die Monofil-Sense hielt, wurde feucht, als ich mir ausmalte, was mit dem Vampir geschähe, wenn ich versehentlich den Bogen etwas vergrößerte und ihn erfasste. Auch wenn er dabei Todesqualen litte, wäre das wohl kein Ausgleich für all die Schmerzen, die er in seiner Laufbahn anderen zugefügt hatte.
»Ziemlich großes Exemplar, nicht wahr?«, sagte Cahuella.
»Die letzte Verschmelzung fand wahrscheinlich erst vor ein paar Wochen statt«, ergänzte Dieterling. Er stand dem Vampir ebenso unbefangen gegenüber wie sein Herr. »Sehen Sie sich den Zelltypgradienten an.«
Der Doktor schlenderte näher, um Dieterlings Rat zu folgen.
Dieterling hatte aus der Hüfttasche seiner Jagdjacke ein schmales graues Gerät geholt. Es war ein Ultra-Produkt, etwa so groß wie eine Hand, ausgestattet mit einem Bildschirm und einigen Tasten mit rätselhaften Aufschriften. Dieterling berührte mit einer Seite des Geräts die Spirale und drückte dabei auf einen Knopf. Stark vergrößerte Zellen in unterschiedlichen Blautönen erschienen auf dem Bildschirm, verschwommene zylindrische Formen, willkürlich übereinander geschichtet wie Leichensäcke in der Pathologie.
»Im Wesentlichen sind es Epithelzellen«, erklärte Dieterling und strich mit dem Finger über das Bild. »Man beachte die weiche Lipidstruktur der Zellmembran — sehr charakteristisch.«
»Wofür?«, fragte Gitta.
»Für ein Tier. Eine Probe Ihres Lebergewebes sähe nicht sehr viel anders aus.«
Er fuhr mit dem Gerät über einen anderen Teil der Spirale, etwas näher am Stamm. »Und jetzt sehen Sie sich das an. Vollkommen andere Zellen — viel regelmäßiger angeordnet, geometrische Grenzflächen, die ineinander greifen und damit für die Festigkeit der Struktur sorgen. Die Zellmembran ist von einer zusätzlichen Schicht umgeben, sehen Sie? Das ist im Grunde nur Zellulose.« Er drückte eine andere Taste, die Zellen wurden durchsichtig und füllten sich mit Phantomformen. »Sehen Sie diese kapselartigen Organellen? Das sind naszierende Chloroplasten. Und diese Labyrinthstrukturen sind Teil des endoplasmatischen Retikulums. Das alles sind definitiv Merkmale von Pflanzenzellen.«
Gitta berührte die Rinde an der Stelle, wo Dieterling seinen ersten Scan durchgeführt hatte. »Der Baum ist also hier mehr wie ein Tier und — hier — mehr wie eine Pflanze?«
»Natürlich ist ein morphologischer Gradient vorhanden. Die Zellen im Stamm sind reine Pflanzenzellen — ein Xylem-Zylinder um einen Kern aus alter Pflanzenmasse. Wenn die Schlange sich um den Baum windet, ihn umschlingt, ist sie noch ein Tier. Aber wo sie mit dem Stamm in Berührung kommt, verändern sich ihre Zellen. Wir wissen nicht, wodurch das geschieht — ob der Auslöseimpuls aus dem schlangeneigenen Lymphsystem kommt oder ob der Baum selbst das chemische Signal zur Einleitung der Verschmelzung gibt.« Dieterling zeigte auf die Stellen, wo die Spirale nahtlos in den Stamm überging. »Der Prozess der Homogenisierung der Zellen dürfte sich über mehrere Tage hingezogen haben. Als er abgeschlossen war, hatte sich die Schlange untrennbar mit dem Baum verbunden — sie war zu einem Teil von ihm geworden. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Schlange immer noch zum größten Teil ein Tier.«
»Was geschieht mit ihrem Gehirn?«, fragte Gitta.
»Das braucht sie nicht mehr. Sie braucht, offen gestanden, nicht einmal ein Nervensystem, das wir als solches erkennen würden.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Dieterling lächelte sie an. »Das Gehirn der Mutter ist das Erste, was die Jungen fressen.«
»Sie fressen ihre eigene Mutter?«, fragte Gitta entsetzt.
Die Schlangen vereinigten sich mit den Wirtsbäumen und wurden selbst zu Pflanzen. Das war nur möglich, wenn sie sich im präadulten Stadium befanden, groß genug, um sich vom Boden bis zum Blätterdach um den Baum zu wickeln. Zu diesem Zeitpunkt entwickelten sich im Schoß oder dem entsprechenden Organ der Geschöpfe bereits die jungen Hamadryaden.
Unser Wirtsbaum hatte höchstwahrscheinlich schon mehrere Verschmelzungen erlebt. Vielleicht war der ursprüngliche echte Baum längst verrottet, und nur noch die Schlingen der toten Hamadryaden waren übrig geblieben. Aber man musste davon ausgehen, dass die letzte Schlange, die sich an den Baum geheftet hatte, theoretisch noch am Leben war, denn sie hatte ihre photosynthetische Haube über dem Stamm weit ausgebreitet und trank damit das Sonnenlicht. Niemand wusste, wie lange die Geschöpfe in diesem letzten, hirnlosen Pflanzenstadium überleben konnten. Bekannt war nur, dass früher oder später die nächste Präadulte kommen und den Baum mit Beschlag belegen würde. Sie würde am Stamm hinauf kriechen, mit dem Kopf die Haube ihrer Vorgängerin durchstoßen und die eigene Haube darüber breiten. Ohne Sonnenlicht schrumpfte die untere Haube bald zusammen. Die neue Schlange verschmolz mit dem Baum und wurde fast gänzlich zur Pflanze. Der kleine Rest an tierischem Gewebe diente den Jungen, die wenige Monate später geboren wurden, als Nahrung. Irgendwann veranlasste sie ein chemischer Impuls, sich aus dem Schoß zu fressen und ihre Mutter zu verspeisen. Nachdem sie das Gehirn vertilgt hatten, arbeiteten sie sich durch die Spiralen nach unten, bis sie endlich als voll ausgebildete, räuberische Jung-Hamadryaden auf dem Boden ankamen.
»Du hältst das für abscheulich«, sagte Cahuella, der Gittas Gedanken mühelos erriet. »Aber bei terrestrischen Tieren gibt es Lebenszyklen, die wir ebenso abstoßend finden, vielleicht sogar noch schlimmer. Eine soziale Spinne in Australien wird zu einer breiigen Masse, während ihre Jungen zur Reife gelangen.
Die Evolution kümmert sich nicht weiter um das Schicksal ihrer Geschöpfe, sobald sie ihr genetisches Erbe weitergegeben haben. Erwachsene Tiere müssen an sich nur so lange am Leben bleiben, wie es nötig ist, die Jungen aufzuziehen und vor Räubern zu schützen, aber diese Anforderungen gelten für die Hamadryaden nicht. Selbst Jungtiere sind gefährlicher als alle anderen einheimischen Tierarten, das heißt, es gibt nichts, wovor man sie beschützen müsste. Und sie brauchen auch nichts zu lernen, sie haben schon alles im Blut. Also besteht kaum ein Selektionsdruck, der verhindern würde, dass die Erwachsenen sofort nach der Geburt sterben. Und für die Jungen ist es absolut sinnvoll, ihre Mutter zu verschlingen.«
Jetzt musste ich lächeln. »Das klingt ja fast wie Bewunderung.«
»Das stimmt. Eine so reine Form — wer wäre davon nicht entzückt?«
Ich weiß nicht genau, was dann passierte. Ich sah Cahuella an und beobachtete mit halbem Auge Gitta, als Vicuna irgendetwas tat. Doch die erste rasche Bewegung war nicht von Vicuna gekommen, sondern von Rodriguez, meinem eigenen Mann.
Vicuna hatte in seine Jacke gefasst und eine Pistole gezogen.
»Rodriguez«, sagte er. »Treten Sie von diesem Baum zurück.«
Ich hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde, aber jetzt sah ich, dass auch Rodriguez die Hand in der Tasche hatte, als wollte er nach etwas greifen. Vicuna bewegte auffordernd seine Pistole hin und her.
»Ich sagte, zurücktreten.«
»Doktor«, schaltete ich mich ein, »könnten Sie mir erklären, warum Sie einen von meinen Männern bedrohen?«
»Gerne, Mirabel. Sobald ich mit ihm fertig bin.«
Rodriguez starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, als verstünde er die Welt nicht mehr. »Tanner, ich weiß nicht, was er von mir will. Ich wollte nur einen Konzentratriegel…«
Ich musterte erst ihn und dann den Vampir.
»Nun, Doktor?«
»Er hat keine Konzentratriegel in dieser Tasche. Er wollte eine Waffe ziehen.«
Es ergab keinen Sinn. Rodriguez war bereits bewaffnet — er hatte sich, genau wie Cahuella, ein Jagdgewehr über die Schulter gehängt.
Wie erstarrt sahen die beiden sich an.
Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich nickte Cahuella zu. »Überlassen Sie das mir. Sie ziehen sich mit Gitta zurück, bevor Sie womöglich noch in die Schusslinie geraten. Wir treffen uns im Lager.«
»Ja!«, zischte Vicuna. »Verschwinden Sie, bevor Rodriguez Sie tötet.«
Cahuella nahm den Arm seiner Frau und trat zögernd den Rückzug an. »Ist das Ihr Ernst, Doktor?«
»Mir scheint es schon so«, murmelte Dieterling. Er hatte sich bereits aus der Gefahrenzone gebracht.
»Nun?«, fragte ich in Richtung des Vampirs.
Vicunas Hand zitterte. Er war kein Revolverheld — aber man brauchte nicht einmal ein sonderlich guter Schütze zu sein, um Rodriguez auf diese Entfernung abzuknallen. Er zwang sich zur Ruhe und sagte ganz langsam: »Rodriguez ist ein Hochstapler, Tanner. Das wurde mir vom Reptilienhaus durchgegeben, während Sie hier waren.«
Rodriguez schüttelte den Kopf. »Das brauche ich mir nicht anzuhören!«
Es war durchaus möglich, dass der Doktor in unserer Abwesenheit eine Nachricht vom Reptilienhaus bekommen hatte. Normalerweise legte ich mir ein Kom-Armband um, wenn ich das Camp verließ, aber heute Morgen hatte ich das in der Eile vergessen. Wenn also jemand vom Haus aus hätte anrufen wollen, hätte er nur das Camp erreicht.
Ich wandte mich an Rodriguez. »Dann nimm jetzt ganz langsam die Hand aus der Tasche.«
»Sag nicht, dass du dem Bastard glaubst!«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber wenn du die ‘ Wahrheit sagst, ist da nur ein Konzentratriegel drin.«
»Tanner, das ist…«
Ich hob die Stimme. »Verdammt, nun mach schon!«
»Vorsicht!«, zischte Vicuna.
Rodriguez zog majestätisch langsam die Hand aus der Tasche und schaute dabei die ganze Zeit zwischen mir und Vicuna hin und her. Zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger kam ein kleiner, schwarzer Gegenstand zum Vorschein. Im ewigen Halbdunkel unter den Bäumen hätte man das Ding tatsächlich für einen Konzentratriegel halten können. Und im ersten Moment glaubte ich das auch.
Doch dann sah ich, dass es eine Waffe war; eine kleine, elegante, tödliche Pistole. Eine Pistole für einen Berufskiller.
Vicuna feuerte. Vielleicht hatte ich unterschätzt, wie gut man schießen musste, um einen anderen selbst aus so geringer Entfernung kampfunfähig zu machen, jedenfalls traf der Doktor Rodriguez nur in die Schulter des anderen Arms. Rodriguez stöhnte kurz auf und taumelte nach hinten, aber das war alles. Dann blitzte seine Pistole auf, und der Doktor fiel rücklings ins trockene Gras.
Am Rand der Lichtung nahm Cahuella sein Gewehr von der Schulter und machte sich zum Schuss bereit.
»Nein!«, wollte ich schreien. Ich wollte, dass mein Herr sich in Sicherheit brachte, dass er sich so weit wie möglich von Rodriguez entfernte, aber — ich begriff es zu spät — Cahuella war kein Mensch, der vor einem Kampf davonlief, auch wenn er dabei sein Leben aufs Spiel setzte.
Gitta schrie ihrem Mann zu, er solle ihr folgen.
Rodriguez richtete die Pistole auf Cahuella, feuerte…
Und schoss daneben. Seine Kugel fuhr in die Rinde eines Baums.
Ich gab mir alle Mühe, den Sinn des Geschehens zu erfassen, aber zum Nachdenken war keine Zeit. Vicuna schien Recht zu behalten. Alles, was Rodriguez in den letzten Sekunden getan hatte, bestätigte die Anschuldigung des Vampirs… und das hieß, Rodriguez war — was?
Ein Hochstapler?
»Das ist für Argent Reivich«, sagte Rodriguez und zielte wieder.
Ich wusste, diesmal würde er treffen.
Ich hob die Monofil-Sense und fuhr mit einem Fingerdruck den unsichtbar dünnen, piezoelektrisch versteiften Schneidefaden zu voller Länge aus: vor mir erstreckte sich eine fünfzehn Meter lange, hyperstarre, monomolekulare Leine.
Rodriguez sah aus dem Augenwinkel, was ich vorhatte, und beging den einen Fehler, der zeigte, dass er kein professioneller Killer war, sondern nur ein Amateur.
Er zögerte.
Ich schwenkte die Sense durch ihn hindurch.
Als ihm dämmerte, was geschehen war — er konnte noch keinen Schmerz gespürt haben, denn es war ein chirurgisch sauberer Schnitt —, ließ er die Pistole fallen. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich schon, einen ebenso gravierenden Fehler begangen zu haben wie er mit seinem Zögern, ich fürchtete, ich hätte den unsichtbaren Sensenfaden nicht ganz so weit ausgefahren, wie ich dachte.
Doch ich hatte keinen Fehler gemacht.
Rodriguez fiel zu Boden — in zwei Teilen.
»Er ist tot«, sagte Dieterling. Wir waren wieder im Lager, in dem einen Zelt, dem man die Luft noch nicht abgelassen hatte. Seit dem Zwischenfall am Baum waren drei Stunden vergangen, und nun beugte sich Dieterling über die Leiche von Doktor Vicuna. »Wenn ich wenigstens verstanden hätte, wie seine Instrumente funktionieren…« Dieterling hatte einen ganzen Haufen der hochentwickelten chirurgischen Spielzeuge des Vampirs neben sich aufgeschichtet, aber sie hatten ihm ihre Geheimnisse nicht verraten. Mit der Ausrüstung aus unserer Reiseapotheke hatten wir gegen die Schusswunde aus Rodriguez’ Waffe nichts ausrichten können, aber wir hatten gehofft, mit dem — für Unsummen von Ultra-Händlern erworbenen — Zauberkasten des Doktors würden wir es schaffen. In den richtigen Händen hätten die Instrumente vielleicht wirklich Wunder gewirkt — aber der einzige Mann, der wusste, wie man sie dazu bringen konnte, war ausgerechnet der, der sie jetzt am dringendsten benötigt hätte.
»Du hast dein Bestes getan«, sagte ich und legte Dieterling die Hand auf die Schulter.
Cahuella schaute mit uns auf Vicunas Leichnam hinab, ohne seine Wut zu verbergen. »Typisch, dass uns der Bastard einfach wegstirbt, wenn wir ihn am nötigsten brauchen. Wie, zum Teufel, soll einer von uns einer Schlange diese Implantate einsetzen?«
»Vielleicht hat der Schlangenfang jetzt nicht mehr absolut oberste Priorität«, bemerkte ich.
»Glauben Sie, das weiß ich nicht, Tanner?«
»Dann benehmen Sie sich entsprechend.« Er funkelte mich für diese aufsässige Bemerkung wütend an, doch ich ließ mich nicht einschüchtern. »Ich konnte Vicuna nicht leiden, aber er hat für Sie sein Leben riskiert.«
»Und wer, verdammt noch mal, hat es zu verantworten, dass Rodriguez ein Hochstapler war? Ich dachte, Sie würden Ihre Leute gründlich überprüfen, Mirabel.«
»Ich habe ihn überprüft«, sagte ich.
»Und das heißt?«
»Das heißt, dass der Mann, den ich getötet habe, nicht Rodriguez gewesen sein kann. Dieser Meinung war übrigens auch Vicuna.«
Cahuella sah mich an wie ein Stück Dreck, das an seiner Schuhsohle klebte, dann stürmte er hinaus und ließ mich mit Dieterling allein.
»Ich hoffe nur«, sagte der, »du hast wenigstens eine Vorstellung, was da draußen passiert ist, Tanner.« Er zog ein Laken über den toten Vicuna und sammelte die blitzenden Chirurgeninstrumente ein.
»Nein. Noch nicht. Es war Rodriguez… wenigstens sah er so aus.«
»Versuch doch noch einmal, im Reptilienhaus anzurufen.«
Er hatte Recht; seit meinem letzten Versuch war eine Stunde vergangen, und damals war ich nicht durchgekommen. Der Satellitengürtel um Sky’s Edge war von jeher unzuverlässig gewesen. Andauernd wurde er von militärischen Sendern gestört, und ständig fielen aus unerfindlichen Gründen einzelne Elemente aus und gingen wieder ans Netz, wenn es den anderen Parteien in ihre ruchlosen Pläne passte.
Doch diesmal klappte die Verbindung.
»Tanner? Alles klar bei euch?«
»Mehr oder weniger.« Über unsere Verluste würde ich später berichten; jetzt musste ich wissen, was man Doktor Vicuna gesagt hatte. »Was hattest du uns da für eine Warnung über Rodriguez zukommen lassen?«
Der Mann am anderen Ende der Leitung hieß Southey; ich kannte ihn seit Jahren. Aber so aus dem Häuschen hatte ich ihn noch nie erlebt. »Tanner, ich hoffe zu Gott… wir haben selbst eine Warnung bekommen, von einem von Cahuellas Verbündeten. Einen Tipp über Rodriguez.«
»Weiter.«
»Rodriguez ist tot! Man hat seinen Leichnam in Nueva Santiago gefunden. Man hatte ihn ermordet und dann irgendwo abgeladen.«
»Bist du sicher, dass er es war?«
»Wir haben seine DNA registriert. Unser Kontaktmann in Santiago hat die Leiche analysiert — völlige Übereinstimmung.«
»Dann muss der Rodriguez, der aus Santiago zurückkam, ein anderer gewesen sein — das wolltest du doch sagen?«
»Ja. Aber wir denken nicht an einen Klon, sondern an einen Killer. Man hat ihm wohl mit plastischer Chirurgie das Aussehen von Rodriguez verpasst; sogar seine Stimme und sein Geruch wurden entsprechend verändert.«
Ich überlegte eine Weile, dann sagte ich: »Auf Sky’s Edge gibt es niemanden, der dazu imstande wäre. Schon gar nicht in den paar Tagen, während Rodriguez nicht im Reptilienhaus war.«
»Nein, das denke ich auch. Aber die Ultras hätten die Möglichkeiten dazu.«
Das wusste ich auch. Schließlich hatte uns Orcagna praktisch mit der Nase auf seine technische Überlegenheit gestoßen. »Aber die kosmetische Anpassung hätte nicht genügt«, sagte ich.
»Was soll das heißen?«
»Rodriguez — der falsche Rodriguez — benahm sich immer noch so wie er selbst. Er wusste Dinge, die eigentlich nur Rodriguez wissen konnte. Ich bin mir da ganz sicher — ich habe in den letzten Tagen oft mit ihm gesprochen.« Wenn ich im Rückblick über diese Gespräche nachdachte, war mir Rodriguez zwar gelegentlich ausgewichen, aber offenbar nicht so auffallend, dass ich misstrauisch geworden wäre. Es gab immer noch genügend Themen, über die er sich bereitwillig mit mir unterhielt.
»Also haben sie auch seine Erinnerungen mit einbezogen.«
»Du meinst, sie haben Rodriguez getrawlt?«
Southey nickte. »Es müssen Fachleute gewesen sein, denn es gab keine Anzeichen dafür, dass ihn der Trawl getötet hätte. Aber es waren schließlich Ultras.«
»Und du glaubst, sie hätten auch ein Verfahren, um die abgefischten Erinnerungen ihrem Killer einzupflanzen?«
»Ich habe gehört, dass es so etwas gibt«, sagte Southey. »Winzige Maschinchen, die im Gehirn des Opfers ausschwärmen und neue Nervenverbindungen anlegen. Eidetische Prägung nennt man das. Die NK hat das Verfahren zu Ausbildungszwecken getestet, aber es hat nie richtig funktioniert. Wenn allerdings die Ultras die Hand im Spiel hatten…«
»Wäre es ein Kinderspiel gewesen. Aber nicht genug damit, dass der Mann Zugriff auf Rodriguez’ Erinnerungen hatte — es ging noch tiefer. Irgendwie wurde er mit der Zeit selbst zu Rodriguez.«
»Vielleicht war er deshalb so überzeugend. Die neuen Erinnerungsstrukturen wären allerdings nicht sehr stabil gewesen — die eigene Persönlichkeit des Killers hätte früher oder später durchgeschlagen. Doch bis dahin hätte Rodriguez längst dein Vertrauen gewonnen.«
Southey hatte Recht: erst in den letzten ein bis zwei Tagen hatte ich mehr als sonst den Eindruck gehabt, Rodriguez weiche mir aus. Hatte der Killer das Stadium erreicht, in dem sein verschüttetes Bewusstsein anfing, durch die Schicht der aufgesetzten Erinnerungen zu sickern?
»Er war recht erfolgreich«, sagte ich. »Wenn uns Vicuna nicht gewarnt hätte…« Ich erzählte ihm, was an dem Baum geschehen war.
»Bringt die Leichen mit zurück«, sagte Southey. »Ich möchte sehen, wie gut sie ihren Mann wirklich getarnt haben — ob es nur Kosmetik war, oder ob sie sich auch an seiner DNA zu schaffen gemacht haben.«
»Du glaubst, sie hätten so viel Aufwand betrieben?«
»Das ist der springende Punkt, Tanner. Wenn sie sich an die richtigen Leute gewandt hätten, wäre der Aufwand gar nicht so groß gewesen.«
»Meines Wissens befindet sich im Augenblick nur eine Ultra-Gruppe im Orbit.«
»Richtig. Ich bin ziemlich sicher, dass Orcagnas Leute beteiligt waren. Du hast sie kennen gelernt, nicht wahr? Würdest du sie als vertrauenswürdig bezeichnen?«
»Es waren Ultras«, sagte ich, als sei das Antwort genug. »Für mich waren sie nicht so leicht zu durchschauen wie die Leute, mit denen Cahuella sonst Kontakte pflegte. Das muss aber nicht zwangsläufig heißen, dass sie uns verraten würden.«
»Was hätten sie denn zu gewinnen, wenn sie uns nicht verrieten?«
Das, so fiel mir jetzt auf, war die eine Frage, die ich mir nie gestellt hatte. Ich hatte den Fehler gemacht, Orcagna wie irgendeinen gewöhnlichen Geschäftsfreund von Cahuella zu behandeln — wie jemanden, der auch in Zukunft an guten Beziehungen zu ihm interessiert wäre. Wenn aber Orcagna und seine Besatzung nun gar nicht die Absicht hätten, in den nächsten Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten nach Sky’s Edge zurückzukehren? Dann könnten sie ungestraft alle Brücken hinter sich verbrennen.
»Vielleicht wusste Orcagna gar nicht, dass der Killer auf uns angesetzt werden sollte«, sagte ich. »Irgendein Verbündeter von Reivich präsentierte ihm einfach einen Mann, und gab ihm den Auftrag, sein Aussehen zu verändern; und einen zweiten, dessen Erinnerungen auf den ersten übertragen werden sollten…«
»Und du glaubst, Orcagna hätte das alles fraglos hingenommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, aber das Szenario überzeugte mich auch nicht so ganz.
Southey seufzte. Ich wusste, was er dachte. Das Gleiche wie ich. »Tanner, ich glaube, von jetzt an brauchen wir eine Menge Fingerspitzengefühl.«
»Zumindest ein Gutes hat die Geschichte«, sagte ich. »Nach dem Tod des Doktors muss Cahuella seine Schlangenjagd aufgeben. Auch wenn es ihm selbst noch nicht ganz klar ist.«
Southey rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Wir haben die neue Grube bereits zur Hälfte ausgehoben.«
»Ich würde an eurer Stelle keine Überstunden einlegen, um sie bis zu unserer Rückkehr fertig zu haben.« Ich hielt inne und sah auf die Karte mit dem blinkenden Punkt, der Reivichs Vormarsch anzeigte. »Wir werden noch eine Nacht im Dschungel verbringen, etwa sechzig Kilometer nördlich von hier. Morgen machen wir uns auf den Heimweg.«
»Dann ist heute die Nacht der Nächte?«
Nachdem Rodriguez und der Doktor tot waren, wären wir bei dem geplanten Hinterhalt zahlenmäßig in der Minderheit. Aber wir hätten immer noch genug Leute, um einen Sieg beinahe garantieren zu können.
»Morgen früh. Reivich müsste uns zwei Stunden vor Mittag in die Falle laufen, wenn er sein Tempo beibehält.«
»Viel Glück, Tanner.«
Ich nickte und unterbrach die Verbindung zum Reptilienhaus. Draußen suchte ich Cahuella und berichtete ihm, was ich von Southey erfahren hatte. Cahuella hatte sich seit unserem letzten Gespräch ein wenig beruhigt. Ringsum waren seine Männer damit beschäftigt, den Rest des Lagers abzubrechen. Er selbst schnallte sich einen Patronengurt aus schwarzem Leder mit zahlreichen kleinen Fächern für Patronen, Magazine, Energiezellen und anderes Zubehör um, der ihm von der Schulter bis zur Taille reichte.
»Das bringen sie also inzwischen auch fertig? Übertragung von Erinnerungen?«
»Ich weiß nicht, wie dauerhaft die Sache gewesen wäre, aber — ja — ich bin einigermaßen sicher, sie hätten Rodriguez so trawlen können, dass Reivichs Mann über genügend Wissen verfügte, um bei uns keinen Verdacht zu erregen. Dass sie sein Aussehen so überzeugend verändern konnten, erstaunt Sie weniger?«
Darauf wollte er offenbar nicht sofort antworten. »Ich weiß, dass sie… alles mögliche verändern können, Tanner.«
Manchmal glaubte ich, Cahuella so gut zu kennen wie niemanden sonst; manchmal standen wir uns so nahe wie zwei Brüder. Ich wusste, dass er grausam sein konnte und dass er bei seinen Grausamkeiten instinktiv mehr Phantasie entwickelte, als ich jemals aufgebracht hätte. Ich musste mich in der Grausamkeit üben wie ein fleißiger Musiker, dem die angeborene Virtuosität des Genies fehlte. Aber wir sahen die Welt aus einem ähnlichen Blickwinkel, waren ähnlich misstrauisch gegenüber anderen Menschen und besaßen die gleiche Begabung für den Umgang mit Waffen. Doch es gab auch Momente, wie eben jetzt, da war mir Cahuella vollkommen fremd; da spürte ich, dass er unzählige Geheimnisse hatte, die er niemals mit mir teilen würde. Ich dachte an das Gespräch mit Gitta am Abend zuvor; an ihre Unterstellung, ich kenne von ihm nur die Spitze des Eisbergs.
Eine Stunde später waren wir unterwegs. Die beiden Leichen — Vicuna und den zweigeteilten Rodriguez — hatten wir in Kühlsärgen im letzten Fahrzeug verstaut. Bisher hatten wir die Hartschalensärge als Vorratsbehälter benutzt. Natürlich hatte unser Jagdausflug viel von seiner Ferienstimmung eingebüßt. Ich hatte davon, ganz im Gegensatz zu Cahuella, ohnehin nie viel gespürt. Nun sah ich, wie sich seine Nackenmuskeln verkrampften, während er angestrengt die Piste entlang spähte. Reivich war uns einen Schritt voraus gewesen.
Später, als wir anhielten, um eine Turbine zu reparieren, sagte er: »Tut mir Leid, dass ich Ihnen Vorwürfe gemacht habe, Tanner.«
»Ich hätte nicht anders reagiert.«
»Aber darum geht es doch nicht, oder? Sie sind für mich wie ein Bruder. Ich habe Ihnen vertraut und tue es noch immer. Sie haben uns alle gerettet, als Sie Rodriguez töteten.«
Etwas Grünes mit ledrigen Schwingen flatterte über die Straße. »Ich möchte diesen Betrüger nicht mit Rodriguez gleichsetzen. Rodriguez war ein guter Mann.«
»Natürlich… das war nur verbale Stenographie. Sie… hm… glauben doch nicht, dass es noch mehr von der Sorte geben könnte, wie?«
Ich hatte mir darüber einige Gedanken gemacht. »Wir können es nicht ausschließen, aber ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich. Rodriguez war von einer Reise zurückgekehrt, während von den anderen Expeditionsteilnehmern keiner das Reptilienhaus in den letzten Wochen verlassen hatte — abgesehen von Ihnen und mir natürlich, als wir Orcagna besuchten. Aber uns beide können wir wohl von der Liste der Verdächtigen streichen. Vicuna wäre eine Möglichkeit gewesen, aber er hat sich selbst überzeugend rehabilitiert.«
»Schön. Noch etwas.« Er hielt inne und warf einen wachsamen Blick auf seine Männer, die nicht allzu professionell unter einer Motorhaube herumhämmerten. »Halten Sie es für möglich, dass es Reivich selbst gewesen sein könnte?«
»In Gestalt von Rodriguez?«
Cahuella nickte. »Er hat gesagt, er will mich eigenhändig erledigen.«
»Schon… aber ich nehme an, er ist beim Haupttrupp geblieben. Das hatte uns auch Orcagna gesagt. Der Hochstapler könnte sogar geplant haben, den Kopf einzuziehen und seine Tarnung so lange aufrecht zu erhalten, bis der Rest des Trupps eintraf.«
»Trotzdem hätte er es sein können.«
»Ich glaube es nicht; sonst müssten die Ultras noch geschickter sein als wir dachten. Reivich und Rodriguez waren schon von der Größe her sehr unterschiedlich. Ich kann mir vorstellen, dass sie sein Gesicht verändert haben, aber wann hätten sie Zeit gefunden, auch Skelett und Muskulatur umzugestalten — und das in wenigen Tagen? Obendrein hätten sie sein Körpergefühl an die neuen Dimensionen anpassen müssen, damit er nicht ständig gegen irgendeine Decke stieß. Nein; der Killer muss ähnlich gebaut gewesen sein wie Rodriguez.«
»Aber könnte es nicht sein, dass er Reivich eine Warnung zukommen ließ?«
»Das wäre denkbar — aber wenn, dann richtet sich Reivich nicht danach. Die Waffensignaturen kommen nach wie vor mit normaler Geschwindigkeit auf uns zu.«
»Dann hat sich — im Grunde — nichts geändert?«
»Im Grunde nicht«, sagte ich, aber davon waren wir beide nicht so richtig überzeugt.
Wenig später hatten Cahuellas Männer die Turbine wieder zum Singen gebracht, und wir fuhren weiter. Ich hatte die Sicherheitsvorkehrungen für diese Expedition immer sehr ernst genommen, doch jetzt verdoppelte ich meine Anstrengungen und überdachte alle meine Strategien noch einmal. Niemand sollte unbewaffnet das Camp verlassen, und niemand sollte allein gehen — mit Ausnahme von Cahuella natürlich, der sich seine nächtlichen Streifzüge sicher nicht verbieten ließe.
Das Lager, das wir für die Nacht aufschlugen, sollte auch der Stützpunkt für den Hinterhalt sein, deshalb beschloss ich, noch mehr Sorgfalt als gewöhnlich auf die Wahl eines geeigneten Standorts für die aufblasbaren Zelte zu verwenden. Das Lager durfte kaum zu sehen sein, musste aber doch so nahe an der Piste liegen, dass wir Reivichs Trupp überfallen konnten, wenn er kam. Ich wollte auch nicht allzu weit von unseren Munitionsvorräten entfernt sein, und das hieß, die Zelte durften nicht tiefer als fünfzig bis sechzig Meter im Dschungel stehen. Vor Einbruch der Dunkelheit würden wir mit der Sense Schneisen in den Wald schlagen, um freies Schussfeld zu haben, und Rückzugswege anlegen, für den Fall, dass Reivichs Männer mit schwerem Gegenfeuer antworteten. Wenn dann noch Zeit blieb, sollten wir außerdem entlang von anderen, deutlich sichtbaren Gassen Todesfallen anbringen oder Minen legen.
Ich zeichnete mir im Geiste eine Karte und war gerade dabei, sie mit einem Netz von Todeslinien zu überziehen, als die Schlange unseren Weg kreuzte.
Ich hatte nicht mehr mit voller Konzentration auf die Straße geachtet, deshalb war Cahuellas lautes: »Stopp!« für mich die erste Warnung vor der Gefahr.
Die Turbinen wurden abgeschaltet; unsere Fahrzeuge sanken zu Boden.
Zwei- oder dreihundert Meter vor uns machte die Piste eine Biegung, und genau dort hatte eine Hamadryade den Kopf durch den Blättervorhang gesteckt, der den Dschungel zur Fahrbahn hin abgrenzte. Unter den olivbraunen Falten der photosensitiven Haube, die sie wie den Nackenschild einer Kobra einziehen konnte, war der Kopf von einem widerlich fahlen Grün. Die Schlange kam von rechts und wollte nach links; zum Meer.
»Präadult«, stellte Dieterling fest, als betrachtete er ein Insekt, das an der Windschutzscheibe klebte.
Der Kopf war fast so groß wie eins von unseren Fahrzeugen. Dahinter kamen die ersten Meter des Schlangenkörpers. Er hatte das gleiche Muster wie die Spirale um den Hamadryadenbaum — sehr schlangenähnlich.
»Wie lang schätzt du sie?«, fragte ich.
»Dreißig bis fünfunddreißig Meter. Nicht die größte, die ich je gesehen habe — das war wohl die Sechzig-Meter-Schlange damals 71 —, aber auch kein Jungtier. Wenn sie einen Baum findet, der bis zum Blätterdach reicht und nicht viel höher ist als sie selbst, leitet sie wahrscheinlich die Verschmelzung ein.«
Der Kopf hatte die andere Seite der Piste erreicht. Die Schlange kroch langsam an uns vorbei.
»Fahren Sie näher heran«, befahl Cahuella.
»Warten Sie«, sagte ich. »Wollen Sie das wirklich? Hier sind wir in Sicherheit. Sie ist doch gleich vorbei. Ich weiß, die Tiere haben keinen tief verwurzelten Verteidigungsinstinkt, aber sie könnte trotzdem auf die Idee kommen, uns für einen Leckerbissen zu halten. Wollen Sie das tatsächlich riskieren?«
»Ich will näher heran«, beharrte Cahuella.
Ich fuhr die Turbine nur so weit hoch wie nötig, um dem Wagen Auftrieb zu geben, und kroch im Schneckentempo vorwärts. Hamadryaden hatten zwar angeblich kein Gehör, aber seismische Vibrationen waren vielleicht eine andere Sache. Ich fragte mich, ob sich das Trommeln des Luftkissens auf dem Boden für die Schlange nicht genauso anhörte, als käme der erwähnte Leckerbissen näher.
Die Schlange hatte ihren zwei Meter dicken Körper zu einem Bogen gewölbt, der die Piste überspannte. Sie glitt weiter langsam und gleichmäßig dahin und ließ in keiner Weise erkennen, dass sie unsere Gegenwart überhaupt bemerkt hatte. Vielleicht hatte Dieterling Recht. Vielleicht war sie ausschließlich daran interessiert, sich um einen schönen hohen Baum zu wickeln, um endlich das ach so mühsame Geschäft des Denkens und sich Fortbewegens aufgeben zu können.
Jetzt waren wir noch fünfzig Meter entfernt.
»Stopp!«, rief Cahuella.
Diesmal gehorchte ich ohne Widerrede. Als ich mich nach ihm umsehen wollte, sprang er bereits aus dem Wagen. Jetzt konnten wir auch das stete, leise Grollen hören, mit dem sich die Schlange durch das Laubwerk schob. Es klang nicht wie ein Tier, sondern eher wie das unerbittliche Knirschen eines Panzers.
Cahuella tauchte neben dem Fahrzeug wieder auf. Er war nach hinten gegangen, wo die Waffen deponiert waren, und hatte sich seine Armbrust geholt.
»O nein!«, wollte ich sagen, aber es war schon zu spät.
Er legte bereits einen Betäubungspfeil ein. Die Waffe sah auf den ersten Blick wie eine alberne Marotte aus, aber so unsinnig war sie gar nicht. Um eine erwachsene Schlange so zu betäuben wie damals das Jungtier, war eine riesige Menge an Betäubungsmittel erforderlich. Unsere normalen Jagdgewehre waren dafür einfach nicht gebaut. Mit einer Armbrust konnte man dagegen einen sehr viel größeren Pfeil abschießen — und die vermeintlichen Nachteile wie geringere Reichweite und Zielgenauigkeit fielen bei einem Ungetüm von dreißig Metern Länge, das taub und blind war, kaum ins Gewicht.
»Mund halten, Tanner!«, sagte Cahuella. »Ich bin nicht die ganze Strecke gefahren, um unverrichteter Dinge wieder umzukehren, sobald ich einen Bastard wie den da zu Gesicht bekomme.«
»Vicuna ist tot. Das heißt, wir haben niemanden, der die Steuerungselektroden einpflanzen könnte.«
Ich hätte mir die Worte sparen können. Er stiefelte schon, die Armbrust in einer Hand, die Piste hinunter. Das Hemd unter dem Patronengurt war schweißnass, darunter zeichneten sich seine durchtrainierten Rückenmuskeln ab.
»Tanner«, sagte Gitta. »Sie müssen ihn aufhalten, bevor ihm etwas passiert.«
»Er ist nicht wirklich in Gefahr…«, setzte ich an.
Aber das war eine Lüge, und ich wusste es. Möglich, dass er in dieser Entfernung sicherer war als bei einem Jungtier, aber das Verhalten von präadulten Hamadryaden war nur ungenügend erforscht. Fluchend öffnete ich die Tür auf meiner Seite, lief nach hinten, holte mir ein Lasergewehr aus dem Gepäckraum und kontrollierte die Ladung der Energiezellen. Dann trabte ich hinter ihm her. Als Cahuella meine Schritte auf dem weichen Boden hörte, sah er sich ärgerlich um.
»Mirabel! Verdammt, gehen Sie sofort in den Wagen zurück! Ich will nicht, dass mir jemand diesen Abschuss verdirbt!«
»Ich halte Abstand!«, schrie ich.
Der Kopf der Hamadryade war auf der anderen Straßenseite im Wald verschwunden. Der Körper wölbte sich nach wie vor wie eine elegante Brücke über die Piste. Der Lärm wurde immer größer, je näher ich kam. Unter dem Gewicht der Schlange brachen die Äste, und die trockene Haut scheuerte unentwegt gegen die Rinde der Bäume.
Und dann hörte ich noch ein Geräusch — von der gleichen Art, aber aus einer anderen Richtung. Im ersten Moment weigerte sich mein träges Gehirn, die naheliegende Schlussfolgerung zu ziehen, und stellte sich lieber die Frage, wie die Akustik des Dschungels das Geräusch einer Hamadryade so täuschend imitieren konnte. Ich hatte noch keine Antwort gefunden, als zu meiner Rechten die zweite Schlange durch die Bäume brach. Sie bewegte sich ebenso langsam wie die erste, aber sie war sehr viel näher, und dadurch kam mir die Geschwindigkeit von einem halben Meter pro Sekunde sehr viel schneller vor. Sie war kleiner als das andere Exemplar, aber immer noch monströs genug. Und ich erinnerte mich an eine unangenehme Besonderheit der Hamadryaden-Biologie: je kleiner sie waren, desto schneller waren sie auch…
Etliche Meter vor und etliche Meter über mir hielt die Haube mit dem dreieckigen, augenlosen Schlangenkopf an und schwebte am Himmel wie ein bösartiger Flugdrache mit dickem Schwanz.
In all den Jahren als Soldat hatte mich die Angst nie gelähmt. Ich wusste, dass das manchen Menschen passierte, aber ich konnte es nicht nachvollziehen und fragte mich auch, was das für Leute sein mochten. Erst jetzt erfuhr ich am eigenen Leibe, wie es dazu kam. Der Fluchtreflex war dem Einfluss meines Willens nicht völlig entzogen: ein Teil von mir wusste durchaus, dass Wegrennen ebenso gefährlich sein konnte, wie angewurzelt stehen zu bleiben. Die Schlangen waren blind, bis sie ein Ziel gefunden hatten, aber sie hatten einen sehr empfindlichen Infrarot- und Geruchssinn. Das Tier wusste ohne Zweifel, dass ich unter ihm stand, sonst hätte es nicht angehalten.
Ich war ratlos.
Du musst schießen, dachte ich — aber im Rückblick war das Lasergewehr nicht die beste Wahl gewesen. Es konnte der Bestie zwar ein paar bleistiftdünne Löcher durch den Körper bohren, aber das würde sie nicht allzu sehr behindern. Und auf bestimmte Gehirnbereiche zu zielen, war ebenfalls aussichtslos: schon deshalb, weil das Vieh, auch bevor die Jungen nach der Geburt den winzigen Neuronenknoten auffraßen, so gut wie kein Gehirn hatte. Die Sense, mit der ich auf den Betrüger losgegangen war, hätte mir jetzt bessere Dienste geleistet…
»Tanner. Stillhalten! Sie hat sie im Visier.«
Aus dem Augenwinkel — ich wagte nicht, den Kopf zu drehen — sah ich Cahuella geduckt näher kommen. Er hatte die Armbrust an der Schulter und spähte mit einem Auge am Schaft entlang.
»Damit bringen Sie sie allenfalls in Rage«, zischte ich leise.
»Richtig«, flüsterte Cahuella. »Und wie. Die Dosis war auf die erste abgestimmt. Die hier ist nicht mehr als fünfzehn Meter lang… das sind zwölf Prozent des Körpervolumens, das heißt, die Dosis ist um das Achtfache zu stark…« Er blieb stehen und überlegte. »Oder so ähnlich.«
Jetzt war er in Schussweite.
Über mir schwankte der Kopf von einer Seite zur anderen und prüfte den Wind. Vielleicht folgte die Hamadryade der größeren Präadulten und drängte weiter. Aber an einer so vielversprechenden Nahrungsquelle konnte sie nicht achtlos vorüberkriechen. Vielleicht hatte sie seit Monaten nicht mehr gefressen. Dieterling hatte gesagt, vor der Verschmelzung nähmen die Tiere immer eine letzte Mahlzeit zu sich. Vielleicht war diese Schlange noch zu klein, um sich mit einem Baum zu verbinden, aber es gab keinen Grund zu der Annahme, sie wäre nicht hungrig.
So langsam und fließend, wie ich nur konnte, entsicherte ich das Gewehr und spürte die schwache Vibration, mit der sich die Zellen aktivierten. Ein leises, ansteigendes Winseln begleitete den Prozess.
Das Gewehr lockte die Schlange an. Der Kopf senkte sich zu mir herab.
»Die Waffe ist jetzt einsatzbereit«, erklärte das Gewehr munter.
Die Schlange stieß zu, das breite Maul klappte auf, die beiden im roten Gaumendach sitzenden Augen für die Angriffsphase funkelten mich an, nahmen Maß.
Ich schoss — in das Maul hinein.
Der Kopf krachte neben mir zu Boden. Durch die Laserimpulse abgelenkt, hatte er sein Ziel verfehlt. Empört bäumte sich die Bestie auf. Das weit aufgerissene Maul entließ ein entsetzliches Gebrüll und stank wie ein Schlachtfeld voll verwesender Leichen. Ich hatte rasch hintereinander zehn Schüsse abgegeben, eine Blitzsalve, die zehn schwarze Krater in den Gaumen des Tieres gerissen hatte. Die Austrittswunden — jede etwa fingerbreit — hatten den Hinterkopf durchsiebt. Die Schlange war jetzt blind.
Aber sie hatte sich eine ungefähre Erinnerung daran bewahrt, wo ich war. Ich fuhr zurück, als der Kopf ein zweites Mal nach unten schoss — und dann blitzte es metallisch auf, und ich hörte das Schwirren von Cahuellas Armbrust.
Sein Pfeil hatte sich in den Hals der Schlange gebohrt und gab auf der Stelle seine Betäubungsmittel-Ladung ab.
»Tanner! Verdammt, hauen Sie ab!«
Er griff in seinen Patronengurt, holte einen zweiten Pfeil heraus, spannte die Armbrust und legte ihn ein. Im nächsten Augenblick saß er neben dem ersten Pfeil im Hals der Schlange. Wenn Cahuella richtig gerechnet hatte und die beiden Pfeile für große ausgewachsene Tiere bestimmt waren, musste dieses Exemplar nun etwa das Sechzehnfache der Dosis intus haben, die es zum Einschlafen brauchte.
Ich befand mich inzwischen außerhalb der Gefahrenzone, aber ich hörte nicht auf zu schießen. Denn jetzt erkannte ich, dass wir noch ein Problem hatten…
»Cahuella…«, sagte ich.
Er hatte wohl bemerkt, dass ich an ihm vorbei schaute, denn während er nach einem weiteren Pfeil griff, hielt er plötzlich in der Bewegung inne und warf einen Blick über die Schulter.
Die zweite Schlange hatte sich nach hinten gebogen und streckte nun auf der linken Seite der Piste nur zwanzig Meter von Cahuella entfernt den Kopf aus dem Wald.
»Der Notruf…«, sagte er.
Bis jetzt hatten wir nicht einmal gewusst, dass die Schlangen überhaupt rufen konnten. Aber er hatte Recht: als ich auf die kleinere Schlange schoss, war die größere aufmerksam geworden, und jetzt saß Cahuella zwischen zwei Hamadryaden in der Falle.
Doch dann starb die kleinere Schlange.
Es ging nicht so schnell. Der Kopf sank zu Boden wie ein landendes Luftschiff, denn der Hals sackte unaufhaltsam in sich zusammen und konnte ihn nicht mehr tragen.
Jemand legte mir die Hand auf die Schulter.
»Geh zur Seite, Bruder«, sagte Dieterling.
Mir kam es vor wie eine Ewigkeit, seit ich aus dem Wagen gestiegen war, aber in Wirklichkeit war wohl nicht mehr als eine Minute vergangen. Dieterling konnte nicht weit hinter mir gewesen sein, doch Cahuella und ich hatten uns fast die ganze Zeit völlig allein gefühlt.
Ich sah, was Dieterling in Händen hielt und verglich es mit der Waffe, die ich für die geeignete gehalten hatte.
»Gute Wahl«, sagte ich.
»Für jede Arbeit das richtige Werkzeug, das ist das Geheimnis.«
Er drängte sich an mir vorbei und hob die mattschwarze Bazooka, die er aus dem Waffenständer geholt hatte, an die Schulter. Das Flachrelief am Schaft stellte einen Skorpion dar, an einer Seite ragte ein riesiges, halbrundes Magazin heraus. Ein Zielbildschirm brachte sich schwirrend vor seinen Augen in Position und zeigte scrollende Daten und Fadenkreuz-Overlays. Dieterling klappte ihn weg, schaute hinter sich, um sich zu vergewissern, dass ich nicht vom Rückstoßstrahl erfasst werden konnte, und zog den Abzug durch.
Zuerst sprengte er ein Loch so groß wie ein Tunnel durch die erste Schlange. Dann watete er mit schmatzenden Stiefeln durch die widerliche rote Brühe auf Cahuella zu.
Der jagte gerade seinen letzten Pfeil in die größere Schlange, aber inzwischen hatte er nur noch Betäubungsmittelmengen für sehr viel kleinere Tiere. Die Schlange schien gar nicht zu bemerken, dass man auf sie geschossen hatte. Hamadryaden hatten im Körper kaum Schmerzrezeptoren.
Als Dieterling seinen Herrn und Meister erreichte, waren seine Stiefel rot bis zu den Knien. Die Präadulte kam näher. Jetzt war ihr Kopf nur noch zehn Meter von den beiden entfernt.
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und tauschten die Waffen.
Dann wandte Dieterling Cahuella den Rücken zu und stapfte seelenruhig zu mir zurück. Die Armbrust hielt er in der Armbeuge. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan.
Cahuella hob die Bazooka und schoss damit die Schlange zu Brei.
Es war ein schrecklicher Anblick. Er hatte die Waffe auf Schnellfeuer gestellt, sodass zwei Miniraketen pro Sekunde aus ihrer Mündung rasten, und traktierte die Schlange, als wollte er eine Pflanze zurückschneiden. Zuerst rasierte er den Kopf ab, sodass der Hals rotgerändert und leer in der Luft hing. Aber das Vieh bewegte sich auch ohne Hirn weiter. Der Verlust schien ihm nicht einmal allzu viel auszumachen. Der Höllenlärm, mit dem es vorwärts glitt, war nicht merklich leiser geworden.
Also schoss Cahuella weiter.
Er stand da, die Beine leicht gegrätscht, und jagte Rakete um Rakete in die Wunde. Blut und Fleisch spritzten auf die Bäume zu beiden Seiten. Trotzdem rückte die Schlange weiter vor, aber allmählich war ein Ende abzusehen. Der Körper verjüngte sich zum Schwanz hin. Als nur noch zehn Meter übrig waren, klatschte er endlich zuckend zu Boden. Cahuella jagte zur Sicherheit noch eine weitere Rakete hinein, dann drehte er sich um und schlenderte genauso ungerührt wie Dieterling zu mir zurück.
Als er näher kam, sah ich, dass sein Hemd rot verfärbt und sein Gesicht von einem feinen Rouge-Film überzogen war. Er reichte mir die Bazooka. Ich sicherte sie, aber das war eigentlich überflüssig: der letzte Schuss, den er abgefeuert hatte, war auch der letzte im Magazin gewesen.
Ich kehrte zum Fahrzeug zurück, öffnete den Kasten mit den Reservemagazinen und legte ein frisches sein. Dann stellte ich die Bazooka zu den anderen Waffen in den Ständer zurück.
Cahuella sah mich an, als erwarte er einen Kommentar von mir. Aber was sollte ich sagen? Ich konnte ihn wohl kaum zu seinen Schießkünsten beglückwünschen. Es mochte Nerven gekostet haben, und man brauchte gewisse Kräfte, um die Bazooka zu halten, doch davon abgesehen hätte jedes Kind die Schlange auf diese Weise töten können.
Also betrachtete ich die zwei brutal abgeschlachteten Tiere, die quer über dem Weg lagen.
»Ich glaube nicht, dass uns Vicuna dabei noch viel hätte helfen können«, sagte ich.
Er sah mich an, dann schüttelte er den Kopf, ein Ausdruck der Empörung über meinen Fehler — indem ich ihn zwang, mir das Leben zu retten, hatte ich ihn um die Chance gebracht, die ersehnte Trophäe zu erbeuten —, aber auch ein Eingeständnis, dass ich Recht hatte.
»Fahren Sie einfach weiter, Tanner«, sagte er knapp.
In dieser Nacht errichteten wir das Lager für den Hinterhalt.
Orcagnas Peilung zeigte, dass Reivichs Trupp sich dreißig Kilometer nördlich von unserer Position befand und im gleichen Tempo wie schon seit Tagen nach Süden zog. Anders als wir ließ Reivich offenbar keine Nachtruhe halten, aber da seine Durchschnittsgeschwindigkeit etwas geringer war, bewältigte er kaum größere Tagesetappen. Zwischen unseren beiden Trupps befand sich ein Fluss, der durchquert werden musste, aber wenn Reivich keine größeren Fehler machte — oder von seiner Gewohnheit abwich und ein Nachtlager aufschlug —, müsste er sich im Morgengrauen immer noch fünf Kilometer vor uns an der Piste befinden.
Wir stellten die aufblasbaren Zelte auf. Diesmal tarnten wir jedes einzelne mit einer Außenhülle aus Chamäleon-Stoff. Wir waren jetzt tief im Hamadryaden-Gebiet, deshalb suchte ich die Umgebung besonders sorgfältig mit empfindlichen Wärme- und Geräuschsensoren ab, die das Knirschen beim Vorrücken einer größeren Erwachsenen zuverlässig aufnehmen konnten. Jungtiere waren eine andere Geschichte, aber Jungtiere würden wenigstens nicht unser ganzes Lager dem Erdboden gleich machen. Dieterling untersuchte die Bäume in der Umgebung und bestätigte, dass keiner von ihnen in letzter Zeit Jungtiere freigesetzt hatte.
»Damit bleibt nur noch ein Dutzend gewöhnlicher heimischer Raubtiere«, sagte er, als er vor einem der Zelte mit Cahuella und mir zusammentraf.
»Vielleicht ist es abhängig von der Jahreszeit«, sagte Cahuella. »Wann sie schlüpfen, meine ich. Das müssten wir dann bei der Planung unseres nächsten Jagdausflugs berücksichtigen.«
Ich sah ihn misstrauisch an. »Sie wollen Vicunas Spielsachen immer noch einsetzen?«
»Wäre das nicht eine angemessene Würdigung unseres guten Doktors? Genau das hätte er sich gewünscht.«
»Mag sein.« Ich dachte an die beiden Schlangen zurück, die unseren Weg gekreuzt hatten. »Aber ich weiß auch, dass wir da hinten nur knapp dem Tod entronnen sind.«
Er zuckte die Achseln. »In den Lehrbüchern steht, sie wären immer nur einzeln unterwegs.«
»Sie haben also Ihre Hausaufgaben gemacht. Aber was hat es genützt?«
»Wir sind lebend rausgekommen. Und das war nicht Ihr Verdienst, Tanner…« Er sah mich böse an, dann nickte er Dieterling zu. »Er hat zumindest gewusst, was für eine Waffe gebraucht wurde.«
»Eine Bazooka?«, fragte ich. »Ja. Sehr wirkungsvoll, zugegeben. Aber waidgerecht würde ich das nicht nennen.«
»Das war in diesem Moment auch nicht mehr die Frage«, gab Cahuella zurück. Dann schlug seine Stimmung jäh um und er legte mir die Hand auf die Schulter. »Immerhin, Sie haben mit diesem Laser Ihr Bestes getan. Und wir haben wertvolle Erkenntnisse gewonnen, die uns gute Dienste leisten werden, wenn wir in der nächsten Saison wiederkommen.«
Er meinte es tatsächlich ernst. Er wollte diese Präadulte um jeden Preis haben. »Schön«, sagte ich und schüttelte seine Hand ab. »Aber beim nächsten Mal kann Dieterling die Expedition organisieren. Ich bleibe im Reptilienhaus und tue das, wofür Sie mich bezahlen.«
»Ich bezahle Sie dafür, dass Sie hier sind«, sagte Cahuella.
»Ja. Um Reivich zu erledigen. Aber als ich meinen Arbeitsvertrag das letzte Mal durchgelesen habe, stand darin noch nichts von der Jagd auf Riesenschlangen.«
Er seufzte. »Reivich hat immer noch oberste Priorität für uns, Tanner.«
»Tatsächlich?«
»Natürlich. Alles andere ist nur… schmückendes Beiwerk.« Er nickte und verschwand in seinem Zelt.
Dieterling öffnete den Mund. »Hör mal, Bruder…«
»Ich weiß. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Die Bazooka war genau die richtige Wahl. Der Fehler lag bei mir.«
Dieterling nickte, trat an den Waffenständer und holte sich ein neues Gewehr. Er visierte am Lauf entlang, dann hängte er es sich am Riemen über die Schulter.
»Was hast du vor?«
»Ich will noch einen Kontrollgang rund um das Lager machen.«
Ich bemerkte, dass er keine Bildverstärkerbrille mitgenommen hatte. »Es wird schon dunkel, Miguel…« Ich deutete mit einem Nicken zu meiner eigenen Brille hin, die auf dem Tisch neben der Karte lag, auf der wir Reivichs Weg eingezeichnet hatten.
Aber Miguel Dieterling lächelte nur und wandte sich ab.
Später, viel später, nachdem ich die Hälfte der Todesfallen und Minen gelegt hatte (die anderen hob ich mir für den nächsten Morgen auf; wenn ich sie jetzt aufstellte, wäre die Gefahr zu groß, dass wir sie selbst auslösten), lud mich Cahuella in sein Zelt ein.
»Ja?«, sagte ich in Erwartung weiterer Befehle.
Cahuella deutete im matten Schein der Kaltlichter auf das Schachbrett.
»Ich brauche einen Gegner.«
Das Schachbrett war auf einem zusammenklappbaren Kartentisch aufgebaut, zu beiden Seiten standen Klappstühle mit Segeltuchlehnen. Ich zuckte die Achseln. Ich spielte Schach, sogar ganz gut, aber das Spiel hatte keinen großen Reiz für mich. Es war eine Pflicht wie jede andere, denn ich konnte mir nicht erlauben zu gewinnen.
Cahuella beugte sich über das Brett. Er trug einen Arbeitsanzug und darüber mehrere Patronengurte; an seinem Gürtel hingen verschiedene Dolche und Wurfgeschosse, und um den Hals hatte er einen Anhänger in Form eines Delphins. Wenn er die Figuren über das Brett schob, erinnerte er mich an einen alten General, der in einem großen Sandkasten mit verschiedenfarbigen Fähnchen gekennzeichnete Panzer und Infanteristen aufstellte. Sein Gesicht blieb unerschütterlich gelassen, der grüne Schein der Kaltlichter spiegelte sich so seltsam in seinen Augen wider, als käme ein Teil des Lichtes von innen. Und Gitta saß die ganze Zeit neben uns und schenkte ihrem Gemahl hin und wieder einen Fingerhut voll Pisco nach. Sie sprach kaum ein Wort.
Es war eine schwierige Partie — schwierig deshalb, weil ich mich zu den ausgefallensten taktischen Verrenkungen zwingen musste. Ich war der bessere Schachspieler von uns beiden, aber Cahuella verlor nicht gern. Andererseits merkte er ziemlich rasch, wenn sein Gegner nicht mit vollem Einsatz spielte, ich musste also sein Ego an zwei Fronten befriedigen. Ich bedrängte ihn hart und zwang ihn in eine Ecke, baute aber in meine Position eine Schwäche ein — ein sehr subtiles Manöver, das aber potenziell vernichtend für mich war. Und wenn es so aussah, als würde ich ihm Schach bieten, ließ ich diese Schwäche offenbar werden wie einen plötzlich aufgetretenen Haarriss. Manchmal passierte es jedoch, dass er meine Fehler übersah, und dann blieb mir nichts anderes übrig, als ihn verlieren zu lassen. Bestenfalls konnte ich unter diesen Umständen den Anschein erwecken, als hätte ich nur ganz knapp gewonnen.
»Sie haben mich wieder einmal geschlagen, Tanner…«
»Aber Sie haben gut gespielt. Gelegentlich müssen Sie mir auch einen Sieg gönnen.«
Gitta erschien an der Seite ihres Mannes und goss ihm einen weiteren Zentimeter Pisco ins Glas.
»Tanner spielt immer gut«, sagte sie mit einem Blick auf mich. »Deshalb ist er auch ein würdiger Gegner für dich.«
Ich zuckte die Achseln. »Man tut, was man kann.«
Cahuella fegte mit einer wütenden Bewegung die Figuren vom Tisch, aber seine Stimme blieb freundlich. »Noch eine Partie?«
»Warum nicht?«, sagte ich, ohne mir meinen Überdruss anmerken zu lassen. Diesmal, das war mir klar, musste ich verlieren.
Wir beendeten die Schachpartie. Cahuella und ich tranken noch einen Schluck Pisco, und dann gingen wir ein weiteres Mal den Plan für den Hinterhalt durch, obwohl wir das schon Dutzende von Malen getan hatten und es eigentlich nichts mehr zu besprechen gab. Aber es war eins von den Ritualen, die unverzichtbar waren. Hinterher führten wir eine letzte Waffenkontrolle durch, dann nahm Cahuella sein Gewehr an sich und flüsterte mir ins Ohr:
»Ich gehe noch einmal kurz nach draußen, Tanner. Ich will ein paar letzte Schießübungen machen und möchte dabei möglichst nicht gestört werden.«
»Reivich könnte das Mündungsfeuer sehen.«
»Es sind Gewitter im Anzug«, sagte Cahuella. »Er wird glauben, es seien Blitze.«
Ich nickte und entließ ihn in die Nacht, nachdem ich die Einstellungen seines Gewehrs noch einmal überprüft hatte. Er ging ohne Taschenlampe, den Miniaturlaser schräg auf den Rücken geschnallt, und ich hatte ihn bald aus den Augen verloren. Es war eine dunkle Nacht, und ich konnte nur hoffen, dass er sich in dem Teil des Dschungels, der sich unmittelbar an die Lichtung anschloss, entsprechend auskannte. Wie Dieterling war er überzeugt, auch im Dunkeln ausreichend gut sehen zu können.
Schon nach wenigen Minuten hörte ich die ersten Schüsse: zuerst alle paar Sekunden eine Entladung, dann längere Pausen, die darauf schließen ließen, dass er die Einschläge kontrollierte oder sich neue Ziele suchte. Bei jedem Schuss zuckte ein Lichtblitz über die Baumwipfel und scheuchte die Tiere im Blätterdach auf; ich sah schwarze Schatten vor den Sternen vorbeihuschen. Dann entdeckte ich im Westen einen anderen — ebenso schwarzen, aber sehr viel größeren — Schatten, der ein ganzes Sternenfeld verdeckte. Das Gewitter, das Cahuella vorhergesagt hatte, kam vom Meer her landeinwärts gekrochen, um die ganze Halbinsel im Monsunregen zu ertränken. Wie um meine Diagnose zu bestätigen, geriet die bisher ruhige, warme Nachtluft in Bewegung, eine leichte Brise strich durch die Baumwipfel. Ich kehrte ins Zelt zurück, suchte mir eine Taschenlampe und folgte Cahuella. Seine Schüsse wiesen mir den Weg wie die Richtfeuer eines Leuchtturms. Doch das Unterholz war tückisch, und so brauchte ich mehrere Minuten, um die Stelle — eine kleine Lichtung — zu finden, auf der er sein Schießtraining absolvierte. Ich machte mich bemerkbar, indem ich den Strahl meiner Taschenlampe über seinen Körper wandern ließ.
Ohne mit dem Schießen aufzuhören, sagte er: »Ich wollte doch nicht gestört werden, Tanner.«
»Ich weiß, aber es ist ein Unwetter im Anzug. Ich hatte befürchtet, Sie würden es erst merken, wenn der Regen einsetzte, und hätten dann womöglich Schwierigkeiten, ins Lager zurück zu finden.«
»Ich war doch derjenige, der Ihnen von dem Gewitter erzählte«, sagte er, ohne sich nach mir umzudrehen. Er war immer noch völlig in seine Übungen vertieft. Ich konnte nicht erkennen, worauf er eigentlich zielte; die Laserstöße schnitten in ein tiefschwarzes Nichts ohne alle Strukturen. Aber die Schüsse folgten sehr präzise aufeinander, auch wenn er die Stellung veränderte oder das Gewehr von der Schulter nahm, um eine neue Energiezelle einzuschieben.
»Auf jeden Fall ist es schon spät. Wir sollten ein paar Stunden schlafen. Wenn Reivich sich verspätet, haben wir morgen einen langen Tag vor uns, und wir müssen unsere fünf Sinne beisammen haben.«
»Sie haben natürlich Recht«, sagte er nach reiflicher Überlegung. »Ich möchte nur sicher gehen, dass ich den Bastard auch wirklich zum Krüppel schießen kann, wenn ich das will.«
»Zum Krüppel schießen? Ich dachte, wir bereiten uns auf einen sauberen Todesschuss vor?«
»Was hätte das für einen Sinn?«
Ich trat einen Schritt näher. »Reivich zu töten, ist eine Sache. Sie können darauf wetten, dass er mit Ihnen das Gleiche vorhat, das ist also nur vernünftig. Aber was hat er eigentlich getan, um sich diesen mörderischen Hass zu verdienen?«
Cahuella zielte und gab einen Schuss ab. »Wer sagt, dass er dazu etwas tun muss, Tanner?«
Dann klappte er Lauf und Zielvorrichtung ein und hängte sich das Gewehr über die Schulter. Dort baumelte es hin und her wie eine Harpune, die ihr Ziel verfehlt und sich harmlos in der Flanke eines Wals verfangen hatte.
Schweigend kehrten wir zum Lager zurück. Über uns ragte das Unwetter auf wie eine Felswand aus Obsidian, aus der immer wieder Blitze zuckten. Als wir das Lager erreichten, fielen die ersten Regentropfen durch die Zweige. Wir vergewisserten uns, dass die Gewehre vor der Wut der Elemente geschützt waren, schalteten die Grenzverletzungsdetektoren ein und verkrochen uns in den Zelten. Der Regen trommelte wie mit ungeduldigen Fingern gegen die Stoffwände, und irgendwo im Süden grollte Donner. Aber wir waren für alles gewappnet und legten uns in unsere Kojen, um noch ein wenig Schlaf zu finden, bevor wir aufstehen mussten, um unseren Mann zu fangen.
Cahuella steckte den Kopf durch den Türschlitz in mein Zelt. »Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht«, sagte er. »Denn morgen wird es Ernst.«
Es war noch dunkel, als ich erwachte. Draußen wütete noch immer der Sturm. Der Regen gab wahre Breitseiten gegen die Zeltwände ab.
Etwas hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Das kam manchmal vor. Dann verbiss sich mein Unterbewusstsein so lange in einen Sachverhalt, der mir bei Tag ganz klar erschienen war, bis es einen Haken fand. Auf diese Weise hatte ich im Reptilienhaus einige weniger auffällige Sicherheitslücken schließen können. Ich hatte mir vorgestellt, ich wäre ein Einbrecher, und hatte dann nach einem Weg durch irgendeine Abschirmung gesucht, die ich bis dahin für absolut undurchdringlich gehalten hatte. Genau so fühlte ich mich jetzt, als ich erwachte: als wäre ich plötzlich über irgendeine bislang unentdeckte Kleinigkeit gestolpert oder in einem Punkt von vollkommen falschen Voraussetzungen ausgegangen. Doch im ersten Moment entzog sich der Traum meiner Erinnerung; ich hatte keinen Zugriff auf die Ergebnisse meines fleißigen Unterbewusstseins.
Und dann begriff ich, dass wir angegriffen wurden.
»Nein…«, wollte ich sagen.
Doch dafür war es bereits zu spät.
Eine der einfachsten Wahrheiten über den Krieg und seine Auswirkungen auf uns lautet, dass viele Klischees nicht weit von der Realität entfernt sind. Krieg, das sind gähnende Abgründe der Untätigkeit, unterbrochen von kurzen, von gellendem Geschrei begleiteten Phasen hektischer Aktivität. Und in diesen kurzen Zwischenphasen überstürzen sich die Ereignisse und zugleich vergeht die Zeit so langsam wie im Traum. Jeder Augenblick brennt sich ins Gedächtnis ein. Und für ein so komprimiertes und gewalttätiges Geschehen wie diesen Überfall galt das ganz besonders.
Es gab keine Vorwarnung. Vielleicht hatte etwas in meine Träume eingegriffen und mich geweckt, vielleicht hatte mich nicht nur die Erkenntnis meines Fehlers aus dem Schlaf geholt, sondern auch der Überfall selbst, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war. Eventuell das Geräusch, mit dem sie die Detektoren abschalteten — oder auch nur ein Tritt auf einen knackenden Zweig im Unterholz oder der Warnruf eines aufgescheuchten Tiers.
Es spielte keine Rolle.
Sie waren nur zu dritt, und wir waren zu acht, dennoch machten sie uns ohne weiteres gnadenlos nieder. Sie trugen Chamäleon-Panzer, Ganzkörperanzüge, die Gestalt, Oberflächenstruktur und Farbe verändern konnten. Technisch hochentwickelte Overalls wie diese waren nur über die Ultras zu beziehen und für keine gewöhnliche Miliz erschwinglich. Das war der Beweis: auch Reivich stand in Geschäftsbeziehungen mit der Besatzung des Lichtschiffs. Vielleicht hatte er sie sogar dafür bezahlt, dass sie Cahuella falsche Positionsdaten lieferten, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Aber es gab auch noch eine andere Möglichkeit, und die hatte mein Unterbewusstsein entdeckt, während ich schlief.
Vielleicht gab es zwei Reivich-Trupps. Der eine stand dreißig Kilometer nördlich von hier, war auf dem Weg nach Süden und hatte die schweren Waffen, die Orcagna überwachte. Ich war bisher davon ausgegangen, dass es der Einzige war. Aber angenommen, es gab eine zweite Gruppe, die vorneweg marschierte? Vielleicht hatte sie leichtere Waffen, die von den Ultras nicht angepeilt werden konnten? Der Überraschungseffekt könnte die geringere Feuerkraft mehr als aufwiegen.
Und genau das hatte er getan.
Sie hatten keine moderneren und keine tödlicheren Waffen als wir, aber sie arbeiteten mit höchster Präzision. Zuerst schossen sie die vor dem Camp postierten Wachen nieder, bevor die überhaupt Zeit hatten, ihre eigenen Gewehre in Anschlag zu bringen. Doch von diesem Teil des Überfalls bekam ich so gut wie nichts mit. Ich war noch gar nicht richtig wach und hielt die Lichtblitze und die knatternden Energieentladungen zunächst noch für die letzten Ausläufer des Gewitters, das weiter die Halbinsel hinaufzog. Erst als ich die Schreie hörte, begriff ich allmählich, was draußen vorging.
Doch da war es natürlich viel zu spät, um etwas dagegen zu unternehmen.