Vierundzwanzig

Meine erste Anlaufstelle war das Zelt des Hehlers, wo ich Zebras Waffe zu einem Preis verkaufte, der wahrscheinlich unverschämt weit unter ihrem wahren Wert lag. Aber ich konnte mich nicht beschweren: es ging mir nicht so sehr um das Geld, als darum, die Waffe los zu werden, bevor man sie zu mir zurück verfolgte.

Der Hehler fragte, ob sie heiß sei, aber ich sah ihm an, dass ihn das nicht wirklich interessierte. Das Gewehr war für eine Operation wie den Reivich-Mord viel zu unhandlich und auffällig. Der einzige Ort, wo man damit auftauchen konnte, ohne dass alle Welt die Augenbrauen hochzog, wäre ein Treffen von Waffennarren gewesen.

Wie ich erfreut feststellte, übte Madame Dominika ihr Gewerbe nach wie vor aus. Diesmal brauchte mich niemand in ihr Zelt zu schleppen, ich ging ganz freiwillig hinein. Die Energiezellen, die ich zu verkaufen vergessen hatte, zogen meine Manteltaschen nach unten.

»Sie heute nicht arbeiten« sagte Tom, der Junge, der Quirrenbach und mich zuerst hierher gezerrt hatte.

Ich zog ein paar Geldscheine heraus und knallte sie auf den Tisch. Er riss die Augen weit auf. »Jetzt schon«, sagte ich und drängte mich an ihm vorbei in den inneren Raum.

Drinnen war es dunkel, aber schon nach ein bis zwei Sekunden konnte ich meine Umgebung erkennen, als hätte jemand eine schwache graue Laterne angesteckt. Dominika lag auf ihrer Operationsliege und schlief. Ein Kleidungsstück, das sein Dasein möglicherweise als Fallschirm begonnen hatte, verhüllte ihren üppigen Körper.

»Aufwachen«, sagte ich nicht allzu laut. »Sie haben einen Kunden.«

Ihre Augen öffneten sich so langsam wie Sprünge in einem aufgehenden Hefeteig. »Was soll das, du kein Benehmen?« Die Worte kamen schnell, aber sie klangen lethargisch. Wirklich beunruhigt war sie wohl nicht. »Man platzt hier nicht einfach so herein.«

»Mein Geld hat auf Ihren Assistenten wohl einen gewissen Eindruck gemacht.« Ich zog einen weiteren Schein aus der Tasche und wedelte ihr damit vor dem Gesicht herum. »Was halten Sie davon?«

»Weiß nicht, kann nichts sehen. Was mit deinen Augen los? Warum sie so komisch?«

»Mit meinen Augen ist alles in Ordnung«, sagte ich, doch dann fragte ich mich, ob sie mir das wohl abnahm. Schließlich hatte auch Lorant etwas dergleichen bemerkt. Und ich konnte nun schon ziemlich lange auffallend gut im Dunkeln sehen.

Ich verdrängte diese Gedanken — so alarmierend sie auch waren — und setzte Dominika weiter unter Druck. »Ich habe einen Auftrag für Sie, und Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten. Das ist doch nicht zu viel verlangt?«

Sie hievte ihren Körper von der Liege und manövrierte den Unterleib in den dampfbetriebenen Harnisch, der neben ihr stand. Ich hörte, wie unter ihrem Gewicht zischend der Druck entwich, dann entfernte sie sich mit der Schwerfälligkeit eines Schleppkahns von ihrem Bett.

»Was für Auftrag, was für Fragen?«

»Sie müssen mir ein Implantat entfernen. Und ich möchte einige Dinge über einen Freund von mir wissen.«

»Vielleicht ich auch Fragen über Freund.« Ich hatte keine Ahnung, was sie damit sagen wollte, aber bevor ich mich erkundigen konnte, hatte sie die Innenbeleuchtung angeschaltet, und ich sah die Instrumente, die sich um die Liege scharten. Die Liege selbst war, wie ich erst jetzt sah, über und über mit Blut unterschiedlicher Herkunft und in sämtlichen Rotschattierungen bespritzt. »Aber das kosten extra. Zeigen Implantat.« Ich gehorchte. Sie drückte mit den spitzen Metallfingerhüten kurz gegen die Schläfe und tastete es ab, dann nickte sie zufrieden. »Wie Implantat für Großes Spiel, aber du noch am Leben.«

Das sollte wohl heißen, dass es in ihren Augen kein Spiel-Implantat sein konnte, und darauf hatte ich im Moment nichts zu erwidern. Wie viele von den Gejagten hatten schließlich jemals die Chance, hinterher zu Madame Dominika zu gehen und sich das Gerät aus dem Kopf holen zu lassen?

»Können Sie es entfernen?«

»Wenn neurale Verbindungen nur oberflächlich, kein Problem.« Mit diesen Worten führte sie mich zur Liege, schwenkte ein Untersuchungsgerät vor ihre Augen und schaute mir, an ihrer Unterlippe kauend, in den Schädel. »Nein. Neurale Verbindungen nicht tief; kaum bis Kortex. Gute Nachricht für dich. Aber sieht wirklich aus wie Implantat für Großes Spiel. Wie kommen in deinen Kopf? Eisbettler?« Sie schüttelte den Kopf, dass die Fleischwülste um ihren Nacken schwabbelten. »Nein, nicht Eisbettler, wenn du mich gestern nicht anlügen. Du sagen, du keine Implantate. Und das frische Wunde. Keinen Tag alt.«

»Holen Sie das verdammte Ding einfach raus«, sagte ich. »Sonst gehe ich wieder, und das Geld, das ich dem Jungen schon gegeben habe, nehme ich mit.«

»Das du schon tun können, aber niemand finden, der besser als Dominika. Das nicht Drohung, sondern Versprechen.«

»Dann machen Sie voran«, sagte ich.

»Zuerst du stellen Frage«, sagte sie, während sie um die Liege herumschwebte und die übrigen Instrumente einsatzbereit machte. Ich sah mit Bewunderung, wie geschickt sie ihre Fingerhüte wechselte. Sie trug sie irgendwo in den vielen Falten um ihre Taille in einem Beutel und ertastete jeden gewünschten, ohne hinzusehen und ohne sich dabei in die Finger zu schneiden oder zu stechen.

»Ich habe einen Freund namens Reivich«, sagte ich. »Er ist ein oder zwei Tage vor mir angekommen, und wir haben uns aus den Augen verloren. Die Eisbettler sagten, er habe unter Reanimations-Amnesie gelitten. Sie wussten auch, dass er im Baldachin ist, aber mehr nicht.«

»Und?«

»Ich halte es gut für möglich, dass er Sie aufgesucht hat, um Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.« Vielleicht blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, dachte ich. »Er hatte Implantate, die entfernt werden mussten, genau wie Mister Quirrenbach, der andere Herr, mit dem ich unterwegs war.« Dann beschrieb ich ihr Reivichs Aussehen in groben Zügen, so wie ein guter Freund es tun würde, verzichtete aber darauf, ihr ein physiometrisches Zielprofil wie für einen Berufskiller zu liefern. »Ich muss dringend Verbindung mit ihm aufnehmen, und das ist mir bisher nicht gelungen.«

»Wieso du glauben, ich diesen Mann kennen?«

»Ich weiß nicht — was würde es denn kosten, Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen? Wäre ein weiterer Hunderter genug?«

»Dominikas Gedächtnis so früh am Morgen noch nicht richtig wach.«

»Dann zweihundert. Sehen Sie Mister Reivich jetzt vor sich?« Ich beobachtete, wie die Erinnerung gleich einem Blitz ihr Gesicht erhellte. Eines musste ich ihr lassen, sie spielte mit Bravour. »Sehr schön. Das freut mich.« Sie hatte ja keine Ahnung, wie froh ich wirklich war.

»Mister Reivich ganz spezieller Fall.«

Natürlich war er das. Ein Aristokrat wie Reivich hätte sogar auf Sky’s Edge fast so viel Eisenschrott in seinem Körper gehabt wie ein Kapitalist aus der Belle Epoque; vielleicht mehr als so mancher hochrangige Demarchist. Und wie Quirrenbach hatte er sicher erst im Orbit um Yellowstone von der Schmelzseuche gehört. Keine Zeit, eine der wenigen Orbitalkliniken aufzusuchen, die noch fähig waren, eine solche Extraktion durchzuführen. Er hatte es sicher eilig gehabt, zur Oberfläche zu kommen und in Chasm City unterzutauchen.

Dominika wäre seine erste Chance und seine letzte Hoffnung gewesen.

»Ich weiß, dass er ein spezieller Fall war«, sagte ich. »Und deshalb weiß ich auch, dass Sie eine Möglichkeit haben, ihn zu erreichen.«

»Warum ich wollen erreichen?«

Ich seufzte. Das würde entweder Schwerarbeit werden oder ein teurer Spaß, vielleicht auch beides. »Angenommen, Sie hätten ihm etwas entfernt, und er schien wohlauf, und einen Tag später hätten Sie entdeckt, dass mit dem Implantat, das Sie entfernt hatten, etwas nicht stimmte — dass es vielleicht Spuren der Seuche aufwies. Dann wären Sie doch verpflichtet, sich bei ihm zu melden?«

Sie hatte keine Miene verzogen, also entschied ich mich, eine harmlose Schmeichelei obendrauf zu setzen.

»Jeder Chirurg, der auf sich hält, würde sich so verhalten. Ich weiß, dass nicht alle hier in der Gegend sich die Mühe machen würden, einem Kunden hinterher zu laufen, aber Sie sagen ja selbst: niemand ist besser als Madame Dominika.«

Sie knurrte zustimmend. »Kundeninformation vertraulich«, fügte sie dann hinzu, aber was das bedeutete, war uns beiden klar.

Minuten später war ich ein paar Dutzend Scheine leichter, aber ich hatte auch eine Adresse im Baldachin; einen Ort namens Escher-Turm. Ich wusste nicht, wie genau sie war — es konnte eine bestimmte Wohnung sein, ein Gebäude oder auch nur ein abgegrenzter Bereich in dem Gewirr.

»Jetzt Augen schließen«, sagte sie und stieß mich mit einem stumpfen Fingerhut vor die Stirn. »Dominika machen Magie.«

Sie gab mir eine örtliche Betäubung und ging ans Werk. Es dauerte nicht lange, und es war auch nicht allzu unangenehm. Sie schnitt das Implantat so ähnlich heraus wie eine Zyste. Ich fragte mich, warum Waverly keine Sicherung integriert hatte, aber vielleicht wäre das wieder einmal zu unsportlich gewesen. Jedenfalls war es — wenn ich Waverly und Zebra richtig verstanden hatte — normalerweise nicht vorgesehen, dass Personen, die selbst an der Jagd teilnahmen, in die Telemetrie des Implantats eingriffen. Sie durften die Beute mit allen forensischen Verfahren verfolgen, aber einen implantierten Neuralsender anzupeilen, wäre zu einfach gewesen. Das Implantat war lediglich für Zuschauer und für Leute wie Waverly gedacht, die den Ablauf des Spiels zu überwachen hatten.

Ich ließ meinen Gedanken auf Dominikas Liege freien Lauf und malte mir aus, welche Verbesserungen ich eingeführt hätte, wenn ich dafür zuständig gewesen wäre. Zuallererst hätte ich es viel schwieriger gemacht, das Implantat zu entfernen. Ich hätte die neuralen Tiefenverbindungen hergestellt, über die sich Dominika Sorgen machte, und ich hätte eine Sicherung eingebaut, ein System, das dem Zielobjekt das Gehirn röstete, wenn irgendjemand versuchte, das Implantat vorzeitig zu entfernen. Außerdem würde ich den Jägern eigene Implantate geben, die ähnlich schwer zu entfernen wären, und ich würde es so einrichten, dass beide Implantat-Typen — das für den Jäger und das für den Gejagten — ein codiertes Signal aussendeten, das der andere kannte. Sobald die beiden Parteien sich aufeinander zu bewegten und eine vorher festgelegte Entfernung — die nächste Querstraße zum Beispiel — unterschritten, sollten beide Implantate die Träger über die vorher angelegten neuralen Tiefenverbindungen von der Nähe des Gegners informieren. Die sensationslüsternen Zuschauer würde ich aus dieser Schleife ganz heraus nehmen; sie mochten selbst zusehen, wie sie das Spiel verfolgen konnten. Das Ganze müsste zur Privatsache werden. Man sollte die Zahl der Jäger auf einen schönen runden Wert begrenzen, zum Beispiel Eins. Dadurch würde das Spiel sehr viel persönlicher. Und warum die Jagd auf lediglich fünfzig Stunden beschränken? In einer Stadt dieser Größe könnte sie leicht zwanzig, dreißig Tage oder noch länger dauern, vorausgesetzt, man ließ dem Opfer genügend Vorsprung, um sich im Labyrinth des Mulch zu verstecken. Übrigens sah ich auch keinen Grund, das Spielgelände nur auf den Mulch oder auch auf Chasm City zu reduzieren. Warum nicht jede Siedlung auf dem Planeten mit einbeziehen? Das wäre eine echte Herausforderung.

Aber darauf würden sie natürlich nicht eingehen. Sie wollten einen schnellen Abschuss; ein nächtliches Gemetzel mit möglichst wenig Kosten, Gefahren und persönlichem Engagement.

»Alles klar«, sagte Dominika und drückte eine sterile Kompresse gegen meine Schläfe. »Du fertig, Mister Mirabel.« Sie hielt mir das Implantat mit zwei Fingern vor die Nase. Es blitzte wie ein kleiner grauer Edelstein. »Und wenn das kein Jagd-Implantat, dann Dominika dünnste Frau in Chasm City.«

»Wer weiß?«, sagte ich. »Wunder gibt es immer wieder.«

»Nicht bei Dominika.« Sie half mir von der Liege. Mir war etwas schwindlig, aber als ich die Kopfwunde betastete, stellte ich beruhigt fest, dass sie sehr klein war und keinerlei Anzeichen von Infektion oder Narbenbildung aufwies. »Du nix neugierig?«, fragte sie, als ich trotz der feuchten Hitze wieder in Vadims Mantel schlüpfte, weil ich die Anonymität, die er mir verlieh, sehr schätzte.

»Nix neugierig — ich meine, nicht neugierig — worauf?«

»Ich sagen, ich dir stellen Fragen nach Freund.«

»Reivich? Das hatten wir doch erledigt.«

Sie packte ihre Fingerhüte ein. »Mein. Mister Quirrenbach. Andere Freund, der gestern mit dir hier.«

»Eigentlich war Mister Quirrenbach kein richtiger Freund, sondern nur ein Bekannter.«

»Er mir bezahlen gutes Geld, damit ich dir nicht sagen. Also ich sage nichts. Aber du jetzt reicher Mann, Mister Mirabel. Daneben Mister Quirrenbach armer Schlucker. Du verstehen, was Dominika meinen?«

»Sie wollen sagen, Quirrenbach hätte für Ihr Schweigen bezahlt, aber wenn ich ihn überbiete, könnte ich die Information kaufen?«

»Kluges Köpfchen, Mister Mirabel. Dominikas Operation dir machen keinen Hirnschaden.«

»Ich bin entzückt, das zu hören.« Mit einem tiefen Seufzer griff ich abermals in meine Taschen und bat sie, mir zu sagen, was Quirrenbach vor mir hatte verheimlichen wollen. Ich wusste nicht genau, was ich erwartete — vielleicht gar nicht viel, denn ich hatte mich eigentlich noch nicht mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass Quirrenbach überhaupt etwas zu verbergen haben könnte.

»Er mit dir zu mir kommen«, sagte Dominika. »Angezogen wie du, Eisbettlerkleidung. Verlangen von nur, Implantate entfernen.«

»Sagen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß.«

Dominikas Lächeln triefte vor Wollust. Was immer sie mir gleich ins Gesicht schleudern würde, sie würde es mit Genuss tun.

»Er haben gar keine Implantate, Mister Mirabel.«

»Was soll das heißen? Ich habe ihn auf Ihrer Liege gesehen. Sie waren dabei, ihn zu operieren. Sie hatten ihm schon den Schädel rasiert.«

»Er sagen, soll gut aussehen. Dominika stellen keine Fragen. Nur tun, was Kunde wollen. Kunde haben immer Recht. Besonders, wenn gut bezahlen, wie Mister Quirrenbach. Kunde sagen, Operation vortäuschen. Haare rasieren, so tun als ob. Aber ich seinen Schädel nicht öffnen. Nicht nötig. Trotzdem ich ihn scannen — nix drin. Er schon sauber.«

»Warum, zum Teufel, sollte er dann…«

Und plötzlich fügte sich alles zusammen. Quirrenbach brauchte sich seine Implantate nicht entfernen zu lassen, weil sie ihm — falls er jemals welche gehabt hatte — schon vor Jahren während der Seuche entfernt worden waren. Quirrenbach kam gar nicht von Grand Teton. Er kam überhaupt nicht von außerhalb des Systems. Er war ein Einheimischer. Jemand hatte ihn angeworben, damit er mir folgte und herausfand, wie ich tickte.

Er hatte für Reivich gearbeitet.

Reivich war vor mir nach Chasm City gekommen, er war schon hierher unterwegs gewesen, als die Eisbettler noch dabei waren, die Scherben meines Gedächtnisses zu kitten. Ein paar Tage Vorsprung waren nicht viel, aber sie hatten ihm offensichtlich genügt, um sich Unterstützung zu suchen. Vielleicht war Quirrenbach seine erste Anlaufstelle gewesen. Quirrenbach war anschließend in den Orbit zurückgekehrt und hatte sich unter die neu angekommenen Einwanderer von außerhalb des Systems gemischt. Sein Auftrag lautete schlicht und ergreifend: Überprüfe alle reanimierten Fahrgäste der Orvieto und stelle fest, wer davon als gedungener Killer infrage käme.

Ich rief mir in Erinnerung, wie alles angefangen hatte.

Zuerst hatte mich Vadim im Gemeinschaftszentrum der Strelnikov belästigt. Ich hatte ihn abgeschüttelt, und nur wenige Minuten später hatte ich beobachtet, wie er Quirrenbach zusammenschlug. Ich war durch das Gemeinschaftszentrum geschwebt, hatte Vadim gezwungen, von Quirrenbach abzulassen, und hatte dann meinerseits Vadim verprügelt. Ich glaubte noch zu hören, wie Quirrenbach mich angefleht hatte, ihn nicht zu töten.

Damals hatte ich ihn noch für besonders gutmütig gehalten.

Etwas später hatte ich mich mit Quirrenbach in Vadims Kabine geschlichen. Wieder sah ich vor mir, mit welchen Hemmungen Quirrenbach anfangs Vadims Sachen durchsuchte — wie er die Moral meines Handelns infrage stellte. Und wie schnell er auf meine Vorhaltungen hin umgeschwenkt und selbst zum Dieb geworden war.

Ich hatte die ganze Zeit über vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen: ich hatte nicht gemerkt, dass Quirrenbach und Vadim zusammenarbeiteten.

Quirrenbach hatte eine Möglichkeit gesucht, um an mich heranzukommen und mehr über mich in Erfahrung zu bringen, ohne mich misstrauisch zu machen. Deshalb hatten mir die beiden dieses Theater vorgespielt. Vadim hatte Quirrenbach im Gemeinschaftszentrum zwar ohne Zweifel verletzt, aber nur, um den Kampf überzeugender zu machen. Die beiden mussten gewusst haben, dass ich in dieser Situation nicht würde widerstehen können, noch dazu, nachdem ich kurz zuvor selbst mit Vadim aneinander geraten war. Später bei dem Überfall im Karussell war Quirrenbach von dem zweiten Mann festgehalten worden und hatte zugesehen, wie Vadim seine Wut an mir ausließ.

Spätestens da hätte ich das Spiel durchschauen müssen.

Quirrenbach hatte sich an mich gehängt, das bedeutete, er musste ein Profi sein, um mich unter all den vielen Passagieren auf dem Schiff herauszufinden — aber dieser Schluss war nicht zwingend. Vielleicht hatte Reivich insgesamt ein halbes Dutzend Agenten auf die Passagiere angesetzt, und jeder hatte eine andere Masche angewendet, um an sein Zielobjekt heran zu kommen. Der Unterschied war nur, dass die anderen die falsche Person beschatteten und Quirrenbach — Glück, Intuition oder Logik — ins Schwarze getroffen hatte. Aber er konnte nicht sicher gewesen sein. Bei allen unseren Gesprächen hatte ich mich gehütet, irgendetwas preiszugeben, was mich als Cahuellas Sicherheitsexperten ausgewiesen hätte.

Nun versuchte ich, mich in Quirrenbachs Lage zu versetzen.

Es musste für ihn und Vadim sehr verlockend gewesen sein, mich zu töten. Aber das konnten sie nicht tun; nicht, bevor sie Gewissheit hatten, dass ich der echte Killer war. Hätten sie mich gleich getötet, sie hätten nie mit Sicherheit sagen können, ob sie den Mann erwischt hatten, hinter dem sie her waren — der Zweifel hätte sie immer verfolgt.

Also hatte Quirrenbach wahrscheinlich beschlossen, mich so lange wie nötig zu beschatten; so lange, bis sich ein Muster zeigte; bis sich herausstellte, dass ich aus irgendwelchen Gründen hinter einem Mann namens Reivich her war. Der Besuch bei Dominika war ein wesentlicher Teil seiner Tarnung gewesen. Wahrscheinlich war ihm nicht klar gewesen, dass ich als Soldat keine Implantate hatte und daher die Dienste der guten Madame nicht in Anspruch zu nehmen brauchte. Aber er hatte Gelassenheit bewahrt — hatte mir sogar seine Habe anvertraut, bevor er sich unter das Messer begab. Hübscher Einfall, Quirrenbach, dachte ich. Damit hatte er seine Geschichte untermauert.

Nur hätte ich, im Rückblick betrachtet, doch hellhörig werden müssen. Der Hehler hatte sich beklagt, Quirrenbachs Empirika seien keine Originale, sondern Raubkopien von Exemplaren, die er schon Wochen zuvor in Händen gehabt habe. Dabei hatte Quirrenbach behauptet, er sei eben erst angekommen. Würde ich überhaupt ein Schiff von Grand Teton finden, wenn ich die Manifeste der Lichtschiffe durchsah, die in der letzten Woche angekommen waren? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Das kam ganz darauf an, wie gut Quirrenbach für seine Geschichte recherchiert hatte. All zu eingehenden Nachforschungen würde sie wohl kaum standhalten; er hatte schließlich nur ein bis zwei Tage Zeit gehabt, um sich die ganze Chose aus den Fingern zu saugen.

Wenn man das bedachte, hatte er seine Sache gar nicht so schlecht gemacht.


Die nächste Haussmann-Episode folgte einige Zeit nach Mittag. Ich war mit Dominika fertig, lehnte träge mit dem Rücken an der Wand der Bahnhofshalle und sah einem berufsmäßigen Puppenspieler zu, der eine ganze Gruppe von Kindern unterhielt. Er arbeitete über einer Bühne im Kleinformat mit einer winzigen Marionette, die Marco Ferris darstellte. Die bewegliche Figur trug einen Raumanzug und kletterte einen Haufen krümeliger Mauerbrocken hinunter, der eine Felswand darstellen sollte. Ferris war auf dem Weg in den Abgrund, wo sich am Fuß der Felswand, scharf bewacht von einem neunköpfigen außerirdischen Ungeheuer, ein Haufen Edelsteine befand. Als der Puppenspieler das Ungeheuer auf Ferris hetzte, schrien die Kinder und klatschten begeistert Beifall.

Das war der Moment, in dem mein Verstand stillstand und die fertige Episode über mein Bewusstsein hereinbrach.

Später — nachdem ich Zeit gehabt hatte, die Offenbarungen zu verarbeiten — beschäftigte ich mich auch mit der Szene, die vorangegangen war. Die ersten Haussmann-Episoden waren ganz harmlos gewesen, Schilderungen von Skys Leben, die sich an die mir bekannten Fakten hielten. Doch dann waren sie abgewichen, zuerst nur in Kleinigkeiten, dann immer krasser. Das sechste Schiff wurde meines Wissens in keinem konventionellen Geschichtswerk erwähnt, ebenso wenig die Tatsache, dass Sky den Killer, der seinen Vater ermordet oder es zumindest versucht hatte, am Leben erhalten hatte. Doch das waren nur Bagatellen, verglichen mit der Vorstellung, Sky hätte Captain Balcazar ermordet. Balcazar war bei uns nur eine Fußnote der Geschichte; einer von Skys Vorgängern — aber niemand hatte jemals unterstellt, Sky hätte ihn tatsächlich getötet.

Aus meiner Hand tropfte Blut auf den Boden der großen Halle. Ich ballte sie zur Faust und fragte mich zum ersten Mal, womit ich wirklich infiziert worden war.


»Ich konnte nichts dagegen tun. Er schlief neben mir und gab keinen Laut von sich — ich hatte nicht den leisesten Verdacht, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte.«

Die beiden Betreuer, die Balcazar untersuchten, waren sofort an Bord gekommen, nachdem das Shuttle festgemacht hatte. Sky hatte wegen des alten Mannes Alarm geschlagen. Valdivia und Rengo hatten die Luftschleuse hinter sich geschlossen, um genügend Bewegungsfreiheit zu haben. Sky beobachtete sie aufmerksam. Beide waren überarbeitet, wirkten blass und müde und hatten verschwollene Augen.

»Er hat keinen Schrei ausgestoßen, nach Atem gerungen oder etwas dergleichen?«, fragte Rengo.

»Nein«, sagte Sky. »Keinen Mucks hat er gemacht.« Er spielte den Verstörten, hütete sich aber zu übertreiben. Seit Balcazar beiseite geschafft war, führte ein nahezu gerader Weg zum Kommandantensessel, als hätte sich plötzlich inmitten eines verworrenen Labyrinths ein einfacher Pfad ins Zentrum aufgetan. Ihm war das klar; den beiden Medizinern ebenfalls — und hätte er seiner Trauer nicht einen Anflug von Freude über sein unverhofftes Glück beigemischt, er hätte sich noch verdächtiger gemacht.

»Ich gehe jede Wette ein, dass ihn die Bastarde auf der Palästina vergiftet haben«, sagte Valdivia. »Ich war eigentlich von vornherein gegen diesen Flug.«

»Die Sitzung muss ihn sehr belastet haben«, bemerkte Sky.

»Und das hat vermutlich genügt«, sagte Rengo und rieb sich die ohnehin schon geröteten Augen. »Kein Grund, den anderen die Schuld zu geben. Der Stress war einfach zu viel für ihn.«

»Dann hätte ich nichts tun können?«

Die Männer hatten die seitlich geknöpfte Uniformjacke geöffnet, und der zweite Betreuer untersuchte nun das Überwachungsgerät, das Balcazar darunter um die Brust trug. Valdivia rüttelte misstrauisch an dem Aggregat. »Es hätte Alarm auslösen müssen. Aber Sie haben nichts gehört?«

»Keinen Mucks, wie gesagt.«

»Die verdammte Kiste muss wieder ausgefallen sein. Hören Sie, Sky«, sagte Valdivia. »Wenn das bekannt wird, sind wir für alle Zeiten erledigt. Das verdammte Aggregat ist ständig ausgefallen, aber Rengo und ich standen in letzter Zeit so sehr unter Druck…« Er schnaubte und schüttelte den Kopf, als könnte er seine Arbeitszeiten selbst nicht fassen. »Das heißt nicht, dass wir es nicht repariert hätten, aber wir konnten uns nicht die ganze Zeit nur um Balcazar kümmern und alle anderen vernachlässigen. Wie ich höre, haben sie auf der Brasilia bessere Geräte als diesen klapprigen Schrott, aber was nützt uns das?«

»Nicht viel«, sagte Sky und nickte heftig. »Wenn Sie dem alten Mann zu viel Aufmerksamkeit gewidmet hätten, wären andere Menschen gestorben. Ich verstehe vollkommen.«

»Das wollen wir hoffen, Sky — denn wenn sich herumspricht, dass Balcazar tot ist, bricht die Hölle los.« Wieder sah Valdivia den Captain an, aber wenn er auf eine wundersame Genesung hoffte, so wurde er enttäuscht. »Man wird die Qualität unserer medizinischen Versorgung infrage stellen. Sie wird man in die Mangel nehmen, weil Sie für den Flug zur Palästina verantwortlich waren. Ramirez und die anderen Dreckskerle vom Rat werden uns vorhalten, wir hätten Mist gebaut. Ihnen werden Sie Fahrlässigkeit unterstellen. Glauben Sie mir; ich habe das alles schon erlebt.«

»Wir wissen doch alle, dass es nicht unsere Schuld war«, sagte Sky. Er schaute auf den Captain nieder. Auf seiner Epaulette glänzte immer noch die Schneckenspur aus getrocknetem Speichel. »Er war ein guter Mann. Er hat uns treu gedient, obwohl er längst Ruhe nötig gehabt hätte. Aber er war eben alt.«

»Ja, und im Lauf des nächsten Jahres wäre er auf jeden Fall gestorben, auch ohne dass etwas Besonderes passiert wäre. Aber erklären Sie das mal der Besatzung.«

»Dann müssen wir uns eben in Acht nehmen.«

»Sky… Sie sagen kein Wort, nicht wahr? Sie verraten nicht, was wir Ihnen anvertraut haben?«

Von außen wurde gegen die Luftschleuse gehämmert. Jemand begehrte Einlass. Sky achtete nicht darauf. »Was soll ich denn genau sagen?«

Der Betreuer holte tief Luft. »Sie müssen sagen, das System hätte Alarm gegeben. Dass Sie nicht darauf reagiert haben, macht nichts. Sie konnten es nicht — Sie hatten weder die Mittel noch das nötige Fachwissen, und Sie waren zu weit vom Schiff entfernt.«

Sky nickte, als wäre das ein durchaus vernünftiger Vorschlag, genau das, was er auch selbst empfohlen hätte. »Ich darf also nur nicht durchblicken lassen, das Überwachungssystem hätte von vornherein nicht funktioniert?«

Die beiden Betreuer sahen sich an. »Ja«, sagte der erste. »Genau das. Ihnen wird niemand einen Vorwurf machen. Jeder wird einsehen, dass Sie alles getan haben, was in Ihren Kräften stand.«

Erst jetzt fiel Sky auf, wie friedlich der Captain aussah. Seine Augen waren geschlossen — einer der Betreuer hatte sie ihm zugedrückt, um ihm im Tod einen Anschein von Würde zu geben. Wie Clown gesagt hatte, konnte man sich durchaus vorstellen, dass er von seiner Kindheit träumte. Auch wenn er auf dem Schiff eine ebenso sterile, beengte Kindheit verbracht hatte wie Sky.

Das Klopfen hörte nicht auf. »Ich lasse den Quälgeist wohl besser herein«, sagte Sky.

»Sky…«, flehte der eine Betreuer.

Sky legte ihm die Hand auf den Arm. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

Er holte tief Atem und drückte auf den Türöffner. Draußen standen mindestens zwanzig Leute, und alle drängten gleichzeitig herein. Alle wollten einen Blick auf den toten Captain werfen und ihre Trauer zum Ausdruck bringen, während sie insgeheim hofften, es sei nicht wieder falscher Alarm. Balcazar hatte nun schon seit einigen Jahren die unschöne Angewohnheit, dem Tod immer wieder von der Schippe zu springen.

»Du lieber Gott«, sagte eine Frau aus der Abteilung Antriebskonzepte. »Diesmal ist es also wahr… was in aller Welt ist denn geschehen?«

Einer der Betreuer wollte antworten, aber Sky kam ihm zuvor. »Sein Überwachungssystem ist ausgefallen«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Sie haben richtig gehört. Ich hatte ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Es ging ihm gut, bis das Aggregat einen Alarmton von sich gab. Ich öffnete ihm die Jacke und sah auf die Diagnoseanzeige. Sie meldete einen Herzinfarkt.«

»Nein…«, sagte einer der Betreuer, aber niemand achtete auf ihn.

»Und Sie sind sicher, dass er keinen Infarkt hatte?«, fragte die Frau.

»Das war kaum möglich. Er unterhielt sich in dem Moment mit mir und zwar ganz vernünftig. Keinerlei Beschwerden, er war nur ärgerlich. Dann kündigte das Aggregat einen Defibrillationsversuch an. Es versteht sich wohl von selbst, dass Balcazar sich darüber sehr erregte.«

»Und was geschah dann?«

»Ich wollte ihm den Panzer abnehmen, aber er hatte so viele Leitungen im Körper, dass ich es in den wenigen Sekunden, bevor sich der Defibrillator zuschaltete, nicht schaffen konnte. Und dann blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu entfernen. Hätte ich Balcazar berührt, ich wäre womöglich selbst nicht mehr am Leben.«

»Er lügt«, sagte der Betreuer.

»Hören Sie nicht auf ihn«, sagte Sky ungerührt. »Was sollte er denn sonst sagen? Ich will ihm keine böse Absicht unterstellen…« Er ließ den Satz so lange stehen, dass er sich den Umstehenden einprägen konnte, bevor er fortfuhr: »Ich behaupte also nicht, dass es Absicht war, aber es war ein schwerer Fehler, den ich auf Überarbeitung zurückführen möchte. Sehen Sie sich die beiden doch an. Sie stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Kein Wunder, dass Ihnen da Fehler unterlaufen. Wir sollten ihnen nicht allzu schwere Vorwürfe machen.«

So. Wenn die Anwesenden später an dieses Gespräch zurückdachten, würden sie nicht einen Sky vor sich sehen, der versuchte, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sondern einen großmütigen, sogar gnädigen Sieger. Und sie würden ihm Beifall zollen, ohne die schlafmützigen Betreuer ganz und gar von jeder Schuld freizusprechen. Und das ohne schlechtes Gewissen, dachte Sky. Ein großer, allseits geachteter alter Mann war unter unglücklichen Umständen zu Tode gekommen. Da war es nicht mehr als recht und billig, wenn gewisse Beschuldigungen erhoben wurden.

Er hatte sich gut aus der Affäre gezogen.

Bei der Autopsie würde sich herausstellen, dass der Captain tatsächlich an Herzversagen gestorben war, aber weder durch die Autopsie, noch mit dem Diagnostikspeicher des Überwachungssystems würde man im Einzelnen rekonstruieren können, was zu seinem Tod geführt hatte.

»Das hast du gut gemacht«, sagte Clown.

Gewiss; aber ein Teil des Verdienstes gebührte auch Clown. Er hatte Sky geraten, dem schlafenden Balcazar den Uniformrock aufzuknöpfen, und er hatte Sky gezeigt, wie er auf die abgesicherten Funktionen des Systems zugreifen und es so programmieren konnte, dass es den Defibrillationsimpuls abgab, obwohl sich der Captain so wohl fühlte wie seit längerem nicht mehr. Clown hatte großes Geschick bewiesen, wobei Sky im Innersten seines Herzens durchaus erkannte, dass Clowns Wissen das seine war. Aber Clown hatte die Erinnerung ans Licht geholt, und dafür war Sky ihm dankbar.

»Ich finde, wir sind ein gutes Team«, flüsterte Sky ihm zu.

Sky beobachtete, wie die Leichen der Männer ins All stürzten.

Man hatte für Valdivia und Rengo die einfachste Art der Hinrichtung gewählt, die es an Bord eines Raumschiffes gab: Tod durch Ersticken in einer Luftschleuse mit anschließender Entsorgung der Leichen im Vakuum. Das Gerichtsverfahren zur Untersuchung der Todesumstände des alten Mannes hatte nach Schiffszeit zwei Jahre gedauert; die Mühlen der Justiz mahlten langsam, in Skys Aussage wurden immer neue Widersprüche entdeckt, immer wieder wurde Berufung eingelegt. Aber jede Berufung war gescheitert, und Sky war es gelungen, die Widersprüche für nahezu jedermann befriedigend aufzuklären. Als die Luft aus der Schleusenkammer gepumpt wurde, hatte man die Sterbenden verzweifelt gegen die Tür hämmern hören. Nun drängte eine Schar von höheren Schiffsoffizieren an die Bullaugen, um einen Blick ins Dunkel zu werfen.

Die Strafe war hart, überlegte Sky — besonders weil die medizinische Versorgung auf dem Schiff ohnehin nur mit Mühe aufrechterhalten werden konnte. Aber solche Verbrechen durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Dabei spielte es kaum eine Rolle, dass diese Männer nur fahrlässig gewesen waren, ohne Balcazar wirklich töten zu wollen — obwohl selbst daran gewisse Zweifel bestanden. Nein; auf einem Schiff wog Fahrlässigkeit kaum weniger schwer als Meuterei. Ebenso fahrlässig wäre es gewesen, an diesen Männern kein Exempel zu statuieren.

»Du hast sie ermordet«, sagte Constanza so leise, dass nur Sky es hörte. »Die anderen magst du überzeugt haben, aber mich nicht. Ich kenne dich zu gut, Sky.«

»Du kennst mich überhaupt nicht«, zischte er.

»O doch. Ich kenne dich, seit du ein kleiner Junge warst.« Sie lächelte so breit, als würden sie sich nur angeregt unterhalten. »Du warst nie normal, Sky. Entartete Geschöpfe wie Sleek haben dich von jeher mehr interessiert als reale Menschen. Auch Ungeheuer wie der Infiltrator. Du hast ihn am Leben erhalten, nicht wahr?«

»Wen am Leben erhalten?«, fragte er mit einem ebenso unaufrichtigen Lächeln.

»Den Infiltrator.« Sie sah ihn aus schmalen Augen misstrauisch an. »Wenn es tatsächlich so zugegangen ist. Wo ist er überhaupt? Auf der Santiago gibt es hundert Verstecke. Eines Tages komme ich dir auf die Schliche, und dann werde ich deinem sadistischen Experiment ein Ende bereiten. Und eines Tages werde ich auch beweisen, dass du Valdivia und Rengo verleumdet hast. Und dann bekommst du die Strafe, die du verdienst.«

Sky lächelte. Er dachte an die Folterkammer, wo er Sleek und den Chimären gefangen hielt. Der Delphin war noch um etliche Stufen verrückter geworden: eine Maschine aus purem Hass, deren einziger Daseinszweck es war, dem Chimären Schmerzen zu bereiten. Sky hatte Sleek darauf konditioniert, dem Ärmsten die Schuld an seiner Gefangenschaft zu geben, und nun hatte der Delphin die Rolle des Teufels übernommen, nachdem Sky in den Augen des Mannes zum Gott geworden war. Seit der Infiltrator nicht nur eine Figur hatte, die er verehren, sondern auch eine, die er fürchten und verabscheuen konnte, ließ er sich viel leichter manipulieren. Langsam aber sicher näherte er sich dem Ideal an, das Sky von vornherein vorgeschwebt hatte. Bis der Chimäre gebraucht wurde — und das hatte noch einige Jahre Zeit —, wäre das Werk vollendet.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte Sky.

Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter. Ramirez, der Leiter des Exekutivrats, jenes Schiffsgremiums, dem es oblag, den vakanten Kommandantensessel neu zu besetzen. Nach allem, was man hörte, hatte Ramirez die besten Aussichten, Balcazars Nachfolger zu werden.

»Belegen Sie ihn wieder einmal mit Beschlag, Constanza?«, fragte der Mann.

»Wir plaudern nur über alte Zeiten«, antwortete sie. »Nichts, was nicht warten könnte, glauben Sie mir.«

»Er hat sich gut gehalten, finden Sie nicht? Ein anderer hätte sich vielleicht bewegen lassen, diese Männer aus Mangel an Beweisen freizusprechen, aber unser Sky ist standhaft geblieben.«

»So ist er nun einmal«, sagte Constanza und wandte sich ab.

»Für Zweifel ist in der Flottille kein Platz«, sagte Sky, den Blick fest auf die beiden Leichen gerichtet. Dann nickte er zum Captain hin, den man in einem Kühlbehälter aufgebahrt hatte. »Wenn mich der gute Alte eines gelehrt hat, dann dies: man darf sich niemals von Unsicherheit beherrschen lassen.«

»Der gute Alte?«, fragte Ramirez amüsiert. »Sie meinen Balcazar?«

»Er war wie ein Vater zu mir. Einen Führer wie ihn bekommen wir kein zweites Mal. Wäre er noch am Leben, diese Männer müssten sich noch glücklich schätzen, schmerzlos ersticken zu dürfen. Balcazar hätte einen qualvollen Tod für die einzig akzeptable Form der Abschreckung gehalten.« Sky sah Ramirez eindringlich an. »Oder sind Sie etwa nicht dieser Meinung?«

»Ich… woher soll ich das wissen?« Ramirez stutzte für einen Moment, dann hatte er sich wieder gefangen und sprach weiter. »Ich war mit Balcazars Ansichten nicht so vertraut, Haussmann. Es gibt Gerüchte, wonach er gegen Ende nicht mehr ganz klar im Kopf gewesen sein soll. Aber da Sie sein Herzblatt waren, haben Sie ihn sicher besser gekannt.« Wieder legte er Sky die Hand auf die Schulter. »Für manche von uns ist das ein entscheidender Punkt. Wir hatten Vertrauen in Balcazar, und Balcazar vertraute Ihrem Vater Titus. Ich will ganz offen sein: Ihr Name ist im Gespräch… Was würden Sie sagen…?«

»Der Kommandantensessel?« Wozu noch lange um den heißen Brei herum reden? »Das ist doch wohl noch etwas zu früh? Außerdem… jemand mit Ihren Verdiensten und Ihrer umfassenden Erfahrung…«

»Vor einem Jahr hätte ich Ihnen noch zugestimmt. Ja, wahrscheinlich werde ich das Amt übernehmen — aber ich bin kein junger Mann mehr, und es wird sicher nicht lange dauern, bis die ersten Fragen nach einem geeigneten Nachfolger laut werden.«

»Sie haben noch viele Jahre vor sich.«

»Oh, mag sein, dass ich Journey’s End noch sehen darf, aber bis dahin bin ich gewiss nicht mehr in der Lage, in den schwierigen Anfangsjahren die Besiedlung zu leiten. Selbst Sie werden dann nicht mehr jung sein, Haussmann… aber doch noch sehr viel jünger als so mancher von uns. Wichtiger noch, Sie haben nicht nur eine Vision, sondern auch die Nervenstärke, daran festzuhalten…« Ramirez sah Sky merkwürdig an. »Aber etwas belastet Sie doch?«

Sky sah die Hingerichteten mit der Finsternis verschmelzen wie zwei winzige Sahnetröpfchen, die man in den schwärzesten Kaffee geschüttet hatte. Das Schiff stand natürlich nicht unter Schub — es flog antriebslos dahin, so lange Sky denken konnte — und deshalb würde es eine Ewigkeit dauern, bis die Männer verschwunden waren.

»Nein, ich war nur in Gedanken. Nachdem die beiden Männer ins All gestoßen wurden, brauchen wir sie nicht mehr mitzutragen und können etwas stärker abbremsen, wenn der Zeitpunkt für die Triebwerkszündung kommt. Das heißt, wir können unsere derzeitige Reisegeschwindigkeit etwas länger beibehalten. Und damit erreichen wir früher unser Ziel. Auf diese Weise haben die Männer eine kleine und natürlich völlig ungenügende Wiedergutmachung für ihre Verbrechen geleistet.«

»Sie kommen wirklich auf die merkwürdigsten Ideen, Haussmann.« Ramirez tippte ihm mit dem Finger an die Nasenspitze und ging ganz nahe an ihn heran. Jetzt flüsterte er, obwohl auch bisher keine Gefahr bestanden hatte, dass andere Offiziere das Gespräch belauschten. »Ein guter Rat. Es war kein Scherz, als ich sagte, Ihr Name sei im Gespräch — aber Sie sind nicht der einzige Kandidat, und ein falsches Wort von Ihnen könnte sich verheerend auf Ihre Chancen auswirken. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Kristallklar.«

»Gut. Nehmen Sie sich in Acht und bewahren Sie einen kühlen Kopf, dann brauchen Sie nur noch etwas Glück, und Sie sind drin.«

Sky nickte. Ramirez erwartete vermutlich, dass er ihm aus Dankbarkeit für diese vertrauliche Information die Füße küsste, doch Sky empfand nur tiefe Verachtung — die er allerdings nach Kräften zu verbergen suchte. Als ob die Wünsche von Ramirez und seinen Kumpanen in irgendeiner Weise von Bedeutung wären! Als ob diese armen, blinden Narren irgendeinen Einfluss darauf hätten, ob er Captain wurde!

»Er ist ein Niemand«, flüsterte Sky. »Aber ich muss ihm das Gefühl geben, er wäre nützlich.«

»Natürlich«, sagt Clown, denn Clown war immer in der Nähe. »Genau das würde ich auch tun.«

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