Als Dieterling und ich die Brücke erreichten, brach bereits die Nacht herein.
»Eines muss ich dir noch zu Rothand Vasquez sagen«, bemerkte Dieterling. »Du darfst ihn nie mit diesem Namen ansprechen.«
»Warum nicht?«
»Weil er dann stocksauer wird.«
»Soll ich mich etwa vor ihm fürchten?« Ich bremste unseren Wheeler scharf herunter, parkte ihn am Straßenrand zwischen einem Sammelsurium verschiedenster Fahrzeuge und ließ die Stabilisatoren herunter. Die überhitzte Turbine roch wie ein heißer Gewehrlauf. »Seit wann kümmern wir uns darum, was der Pöbel von uns denkt?«
»Normalerweise nicht, aber hier ist vielleicht etwas Vorsicht geboten. Vasquez mag nicht der hellste Stern am Verbrecherhimmel sein, aber er hat Freunde, und er hat ‘ne nette Masche laufen, die extrem sadistisch ist. Also zeig dich von deiner besten Seite.«
»Ich werde mein Möglichstes tun.«
»Ja — und bemühe dich wenigstens, dabei nicht allzu viel Blut zu verspritzen, ja?«
Wir stiegen aus dem Wheeler, legten den Kopf in den Nacken und schauten zur Brücke hinauf. Ich hatte sie noch nie gesehen — ich war noch nie in der Entmilitarisierten Zone und oder gar in Nueva Valparaiso gewesen —, und sie war mir schon unglaublich riesig erschienen, als wir noch fünfzehn oder zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt gewesen waren. Der Schwan hatte, rot und aufgebläht, mit einem kleinen feurigen Kern bereits dicht über dem Horizont gestanden, aber es war noch so hell gewesen, dass man das Brückenkabel und hin und wieder eine der winzigen kugelförmigen Gondeln erkennen konnte, die ins All hinaufgezogen oder von dort herabgelassen wurden. Schon da hatte ich befürchtet, wir könnten zu spät kommen — Reivich könnte bereits in einer der Kabinen sitzen —, aber Vasquez hatte uns versichert, der Mann, den wir jagten, befinde sich noch in der Stadt und sei damit beschäftigt, seine Vermögensverhältnisse auf Sky’s Edge zu ordnen und Kapital auf langfristige Konten umzuschichten.
Dieterling schlenderte um unseren Wheeler herum — der einrädrige Wagen mit den ineinander greifenden Panzersegmenten erinnerte an ein zusammengerolltes Gürteltier — und öffnete den winzigen Kofferraum.
»Verdammt. Fast hätte ich die Mäntel vergessen, Bruder.«
»Ich hatte eigentlich gehofft, du würdest nicht mehr daran denken.«
Er warf mir einen zu. »Hör auf zu jammern und zieh ihn über.«
Ich zwängte mich vorsichtig hinein, denn ich trug bereits mehrere Schichten Kleidung übereinander. Der Saum schleifte durch die Pfützen mit schmutzigem Regenwasser, aber Aristokraten trugen die Mäntel gern so lang, als wollten sie einen herausfordern, ihnen auf die Schöße zu treten. Auch Dieterling schlüpfte in seinen Mantel und tippte nacheinander die verschiedenen Muster ein, die auf dem Ärmel abgebildet waren. Keine der Optionen fand seine Zustimmung. »Nein«, murmelte er immer wieder stirnrunzelnd. »Nein… Himmel, nein. Und nochmals nein. Und das kommt auch nicht infrage.«
Ich griff hinüber und drückte eins von den Feldern. »So. Du siehst umwerfend aus. Und jetzt halt den Mund und gib mir die Waffe!«
Ich hatte meinen Mantel bereits auf ein mattes Perlweiß programmiert, vor dem die Pistole hoffentlich möglichst wenig auffallen würde. Nun zog Dieterling das kleine Ding wie eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche und reichte es mir.
Die Waffe war klein und halb durchsichtig. Unter dem glatten Duroplastgehäuse waberte ein Nebel von winzigen Bauteilen.
Es war eine aufziehbare Pistole. Sie bestand ausschließlich aus Kohlenstoff — hauptsächlich Diamant —, der aber zur Schmierung und zur Energiespeicherung mit Fullerenen versetzt war. Sie brauchte keine Metallteile, keinen Sprengstoff und keine Elektronik. Nur ein ausgeklügeltes System von unzähligen Hebeln und Sperrstangen, die durch kugelige Fullerene gängig gehalten wurden. Geschossen wurde mit spinstabilisierter Diamant-Flechette-Munition. Die Energie lieferten bis zur Bruchgrenze zusammengerollte Fulleren-Federn, die beim Schuss aufsprangen. Die Waffe wurde mit einem Schlüssel aufgezogen wie eine Spielzeugmaus. Visier, Stabilisatoren oder automatische Zielerfassung gab es nicht.
Auf all das konnte ich verzichten.
Keiner der Passanten hatte die Übergabe beobachtet. Beruhigt schob ich die Waffe in meine Manteltasche.
»Ein Schmuckstück, wie ich es dir versprochen hatte«, sagte Dieterling.
»Sie wird genügen.«
»Genügen? Tanner, du enttäuschst mich. Das ist eine ausnehmend schöne und bösartige Waffe. Ich könnte mir sogar vorstellen, sie für die Jagd einzusetzen.«
Typisch Miguel Dieterling, dachte ich. Betrachtet jede Situation erst einmal aus der Perspektive des Jägers.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Du kriegst sie in einem Stück zurück. Andernfalls weiß ich, was ich dir zu Weihnachten schenke.«
Wir gingen auf die Brücke zu. Keiner von uns war je in Nueva Valparaiso gewesen, aber das machte nichts. Es war nach dem gleichen Plan angelegt wie viele andere große Städte auf dem Planeten. Sogar die Straßennamen waren vertraut. Die meisten unserer Siedlungen hatten einen deltaförmigen Grundriss. Im Zentrum befand sich ein Dreieck mit etwa hundert Metern Seitenlänge, von dessen Spitzen drei Hauptverkehrsadern ausgingen. Um diesen Kern gruppierte sich im Allgemeinen eine Reihe von zunehmend größeren Dreiecken, und irgendwann verlor sich die strenge Geometrie in einem planlosen Gewirr von Vororten und Neubaugebieten. Wofür das Dreieck im Zentrum genutzt wurde, war Sache der jeweiligen Gemeinde und hing gewöhnlich davon ab, wie oft die Stadt im Laufe des Krieges besetzt oder bombardiert worden war. Nur ganz selten hatten sich noch Reste des deltaflügeligen Shuttles erhalten, das einst die Keimzelle der ganzen Ansiedlung gewesen war.
Auch Nueva Valparaiso hatte so angefangen, und seine Straßen trugen die üblichen Namen: Omdurman, Norquinco, Armesto und so weiter — aber das zentrale Dreieck war unter dem Terminal der Brücke begraben. Das Gebäude war für beide Seiten so wertvoll gewesen, dass es alle Kämpfe unbeschadet überstanden hatte. Der schwarze Klotz mit seinen dreihundert Metern Seitenlänge ragte so senkrecht auf wie ein Schiffsrumpf, war aber im unteren Drittel mit einem Schorf aus Hotels, Restaurants, Kasinos und Bordellen überkrustet. Doch auch ohne die Brücke hätte man der Straße angesehen, dass sie in einem der alten Viertel unweit des Landeplatzes lag. Einige der Gebäude bestanden aus aufeinander gestapelten Frachtbehältern, in die man Türen und Fenster geschnitten hatte, um sie dann in den folgenden zweihundertfünfzig Jahren nach Lust und Laune mit allen möglichen architektonischen Schnörkeln zu garnieren.
»He«, sagte eine Stimme. »Da ist ja der verdammte Tanner Mirabel.«
Der Mann lehnte im Schatten eines Hauseingangs, als hätte er nichts Besseres zu tun, als den Insekten beim Vorbeikriechen zuzusehen. Ich kannte ihn bisher nur vom Telefon oder vom Video — wobei wir unsere Gespräche möglichst kurz gehalten hatten — und hatte ihn mir viel größer vorgestellt, viel weniger wie eine Ratte. Er trug einen ähnlich schweren Mantel wie ich, nur drohte ihm der seine jeden Moment von den ‘Schultern zu rutschen. Die bräunlich verfärbten Zähne waren spitz zugefeilt, ein ungepflegter Drei-Tage-Bart zierte das spitze Gesicht, das lange schwarze Haar war nach hinten gekämmt und ließ die extrem niedrige Stirn frei. In der linken Hand hielt er eine Zigarette, die er sich immer wieder zwischen die Lippen schob, die andere — rechte — Hand steckte unsichtbar in der Manteltasche und machte keine Anstalten, sich hervor zu wagen.
»Vasquez«, sagte ich, als sei es ganz selbstverständlich, dass er Dieterling und mich beschattet hatte. »Ich gehe mal davon aus, dass du deinen Mann nicht aus den. Augen gelassen hast.«
»He, immer mit der Ruhe, Mirabel. Der Kerl kann nicht einmal pinkeln gehen, ohne dass ich’s mitkriege.«
»Er ist immer noch dabei, seine Finanzen zu regeln?«
»Richtig. Du weißt doch, wie reiche Leute so sind. Die Geschäfte gehen vor, Mann. Ich wäre an seiner Stelle längst wie ein geölter Blitz die Brücke hoch gerast.« Er deutete mit der Zigarette auf Dieterling. »Und du bist der Schlangenjäger, wie?«
Dieterling zuckte die Achseln. »Wenn du meinst.«
»Schlangen jagen find ich echt cool, Mann.« Er tat so, als würde er mit der Zigarette zielen und schießen. Sicher hatte er eine imaginäre Hamadryade im Visier. »Könntest du mich vielleicht mal mitnehmen, wenn du das nächste Mal losziehst?«
»Ich weiß nicht«, sagte Dieterling. »Wir verwenden eigentlich keine Lebendköder. Aber ich kann ja mit dem Boss reden. Mal sehen, was sich machen lässt.«
Rothand Vasquez fletschte seine spitzen Zähne. »Humor hast du. Du gefällst mir, Schlange. Wie könnte es auch anders sein, schließlich arbeitest du für Cahuella. Wie geht’s Cahuella überhaupt? Wie ich höre, hat’s ihn genauso schlimm erwischt wie dich, Mirabel. Böse Zungen behaupten sogar, er hätt’s nicht überlebt.«
Wir hatten an sich nicht vorgehabt, aller Welt von Cahuellas Tod zu erzählen, bevor wir uns genauer überlegt hatten, was sich daraus für Konsequenzen ergaben — aber die Nachricht hatte Nueva Valparaiso offenbar noch vor uns erreicht.
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte ich.
Vasquez nickte so langsam und bedeutungsvoll, als hätte sich soeben eine seiner tiefsten Überzeugungen bewahrheitet.
»Ja, das hab’ ich auch gehört.« Er legte mir die linke Hand auf die Schulter, achtete aber darauf, dass die Glut der Zigarette den perlweißen Stoff nicht berührte. »Es heißt, du bist um den halben Planeten gefahren, obwohl dir ein Bein fehlte, nur um Cahuella und seine Schlampe nach Hause zu bringen. Ziemliche Heldenoper, Mann, selbst für’n Weißauge. Aber das kannst du mir alles bei ‘nem Pisco Sour erzählen. Dann kann Schlange mich auch gleich für die nächste Exkursion vormerken. OK, Schlange?«
Wir gingen weiter in Richtung Brücke. »Ich glaube nicht, dass wir dafür genügend Zeit haben«, sagte ich. »Für die Drinks, meine ich.«
»Wie gesagt, immer mit der Ruhe.« Vasquez schlenderte vor uns her. Die rechte Hand hatte er immer noch in der Tasche. »Ihr seid mir ohnehin ein Rätsel. Ein Wort von euch, und Reivich wäre kein Problem mehr, sondern nur ein Fleck auf dem Fußboden. Noch steht das Angebot, Mirabel.«
»Ich muss ihn selbst erledigen, Vasquez.«
»Ja. Auch das hab’ ich gehört. Du musst Blutrache üben oder so. Hattest du nicht mit Cahuellas Schlampe was laufen?«
»Taktgefühl ist wohl nicht gerade deine Stärke, Red?«
Ich sah, wie Dieterling zusammenzuckte. Wir gingen schweigend ein paar Schritte weiter, dann blieb Vasquez stehen und drehte sich nach mir um.
»Was hast du eben gesagt?«
»Ich hab’ gehört, dass man dich hinter deinem Rücken Vasquez die Rothand nennt.«
»Und was, verdammt noch mal, geht dich das an?«
Ich zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Andererseits, was geht es dich an, ob zwischen mir und Gitta was war?«
»Na schön, Mirabel.« Er zog länger als sonst an seiner Zigarette. »Ich denke, wir haben uns verstanden. Es gibt Dinge, nach denen möchte ich nicht gefragt werden, und es gibt Dinge, nach denen möchtest du nicht gefragt werden. Vielleicht hast du Gitta gevögelt, vielleicht auch nicht, Mann.« Er beobachtete ungerührt, wie ich auffuhr. »Aber wie gesagt, es geht mich nichts an. Ich werde dich nicht wieder danach fragen. Ich werde nicht mal mehr dran denken. Aber tu mir ‘nen Gefallen, ja? Nenn mich nicht Rothand. Ich weiß, dass Reivich dir da draußen im Dschungel ziemlich übel mitgespielt hat. War wohl kein reines Vergnügen, du wärst fast dabei draufgegangen. Aber eins sollte dir klar sein. Ihr beiden seid hier in der Minderheit. Ihr werdet die ganze Zeit von meinen Leuten beobachtet. Das heißt, du solltest mich lieber nicht verärgern. Und wenn du es doch tust, dann kannst du was erleben, dass dir die Sache mit Reivich daneben vorkommt wie ein Kindergeburtstag.«
»Ich finde«, griff Dieterling ein, »wir sollten dem Herrn einfach glauben, was er sagt. Einverstanden, Tanner?«
Langes, trotziges Schweigen. »Sagen wir doch einfach, wir haben beide ‘nen wunden Punkt getroffen«, schlug ich vor.
»Ja«, sagte Vasquez. »Gefällt mir. Ich und Mirabel, wir sind beide sehr empfindlich und rasten leicht aus, darauf müssen wir eben Rücksicht nehmen. Akzeptabel. Und jetzt trinken wir ein paar Pisco Sour und warten, bis Reivich den ersten Schritt tut.«
»Ich will mich nicht allzu weit von der Brücke entfernen.«
»Kein Problem.«
Vasquez drängte sich mit lässiger Unbefangenheit durch die abendlichen Spaziergänger und bahnte uns den Weg. Aus dem Erdgeschoss eines Frachtbehältergebäudes drang Akkordeonmusik, langsam und gemessen wie ein Trauermarsch. Pärchen schlenderten durch die Straßen — mehr Einheimische als Aristokraten, aber so gut gekleidet, wie es ihr Einkommen nur erlaubte: gut aussehende, junge Leute, die sich entspannt mit lächelndem Gesicht nach einem Lokal umsahen, wo sie zu Abend essen, ein Spielchen machen oder Musik hören konnten. Wahrscheinlich hatte der Krieg auch in ihr Leben schmerzlich eingegriffen; vielleicht hatten sie Freunde oder Verwandte verloren, aber Nueva Valparaiso war so weit von den Fronten entfernt, dass die Kämpfe in ihrem Denken nicht die Hauptrolle zu spielen brauchten. Es fiel mir schwer, sie nicht zu beneiden; zu gerne wäre auch ich mit Dieterling in eine Bar gegangen, um mich sinnlos zu betrinken und alles zu vergessen: die aufziehbare Pistole, Reivich und den Grund, warum ich mich auf dem Weg zur Brücke befand.
Natürlich waren an diesem Abend auch andere Leute unterwegs. Soldaten auf Urlaub, die Zivilkleidung trugen, aber an ihrem aggressiven Bürstenhaarschnitt, der übertrainierten Muskulatur, den schillernden Chamäleon-Tätowierungen an den Armen und der seltsam asymmetrischen Gesichtsbräunung mit dem hellen Fleck um das eine Auge, mit dem sie normalerweise durch das am Helm befestigte Okular eines Zielgeräts spähten, sofort zu erkennen waren. Hier konnten sich Soldaten aller gegnerischen Parteien mehr oder minder frei bewegen, die überall präsente EMZ-Miliz sorgte dafür, dass sie keinen Ärger machten. Die Milizionäre hatten als Einzige das Recht, innerhalb der Entmilitarisierten Zone Waffen zu tragen, und schwenkten ihre Gewehre stolz mit weiß behandschuhten Händen. Vasquez war vor ihnen sicher, und Dieterling und mich hätten sie wohl auch dann nicht weiter behelligt, wenn wir nicht in seiner Begleitung gewesen wären. Wir mochten aussehen wie Gorillas, die man in zu enge Anzüge gesteckt hatte, aber mit aktiven Soldaten waren wir nicht so leicht zu verwechseln, schon weil wir dafür zu alt waren. Wir hatten beide die erste Hälfte unseres Lebens fast hinter uns, und die währte auf Sky’s Edge im Grunde genau so lange wie überall sonst in der Geschichte der Menschheit: vierzig bis sechzig Jahre.
Nicht gerade viel.
Dieterling und ich waren gut in Form, aber wir wirkten nicht so athletisch wie aktive Soldaten. Soldaten hatten schon immer übermenschlich entwickelte Muskeln besessen, aber seit meiner Zeit als Weißauge war das noch sehr viel extremer geworden. Damals konnte man das Muskeltraining noch damit rechtfertigen, dass man schließlich seine schweren Waffen mit sich herumschleppen musste. Seither war die Ausrüstung verbessert worden, aber wenn ich mir die Soldaten ansah, die heute Abend auf der Straße waren, dann schienen sie mir wie von einem Karikaturisten gezeichnet, der bis zur Lächerlichkeit übertrieb. Im Feld wurde die Diskrepanz durch die leichten Waffen, die jetzt in Mode waren, noch weiter verschärft: so viele Muskeln für ein Gewehr, das jedes Kind hätte tragen können.
»Hier herein«, sagte Vasquez.
Es war eins von den Gebäuden, die den Fuß der Brücke überwucherten. Er lotste uns durch eine kurze, dunkle Gasse zu einer Tür ohne Aufschrift mit Schlangenhologrammen zu beiden Seiten. Wir betraten eine Großküche, die von dichten Dampfschwaden durchzogen war. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, duckte mich blinzelnd an einer Batterie mörderisch aussehender Küchenwerkzeuge vorbei, und fragte mich unwillkürlich, ob Vasquez die Dinger wohl auch zu nicht kulinarischen Zwecken verwendete.
Ich wandte mich an Dieterling und flüsterte: »Warum reagiert er eigentlich so empfindlich, wenn man ihn Rothand nennt?«
»Das ist eine lange Geschichte«, gab Dieterling zurück. »Es geht dabei nicht nur um die Hand.«
Hin und wieder tauchte aus dem Dampf ein Koch mit nacktem Oberkörper und einer Atemmaske aus Plastik auf, die sein Gesicht zur Hälfte verdeckte. Während Vasquez mit zweien dieser Männer sprach, fasste Dieterling flink in einen Topf mit kochendem Wasser, fischte etwas heraus und knabberte vorsichtig daran.
»Das ist Tanner Mirabel, ein Freund von mir«, erklärte Vasquez dem Oberkoch. »Der Junge war früher mal ein Weißauge, ihr haltet euch also besser von ihm fern. Wir bleiben eine Weile hier. Bring uns etwas zu trinken. Pisco Sour. Mirabel, hast du Hunger?«
»Eigentlich nicht. Und Miguel bedient sich sowieso schon selbst.«
»Gut. Aber ich glaube, die Ratte ist nicht mehr ganz frisch, Schlange.«
Dieterling zuckte die Achseln. »Ich habe schon viel schlechter gegessen, das kannst du mir glauben.« Er schob sich noch ein Häppchen in den Mund. »Mm. Wirklich nicht schlecht, die Ratte. Norvegicus, richtig?«
Wir verließen hinter Vasquez die Küche und betraten einen leeren Spielsalon. Im ersten Moment glaubte ich, wir wären ganz allein. Der Raum war diskret beleuchtet und üppig mit grünem Samt ausgeschlagen. Auf strategisch verteilten Postamenten standen blubbernde Wasserpfeifen. An den Wänden hingen Gemälde in verschiedenen Brauntönen — die jedoch bei näherem Hinsehen gar nicht gemalt, sondern aus vielen sorgfältig ausgeschnittenen und verleimten Holzteilen zusammengesetzt waren.
Einige der Hölzer hatten jenen leichten Glanz, der verriet, dass sie aus der Rinde eines Hamadryadenbaumes stammten. Alle Bilder beschäftigten sich mit einem Thema: Szenen aus dem Leben von Sky Haussmann. Die fünf Schiffe der Flottille verließen das System der Erde und traten die weite Reise durch das Weltall an. Titus Haussmann suchte nach dem großen Blackout mit der Fackel in der Hand nach seinem Sohn, der allein im Dunkeln saß. Sky besuchte seinen Vater im Schiffslazarett, bevor Titus den Verletzungen erlag, die er sich zugezogen hatte, als er die Santiago vor dem Saboteur beschützte. Besonders kunstvoll dargestellt war Sky Haussmanns ruhmreiches Verbrechen: die Aktion, mit der er dafür gesorgt hatte, dass die Santiago unsere Welt vor den anderen Schiffen der Flottille erreichte. Die Kälteschlafmodule flogen davon wie Löwenzahnschirmchen. Und das letzte der Bilder zeigte die Strafe, mit der ihm das Volk seine Untaten vergolten hatte: die Kreuzigung.
Die hatte, wie ich mich dunkel erinnerte, nicht weit von hier stattgefunden.
Doch der Raum war mehr als nur eine Gedenkstätte für Haussmann. Ringsum waren Nischen in die Wände eingelassen, in denen traditionelle Spielautomaten hingen, außerdem sah ich ein halbes Dutzend Tische, die im Augenblick noch nicht besetzt, aber sicher für Glücksspiele am späteren Abend reserviert waren. Irgendwo im Schatten huschten Ratten herum, sonst war nichts zu hören.
In der Mitte zog jedoch eine halbkugelförmige Kuppel die Blicke auf sich, tief schwarz und mindestens fünf Meter breit, umringt von Polstersesseln, die auf raffinierten Teleskopsockeln drei Meter über dem Boden schwebten. Eine Armlehne jedes Sessels enthielt ein Tastenfeld zum Steuern von elektronischen Glücksspielen, die andere ein komplettes Infusionsbesteck. Nur einige der Sessel waren besetzt, aber mit so völlig reglosen Totengestalten, dass ich sie beim Eintreten gar nicht bemerkt hatte. Alle saßen in sich zusammengesunken da, mit schlaffen Gesichtszügen und geschlossenen Augen. Alle waren von diesem unbestimmbaren aristokratischen Flair umgeben: einer Aura von Reichtum und Unverwundbarkeit.
»Was ist mit ihnen?«, fragte ich. »Habt ihr heute Morgen vergessen, sie rauszuwerfen, als ihr den Laden zugemacht habt?«
»Nein. Die sind gewissermaßen Dauergäste, Mirabel. Sie stecken in einem Spiel, das sich über Monate hinzieht: langfristige Wetten auf den Ausgang verschiedener Bodenkämpfe. Wegen des Regens ist zur Zeit alles ruhig. Fast als fände der Krieg nun doch nicht statt. Aber du müsstest mal sehen, was hier passiert, wenn die Kacke am Dampfen ist.«
Der Raum war mir irgendwie nicht recht geheuer. Die Szenen aus dem Leben von Sky Haussmann spielten dabei eine wesentliche Rolle, aber an ihnen lag es nicht allein.
»Ich finde, wir sollten wieder gehen, Vasquez.«
»Und was ist mit den Drinks?«
Bevor ich mich zu einer Antwort durchringen konnte, trat, immer noch geräuschvoll durch seine Plastikmaske atmend, der Oberkoch ein. Er schob einen kleinen Servierwagen mit Getränken vor sich her. Ich nahm mir achselzuckend einen Pisco Sour, dann nickte ich zu den Wänden hin.
»Sky Haussmann ist hier wohl ein großes Thema?«
»Du ahnst nicht, wie sehr, Mann.«
Vasquez tat irgendetwas, und die Halbkugel erwachte zum Leben. Plötzlich war sie nicht mehr tief schwarz, sondern zeigte eine Hälfte von Sky’s Edge mit unendlich vielen Details. Vom Boden schob sich ein schwarzer Streifen nach oben wie die Nickhaut eines Eidechsenauges. Nueva Valparaiso war, ein Haufen funkelnder Lichter, durch eine Wolkenlücke an der Westküste der Halbinsel zu sehen.
»Ja?«
»Viele Leute sind hier ziemlich religiös. Wenn du nicht aufpasst, kannst du da leicht ins Fettnäpfchen treten. Du musst ihre Überzeugungen respektieren, Mann.«
»Ich hab’ gehört, dass um Haussmann eine richtige Kirche entstanden ist, aber das ist so ziemlich alles, was ich weiß.« Wieder nickte ich zu den Wänden hin, und dabei fiel mir zum ersten Mal ein Delphinschädel mit seltsamen Höckern und Wülsten auf. »Was soll denn das sein? Hast du die Kneipe etwa einem Haussmann-Fanatiker abgekauft?«
»Das nicht gerade, nein.«
Dieterling hüstelte warnend. Ich achtete nicht darauf.
»Was dann? Gehörst du womöglich selbst zu denen?«
Vasquez drückte seine Zigarette aus und massierte sich die Nasenwurzel. Eine Falte erschien auf seiner kaum vorhandenen Stirn. »Was soll das, Mirabel? Willst du mich wütend machen, oder bist du nur ein Schwanzlutscher, der von nichts ‘ne Ahnung hat?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich wollte ich mich nur gepflegt unterhalten.«
»Natürlich. Und dass du mich vorhin Red genannt hast, war auch nur reiner Zufall; ist dir einfach so rausgerutscht, wie?«
»Ich dachte, das hätten wir geklärt?« Ich nippte an meinem Pisco. »Ich will dich wirklich nicht provozieren, Vasquez. Du bist aber auch ungewöhnlich empfindlich.«
Er machte eine Bewegung, kaum sichtbar, nur mit einer Hand, ein kurzes Fingerschnippen.
Dann ging alles so schnell, dass das Auge nicht folgen konnte; Metall blitzte auf, und von überall her drangen schwache Luftzüge in den Raum. Im Nachhinein rekonstruierte ich, dass sich ringsum — in den Wänden, im Fußboden und wahrscheinlich in der Decke — vielleicht ein Dutzend Irisblenden oder Schiebeklappen geöffnet hatten, aus denen sich Maschinen schoben.
Es waren automatische Wachdrohnen, fliegende schwarze Kugeln, die nun in der Mitte aufklappten und jeweils drei bis vier Gewehrläufe auf Dieterling und mich richteten, während sie uns, summend wie Wespen, mit kaum gebändigter Angriffslust umkreisten.
Sekundenlang wagte keiner von uns zu atmen. Schließlich war es Dieterling, der das Wort ergriff.
»Wenn du wirklich sauer auf uns wärst, Vasquez, wären wir jetzt wahrscheinlich schon tot.«
»Ganz richtig, Schlange, aber ihr wart hart an der Grenze.« Er hob die Stimme: »Sicherung ein«, und schnippte wie zuvor mit den Fingern. »Hast du das gesehen, Mann? Für dich war es die gleiche Bewegung wie vorhin, nicht? Aber für den Raum nicht. Hätte ich das System nicht abgeschaltet, dann hätte er sie als Befehl interpretiert, alle Anwesenden außer mir und die fetten Säcke in den Spielersesseln zu exekutieren.«
»Nur gut, dass du so fleißig geübt hast«, sagte ich.
»Lach du nur, Mirabel.« Er wiederholte die Bewegung. »Auch das sieht genauso aus, nicht wahr? Aber es war wieder ein anderer Befehl. Damit hätte ich die Drohnen angewiesen, euch nacheinander die Arme abzuschießen. Der Raum ist so programmiert, dass er mindestens zwölf weitere Gesten erkennt — und bei manchen Befehlen hätte ich hinterher eine saftige Rechnung fürs Saubermachen zu bezahlen.« Er zuckte die Achseln. »Habe ich mich jetzt klar genug ausgedrückt?«
»Ich denke, wir haben verstanden.«
»Na schön. Sicherung aus. Wachen abziehen.«
Wieder die rasend schnellen Bewegungen; der Luftzug von allen Seiten. Die Maschinen lösten sich förmlich in Luft auf.
»Beeindruckt?«, fragte Vasquez.
»Nicht unbedingt«, sagte ich, obwohl mir der Schweiß auf der Stirn stand. »Ein anständiges Sicherheitssystem hätte jeden Besucher bereits durchleuchtet, bevor er so weit käme. Aber als Party-Gag vermutlich gar nicht schlecht.«
»So könnte man sagen.« Vasquez sah mich amüsiert an. Er hatte offensichtlich erreicht, was er wollte, und war zufrieden.
»Außerdem frage ich mich immer noch, warum du so empfindlich bist.«
»An meiner Stelle wärst du noch ‘nen ganzen Tick empfindlicher.« Dann tat er etwas, das mich überraschte. Er zog die Hand aus der Tasche, ganz langsam, damit ich sehen konnte, dass er keine Waffe hatte. »Was sagst du dazu, Mirabel?«
Ich wusste nicht, was ich eigentlich erwartet hatte, die geballte Faust sah ganz normal aus. In keiner Weise ungewöhnlich, keinerlei Missbildungen. Sie war nicht einmal besonders rot.
»Sieht aus wie eine Hand, Vasquez.«
Er ballte die Faust noch fester, und dann passierte etwas Sonderbares. Zwischen den Fingern quoll Blut hervor; zunächst nur langsam, dann immer mehr. Dicke scharlachrote Tropfen fielen auf den grünen Boden und spritzten auseinander.
»Daher kommt mein Name. Weil ich aus der rechten Hand blute. Verdammt originell, was?« Er öffnete die Faust, und ich sah, dass das Blut aus einem kleinen Loch in der Mitte der Handfläche strömte. »Das ist die große Sensation. Ein Stigma; wie eine von den Wunden Christi.« Er griff mit der heilen Hand in die andere Tasche, zog ein Taschentuch heraus, knüllte es zusammen und drückte es auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. »Manchmal kommt es sogar, wenn ich es will.«
»Dich hat also der Haussmann-Kult erwischt«, stellte Dieterling fest. »Diese Leute haben Sky gekreuzigt. Haben ihm einen Nagel in die rechte Hand geschlagen.«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte ich.
»Soll ich’s ihm erklären?«
»Tu dir keinen Zwang an, Schlange. Der Mann hat noch ‘ne Menge zu lernen.«
Dieterling wandte sich mir zu. »Der Haussmann-Kult ist im Lauf der letzten hundert Jahre zu einer ganzen Reihe von Sekten zerfallen. Eine Reihe davon nimmt sich die Büßermönche zum Vorbild und will etwas von den Qualen spüren, die Sky erduldet haben muss. Einige schließen sich im Dunkeln ein, bis sie vor Einsamkeit fast den Verstand verlieren oder Visionen haben. Andere schneiden sich den linken Arm ab; manche kreuzigen sich sogar selbst. Hin und wieder kommt einer dabei ums Leben.« Er hielt inne und sah Vasquez an, als bitte er um Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. »Eine besonders extreme Sekte tut dies alles und noch mehr. Und sie begnügt sich auch damit nicht. Sie verbreitet ihre Botschaft nicht mündlich oder schriftlich, sondern durch ein Indoktrinationsvirus.«
»Weiter«, sagte ich.
»Das Virus muss eine Spezialanfertigung sein; wahrscheinlich von den Ultras hergestellt. Vielleicht ist einer von den Anhängern sogar zu den Schiebern gereist und hat sie in seiner Neurochemie herumpfuschen lassen. Spielt weiter keine Rolle. Wichtig ist, dass das Virus ansteckend ist. Es wird durch die Luft übertragen und infiziert fast jeden, der damit in Berührung kommt.«
»Es bekehrt einen zum Haussmann-Kult?«
»Nein.« Das war Vasquez. Er hatte sich eine neue Zigarette angezündet. »Es versaut dich gründlich, aber es macht dich nicht zu einem von denen, kapiert? Du kriegst Visionen, du hast Träume, und manchmal drängt es dich…« Er hielt inne und nickte dem Delphin an der Wand zu. »Siehst du diesen Fischkopf? Hat mich ein Heidengeld gekostet. Das ist der Schädel von Sleek, einem von den Delphinen auf dem Schiff. Wenn ich solches Gerümpel um mich rum habe, werde ich ruhiger; dann hört das Zittern auf. Aber das ist auch schon alles.«
»Und die Hand?«
»Einige von den Viren«, sagte Vasquez, »bewirken auch körperliche Veränderungen. Ich hatte sogar noch Glück. Es gibt eins, das macht dich blind; bei einem anderen kriegst du Angst vor der Dunkelheit; wieder ein anderes lässt deinen linken Arm verdorren und abfallen. Weißt du, das bisschen Blut hin und wieder stört mich nicht weiter. Anfangs, als noch nicht so viele Leute von dem Virus wussten, fand ich’s sogar ganz cool. Man konnte damit richtig Eindruck schinden. Zum Beispiel, wenn man jemanden, mit dem man verhandeln wollte, einfach mit Blut besudelte. Aber mit der Zeit kamen die Leute dahinter, was tatsächlich dahinter steckte, dass ich mir nämlich ein Kult-Virus eingefangen hatte.«
»Und fragten sich, ob du wirklich ein so harter Bursche warst, wie sie gehört hatten«, ergänzte Dieterling.
»Genau.« Vasquez sah ihn misstrauisch an. »‘nen Ruf wie den meinen baut man sich nicht von heute auf morgen auf.«
»Das glaube ich dir gern«, sagte Dieterling.
»Ja, und solche Bagatellen, Mann, die können einem wirklich schaden.«
»Kann man das Virus nicht ausschwemmen?«, fragte ich, bevor Dieterling doch noch zu weit ging.
»Das schon, Mirabel. Im Orbit gibt es irgend so’n Zeug, mit dem das geht. Aber der Orbit steht im Moment nicht auf meiner Liste von sicheren Reisezielen, verstehst du?«
»Dann lebst du eben damit weiter. So groß kann die Infektionsgefahr doch auch nicht mehr sein, oder?«
»Nein, du bist sicher. Und alle anderen auch. Ich bin kaum noch ansteckend.« Seit er wieder rauchte, hatte er sich ein wenig beruhigt. Die Blutung hatte aufgehört, er konnte die Hand wieder in die Tasche zurückstecken. Nun nahm er einen Schluck von seinem Pisco Sour. »Manchmal wünschte ich, das Virus wäre noch aktiv, oder ich hätte damals, als ich infiziert wurde, etwas Blut von mir aufbewahrt. Wäre ein hübsches Abschiedsgeschenk, jemandem eine Spritze voll in die Vene zu jagen.«
»Aber«, sagte Dieterling, »damit würdest du genau das tun, was der Kult immer von dir wollte. Du würdest für die Verbreitung seines Glaubens sorgen.«
»Stimmt. Dabei sollte ich eher verbreiten, was mit dem perversen Dreckskerl passiert, der mir das angetan hat, sollte ich ihn jemals erwischen…« Etwas lenkte ihn ab. Er verstummte und starrte für einen Moment ins Leere, als hätte er einen Anfall. Dann sprach er weiter. »Nein. Ausgeschlossen, Mann. Das glaube ich nicht.«
»Was ist?«
Vasquez’ Halsmuskeln bewegten sich weiter, aber zu hören war nichts mehr. Er hatte wohl die ganze Zeit mit einem seiner Männer in Verbindung gestanden.
»Es ist Reivich«, sagte er endlich.
»Was ist mit ihm?«, fragte ich.
»Der Scheißkerl hat mich ausgetrickst.«