Zweiunddreißig

»Du machst ein Gesicht, als hättest du ein Gespenst gesehen«, sagte Zebra.

Sie hatte darauf bestanden, dass ich mich im Innenhof hinsetzte, und mir ein undefinierbares Getränk bestellt, das heiß und süß schmeckte.

»Du hast ja keine Ahnung.«

»Was war denn so schlimm, Tanner? Du musstest doch irgendeinen Verdacht haben, sonst hättest du den Scan erst gar nicht machen lassen.«

»Ich würde eher von einer Befürchtung sprechen.«

Ich wusste nicht, wo, wann oder mit wem ich anfangen sollte. Seit meiner Ankunft im Orbit um Yellowstone war mein Erinnerungsvermögen gestört, und zudem hatte ich mich mit dem Indoktrinationsvirus angesteckt. Das Virus hatte mir unerwünschte Einblicke in Sky Haussmanns Psyche verschafft, doch gleichzeitig waren auch Teile meiner eigenen Vergangenheit wieder deutlich geworden: wer ich war; was ich hier suchte; warum ich Reivich töten wollte. Mit alledem hätte ich mich noch abfinden können, auch wenn es mich tief beunruhigte. Doch es hatte nicht aufgehört. Es hatte nicht einmal aufgehört, als ich anfing, mich mit Gedanken und Gefühlen durch Skys Vergangenheit zu tasten, und von geheimen Verbrechen erfuhr, über die sonst niemand Bescheid wusste. Und es hatte auch nicht aufgehört, als sich meine Erinnerungen an Gitta verwirrten und ich sie nicht mit meinen, sondern mit Cahuellas Augen sah.

Selbst dafür hätte sich mit einiger Anstrengung noch eine Erklärung finden lassen. Vielleicht waren Cahuellas Erinnerungen irgendwie zwischen meine eigenen geraten? So etwas kam vor. Erinnerungen konnten schließlich aufgezeichnet und übertragen werden. Ich hatte zwar keine Ahnung, aus welchem Grund sich Cahuellas Erlebnisse mit meinen vermischen sollten, aber ausgeschlossen war es nicht.

Doch die Wahrheit — die Wahrheit, die mir nun ganz allmählich dämmerte — war noch sehr viel erschreckender.

Ich lebte nicht im richtigen Körper.

»Es ist nicht so leicht zu erklären«, sagte ich.

»Niemand geht einfach in ein Meistermischer-Zentrum und lässt sich auf innere Verletzungen scannen«, zischte Zebra, »wenn er nicht wenigstens zur Hälfte überzeugt ist, auch etwas zu finden.«

»Nein, ich…«Ich hielt inne. War es Einbildung, oder hatte ich in der bunten Menge, die sich um Methusalems Becken drängte, soeben wieder dieses Gesicht gesehen? Vielleicht litt ich jetzt endgültig unter Halluzinationen. Vielleicht hatte mir das, was mir der Meistermischer gezeigt hatte, den Rest gegeben. Vielleicht war es von jetzt an mein Schicksal, überall und in jeder Lebenslage auf Reivich zu stoßen.

»Tanner…?«

Ich wagte nicht, mir die Menge genauer anzusehen. »Es hätte eine Wunde da sein müssen«, sagte ich. »Aber die fehlte. Eine alte Verletzung, die längst verheilt war… aber jeder Heilungsprozess hinterlässt seine Spuren.«

»Was war das für eine Wunde?«

»Nach meinen Erinnerungen müsste ich einen Fuß verloren haben. Ich könnte dir genau sagen, wie es dazu kam und was ich dabei empfand. Aber es ist nichts zu sehen.«

»Dann muss das Regenerationsverfahren sehr ausgereift gewesen sein.«

»Und was ist mit der anderen Wunde? Mein Arbeitgeber wurde bei der gleichen Gelegenheit verletzt. Er wurde mit einer Strahlenwaffe durch den Körper geschossen, Zebra. Und das war zu sehen.«

»Jetzt begreife ich gar nichts mehr, Tanner.« Sie sah sich um, ihr Blick blieb kurz an irgendetwas, irgend jemandem hängen, dann kehrte er wieder zu mir zurück. »Willst du mir erzählen, du wärst nicht der, für den du dich hältst?«

»Sagen wir, ich ziehe die Möglichkeit allen Ernstes in Betracht.« Ich wartete einen Moment, dann sagte ich: »Du hast ihn auch gesehen, nicht wahr?«

»Was?«

»Reivich. Ich hatte ihn kurz vorher bemerkt; einen Moment lang dachte ich, es sei eine Halluzination. Aber das war es nicht, oder?«

Zebra öffnete rasch den Mund zu einem glatten Dementi — aber sie brachte es nicht über die Lippen. Der Lack hatte Sprünge bekommen. »Was ich sagte, ist die Wahrheit«, erklärte sie, als sie die Sprache wiederfand. »Ich arbeite nicht mehr für ihn. Aber du hast Recht. Ich habe ihn gesehen.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es ist allerdings nicht der echte Reivich.«

Ich nickte; das hatte ich mir selbst schon halb und halb zusammengereimt. »Ein Köder?«

»So könnte man es nennen.« Sie starrte in ihre Teetasse. »Du weißt, dass er nach seiner Ankunft hier genügend Zeit gehabt hätte, sein Aussehen zu verändern. Tatsächlich wäre das sogar ein Gebot der Vernunft gewesen, und deshalb hat er es auch getan. Der echte Reivich hält sich irgendwo in der Stadt auf, aber du bräuchtest schon eine Gewebeprobe oder müsstest ihn unter den Scanner eines Meistermischers legen, um Gewissheit zu haben. Und selbst dann blieben noch Zweifel. Wenn man genügend Zeit hat, lässt sich nämlich alles verändern. Wenn Reivich genügend investiert hat, verrät ihn womöglich nicht einmal seine DNA.« Zebra hielt inne. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass der Mann immer noch am Rand der Menge stand, die sich um den großen Fisch scharte. Oh doch, er war es — oder zumindest eine ausnehmend gute Kopie. Zebra sagte: »Reivich wusste, dass er nicht so leicht zu finden war, aber er wollte dich aufscheuchen. Erst wenn er dich kannte, konnte er irgendwann wieder ruhig schlafen und — wenn er wollte — sein altes Aussehen und seine Identität wieder annehmen.«

»Und deshalb hat er jemanden überredet, seine Rolle zu spielen.«

»Dazu war keine Überredung nötig. Der Mann hat sich förmlich danach gedrängt.«

»Jemand mit einem Todeswunsch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr als jeder andere Unsterbliche im Baldachin. Ich glaube, er heißt Voronoff, aber sicher bin ich nicht, ich stand Reivich nie so nahe. Du wirst von Voronoff noch nicht gehört haben, aber in Baldachin-Kreisen ist er ziemlich bekannt. Er ist einer der extremsten Jäger; für ihn war das Große Spiel immer zu zahm. Und er ist sehr gut — sonst wäre er nicht mehr am Leben.«

»Du irrst dich«, sagte ich. »Voronoff ist mir durchaus ein Begriff.«

Ich erzählte ihr von dem Mann, der den Nebelsprung vorgeführt hatte, als ich mit Sybilline in dem Restaurant am Ende des Stängels war.

»Das kann ich mir denken«, sagte sie. »Voronoff macht alles, was lebensgefährlich ist, vorausgesetzt, es erfordert auch viel körperliche Geschicklichkeit. Risikosportarten, alles, was ihn ordentlich aufputscht und ihn zwingt, auf dem schmalen Grat zwischen Sterblichkeit und seiner Langlebigkeit zu wandeln. Mit der Jagd würde er sich heute nicht mehr abgeben; sie wäre nur ein Zeitvertreib für ihn, keine echte Herausforderung. Nicht, weil sie unfair ist, sondern weil die Teilnehmer kein persönliches Risiko eingehen.«

»Mit einer Ausnahme natürlich.«

»Du weißt schon, was ich meine.«

Sie verstummte. »Menschen wie Voronoff sind extreme Charaktere«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Die üblichen Rezepte gegen die Langeweile wirken bei ihnen einfach nicht mehr. Es ist, als hätten sie eine Toleranz dagegen aufgebaut. Jetzt brauchen sie etwas Stärkeres.«

»Und da kam es ihm gerade recht, sich selbst zur Zielscheibe zu machen.«

»Es war ein kontrolliertes Risiko. Voronoff hatte ein ganzes Netz von Spitzeln und Informanten auf deine Spur gesetzt.

Als du zum ersten Mal glaubtest, ihn gesehen zu haben, hatte er dich längst entdeckt.« Sie schluckte. »Er hatte dafür gesorgt, dass Methusalem zwischen euch war. Das war kein Zufall. Er hatte die Fäden fester in der Hand, als dir jemals bewusst war.«

»Trotzdem war es ein Fehler. Er hat es mir zu leicht gemacht. Erst dadurch begann ich zu überlegen, was eigentlich gespielt wurde.«

»Ja.« Zebra nickte verständnisvoll. »Aber da war Voronoff schon nicht mehr aufzuhalten. Wir hatten keinen Einfluss mehr auf ihn.«

Ich schaute ihr ins Gesicht mit den schwachen Streifen, während sie weitersprach, ohne dass ich sie dazu drängen musste. »Voronoff gefiel sich zu gut in seiner Rolle. Sie entsprach ihm zu sehr. Lange Zeit hielt er sich an die Anweisungen — wahrte den nötigen Abstand; ließ sich nicht blicken. Der Plan sah vor, dass er eine Reihe von Spuren legen sollte, die dich zu ihm führten, aber du solltest denken, du hättest alles ganz alleine geschafft. Doch das genügte ihm nicht.«

»Er suchte die Gefahr.«

»Ja«, sagte sie mit großer Entschiedenheit. »Voronoff war nicht mehr zufrieden damit, dich zu ködern und darauf zu warten, dass du zu ihm fändest. Er gab seine Zurückhaltung auf — ging immer größere Risiken ein, behielt aber immer noch einen Rest von Kontrolle. Deshalb sagte ich, er ist gut. Aber Reivich gefiel das nicht, aus naheliegenden Gründen. Voronoff arbeitete nicht mehr für ihn, sondern suchte auf eigene Faust nach neuen Wegen, um die Langeweile in Schach zu halten. Und dafür war diese Rolle wohl genau das Richtige.«

»Für ihn vielleicht, aber nicht für mich.«

Ich stand so hastig auf, dass ich fast den Tisch umgeworfen hätte. Eine Hand hatte bereits die Reise in meine Tasche angetreten.

»Tanner«, sagte Zebra und hielt mich am Saum meines Mantels fest, bevor ich den ersten Schritt tun konnte. »Ihn zu erschießen, ändert doch nichts.«

»Voronoff«, rief ich — ich schrie nicht, sondern brachte nur meine Stimme zum Tragen wie ein berühmter Schauspieler. »Voronoff — drehen Sie sich um und treten Sie aus der Menge heraus.«

Die ersten Passanten bemerkten die blitzende Pistole in meiner Hand.

Der Mann, der wie Reivich aussah, erwiderte meinen Blick. Er schien nicht einmal allzu überrascht zu sein. Aber er war nicht der Einzige, der mich ansah. Inzwischen hatte ich alle Blicke auf mich gezogen, und wer nicht mein Gesicht studierte, der starrte wie gebannt auf die Pistole. Wenn die Jagd unter den Baldachin-Bewohnern so verbreitet war, wie man mich glauben gemacht hatte, mussten viele dieser Menschen sehr viel stärkere Waffen gesehen und auch selbst benützt haben als das kleine Ding, das ich jetzt in Anschlag brachte. Aber nie in aller Öffentlichkeit und nie auf so drastisch vulgäre Weise. Die Blicke hätten nicht erschrockener, verwirrter, empörter sein können, wenn ich auf den Zierrasen vor dem Koi-Karpfen-Teich gepinkelt hätte.

»Vielleicht hören Sie schlecht, Voronoff.« Ich fand, dass meine Stimme sehr freundlich und vernünftig klang. »Ich weiß, wer Sie sind, und ich weiß, was hier gespielt wird. Wenn Sie sich einigermaßen über mich informiert haben, dann sollte Ihnen klar sein, dass ich durchaus imstande bin, das Ding hier zu benutzen.« Jetzt war die Pistole auf ihn gerichtet, ich hielt sie mit zwei Händen und hatte die Beine leicht gegrätscht.

»Fallen lassen, Mirabel!«

Die Stimme hatte ich seit längerem nicht mehr gehört, und sie war auch nicht aus der Menge gekommen. Jemand drückte mir einen kalten, metallischen Gegenstand in den Nacken.

»Sind Sie taub? Ich sagte, Sie sollen das Schießeisen fallen lassen. Und wenn das noch lange dauert, fällt Ihr Kopf gleich hinterher.«

Ich senkte die Waffe, aber das genügte dem Sprecher nicht. Der Druck in meinem Nacken verstärkte sich, bis ich mich der Erkenntnis nicht mehr entziehen konnte, dass es in meinem Interesse läge, die Pistole fallen zu lassen.

Also tat ich es.

»Du«, sagte der Mann, offenbar an Zebra gewandt, »stößt jetzt die Waffe mit dem Fuß zu mir herüber. Und komm ja nicht auf die Idee, in irgendeiner Richtung kreativ zu werden.«

Auch sie gehorchte.

Eine Hand schob sich in mein Blickfeld und hob die Pistole auf; als der Mann niederkniete, veränderte sich der Druck der Waffe in meinem Nacken ein wenig. Aber er war gut, das spürte ich deutlich, und deshalb hielt auch ich — genau wie Zebra — meine Kreativität im Zaum. Da sie ohnehin erschöpft war, konnte ich nichts Besseres tun.

»Voronoff, du bist ein Narr«, sagte die Stimme. »Fast hättest du uns eine schöne Suppe eingebrockt.« Ich hörte ein Klicken, als meine Pistole geöffnet wurde, dann folgte ein amüsiertes Zungenschnalzen. Ich konnte den Sprecher nicht sehen, aber seine Stimme kam mir sehr bekannt vor. »Sie ist leer. Das verdammte Ding war nicht einmal geladen.«

»Das ist mir neu«, sagte ich.

»Das war ich.« Zebra zuckte die Achseln. »Ist das so schwer zu begreifen? Ich musste befürchten, dass du irgendwann damit auf mich zielst, und deshalb habe ich Vorsorge getroffen.«

»Beim nächsten Mal lässt du das besser bleiben«, sagte ich.

»Es hätte ohnehin nicht viel geändert.« Zebra konnte ihren Ärger kaum verbergen. »Du hast ja nicht einmal versucht, mit dem verdammten Ding zu schießen, Tanner.«

Ich verdrehte die Augen, als wollte ich mir meinen eigenen Hinterkopf ansehen. »Steckst du mit diesem Clown unter einer Decke?«

Ich spürte einen stechenden Schmerz zwischen den Ohren. Dann sagte die Stimme hinter mir so laut, dass alle Gaffer es hören konnten: »Na schön, Baldachin-Sicherheitsdienst; wir haben alles unter Kontrolle.« Aus dem Augenwinkel sah ich etwas aufblitzen, er hielt der Menge einen ledergebundenen Ausweis mit flimmernden Daten entgegen.

Das hatte den gewünschten Erfolg; etwa die Hälfte der Zuschauer zerstreuten sich, die anderen taten so, als hätten sie sich ohnehin nie für uns interessiert. Der Druck im Nacken ließ nach, dann kam der Mann nach vorne und zog sich einen Stuhl an den Tisch. Auch Voronoff hatte sich zu uns gesellt und hampelte, eine exakte Kopie von Reivich, mit missmutigem Gesicht vor mir herum.

»Tut mir Leid, dass ich Ihnen das Spielchen vermasselt habe«, sagte ich.

Der andere Mann war Quirrenbach, aber er hatte seit unserer letzten Begegnung sein Aussehen verändert. Jetzt wirkte er hagerer, niederträchtiger, um einiges ungeduldiger und weniger schusselig. Die Pistole in seiner Hand war so klein und zierlich, dass man sie für ein Feuerzeug hätte halten können.

»Wie geht es mit der Symphonie voran?«

»Das war nicht sehr nett von Ihnen, Mirabel; mich einfach so im Stich zu lassen. Wahrscheinlich muss ich noch froh sein, dass Sie mir wenigstens das Geld für meine Empirika zurückgegeben haben, aber Sie werden verstehen, wenn ich mich vor Dankbarkeit nicht gerade überschlage.«

Ich zuckte die Achseln. »Ich hatte einen Auftrag zu erfüllen. Sie kamen darin nicht vor.«

»Und wie sieht es mit Ihrem Auftrag jetzt aus?«, sagte Voronoff feixend. »Vielleicht sollten Sie sich darüber mal ein paar Gedanken machen, Mirabel.«

»Das sagen ausgerechnet Sie?«

Quirrenbach grinste mich zähnefletschend an wie ein rauflustiger Affe. »Für jemanden, der nicht einmal wusste, dass seine Pistole nicht geladen war, nehmen Sie den Mund ganz schön voll. Vielleicht sind Sie als Profikiller doch nicht die Kanone, für die wir Sie alle gehalten haben.« Er griff nach meiner Teetasse und trank daraus, ohne den Blickkontakt aufzugeben. »Woher wussten Sie übrigens, dass er nicht Reivich war?«

»Rate mal«, sagte Zebra.

»Du hast uns verraten, und dafür könnte ich dich töten«, sagte Quirrenbach zu ihr. »Aber im Moment habe ich nicht die rechte Lust dazu.«

»Warum nimmst du dir nicht zuerst Voronoff vor, Blödmann?«

Quirrenbach betrachtete erst Zebra und dann den falschen Reivich, als zöge er den Vorschlag ernsthaft in Erwägung. »Das ginge nun wirklich nicht an.« Er konzentrierte sich wieder auf mich. »Wir haben da eben einen ziemlichen Wirbel verursacht, Mirabel. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis die so genannte Obrigkeit nachsehen kommt, und ich gehe davon aus, dass keiner von uns dann noch hier sein möchte.«

»Sie gehören also nicht wirklich zum Baldachin-Sicherheitsdienst?«

»Ich bedauere unendlich, Ihre Illusionen zerstören zu müssen.«

»Keine Sorge«, sagte ich. »Die habe ich schon längst verloren.«

Quirrenbach stand lächelnd auf. Die Pistole hielt er immer noch in der Faust. Sie war so winzig, als könnte er sie mit den Fingern zerdrücken. Er richtete den Lauf abwechselnd auf Zebra und auf mich. In der anderen Hand hielt er wie einen Talisman den falschen Ausweis. Auch Voronoff hatte inzwischen eine Waffe gezogen; zu zweit konnten sie uns mühelos in Schach halten. Wir gingen durch die Menge. Quirrenbachs drohende Miene schreckte jeden ab, der sich eingehender für uns zu interessieren schien. Zebra und ich leisteten keinen Widerstand und versuchten auch nicht zu fliehen; es wäre sinnlos gewesen.

Nur drei Gondeln parkten auf dem Landesims. Die schwarze Karosserie glänzend nass vom Regen, die Arme auf dem Dach bereits teilweise ausgefahren, um sofort starten zu können, hockten sie auf dem Sims wie auf dem Rücken liegende tote Spinnen. Mit der einen Gondel waren Zebra und ich hierher gekommen. Auch die zweite erkannte ich wieder, doch die dritte, zu der uns Quirrenbach jetzt führte, war mir fremd.

»Wollen Sie mich nicht lieber gleich töten?«, fragte ich. »Sie können sich eine Menge Arbeit ersparen, wenn Sie mich einfach über die Kante stoßen. Es ist wirklich nicht nötig, mir die letzten Augenblicke mit einer Gondelfahrt durch den Baldachin zu verschönern.«

»Wie konnte ich nur so lange auf ihre geistreichen Bonmots verzichten, Mirabel?«, seufzte Quirrenbach gequält. »Und übrigens — auch wenn es Sie nichts angeht — die Symphonie macht prächtige Fortschritte, vielen Dank.«

»Das war keine Tarngeschichte?«

»Fragen Sie mich in hundert Jahren.«

»Wenn wir schon von Leuten reden, die Hemmungen haben, andere zu töten« schaltete sich Voronoff ein, »dann sind auch Sie betroffen, Mirabel. Sie hätten mich umlegen können, als wir uns das erste Mal zu beiden Seiten von Methusalems Becken gegenüber standen. Aber Sie haben es nicht einmal versucht, und das kann ich mir nicht erklären. Sagen Sie jetzt nicht, der Fisch wäre Ihnen im Weg gewesen. Man kann Ihnen vieles nachsagen, Mirabel, aber sentimental sind Sie ganz sicher nicht.«

Auch wenn ich es nur ungern zugab, er hatte Recht: ich hatte gezögert. In einem anderen Leben — oder zumindest auf einer anderen Welt — hätte ich Reivich (oder Voronoff) abgeknallt, bevor ich sie noch richtig erkannt hätte. Und über den Wert eines unsterblichen Fisches hätte ich mir auf keinen Fall irgendwelche Gedanken gemacht.

»Vielleicht wusste ich da bereits, dass Sie nicht der Richtige waren«, sagte ich.

»Oder Sie hatten einfach nicht den Mut.« Es war dunkel, trotzdem sah ich Quirrenbachs Lächeln aufblitzen. »Ich weiß, woher Sie kommen, Mirabel. Jeder von uns weiß das. Damals auf Sky’s Edge waren Sie mal ziemlich gut. Nur schade, dass Sie nicht wussten, wann die Zeit zum Aufhören gekommen war.«

»Wenn ich ohnehin am Ende bin, warum dann noch die Aufmerksamkeit?«

»Sie sind eine Fliege«, sagte Voronoff. »Und Fliegen muss man erschlagen.«

Das Gefährt versetzte sich in Startbereitschaft, als wir näher kamen. Auf einer Seite klappte wie eine feuchte Zunge eine Tür mit plüschbezogenen Stufen an der Innenseite heraus. Sie wurde von zwei Leibwächtern mit unanständig großen Waffen bewacht. Bei ihrem Anblick schwand auch meine letzte Hoffnung auf Widerstand. Das waren Profis. Wahrscheinlich würden sie nicht einmal zulassen, dass ich mir mit einem Sprung über die Kante einen würdevollen Abgang verschaffte, sondern mir selbst im Sturz noch ein paar Kugeln in den Rücken schießen.

»Wohin fliegen wir?«, fragte ich, obwohl ich es gar nicht unbedingt wissen wollte und auch keine ehrliche Antwort erwartete.

»Ins All«, sagte Quirrenbach. »Wir treffen uns mit Mister Reivich.«

»Ins All?«

»Ich enttäusche Sie nur ungern, Mirabel. Aber Reivich ist gar nicht in Chasm City. Sie haben ein Phantom verfolgt.«

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