Einundzwanzig

Als ich endlich erwachte, lag ich lange im goldenen Morgenlicht, das in Zebras Zimmer strömte, und ließ im Geiste die Träume immer wieder an mir vorüberziehen. Endlich konnte ich mich davon lösen und anfangen, mich um mein verletztes Bein zu kümmern.

Der Heiler hatte über Nacht ein wahres Wunder vollbracht. Die ärztliche Kunst war hier doch sehr viel weiter fortgeschritten als auf Sky’s Edge. Von der Wunde war nur noch ein weißlicher Stern aus neuem Fleisch zu sehen, und die verbliebenen Schäden waren hauptsächlich psychologischer Natur — mein Gehirn wollte nicht wahrhaben, dass mein Bein wieder durchaus imstande war, die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Ich erhob mich von der Couch, machte versuchsweise ein paar unbeholfene Schritte und schleppte mich schließlich über mehrere Stufen des terrassenförmigen Fußbodens zum nächsten Fenster. Die Möbel schlurften bereitwillig beiseite und machten mir Platz.

Bei Tageslicht — oder was man in Chasm City darunter verstand — erschien mir das große Loch im Herzen der Stadt noch näher, noch schwindelerregender zu sein. Ich konnte mir unschwer vorstellen, wie es die ersten Forscher angelockt hatte, die — aus Roboterschößen geboren oder nach gefahrvoller Reise auf den ersten Raumschiffen im Gefolge der Roboter — nach Yellowstone gekommen waren. Die heißen Gase, die aus dem Abgrund quollen, waren bei guten atmosphärischen Bedingungen vom All aus als trüber Fleck zu erkennen.

Ob sie in Raupenschleppern über Land gefahren oder durch Wolkenschichten vom Himmel herab geschwebt waren, der erste Blick auf den Abgrund musste einfach atemberaubend gewesen sein. Vor Hunderttausenden von Jahren hatte etwas eine riesige Wunde in den Planeten gerissen, die noch immer nicht verheilt war. Gerüchten zufolge sollten sich einige der Forscher, nur mit dünnen Druckanzügen geschützt, in die Tiefen hinab gewagt und dort Schätze gefunden haben, mit denen sich ganze Imperien gründen ließen. Wenn das stimmte, hatten sie ihr Geheimnis gut bewahrt. Dennoch hatten sie Nachahmer gefunden, andere Abenteurer und Glücksritter, und um deren Behausungen herum waren die ersten Ansätze jener Siedlung entstanden, aus der sich Chasm City entwickeln sollte.

Es gab keine allgemein anerkannte Erklärung dafür, wie das Loch entstanden war. Die Caldera — die Chasm City vor Winden, verheerenden Überschwemmungen und dem Vorrücken der Methan-Ammoniak-Gletscher schützte — ließ allerdings eine größere Katastrophe vermuten, die auf der geologischen Zeitskala nicht allzu weit zurückliegen konnte. Andernfalls wäre der Krater längst verwittert oder seismischen Erschütterungen zum Opfer gefallen. Wahrscheinlich war Yellowstone dem benachbarten Gasriesen zu nahe gekommen, dabei war Energie in den Planetenkern gejagt worden, die nun unter anderem durch den Abgrund allmählich wieder ins All entwich. Unbekannt war freilich, wodurch dieses Ventil überhaupt entstanden war. Es gab verschiedene Theorien über winzige Schwarze Löcher oder Bruchstücke von Quarkmaterie, die in die Kruste gekracht sein sollten, aber was wirklich geschehen war, wusste niemand. Auch Gerüchte und Märchen rankten sich um die Spalte: man hätte bei Ausgrabungen unter der Kruste Spuren von Außerirdischen gefunden, Beweise dafür, dass der Abgrund in gewissem Sinne künstlich entstanden, wenn auch nicht unbedingt planmäßig geschaffen worden sei. Vielleicht waren die Außerirdischen aus dem gleichen Grund gekommen wie die Menschen, um nämlich die dortigen Energie- und Mineralvorkommen auszubeuten. Die Rohrleitungen, die sich wie Fühler, wie gierige Finger von der Stadt zum Grund der Spalte hinabtasteten, waren von hier aus ganz deutlich zu sehen.

»Tun Sie nicht so völlig unbeeindruckt«, sagte Zebra. »Manch einer würde für diese Aussicht einen Mord begehen. Wahrscheinlich kenne ich sogar einige Leute, die das tatsächlich getan haben.«

»Das überrascht mich nicht allzu sehr.«

Sie war lautlos eingetreten. Ich dachte auf den ersten Blick, sie wäre nackt, doch tatsächlich war sie voll bekleidet. Allerdings war ihr Gewand so durchsichtig wie ein Rauchschleier.

In den Armen hielt sie, gewaschen und ordentlich gefaltet, meine Eisbettlerkleider.

Jetzt konnte ich sehen, wie dünn sie war. Unter der blaugrauen Hülle hatte sie überall schwarze Streifen, die den Linien ihres Körpers folgten und die Genitalregion kaschierten. Diese Streifen verdeckten und betonten abwechselnd die Wölbungen und Falten, sodass sie mit jedem Schritt, den sie näher kam, eine Metamorphose durchlief. Das Haupthaar wuchs in einer schnurgeraden Furche weiter über den ganzen Rücken und endete erst über den gestreiften Hinterbacken. Ihr Gang war von tänzerischer Leichtigkeit, die kleinen hufähnlichen Füße schienen weniger ihr Gewicht zu tragen, als zu verhindern, dass sie einfach davonschwebte. Hätte sie am Großen Spiel teilgenommen, sie hätte sicher zu den besten Jägern gehört. Immerhin hatte sie mich zur Strecke gebracht — wenn auch nur, um ihren Feinden den Spaß zu verderben.

»Auf meinem Heimatplaneten«, sagte ich, »würde man diese Aufmachung als aufreizend empfinden.«

»Wir sind hier nicht auf Sky’s Edge«, sagte sie und legte meine Kleider auf die Couch. »Nicht einmal auf Yellowstone. Im Baldachin tun wir mehr oder weniger, was uns gefällt.« Sie strich sich mit den Händen über die Hüften.

»Entschuldigen Sie, ich möchte nicht indiskret sein, aber wurden Sie so geboren, wie Sie jetzt sind?«

»Wo denken Sie hin? Ich war auch nicht immer eine Frau, was immer das heißen mag, und ich bezweifle, dass ich diese Gestalt für den Rest meines Lebens behalten werde. Ganz sicher werde ich mich nicht immer Zebra nennen. Wer ließe sich denn schon freiwillig für alle Zeit auf einen Körper, eine Identität festnageln?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich bedächtig. »Auf Sky’s Edge war jede Art von körperlicher Veränderung für die meisten Leute unerschwinglich.«

»Verständlich. Sie waren sicher alle viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig umzubringen.«

»Das ist eine stark verkürzte Zusammenfassung unserer Geschichte, aber vermutlich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt. Wie weit sind Sie überhaupt darüber informiert?« Nicht zum ersten Mal, seit Zebra den Raum betreten hatte, musste ich an den schlimmen Traum von Cahuellas Camp denken und daran, wie Gitta mich angesehen hatte. Gitta und Zebra hatten nicht viel gemeinsam, aber ich war noch so verschlafen und desorientiert, dass ich unwillkürlich einige von Gittas Eigenschaften bei Zebra wiederfand: den geschmeidigen Körper, die hohen Wangenknochen und das dunkle Haar. Nicht, dass ich nicht auch Zebra selbst anziehend gefunden hätte. Aber sie erschien mir fremdartiger als jedes Lebewesen — ob menschlich oder nicht —, mit dem ich jemals ein Zimmer geteilt hatte.

»Ich weiß genug«, sagte Zebra. »Einige von uns haben ein geradezu morbides Interesse für Ihre Welt entwickelt. Wir finden sie erheiternd, sonderbar und Grauen erregend zugleich.«

Ich nickte zu den Gefangenen in der Wand hin, dem Bildnis, das ich zunächst für ein Kunstwerk gehalten hatte.

»Ich finde das, was hier geschehen ist, auch ziemlich grauenhaft.«

»Das war es, gewiss. Aber wir haben es durchgestanden, und wer überlebte, hat die Seuche nie in ihrer schlimmsten Form erfahren.« Sie stand jetzt dicht bei mir, und zum ersten Mal fühlte ich mich erregt. »Verglichen mit der Seuche kommt uns Ihr Krieg hier bizarr vor. Für uns war der Feind die eigene Stadt, der eigene Körper.«

Ich nahm ihre Hand und drückte sie gegen meine Brust.

»Wer sind Sie, Zebra? Und warum wollen Sie mir wirklich helfen?«

»Ich dachte, das hätten wir schon vergangene Nacht geklärt.«

»Ich weiß, aber…« Meiner Stimme fehlte die ehrliche Überzeugung. »Sie sind immer noch hinter mir her, nicht wahr? Die Jagd ist nicht zu Ende, nur weil Sie mich mit in den Baldachin genommen haben.«

»So lange Sie hier bleiben, sind Sie in Sicherheit. Meine Räume sind elektronisch abgeschirmt, man kann also Ihr Implantat nicht orten. Außerdem ist der Baldachin für das Große Spiel gesperrt. Die Spieler wollen nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken.«

»Heißt das, ich muss für den Rest meines Lebens hier bleiben?«

»Nein, Tanner. Nur für die nächsten zwei Tage, dann sind Sie außer Gefahr.« Sie zog ihre Hand zurück und strich mir über den Kopf, bis sie die Beule fand, unter der das Implantat saß. »Das Ding, das Waverly Ihnen eingesetzt hat, ist so eingestellt, dass es nach zweiundfünfzig Stunden zu senden aufhört. Auch das gehört zum Spiel.«

»Zweiundfünfzig Stunden? Ist das eine von den Regeln, die Waverly erwähnte?«

Zebra nickte. »Sie haben natürlich mit verschiedenen Zeiträumen experimentiert.«

Zwei Tage waren zu lang. Die Reivich-Fährte war ohnehin schon kalt, wenn ich noch weitere zwei Tage wartete, hätte ich gar keine Chance mehr.

»Warum spielen sie überhaupt?«, fragte ich und war gespannt, ob ihre Antwort sich mit dem decken würde, was Juan, der Rikscha-Fahrer, mir erzählt hatte.

»Aus Langeweile«, sagte Zebra. »Viele von uns hier sind postmortal. Selbst jetzt nach der Seuche ist der Tod für die meisten von uns nur eine geringe Sorge. Nicht mehr so fern vielleicht wie noch vor sieben Jahren, aber nach wie vor nicht die treibende Kraft, wie er es für Sterbliche wie Sie sein muss. Dieses fast unhörbare Stimmchen, das einen drängt, dieses oder jenes zu tun, weil es morgen schon zu spät sein könnte… für uns ist es einfach nicht vorhanden. Yellowstones Gesellschaft hatte sich zweihundert Jahre lang kaum verändert. Wozu schon morgen ein großes Kunstwerk schaffen, wenn man mit fünfzig Jahren Planung etwas viel Besseres zuwege bringen kann?«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Jedenfalls teilweise. Aber jetzt müsste doch alles anders sein. Sind denn durch die Seuche nicht viele von Ihnen wieder sterblich geworden? Ich dachte, sie hätte an den Therapien herumgepfuscht; die Maschinen in Ihren Zellen gestört?«

»Das schon. Wir mussten den Nanomaschinen den Befehl geben, sich aufzulösen, zu harmlosem Staub zu zerfallen, sonst hätten sie uns getötet. Und damit nicht genug. Selbst gentechnische Verfahren waren schwierig durchzuführen, weil sie bei der Überwachung der reversen Transkription zur Reparatur von DNA-Schäden so stark von Nanomaschinen abhängig waren. So ziemlich die Einzigen, die hier keine Schwierigkeiten hatten, waren diejenigen, die von ihren Eltern das Gen für extreme Langlebigkeit geerbt hatten, aber die waren schon immer in der Minderheit.«

»Trotzdem mussten nicht alle auf Unsterblichkeit verzichten.«

»Nein, natürlich nicht…« Sie hielt inne, als wollte sie ihre Gedanken ordnen. »Die Hermetiker, Sie haben sie sicher gesehen — nun, sie tragen noch immer Maschinen in sich, die laufend alle Zellschäden reparieren. Aber der Preis dafür ist hoch. Sie können sich in der Stadt nicht frei bewegen. Sobald sie ihre Palankine verlassen, können sie sich nur in wenigen Bereichen aufhalten, die garantiert frei sind von Sporenresten, und selbst dann besteht noch ein geringes Risiko.«

Ich sah Zebra prüfend an. »Aber Sie sind keine Hermetikerin. Sind Sie nicht mehr unsterblich?«

»Nein, Tanner… so einfach ist die Sache nun wirklich nicht.«

»Was dann?«

»Nach der Seuche haben einige von uns ein neues Verfahren entdeckt. Es gab uns die Möglichkeit, die Maschinen zu behalten — jedenfalls die meisten — und dennoch ohne weiteren Schutz durch die Stadt zu gehen. Es ist eine medizinische Behandlung; ein Medikament. Es wirkt sehr vielfältig, aber niemand weiß, wodurch; jedenfalls schützt es entweder die Nanomaschinen vor der Seuche, oder es greift die Seuchensporen an, die in unseren Körper gelangen.«

»Diese Behandlung… wie sieht sie aus?«

»Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich wissen möchten, Tanner.«

»Nehmen wir an, ich wollte ebenfalls unsterblich werden?«

»Wollen Sie das denn?«

»Nur eine Hypothese, das ist alles.«

»Das dachte ich mir.« Zebra nickte. »Wo Sie herkommen, hält man die Unsterblichkeit für sinnlosen Luxus, nicht wahr?«

»Wenn man nicht gerade von den Momios abstammt, ja.«

»Momios?«

»So nannten wir die Schläfer auf der Santiago. Sie waren unsterblich. Die Besatzung nicht.«

»Wir? Sie reden ja, als wären Sie tatsächlich auf dem Schiff gewesen.«

»Ich hatte mich versprochen. Die Sache ist doch, was bringt einem die ganze Unsterblichkeit, wenn es sowieso keine zehn Jahre dauert, bevor man bei irgendeinem Geplänkel erschossen oder in die Luft gejagt wird? Außerdem verlangen die Ultras solche Wucherpreise, dass sich ohnehin niemand die Behandlung leisten könnte, selbst wenn er wollte.«

»Hätten Sie denn gewollt, Tanner Mirabel?« Sie küsste mich, dann trat sie zurück und sah mich so ähnlich an wie Gitta in meinem Traum. »Ich will mit Ihnen vögeln, Tanner. Schockiert Sie das? Wieso denn? Sie sind ein attraktiver Mann. Sie beteiligen sich nicht an unseren Spielen — Sie verstehen sie nicht einmal —, aber ich glaube, sie wären recht gut, wenn Sie nur wollten. Ich weiß nicht, was ich von Ihnen halten soll.«

»Das weiß ich selbst nicht«, sagte ich. »Meine Vergangenheit ist mir selbst wie ein fremdes Land.«

»Hübscher Spruch, nur leider ganz und gar nicht originell.«

»Tut mir Leid.«

»Aber es steckt wohl doch ein Körnchen Wahrheit darin. Waverly sagt, er hätte keine klaren Ergebnisse bekommen, als er Sie trawlte. Nur Scherben, als sollte man eine zerbrochene Vase kitten. Nein, das stimmt nicht ganz. Er sprach nicht von einer, sondern von zwei oder gar drei zerbrochenen Vasen, und man wüsste nicht, welche Scherbe wohin gehörte.«

»Reanimations-Amnesie«, sagte ich.

»Mag sein. Aber Waverly sagte, das Chaos sei einiges tiefer gegangen… Aber reden wir nicht von ihm.«

»Gut. Sie haben mir immer noch nicht von dieser Behandlung erzählt.«

»Warum finden Sie das so interessant?«

»Weil ich den Verdacht habe, ihr schon begegnet zu sein. Es ist das Traumfeuer, nicht wahr? Hatte nicht Ihre Schwester in dieser Sache Nachforschungen angestellt, als sie wegen ihrer Neugier ermordet wurde?«

Sie ließ sich mit der Antwort Zeit. »Dieser Mantel… gehört nicht Ihnen?«

»Nein, das Geschenk eines Wohltäters. Aber was hat das damit zu tun?«

»Ich dachte nur, Sie spielen mir vielleicht etwas vor. Aber Sie wissen tatsächlich nicht viel über das Traumfeuer, nicht wahr?«

»Bis vor zwei Tagen hatte ich nie davon gehört.«

»Dann sollte ich Ihnen vielleicht ein Geständnis machen«, sagte Zebra. »Ich habe Ihnen vergangene Nacht eine kleine Dosis injiziert.«

»Was?«

»Es war nicht viel, glauben Sie mir. Wahrscheinlich hätte ich Sie fragen sollen, aber Sie waren verletzt und müde, und ich wusste, dass das Risiko sehr gering war.« Sie zeigte mir die kleine Hochzeitswaffe aus Bronze, die sie benutzt hatte. Im Magazin steckte eine volle Ampulle Traumfeuer. »Das Feuer schützt nicht nur diejenigen von uns, die noch Maschinen im Körper haben, es ist auch sonst sehr heilkräftig. Deshalb habe ich es Ihnen gespritzt. Ich muss mir einen neuen Vorrat besorgen.«

»Ist das so einfach?«

Sie lächelte, dann schüttelte sie den Kopf. »Nicht mehr so einfach wie früher. Es sei denn, man hätte einen heißen Draht zu Gideon.«

Ich hatte fragen wollen, was die Bemerkung über meinen Mantel zu bedeuten hatte, aber jetzt hatte sie mich abgelenkt. Den Namen hatte ich noch nie gehört.

»Gideon?«

»Ein Verbrecherkönig. Man weiß nicht viel über ihn, wie er aussieht, wo er lebt. Nur dass er die alleinige Kontrolle über die Traumfeuer-Versorgung in dieser Stadt hat und dass seine Untergebenen ihre Arbeit sehr ernst nehmen.«

»Und jetzt verknappen Sie das Angebot? Nachdem sie alle Welt süchtig gemacht haben? Vielleicht sollte ich mit diesem Gideon mal ein Wörtchen reden.«

»Engagieren Sie sich nicht mehr als nötig, Tanner. Mit Gideon ist wirklich nicht zu spaßen.«

»Das klingt, als sprächen Sie aus Erfahrung.«

»So ist es.« Zebra ging ans Fenster und strich über das Glas. »Sie erinnern sich, dass ich Ihnen von Mavra erzählt hatte, Tanner? Von meiner Schwester, die diese Aussicht so liebte?« Ich nickte. Ich hatte unser Gespräch kurz nach meiner Ankunft hier nicht vergessen. »Ich sagte Ihnen auch, dass sie tot ist. Nun, es waren Gideons Leute, denen sie in die Quere kam.«

»Sie haben sie getötet?«

»Das werde ich nie genau erfahren, aber ich bin davon überzeugt. Mavra glaubte, sie wollten uns aushungern, wollten der Stadt die einzige Substanz vorenthalten, die sie wirklich brauchte. Traumfeuer ist heiße Ware, Tanner — es gibt nicht genug für alle, und dabei ist es für die meisten von uns die kostbarste Substanz, die man sich denken kann. Man würde dafür nicht nur einen Mord begehen; man würde einen Krieg anfangen.«

»Sie wollte Gideon also dazu bringen, den Handel freizugeben?«

»So naiv war Mavra nicht; sie war sogar sehr pragmatisch. Sie wusste, dass sich Gideon die Zügel nicht so leicht aus der Hand nehmen lassen würde. Aber sie dachte, wenn sie herausfände, wie das Zeug hergestellt wurde — oder auch nur, was es war —, dann könnte sie ihr Wissen an andere weitergeben, und die könnten eine eigene Produktion aufziehen. Damit hätte sie zumindest das Monopol gebrochen.«

»Ein Vorhaben, das Bewunderung verdient. Sie muss gewusst haben, dass sie mit ihrem Leben spielte.«

»Ja. So war sie. Sie ließ nicht locker, wenn sie einmal Blut gerochen hatte.« Zebra hielt inne. »Ich hatte ihr immer versprochen, wenn ihr etwas zustieße, würde ich…«

»Weitermachen, wo sie aufgehört hatte?«

»Etwas dergleichen.«

»Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Wenn das erst vorbei ist…« — ich fasste mir an den Kopf —, »kann ich Ihnen vielleicht helfen, Gideon zu finden.«

»Wie kämen Sie dazu?«

»Sie haben mir geholfen, Zebra. Es wäre das Mindeste, um mich zu revanchieren.« Außerdem hörte es sich an, als sei mir diese Mavra sehr ähnlich gewesen. Vielleicht hatte sie schon kurz vor dem Ziel gestanden. In diesem Fall hätten alle, die sich an sie erinnerten — und dazu zählte auch ich mich jetzt —, die verdammte Pflicht, ihre Arbeit fortzusetzen. Außerdem war da noch etwas.

Es hatte mit diesem Gideon zu tun. Er erinnerte mich an eine Spinne, die im Zentrum ihres Netzes im Dunkeln saß, alles kontrollierte und sich für unverwundbar hielt. Ich musste wieder an Cahuella denken und an das, was mir im Schlaf durch den Kopf gegangen war. »Das Traumfeuer, das Sie mir gespritzt hatten. Bekommt man davon so merkwürdige Träume?«

»Das kann passieren. Besonders bei der ersten Dosis. Es verteilt sich im Gehirn und wirkt auf die Neuralverbindungen. Deshalb nennt man es ja Traumfeuer. Aber das ist nur die eine Hälfte.«

»Bin ich jetzt auch unsterblich?«

Zebra ließ das rauchgraue Gewand fallen. Ich zog sie an mich, sah ihr ins Gesicht. »Für heute, ja«, sagte sie.


Ich erwachte vor Zebra, schlüpfte in die Eisbettlerkleider, die sie für mich gewaschen hatte, und streifte leise durch ihre Räume, bis ich gefunden hatte, was ich suchte. Meine Hand verharrte über der riesigen Waffe, mit der sie mich gerettet hatte. Sie hatte sie einfach wie einen Spazierstock im Vorraum ihrer Wohnung abgestellt. Auf Sky’s Edge wäre das Plasmagewehr sehr nützlich gewesen, doch der Gedanke, hier innerhalb der Stadt damit zu schießen, stieß mich irgendwie ab. Die Aussicht, getötet zu werden, allerdings auch.

Ich wog die Waffe in der Hand. Ich hatte so ein Modell noch nie benutzt, aber die Bedienungselemente waren da, wo sie hingehörten, und auch die Statusvariablen auf den Anzeigen waren mir vertraut. Es war eine sehr empfindliche Waffe, und ich gab ihr keine großen Überlebenschancen, sollte sie mit Spuren der Seuche in Berührung kommen. Aber das war kein Grund, sie herumliegen zu lassen, als wollte sie mich geradezu zum Diebstahl auffordern.

»Du bist unvorsichtig, Zebra«, sagte ich. »Wirklich sehr unvorsichtig.«

Ich dachte an die vergangene Nacht zurück; sicher war es ihr vor allem darum gegangen, meine Wunde zu versorgen. Da mochte es verständlich sein, wenn sie die Waffe an der Tür abgelegt und sie dann vergessen hatte. Nachlässig war es trotzdem. Ich legte das Gewehr geräuschlos an seinen Platz zurück.

Sie schlief noch, als ich ins Zimmer zurückkehrte. Ich musste mich sehr in Acht nehmen, damit sich die Möbel nicht mehr als nötig bewegten und sie von dem leisen Scharren erwachte. Ich suchte ihren Mantel und durchwühlte die Taschen.

Jede Menge Geld.

Und ein Satz voll aufgeladener Energiezellen für das Plasmagewehr. Ich stopfte Geld und Zellen in die Taschen des Mantels, den ich Vadim abgenommen hatte — und für den sich Zebra so auffallend interessiert hatte — und rang mit mir, ob ich ihr eine Nachricht hinterlassen sollte. Schließlich suchte ich mir doch ein Stück Papier und einen Stift — nach der Seuche war das altmodische Schreibgerät offenbar wieder in Mode gekommen — und kritzelte ein paar Worte des Inhalts, ich sei ihr sehr dankbar, aber ich wäre kein Mensch, der zwei Tage warten könnte, wenn er wüsste, dass er gejagt würde, auch wenn sie mir gewissermaßen Asyl angeboten hätte.

Auf dem Weg nach draußen nahm ich das Plasmagewehr an mich.

Ihre Seilbahngondel stand noch immer in der Nische neben ihrer Wohnung. Auch hier hatte sie überstürzt gehandelt — das Fahrzeug war fahrbereit, die Steuerkonsole leuchtete und wartete auf meine Eingaben.

Ich hatte zugesehen, wie Zebra die Gondel steuerte, und ging davon aus, dass sie halbautomatisch betrieben wurde — der Fahrer brauchte keine Kabel zu wählen, sondern bestimmte lediglich mit dem Steuerknüppel die Richtung und regelte mit den Drosselventilen die Geschwindigkeit. Den Rest übernahmen interne Prozessoren. Sie wählten die Kabel so, dass die gewünschte Route eingehalten oder das Ziel mit minimalem Aufwand angesteuert wurde. Sollte der Fahrer die Gondel in einen Bereich des Baldachins lenken wollen, wo es keine Kabel gab, würde die Gondel den Befehl vermutlich verweigern oder einen geeigneten Umweg wählen.

Dennoch war vielleicht mehr fahrerisches Können erforderlich, als ich gedacht hatte, denn anfangs wurde ich herumgeworfen wie in einem kleinen Boot auf stürmischer See. Irgendwie gelang es mir dennoch, die Gondel in Bewegung zu halten und durch das Gitternetz des Baldachins nach unten zu steuern. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wohin ich fuhr. Ich hatte ein Ziel vor Augen — ein ganz bestimmtes Ziel sogar —, aber durch die Geschehnisse der vergangenen Nacht hatte ich jegliche Orientierung verloren. Ich hatte keine Ahnung, wo Zebras Wohnung lag, außer, dass der Abgrund in der Nähe war. Immerhin war es jetzt Tag, über dem Moskitonetz ging die Morgensonne auf, ich hatte einen weiten Ausblick über die Stadt und erkannte einige Gebäude mit charakteristischen Deformationen wieder, die ich gestern von weiter unten und aus einem anderen Winkel gesehen haben musste. Ein Hochhaus hatte unheimliche Ähnlichkeit mit einer menschlichen Hand, die vom Himmel herabgriff. Die Finger endeten in dünnen Ranken, die mit den Ausläufern benachbarter Gebäude verschmolzen. Ein anderes glich einer Eiche, manche zerflossen zu einer Wolke aufgeplatzter Blasen und starrten mich an wie das entstellte Gesicht eines Pockenkranken.

Ich steuerte die Gondel weiter abwärts, hinein in das unbewohnte Zwischenreich, das Baldachin und Mulch voneinander trennte. Über mir türmte sich der Baldachin auf wie eine bizarre Wolkenbank. Die Fahrt wurde unruhiger — die Gondel fand weniger Kabel, auf die sie zugreifen konnte, und glitt in schwindelerregend langen Rutschfahrten an einzelnen Strängen abwärts.

Inzwischen musste Zebra wohl bemerkt haben, dass ich mich aus dem Staub gemacht hatte. Sicher fiel ihr auch bald auf, dass ihr Gewehr, Geld und Gondel abhanden gekommen waren — aber was konnte sie schon tun? Wenn das Große Spiel in der ganzen Baldachin-Gesellschaft verbreitet war, konnten sie und ihre Verbündeten meinen Diebstahl kaum melden, ohne zu erklären, wie ich in ihre Wohnung gekommen war. Damit würde sie auch Waverly belasten und sich und ihn als Saboteure bloßstellen.

Unter mir kam der Mulch in Sicht — gewundene, überflutete Straßen, mit Elendsquartieren verkrustete Gebäude. Offene Feuer schickten Rauchzeichen in die Luft, da und dort brannten auch Lichter; wenigstens hatte ich ein bewohntes Viertel getroffen. Es waren sogar Menschen unterwegs, auch Rikschas und Tiere, und wenn ich die Gondeltür geöffnet hätte, wären mir wohl die Düfte aus den Kochkesseln oder der Brandgeruch der Feuer in die Nase gestiegen.

Die Gondel machte einen Satz und sackte ab.

Es war nicht das erste Mal, dass ich erschrak, doch diesmal dauerte die Sturzfahrt länger, und im Cockpit schrillte eine Sirene. Dann bewegte sich das Gefährt wieder halbwegs normal, allerdings merklich holpriger, und die Geschwindigkeit, mit der es sank, erschien mir gefährlich hoch. Was war geschehen? War ein Kabel gerissen oder hatte die Gondel einfach keinen Halt gefunden und war ein Stück weit in die Tiefe gestürzt, bevor sie den nächsten Strang zu fassen bekam?

Schließlich sah ich auf die Steuerkonsole. Dort blinkte eine Schemazeichnung. Der beschädigte Bereich war rot umrandet.

Ich hatte einen der Arme verloren.

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