Vier

Sky Haussmann war drei Jahre alt, als er das Licht sah.

Jahre später, als erwachsener Mann, sollte die Erinnerung an diesen Tag die früheste sein, die er mit einer bestimmten Zeit, einem Ort verbinden und mit Sicherheit der realen Welt zuordnen konnte. Sie war kein Hirngespinst, das die unscharfe Grenze zwischen der Wirklichkeit und den Träumen eines Kindes überschritten hatte.

Seine Eltern hatten ihm verboten, das Kinderzimmer zu verlassen, nachdem er verbotenerweise das Delphinarium besucht hatte: ein dunkles, feuchtes Loch im Bauch der großen Santiago. Dabei war es eigentlich Constanzas Schuld: sie hatte ihn durch ein Labyrinth von Bahntunnels, Laufstegen, Rampen und Treppenschächten zu dem Raum geführt, wo man die Delphine versteckte. Constanza war nur zwei oder drei Jahre älter als Sky, aber in seinen Augen gehörte sie schon fast zu den Großen; sie besaß die überlegene Weisheit aller Erwachsenen. Alle sagten, Constanza sei ein Genie; eines Tages — vielleicht gegen Ende der langen Reise der Flottille durch das Weltall — würde sie Captain werden. Das war ein Scherz, aber Sky spürte den Ernst dahinter. Vielleicht, dachte er manchmal, würde sie ihn zu ihrem Stellvertreter machen, wenn der Tag kam, und dann würden sie gemeinsam im Kontrollraum sitzen, den er immer noch nicht kennen gelernt hatte. Die Vorstellung war gar nicht so abwegig: auch ihm versicherten die Erwachsenen immer wieder, er sei ein ungewöhnlich aufgewecktes Kind; manchmal war sogar Constanza überrascht, was ihm so alles einfiel. Aber auch Constanza unterliefen Fehler, erinnerte Sky sich später, so klug sie auch war. Sie hatte es geschafft, ungesehen mit ihm ins Delphinarium zu gelangen, aber sie war gescheitert, als es darum ging, ihn ebenso unbemerkt wieder zurück zu bringen.

Dennoch hatte es sich gelohnt.

»Die Erwachsenen können sie nicht leiden«, hatte Constanza gesagt, als sie vor dem Becken mit den Delphinen standen. »Ihnen wäre es am liebsten, sie würden gar nicht existieren.«

Die Ablaufgitter unter ihren Füßen waren nass und schmierig. Das Becken, ein Glaskasten mit hohen Wänden, der zwanzig, dreißig Meter weit in den dunklen Frachtraum hinein reichte, erstrahlte in einem fahlen, bläulichen Licht. Sky spähte angestrengt in die türkisgrünen Tiefen. In der Ferne sah er die Delphine, graue Schatten, zielstrebig durch das Wasser gleiten, sah ihre Umrisse im Spiel des Lichts verschwimmen und wieder erscheinen. Sie sahen eigentlich nicht wie Tiere aus, eher wie Seifenfiguren; glitschig und nicht ganz real.

Sky hatte die Hand gegen das Glas gedrückt. »Was haben die Erwachsenen denn gegen sie?«

Constanzas Antwort klang zurückhaltend. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen, Sky. Dies sind nicht mehr dieselben Delphine, die auf dem Schiff waren, als es den Merkur-Orbit verließ, sondern deren Enkel oder ihre Urenkel — so genau weiß ich das nicht. Sie haben nie etwas anderes kennen gelernt als dieses Becken, und bei ihren Eltern war das schon genauso.«

»Ich kenne auch nichts anderes als dieses Schiff.«

»Aber du bist kein Delphin; du hast nie erwartet, in einem Ozean schwimmen zu können.« Constanza verstummte. Eines der Tiere verließ seine Gefährten, die sich am anderen Ende des Beckens um eine Reihe von Fernsehschirmen mit verschiedenen Bildern drängten, und kam auf sie zugeschwommen. Sobald es das klare Wasser unmittelbar hinter dem Glas erreichte, entwickelte es von einem Augenblick zum anderen so etwas wie Persönlichkeit; aus dem nahezu durchsichtigen Schatten wurde mit einem Schlag eine große, potenziell gefährliche Muskelmaschine. Sky hatte im Kinderzimmer Fotos von Delphinen gesehen und fand, dass dieses Tier irgendwie davon abwich: der Schädel war mit einem Netz feinster Linien überzogen, und die geometrisch geformten Höcker und Wülste im Umkreis der Augen verrieten, wie viele harte Metall- und Keramikimplantate im Fleisch des großen Meeressäugers eingebettet waren.

»Hallo«, sagte Sky und klopfte an das Glas.

»Das ist Sleek«, sagte Constanza. »Glaube ich jedenfalls. Sleek ist einer von den Ältesten.«

Der Delphin sah Sky aufmerksam an. Das breite Maul vermittelte den Eindruck von Gutmütigkeit, aber auch von Schwachsinn. Dann brachte er sich mit einer blitzschnellen Drehung direkt vor Sky in Stellung.

Der Junge spürte, wie das Glas lautlos erzitterte. Vor Sleeks Kopf entstanden seltsam geschwungene Linien aus sprudelnden Luftblasen. Zunächst wirkten sie eher zufällig — wie die ersten Pinselstriche eines Künstlers —, doch bald vereinigten sie sich zu einer erkennbaren Form. Sleek zuckte so eifrig mit dem Kopf, als würde er von Stromstößen geschüttelt. Das Schauspiel dauerte nur wenige Sekunden, doch was der Delphin gezeichnet hatte, war eindeutig ein dreidimensionales Gesicht. Es war nicht detailliert ausgeführt, dennoch wusste Sky, dass es mehr war als nur eine Ausgeburt seiner Phantasie, ausgelöst durch ein paar Luftblasen im Wasser. Dafür war es zu symmetrisch, zu wohlproportioniert. Es drückte sogar Gefühle aus, aber wahrscheinlich nur Abscheu oder Angst.

Als Sleek sein Werk vollendet hatte, schlug er verächtlich mit dem Schwanz und schwamm davon.

»Sie hassen uns auch«, sagte Constanza. »Aber das kann man ihnen eigentlich nicht verdenken.«

»Warum hat Sleek das gemacht? Und wie?«

»Sleek hat Maschinen in seiner Melone — dem Höcker zwischen seinen Augen. Sie werden den Tieren implantiert, wenn sie noch ganz klein sind. Normalerweise werden mit der Melone Laute erzeugt, aber mit den Maschinen kann der Schall so präzise gebündelt werden, dass die Tiere mit Luftblasen zeichnen können. Im Wasser sind außerdem kleine Lebewesen — Mikroorganismen —, die aufleuchten, wenn der Schall sie trifft. Als die Menschen die Delphine machten, wollten sie sich mit ihnen verständigen können.«

»Dann müssten ihnen die Delphine doch eigentlich dankbar sein.«

»Vielleicht wären sie das auch — wenn sie nicht immer neue Operationen über sich ergehen lassen müssten. Und wenn sie anderswo schwimmen könnten als in diesem grässlichen Becken.«

»Schon, aber wenn wir erst Journey’s End erreichen…«

Constanza sah ihn traurig an. »Dann ist es zu spät, Sky. Zumindest für diese Tiere hier, denn die sind dann nicht mehr am Leben. Wir beide sind bis dahin erwachsen und unsere Eltern sind alt oder schon gestorben.«

Der Delphin kam in Begleitung eines zweiten, etwas kleineren zurück. Zu zweit begannen sie, ein Bild ins Wasser zu zeichnen. Es sah aus wie ein Mann, der von Haien zerrissen wurde, aber Sky wandte sich ab, bevor er es genau erkennen konnte.

Constanza fuhr fort: »Sie wären sowieso nicht mehr zu retten, Sky.«

Sky wandte sich wieder dem Becken zu. »Mir gefallen sie trotzdem. Sie sind immer noch schön. Sogar Sleek.«

»Sie sind böse, Sky. Psychisch gestört, wie mein Vater sich ausdrückt.« Sie fällte das Urteil mit einem leichten Zögern, das nicht ganz überzeugte, als schämte sie sich ihrer flinken Zunge.

»Das ist mir egal. Ich werde sie trotzdem wieder besuchen.« Sky klopfte an das Glas und sagte laut: »Ich komme wieder, Sleek. Ich mag dich.«

Constanza klopfte ihm mit mütterlicher Geste auf die Schulter, obwohl sie kaum größer war als er. »Das spielt keine Rolle.«

»Ich komme trotzdem.«

Das ebenso für ihn selbst wie für Constanza bestimmte Versprechen war aufrichtig gewesen. Er wollte die Delphine verstehen, mit ihnen kommunizieren, irgendetwas tun, um ihr Elend zu lindern. Er dachte an die weiten, glänzenden Ozeane auf Journey’s End — dass es dort Ozeane gab, hatte ihm Clown erzählt, sein Freund im Kinderzimmer — und stellte sich vor, die Delphine würden plötzlich aus diesem dunklen, düsteren Loch befreit. Im Geiste sah er sie mit den Menschen schwimmen; sah sie heitere Schallbilder ins Wasser zeichnen, während die Erinnerung an die Zeit an Bord der Santiago verblasste wie ein böser Traum.

»Komm«, sagte Constanza. »Wir müssen gehen, Sky.«

»Du bringst mich doch wieder her, nicht wahr?«

»Natürlich, wenn du das unbedingt willst.«

Die beiden hatten das Delphinarium verlassen und sich auf verschlungenen Pfaden den Rückweg durch die dunklen Tiefen der Santiago gesucht wie durch einen Zauberwald. Ein paarmal begegnete ihnen ein Erwachsener, aber Constanzas gebärdete sich so selbstbewusst, dass niemand sie aufhielt — bis sie sich wieder wohlbehalten in dem kleinen Bereich des Schiffes befanden, den Sky als vertrautes Territorium betrachtete.

Dort hatte sein Vater sie gefunden.

Titus Haussmann war ein strenger, aber gütiger Vertreter der lebenden Besatzung der Santiago; ein Mann mit Autorität, der aber mehr geachtet als gefürchtet wurde. Als er sich nun vor den beiden Kindern aufbaute, spürte Sky, dass er nicht wirklich zornig war; nur erleichtert.

»Deine Mutter hat sich entsetzliche Sorgen gemacht«, sagte sein Vater. »Constanza — ich bin sehr enttäuscht von dir. Ich hatte dich immer für ein vernünftiges Mädchen gehalten.«

»Er wollte nur die Delphine sehen.«

»Ach, es ging also um die Delphine?« Die Frage klang überrascht, als hätte Skys Vater eigentlich eine andere Antwort erwartet. »Ich dachte, du interessierst dich für die Toten, Sky — für unsere geliebten Momios.«

Das ist schon wahr, dachte Sky — aber immer eins nach dem anderen.

»Und jetzt bist du traurig«, fuhr sein Vater fort. »Weil sie nicht so waren, wie du sie dir vorgestellt hattest, richtig? Mir tun sie auch Leid. Sleek und die anderen sind krank im Kopf. Es wäre gnädiger, sie alle einzuschläfern, stattdessen lässt man sie weiterhin Junge bekommen, und jede Generation ist…«

»Psychisch noch mehr gestört«, ergänzte Sky.

»… ja.« Sein Vater sah ihn merkwürdig an. »Psychisch mehr gestört als die vorhergehende. Nun, dein Wortschatz hat sich ja erstaunlich vergrößert. Es wäre doch ein Jammer, diese Entwicklung zu unterbrechen, findest du nicht auch? Stattdessen müssen wir alles tun, um dich weiter zu fördern, nicht wahr?« Er fuhr Sky mit der Hand durchs Haar. »Und deshalb bleibst du vorerst in deinem Kinderzimmer, junger Mann. Es steht unter einem besonderen Bann, dort kann dir nichts passieren.«

Es war nicht so, als hätte Sky das Kinderzimmer gehasst, er hielt sich nicht einmal ungern darin auf. Aber wenn man ihn dort unter Arrest stellte, empfand er das zwangsläufig als Strafe.

»Ich möchte mit meiner Mutter sprechen.«

»Deine Mutter befindet sich außerhalb des Schiffs, Sky, du kannst also nicht zu ihr laufen, um sie umzustimmen. Außerdem weißt du genau, dass sie dir nichts anderes sagen würde als ich. Du hast nicht gehorcht, und dafür brauchst du einen Denkzettel.« Er wandte sich kopfschüttelnd an Constanza. »Und nun zu dir, junge Dame. Ich finde, du solltest für eine Weile nicht mehr mit Sky spielen. Was hältst du davon?«

»Wir spielen doch nicht«, sagte Constanza und sah ihn trotzig an. »Wir unterhalten uns und erkunden unsere Umgebung.«

»Richtig«, sagte Titus mit einem schweren Seufzer, »und dabei besucht ihr Bereiche des Schiffes, die euch ausdrücklich verboten sind. Das muss nun einmal bestraft werden.« Seine Stimme war milder geworden, wie immer, wenn er dazu ansetzte, eine wirklich wichtige Frage zu erörtern. »Dieses Schiff ist unsere Heimat — die einzige wahre Heimat, die wir haben — und wir müssen so tun, als würden wir für immer hier leben. Dazu gehört, dass wir uns sicher fühlen, wo das angebracht ist — dass wir aber auch wissen, wo wir besser nicht hingehen. Nicht, weil es dort Ungeheuer gäbe, das ist albern, aber weil dort Gefahren lauern — auch für Erwachsene. Maschinen und Energieanlagen. Roboter und Fallschächte. Glaubt mir, ich habe erlebt, was passieren kann, wenn sich Menschen an Orte wagen, wo sie nichts zu suchen haben, und das ist gewöhnlich alles andere als erfreulich.«

Sky glaubte seinem Vater aufs Wort. Als Leiter der Sicherheitswache an Bord eines Schiffs, das wenig unter politischen oder sozialen Spannungen zu leiden hatte, musste sich Titus Haussmann vor allem mit Unfällen und sehr selten auch einmal mit einem Selbstmord befassen. Titus hatte seinem Sohn nie bis ins Einzelne geschildert, wie man auf einem Schiff wie der Santiago zu Tode kommen konnte, aber Sky besaß genügend Phantasie, um sich den Rest selbst zu ergänzen.

»Es tut mir Leid«, sagte Constanza.

»Das kann ich mir denken, aber es ändert nichts daran, dass du meinen Sohn auf verbotene Wege geführt hast. Ich muss wohl ein Wörtchen mit deinen Eltern sprechen, Constanza, sie werden über dein Verhalten nicht gerade erfreut sein. Jetzt lauf nach Hause, in ein bis zwei Wochen reden wir vielleicht noch einmal darüber. Einverstanden?«

Sie nickte stumm und verließ die Kreuzung, wo Titus sie abgefangen hatte, durch einen der vielen gewundenen Korridore. An sich war es nicht weit zur Wohnung ihrer Eltern — im größten Wohnbereich der Santiago lag alles ziemlich nahe beieinander —, aber die Planer hatten es geschickt vermieden, bis auf die Kriechgänge für die Notversorgung und die Bahnlinien in die Säule allzu direkte Verbindungen zu schaffen. Die regulären Korridore waren so vielfach gewunden, dass sie das Schiff sehr viel größer erscheinen ließen, als es tatsächlich war. Auf diese Weise konnten zwei Familien fast nebeneinander wohnen und doch das Gefühl haben, in verschiedenen Vierteln zu leben.

Titus begleitete seinen Sohn in ihre eigene Wohnung zurück. Sky bedauerte, dass seine Mutter nicht im Innern des Schiffs war, denn bei ihr — obwohl Titus das bestritten hatte — fielen die Strafen im Allgemeinen etwas milder aus als bei seinem Vater. Sky hegte die leise Hoffnung, die Arbeiten am Rumpf hätten vielleicht weniger Zeit gekostet als geplant, dann wäre sie vor Schichtende zurückgekommen und würde im Kinderzimmer auf ihn warten. Aber sie war nirgendwo zu sehen.

»Hinein mit dir«, sagte Titus. »Clown wird sich um dich kümmern. Ich komme in zwei oder drei Stunden wieder, dann lass’ ich dich heraus.«

»Ich will da nicht hinein.«

»Natürlich nicht, sonst wäre es ja auch keine Strafe, nicht wahr?«

Die Tür ging auf. Titus schob seinen Sohn in den Raum, ohne selbst die Schwelle zu überschreiten.

Clown wartete bereits. »Hallo, Sky«, sagte er.


Im Kinderzimmer gab es viele Spielsachen. Mit einigen konnte man sich in begrenztem Umfang unterhalten — es gab sogar Momente, in denen so etwas wie Intelligenz aufblitzte. Sky ahnte, dass diese Spielsachen für Kinder seines Alters gedacht waren, abgestimmt auf die Weltsicht eines normalen Dreijährigen. Ihm waren die meisten schon bald nach seinem zweiten Geburtstag zu einfach, zu dumm erschienen. Aber Clown war anders; er war eigentlich kein Spielzeug, aber auch nicht wirklich eine Person. Clown war immer da gewesen, so lange Sky denken konnte. Er verließ das Kinderzimmer nie, war aber auch nicht immer anwesend. Clown konnte nichts anfassen, und Sky konnte ihn nicht berühren. Wenn Clown sprach, kam seine Stimme nicht genau von der Stelle, wo er stand — oder zu stehen schien.

Das sollte nicht heißen, dass Clown nur eine Ausgeburt von Skys Phantasie gewesen wäre, ein Scheinwesen ohne jeden Einfluss. Clown entging nichts, was im Kinderzimmer passierte, und wenn Sky etwas angestellt hatte und zurechtgewiesen werden musste, ließ Clown es sich nicht nehmen, Skys Eltern davon in Kenntnis zu setzen. Von ihm hatten die Eltern zum Beispiel erfahren, dass Sky das Schaukelpferd kaputt gemacht hatte und nicht — wie er ihnen hatte einreden wollen — eins von den anderen intelligenten Spielsachen. Sky war Clown deshalb sehr böse gewesen, aber nicht für lange, denn selbst er begriff, dass Clown sein einziger Freund war, abgesehen von Constanza, und dass Clown in manchen Dingen sogar noch klüger war als sie.

»Hallo«, sagte Sky mit Trauermiene.

»Du hast also Stubenarrest, weil du bei den Delphinen warst.« Clown stand allein in dem schlichten weißen Raum, alle anderen Spielsachen waren weggeräumt und nicht zu sehen. »Das war nicht richtig, Sky, das siehst du doch ein? Delphine hätte auch ich dir zeigen können.«

»Aber nicht die gleichen. Keine echten. Und die anderen hast du mir schon gezeigt.«

»Nicht so. Pass auf!«

Und plötzlich waren sie unter blauem Himmel in einem Boot mitten auf dem Meer. Ringsum sprangen Delphine aus den Wellen, glänzend wie nasse graue Kieselsteine im Sonnenlicht. Die Illusion war perfekt — bis auf die schmalen schwarzen Fenster an der einen Seite des Kinderzimmers.

In einem Bilderbuch hatte Sky einmal einen anderen Clown gefunden. Er trug einen bauschigen, gestreiften Anzug mit großen weißen Knöpfen, wirres rotes Haar umrahmte ein komisches, ewig lächelndes Gesicht, und auf dem Kopf trug er einen gestreiften Schlapphut. Als Sky das Bild berührte, bewegte sich der Clown, machte die selben Späße und schnitt ähnlich komische Grimassen wie sein eigener. Sky erinnerte sich noch dunkel, dass er früher einmal gelacht und geklatscht hatte, wenn Clown seine Späße machte, so als wären die Kapriolen eines Narren das Beste, was das Universum zu bieten hatte.

Inzwischen fand er sogar Clown allmählich langweilig. Sky ließ es sich nicht anmerken, aber ihr Verhältnis hatte eine tiefgreifende Wandlung erfahren, die sich nie wieder ganz rückgängig machen ließ. Clown war zu einem Objekt geworden, das man verstehen, analysieren und in Parameter fassen konnte. Sky begriff plötzlich, dass Clown mit dem Luftblasenbild vergleichbar war, das der Delphin ins Wasser gezeichnet hatte: er war eine Projektion, nur nicht aus Schall, sondern aus Licht geformt. Auch das Boot war nicht wirklich. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich noch genau so hart und flach an wie vorhin, als ihn sein Vater ins Zimmer geschoben hatte. Sky verstand nicht genau, wie die Illusion zustande kam, aber sie war vollkommen realistisch. Nirgendwo waren die Wände des Kinderzimmers zu sehen.

»Die Delphine im Tank — Sleek und die anderen — hatten Maschinen in sich«, sagte Sky. Vielleicht konnte er die Zeit der Gefangenschaft nützen, um mehr darüber zu erfahren. »Warum?«

»Sie helfen ihnen, ihr Sonar zu bündeln.«

»Nein. Ich wollte nicht wissen, wofür die Maschinen gut sind. Ich meine, wer ist denn überhaupt auf die Idee gekommen, sie ihnen einzupflanzen?«

»Ach so. Das waren wohl die Chimären.«

»Wer waren die Chimären? Sind sie mit uns auf dem Schiff?«

»Nein, um zuerst deine letzte Frage zu beantworten, obwohl sie sich das sehr gewünscht hätten.« Clowns Stimme klang etwas schrill und zittrig — fast wie die Stimme einer Frau —, aber seine Geduld war unerschöpflich. »Vergiss nicht, Sky, als die Flottille das System der Erde — den Orbit um den Planeten Merkur — verließ, um in den interstellaren Raum zu fliegen, da ließ sie ein System zurück, das sich eigentlich noch im Krieg befand. Gewiss, man hatte die Feindseligkeiten fast überall eingestellt, aber die Waffenstillstandsverhandlungen waren noch nicht abgeschlossen, und alle Welt befand sich nach wie vor in Alarmbereitschaft und wartete nur auf den geringsten Anlass, um wieder loszuschlagen. Viele Parteien sahen in dieser Endphase des Krieges die letzte Chance, noch etwas zu verändern. Manche waren im Grunde nichts anderes als gut organisierte Verbrecherbanden. Das galt ganz sicher für die Chimären — oder genauer gesagt: für die Chimären-Fraktion, die die Delphine geschaffen hatten. Die Chimären hatten die ›Cyborgisierung‹ generell zu einem neuen Höhepunkt getrieben, indem sie sich selbst und ihre Tiere mit Maschinen kreuzten. Doch diese Fraktion war noch sehr viel weiter gegangen und wurde irgendwann von der Mehrheit der Chimären ausgegrenzt.«

Sky hörte aufmerksam zu und konnte auch folgen. Clown wusste seine kognitiven Fähigkeiten so gut einzuschätzen, dass seine Ausführungen nie ins Unverständliche abglitten, aber der Junge doch gezwungen war, sich intensiv auf jedes Wort zu konzentrieren. Sky war sich bewusst, dass nicht jeder Dreijährige verstanden hätte, was Clown erklärte, aber das kümmerte ihn im Moment nicht.

»Und die Delphine?«

»Wurden von diesen Chimären aufgerüstet. Wobei wir keine Ahnung haben, welchen Zweck sie damit verfolgten. Vielleicht planten sie eine Invasion der indischen Ozeane und wollten die Tiere als Wasser-Infanterie einsetzen. Vielleicht handelte es sich auch nur um ein Experiment, das vom Ende des Krieges unterbrochen und nie zum Abschluss gebracht wurde. Wie auch immer, den Agenten der Confederacion Sudamericana gelang es jedenfalls, den Chimären eine Delphinfamilie zu entführen.«

Sky wusste, dass die Confederacion die Organisation war, die sich vor allen anderen für den Bau der Flottille eingesetzt hatte. Sie war fast den ganzen Krieg hindurch geradezu verbissen neutral geblieben und hatte sich lieber auf Ziele jenseits der engen Grenzen des Sonnensystems konzentriert. Dann hatte sie sich eine Handvoll Verbündeter gesucht und mit ihnen die Schiffe gebaut und gestartet, mit denen die Menschheit erstmals allen Ernstes den Versuch wagen wollte, den interstellaren Raum zu durchqueren.

»Und wir haben Sleek und die anderen mitgenommen?«

»Ja, wir dachten, sie könnten sich auf Journey’s End nützlich machen. Aber es erwies sich als sehr viel schwieriger als gedacht, die Implantate zu entfernen, mit denen die Chimären sie aufgerüstet hatten. Letztlich ließ man sie einfach, wo sie waren. Doch als die nächste Delphin-Generation geboren wurde, stellte sich heraus, dass eine ausreichende Verständigung mit den erwachsenen Tieren nur dann möglich war, wenn man sie ebenfalls aufrüstete. Also kopierten wir die Implantate und setzten sie den Jungen ein.«

»Und die wurden psychisch gestört.«

Clown erstarrte, und seine Antwort verzögerte sich um einen winzigen Moment. Der Junge erfuhr erst später, dass er sich in solchen Situationen bei Skys Eltern oder anderen Erwachsenen Rat zu holen pflegte.

»Ja…«, sagte Clown endlich. »Aber das war nicht unbedingt unsere Schuld.«

»Was, nicht unsere Schuld, dass wir sie im Frachtraum gefangen hielten und ihnen nur ein paar Kubikmeter Wasser zum Schwimmen ließen?«

»Glaub mir, sie leben hier unter weitaus besseren Bedingungen als im Versuchslabor der Chimären.«

»Aber man kann doch nicht erwarten, dass sich die Delphine daran erinnern?«

»Ich versichere dir, sie sind heute glücklicher.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil ich Clown bin.« Der ewig lächelnde Mund verzog sich zu einem maskenhaften Grinsen. »Clown weiß alles.« Bevor Sky fragen konnte, was damit gemeint war, leuchtete plötzlich ein Licht auf, ein Blitz, sehr grell und völlig lautlos. Er war durch eines der vielen Fenster an der einen Wand gekommen. Wenn Sky blinzelte, sah er es noch als Geisterbild: ein scharf umgrenztes, rosarotes Rechteck.

»Was war das?«, fragte er und blinzelte wieder.

Aber mit Clown, ja, mit der ganzen Umgebung war irgendetwas nicht in Ordnung. Der Blitz hatte Clown nach allen Seiten auseinander gezogen und dabei grässlich verformt. Er war wie auf die Wände gemalt, das Gesicht zur Fratze erstarrt. Auch das Boot, in dem sie eben noch gestanden hatten, war zu einer abscheulichen Masse zerflossen. Es war, als hätte jemand mit einem Stock in einem Bild herum gerührt, bevor die Farbe ganz trocken war.

Das hatte sich Clown bisher noch nie erlaubt.

Doch es kam noch schlimmer. Die leuchtenden Bilder an den Wänden — die Lichtquelle des Raums — wurden schwächer und erloschen schließlich vollends. Nur durch die Fenster hoch oben unter der Decke fiel noch ein milchig trüber Schein. Und auch der verschwand nach einer Weile. Sky war in völliger Dunkelheit allein.

»Clown?«, fragte er, zuerst leise, dann immer drängender.

Clown antwortete nicht. Sky spürte tief in seinem Innern ein ungewohntes, ja beklemmendes Gefühl; diese Angst, diese Unsicherheit waren die Reaktionen eines normalen Dreijährigen, wie weggeblasen war die altkluge Überlegenheit, die Sky sonst vor anderen Kindern seines Alters auszeichnete. Jetzt war er nur ein kleiner Junge, der allein im Dunkeln saß und nicht verstand, was um ihn herum geschah.

Wieder rief er nach Clown, doch jetzt klang Verzweiflung aus seiner Stimme; er hatte begriffen, dass Clown ihm inzwischen sicher geantwortet hätte, wenn das möglich gewesen wäre. Nein; Clown war fort; das helle Kinderzimmer war dunkel und — ja — kalt geworden, und er hörte nichts; nicht einmal die normalen Hintergrundgeräusche der Santiago.

Sky kroch auf allen vieren durch das Zimmer, bis er eine Wand erreichte, dann tastete er sich daran entlang und suchte nach der Tür. Doch wenn die Tür geschlossen wurde, verschmolz sie mit der Wand, und er fand den haarfeinen Spalt nicht, der ihm verraten hätte, wo sie war. Auf der Innenseite gab es weder Klinke noch Schalter. Normalerweise — wenn er nicht gerade unter Arrest stand — hätte Clown ihm jederzeit die Tür geöffnet.

Bevor Sky selbst zu einer angemessenen Reaktion finden konnte, stellte er fest, dass ohne sein Zutun etwas mit ihm geschah. Er fing zu weinen an; und das hatte er schon so lange nicht mehr getan, dass er sich kaum noch erinnern konnte, wie das war.

Er weinte und weinte, bis er schließlich keine Tränen mehr hatte und seine Augen sich wund anfühlten, wenn er sie rieb.

Wieder rief er nach Clown, dann lauschte er angestrengt, aber es war noch immer nichts zu hören. Auch Schreien half nichts, und irgendwann tat ihm der Hals so weh, dass er damit aufhörte.

Das alles hatte wahrscheinlich nicht mehr als zwanzig Minuten gedauert, doch dann dehnte sich die Zeit. Eine Stunde verging unter Qualen, dann vielleicht zwei und schließlich ein Vielfaches davon. Die Zeit wäre ihm in jedem Fall lang geworden, aber da er nicht wusste, woran er war — sollte er womöglich härter bestraft werden, als sein Vater gesagt hatte? —, erschien sie ihm wie eine Ewigkeit. Irgendwann konnte er nicht mehr glauben, dass Titus ihn so quälen würde. Am ganzen Körper zitternd, malte er sich die grässlichsten Szenarien aus. Vielleicht hatte sich das Kinderzimmer vom Rest des Schiffes gelöst, er stürzte allein durch den Weltraum, und die Santiago — die ganze Flottille — blieb immer weiter zurück. Und bis irgendjemand ihn vermisste, wäre es längst zu spät, um etwas zu seiner Rettung zu unternehmen. Vielleicht waren auch Ungeheuer aus dem All in das Schiff eingedrungen und hatten lautlos alle Insassen ausgerottet. Vielleicht war er der einzige Mensch an Bord, den sie noch nicht gefunden hatten, aber das war sicher nur eine Frage der Zeit…

Irgendwo seitlich war ein Scharren zu hören.

Es waren natürlich die Erwachsenen. Die Tür ließ sich nicht ohne Weiteres öffnen, doch dann floss ein bernsteinfarbener Lichtstreifen über den Boden auf ihn zu. Als Erster trat sein Vater in den Raum, begleitet von vier oder fünf anderen Erwachsenen, die Sky nicht erkannte, große gebückte Gestalten mit Taschenlampen in den Händen. Aschfahle Gesichter, würdevoll wie die Könige im Märchen. Die Luft, die in den Raum strömte, war kälter als sonst — Sky zitterte noch mehr —, und die Erwachsenen hatten Rauchwolken vor dem Mund wie feuerspeiende Drachen.

»Es ist ihm nichts geschehen«, sagte Skys Vater zu einem der anderen Erwachsenen.

»Das ist gut, Titus«, antwortete der andere. »Wir bringen ihn an einen sicheren Ort, dann suchen wir weiter.«

»Schuyler, komm her.« Sein Vater kniete nieder und breitete die Arme aus. »Komm her, mein Junge. Jetzt ist alles gut. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wie ich sehe, hast du geweint.«

»Clown ist fortgegangen«, brachte Sky heraus.

»Clown?«, fragte einer der anderen.

Sein Vater drehte sich um. »Das Erziehungsprogramm des Kinderzimmers, nicht weiter schlimm. Das war natürlich eine der ersten nicht lebenswichtigen Funktionen, die eingestellt wurden.«

»Mach, dass Clown zurückkommt«, bat Sky. »Bitte.«

»Später«, sagte sein Vater. »Clown… ruht sich nur ein wenig aus. Bis du dich umsiehst, ist er wieder da. Und du, mein Junge, hast jetzt sicher Hunger oder Durst, nicht wahr?«

»Wo ist Mutter?«

»Sie ist…« Sein Vater stockte. »Sie kann jetzt nicht zu dir kommen, Schuyler, aber sie lässt dir sagen, dass sie dich sehr lieb hat.«

Einer von den anderen Männern fasste seinen Vater am Arm. »In der Krippe bei den anderen Kindern ist er bestimmt besser aufgehoben, Titus.«

»Er ist nicht wie die anderen Kinder«, sagte sein Vater.

Jetzt führten sie ihn in die Kälte hinaus. Vor und hinter dem kleinen Lichtkreis, den die Taschenlampen der Erwachsenen erzeugten, lag der Korridor vor dem Kinderzimmer in tiefer Dunkelheit.

»Was ist denn passiert?«, fragte Sky. Erst jetzt wurde ihm klar, dass nicht nur sein eigener Mikrokosmos durcheinander geraten war; auch die Welt der Erwachsenen war von den Ereignissen betroffen. So hatte er das Schiff noch nie erlebt.

»Etwas sehr, sehr Schlimmes«, sagte sein Vater.

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