Einunddreißig

Methusalem hatte sich seit meinem letzten Besuch kaum verändert. Er trieb noch immer wie ein riesiger Eisberg in seinem Becken herum und war nach wie vor von einer kleinen Menschenmenge umringt — die Leute blieben ein paar Minuten stehen und bestaunten ihn wie ein Wunder, bis ihnen klar wurde, dass sie im Grunde nur einen großen alten Fisch vor sich hatten, und dass Methusalem, von seiner Größe einmal abgesehen, eigentlich nicht interessanter war als die jüngeren, schlankeren, flinkeren Koi-Karpfen in den Teichen. Schlimmer noch, mir fiel auf, dass jeder Zuschauer, wenn er sich abwandte, unglücklicher aussah als zuvor. Der Fisch war nicht nur eine Enttäuschung, er strahlte auch eine Traurigkeit aus, der sich niemand entziehen konnte. Vielleicht hatten die Menschen Angst, in diesem trägen, grauen Ungetüm ihre eigene Zukunft zu sehen.

Zebra und ich tranken Tee. Niemand beachtete uns.

»Die Frau, die du kennen gelernt hast — wie hieß sie noch?«

»Chanterelle Sammartini«, sagte ich.

»Pransky hat nie erwähnt, was aus ihr geworden ist. Wart ihr noch zusammen, als er dich fand?«

»Nein«, sagte ich. »Wir hatten uns gestritten.«

Zebras verständnisloser Blick war bühnenreif. »War das nicht Teil der Abmachung? Ich meine, wenn man jemanden entführt, setzt man doch eigentlich voraus, dass man nicht immer einer Meinung ist?«

»Ob du es glaubst oder nicht, ich habe sie nicht entführt. Ich habe sie nur gebeten, mich in den Baldachin zu bringen.«

»Mit vorgehaltener Pistole.«

»Anders wollte sie der Bitte nicht nachkommen.«

»Das ist ein Argument. Und so lange ihr hier oben wart, hast du sie die ganze Zeit mit der Waffe bedroht?«

»Nein«, sagte ich. Das Gespräch nahm eine Wendung, die mir nicht gefiel. »Nein, keineswegs. Wie sich zeigte, war das nicht nötig. Wir stellten fest, dass wir auch so miteinander auskamen.«

Zebra zog eine Augenbraue hoch. »Du hast dich tatsächlich mit der reichen Göre aus dem Baldachin angefreundet?«

»Irgendwie schon«, sagte ich. Ich fühlte mich unerklärlich schuldbewusst.

Auf der anderen Seite des Innenhofes bewegte Methusalem seine Bauchflosse. Die Geste — so schwach und unbewusst sie auch sein mochte — kam so überraschend, dass alle Zuschauer zusammenfuhren, als hätte sich eine Statue geregt. Ich fragte mich, was für ein synaptischer Prozess die Bewegung wohl ausgelöst hatte, ob irgendeine Absicht dahinter steckte oder ob diesem Geschöpf jeder Gedanke fremd war und es sich einfach gelegentlich bewegte wie ein altes Haus, das in allen Fugen ächzte.

»Hast du mit ihr geschlafen?«, fragte Zebra.

»Nein«, sagte ich. »Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber dafür war einfach keine Zeit.«

»Es ist dir wohl peinlich, darüber zu sprechen?«

»Ginge es dir anders?« Ich schüttelte verwirrt den Kopf, zum Zeichen, dass meine Beziehung zu Chanterelle in keiner Weise ernst zu nehmen war, aber meine Gedanken wurden davon nicht klarer. »Ich dachte, ich würde sie hassen, weil sie so begeistert am Großen Spiel teilnahm. Aber als wir ins Gespräch kamen, musste ich erkennen, dass es nicht so einfach war. Aus ihrer Sicht hatte es gar nichts Barbarisches.«

»Eine sehr praktische Einstellung.«

»Ich meine, sie begriff nicht — oder wollte nicht glauben —, dass die Opfer nicht so waren, wie man es ihr gesagt hatte.«

»Bis sie dich kennen lernte.«

Ich nickte nachdrücklich. »Ich glaube, ich habe ihr Stoff zum Nachdenken gegeben.«

»Du hast uns allen Stoff zum Nachdenken gegeben, Tanner.« Und dann trank Zebra schweigend ihre Tasse leer.


»Sie schon wieder«, sagte der Meistermischer in einem Ton, der weder reine Freude noch reine Enttäuschung verriet, sondern eine hoch veredelte Mischung aus beidem. »Ich dachte, ich hätte Ihnen bei Ihrem letzten Besuch alle Fragen zur Zufriedenheit beantwortet. Doch das war offenbar ein Irrtum.« Sein Blick wanderte unter halbgeschlossenen Lidern zu Zebra, und für einen Moment erschütterte ein Ausdruck des Erstaunens die genetisch verstärkte Gelassenheit seiner Züge. »Madame hat sich, wie ich sehe, seit unserer letzten Begegnung ein grundlegendes Neu-Design gegönnt.«

Natürlich war ich beim letzten Mal mit Chanterelle hier gewesen, aber ich wollte dem Bastard den Spaß nicht verderben.

»Sie hatte die Nummer eines guten Blutverschneiders«, sagte ich.

»Ganz im Gegensatz zu Ihnen«, sagte der Meistermischer und schloss die Tür seines Behandlungszentrums, um weitere Besucher abzuschrecken. »Ich meine natürlich Ihre Augen«, sagte er und ließ sich hinter seiner schwebenden Konsole nieder, während wir beide stehen blieben. »Können wir das Märchen, dass irgendein Blutverschneider dabei die Finger im Spiel hatte, nicht allmählich fallen lassen?«

»Was redet er da?«, fragte Zebra mit einer gewissen Berechtigung.

»Wir haben ein kleines Geheimnis«, sagte ich.

»Dieser Herr hier«, erklärte der Meistermischer mit deutlicher Betonung auf dem Wort ›Herr‹, »besuchte mich gestern, um mit mir über gewisse genetische und strukturelle Anomalien in seinen Augen zu sprechen. Dabei behauptete er, die Anomalien seien das Ergebnis eines unfachmännisch durchgeführten Eingriffs durch Blutverschneider. Ich war sogar bereit, ihm zu glauben, obwohl die bearbeiteten Sequenzen die üblichen Blutverschneider-Signaturen vermissen ließen.«

»Und jetzt?«

»Jetzt glaube ich, dass die Veränderungen von einer ganz anderen Gruppe vorgenommen wurden. Soll ich deutlicher werden?«

»Wir bitten darum.«

»Die Arbeit zeigt gewisse Signaturen, die darauf hinweisen, dass die Sequenzen mit gentechnischen Methoden eingefügt wurden, wie sie bei den Ultras Verwendung finden. Diese Methoden sind den Verfahren der Blutverschneider oder Meistermischer weder über- noch unterlegen — sie sind nur anders und sehr individuell. Ich hätte das viel früher erkennen müssen.« Sichtlich beeindruckt von seiner eigenen Schlussfolgerung, gestattete er sich ein Lächeln. »Wenn die Meistermischer genetische Veränderungen vornehmen, sind diese im Allgemeinen von Dauer, es sei denn, der Klient hätte andere Wünsche. Das heißt in den meisten Fällen nicht, dass sie nicht rückgängig zu machen wären — es heißt nur, dass der neue genetische und physiologische Zustand gegen Rückfälle in die ältere Form stabil ist. Bei den Blutverschneidern ist es nicht anders, einfach deshalb, weil die Blutverschneider-Sequenzen meist Raubkopien von Meistermischer-Patenten sind und die Verschneider nicht raffiniert genug sind, um in diese Sequenzen Alterungsprozesse einzubetten. Sie stehlen den Code, aber sie knacken ihn nicht. Die Ultranauten gehen ganz anders vor.« Der Meistermischer fasste sich mit seinen langen, schlanken Fingern ans Kinn. »Ultras verkaufen ihre Patente mit integrierter Alterung; mit einer Mutationsuhr, wenn man so will. Ich will Ihnen die Einzelheiten ersparen, nur so viel: der Mechanismus aus Viren und Enzymen, mit dem die Expression der neuen Gene, die in Ihre DNA eingeschleust werden, gesteuert wird, enthält eine biologische Zeitkontrolle, eine Uhr, die auf die Zahl der Zufallsmutationen in einem fremden Referenz-DNA-Strang anspricht. Dabei versteht sich wohl von selbst, dass die Zellmaschinerie zur Unterdrückung oder Korrektur der veränderten Gene anspringt, sobald die Zahl der Fehler eine festgelegte Grenze überschreitet.« Wieder lächelte der Meistermischer. »Das ist natürlich gewaltig vereinfacht. Zum einen sind die Uhren so eingestellt, dass sie nur schleichend eingreifen, das heißt, die Produktion der neuen Proteine und die Ausdifferenzierung der Zellen in neue Typen kommt nicht schlagartig zum Stillstand. Andernfalls wären die Folgen fatal — besonders, wenn es durch die Veränderungen möglich würde, in einer an sich lebensfeindlichen Umgebung, etwa in mit Sauerstoff angereichertem Wasser oder in einer Ammoniak-Atmosphäre zu existieren.«

»Sie behaupten also, Ultras hätten sich an Tanners Augen zu schaffen gemacht?«

»Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe. Aber das ist noch nicht alles.«

»Wie fast immer«, sagte ich.

Die Finger des Meistermischers tanzten über die Konsole und zupften wie an unsichtbaren Harfenseiten. Bald schwebten Unmengen von genetischen Daten durch die Luft, einzelne Sequenzen aus Ts, As, Gs und Cs wurden hervorgehoben und durch ein Netz von Linien verbunden. So entstanden verschiedene Karten für die Physiologie und die Funktion des menschlichen Auges und der entsprechenden Hirnregionen zur visuellen Verarbeitung. Er kam mir vor wie ein Zauberer, der plötzlich von einem ganzen Schwarm von — blutgierigen — Hausgeistern belagert wurde.

»Hier ist etwas sehr Merkwürdiges passiert«, sagte der Mann, als seine Finger ihren allzu flinken Tanz beendet hatten, und zeigte auf einen bestimmten Block von Basenpaaren oder Sprossen der DNA-Leiter. »Dies sind die Paare, bei denen man die Zufallsmutationen akkumulieren lässt; die innere Uhr.« Der Finger wanderte zu einem anderen markierten Block, der auf den ersten Blick identisch aussah. »Und das ist die Referenzkarte, die nicht mutierte DNA. Durch den Vergleich der beiden — die Registrierung der Mutationen — wird die Uhr angetrieben.«

»Viel scheint sich nicht verändert zu haben«, bemerkte Zebra.

»Ein paar statistisch unbedeutende Knotenlöschungen und Kantenverschiebungen«, sagte der Meistermischer. »Aber nichts Wesentliches.«

»Das heißt?«, fragte ich.

»Das heißt, dass die Uhr noch nicht sehr lange läuft. Die beiden DNA-Stränge haben noch kaum angefangen, sich auseinander zu entwickeln.« Er kniff die Augen zusammen. »Daraus folgt, dass der Eingriff erst vor sehr kurzer Zeit vorgenommen worden sein kann; mit Sicherheit innerhalb des letzten Jahres, vielleicht erst vor wenigen Monaten.«

»Inwiefern ist das ein Problem?«, fragte Zebra.

»Deshalb.« Er strich über ein dichtes, lila unterlegtes Knäuel. »Das ist ein Transkriptionsfaktor, ein Protein, das die Expression eines bestimmten Gensatzes reguliert. Aber es ist kein normales menschliches Protein. Seine einzige Funktion — nur dazu wurde es entwickelt — ist die Unterdrückung der neuen Gene, die in Ihr Auge eingeschleust wurden. Es dürfte in großen Mengen erst auftreten, wenn die Mutationsuhr anspricht. Aber ich habe Unmengen davon gefunden.«

»Könnten die Ultras Tanner betrogen haben?«

Der Meistermischer schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Das wäre nicht rentabel. Die genetischen Veränderungen wären trotzdem vorgenommen worden, man könnte also nichts einsparen, wenn man die Uhr zurückstellt. Ganz im Gegenteil, auf lange Sicht wäre es geschäftsschädigend, denn Tanner — falls Sie wirklich so heißen — hätte dann die Dienste einer anderen Gruppe in Anspruch genommen.«

»Sie haben sicher eine Alternative?«

»Das zwar schon, aber sie wird Ihnen nicht gefallen.« Abermals ein Grinsen, das man nur als schmierig bezeichnen konnte. »Die Mutationsuhr auf Null zurückzustellen, ohne alle möglichen Sekundärsicherungen gegen unbefugte Eingriffe auszulösen, fiele selbst einem Meistermischer schwer. Ich könnte es schaffen, aber es wäre eine gewaltige Herausforderung. Die entgegengesetzte Prozedur wäre dagegen sehr viel einfacher.«

»Die entgegengesetzte Prozedur?« Ich beugte mich erwartungsvoll vor, denn mir schien, als stünde ich an der Schwelle einer großen Offenbarung. Kein angenehmes Gefühl.

»Die Uhr vorzustellen, um die neuen Gene abzuschalten.«

Damit gab er der Augapfelprojektion einen Stups mit dem Finger, sodass sie sich drehte wie ein schauriger Globus, und versank in nachdenklichem Schweigen. »Einfacher deshalb, weil es dagegen keine Sicherung gäbe. Keinem Ultra würde es jemals einfallen, Eingriffe dieser Art verhindern zu wollen, denn das wäre nur zum Schaden des Klienten. Damit will ich nicht sagen, es wäre ein Kinderspiel. Aber es wäre um eine ganze Größenordnung leichter, als die Uhr zurückzustellen. Selbst ein Blutverschneider brächte es fertig, vorausgesetzt, er hätte verstanden, worum es geht.«

»Weiter.«

Jetzt sprach er mit einem neuen Ernst, der eben noch nicht da gewesen war, als hätte er an sich selbst eine Mutation ausgelöst, um die Reaktion seines Kehlkopfes zu verstärken. »Jemand hat aus irgendeinem Grund Ihre Uhr vorgestellt, Tanner.«

Zebra sah mich an.

»Heißt das, Tanners Veränderungen bilden sich zurück?«, fragte sie. Ich erkannte, dass sie immer noch keine Ahnung hatte, von welcher Art diese Veränderungen waren.

»So war es vermutlich gedacht«, sagte der Meistermischer. »Wer immer die Behandlung durchführte, verfügte durchaus über ein gewisses Können. Sobald die Uhr aufgezogen war, hätten die Zellen in Ihrem Auge mit der Erzeugung normaler menschlicher Proteine begonnen, und dann wäre die Zellteilung nach dem alten Plan weitergelaufen.« Er seufzte. »Doch der Genetiker war entweder schlampig oder in Eile, vielleicht auch beides. Er stellte nur einen Teil der Uhren um und auch die nicht vollständig. Jetzt tobt in ihrem Auge ein kleiner Krieg zwischen verschiedenen Komponenten der Genetikmaschinerie der Ultras. Wer immer die Uhr vorstellen wollte, glaubte die Maschine abzuschalten, hat aber tatsächlich nur einen Schraubenschlüssel ins Getriebe geworfen.« Jetzt klang Bedauern aus seiner Stimme. »Diese Eile. Es ist ein Jammer. Natürlich ist die Behandlung verdientermaßen gescheitert. Die Frage ist nur, warum der Betreffende überhaupt damit angefangen hat.« Er riss erwartungsvoll die Augen auf, und ich begriff, dass er die Antwort von mir erwartete.

Doch die Freude konnte ich ihm nicht machen, so gern ich es auch getan hätte. Stattdessen sagte ich. »Ich möchte einen Scan. Einen Ganzkörperscan. Darauf sind Sie doch eingerichtet?«

»Das kommt darauf an, was Sie damit vorhaben. Welche Auflösung Sie brauchen.«

»Nicht allzu hoch. Sie sollen nur nach etwas suchen. Gewebeschäden. Innerlich. Verheilte oder auch nicht verheilte Wunden.«

»Ich kann es versuchen«, sagte der Mann und deutete auf die Liege. Von der Decke glitt bereits ein schlittschuhförmiger Scanner herab.

Es ging ziemlich schnell. Um ehrlich zu sein, ich wäre sehr überrascht gewesen, wenn der Scan des Meistermischers meine Erwartungen oder Befürchtungen nicht bestätigt hätte. Ich wollte eigentlich nur die kalten Werte der Geräteanzeige ablesen, um endlich auch den letzten Widerstand — die letzte Hoffnung — begraben zu können.

Der Schlittschuh bildete mein Körperinneres ab und enthüllte mittels einer Vielzahl sensorischer Verfahren meine tiefsten Geheimnisse. Die Maschine war im Grunde ein hochentwickelter Trawl, der aber nicht nur auf die spezielle Zusammensetzung des Neuralgewebes abgestimmt war, sondern die Zell- und Genstrukturen des ganzen Körpers erfassen konnte. Wenn man ihr genügend Zeit ließ, konnte sie Materie bis zur atomaren Ebene, ja bis an die Grenzen der Quantenunschärfe auflösen. Aber so viel Präzision war hier nicht erforderlich, und deshalb ging es entsprechend schneller.

Das Ergebnis erschütterte mich bis ins Mark. Etwas fehlte, was hätte da sein sollen.

Dafür war etwas vorhanden, das hier nichts zu suchen hatte.

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