Epilog

Lange Zeit stand ich nur da und schaute aus dem Fenster.

Die Frau in meinem Büro dachte wohl, ich hätte sie vergessen. Ich konnte ihr Gesicht in dem deckenhohen Spiegel sehen. Sie wartete immer noch auf eine Antwort auf die Frage, die sie mir eben gestellt hatte. Aber ich hatte weder sie noch ihre Frage vergessen. Ich staunte nur, wie etwas, das mir einst so fremd gewesen war, jetzt so vertraut sein konnte.

Die Stadt hatte sich seit meiner Ankunft nicht sehr verändert.

Es musste also an mir liegen.

Der Regen vom Moskitonetz klatschte in harten, schrägen Strichen gegen das Fenster. Angeblich hörte es in Chasm City nie ganz auf zu regnen, und vielleicht stimmte das auch, aber die Aussage machte nicht deutlich, wie viele verschiedene Niederschlagsformen es gab. Manchmal kam der Regen gerade und weich herunter wie ein kühler, reiner Gebirgsschauer. Manchmal, wenn die Dampfsperren um den Abgrund geöffnet wurden und die Druckwellen stoßweise über die Stadt jagten, peitschte er fast waagerecht daher und war so ätzend wie ein Entlaubungsmittel.

»Mister Mirabel…«, sagte sie.

Ich wandte mich vom Fenster ab. »Entschuldigen Sie. Ich war ganz in die Aussicht vertieft. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Sie wollten mir von Sky Haussmann erzählen, wie er…«

Ich hatte ihr bereits geschildert, wie Sky meiner Meinung nach sein Versteck verlassen und als Cahuella ein neues Leben angefangen hatte, und viel mehr wollte ich auch nicht preisgeben. Es war schon ungewöhnlich genug, dass ich überhaupt von diesen Dingen sprach — besonders zu einer potenziellen neuen Mitarbeiterin —, aber sie gefiel mir, und sie hatte eine ungewöhnliche Bereitschaft gezeigt, mir zuzuhören. Wir hatten ein paar Pisco Sour getrunken — auch sie kam von Sky’s Edge — und so war uns die Zeit wie im Flug vergangen.

»Nun?«, unterbrach ich sie. »Wie viel von der Geschichte würden Sie glauben?«

»Ich weiß es nicht, Mister Mirabel. Wie wollen Sie das alles erfahren haben, wenn die Frage gestattet ist?«

»Ich lernte Gitta kennen«, sagte ich. »Und sie sagte mir etwas, das mich überzeugte, dass Constanza die Wahrheit sprach.«

»Sie meinen, Gitta hat vor allen anderen herausgefunden, wer Cahuella wirklich war?«

»Ja. Ich halte es gut für möglich, dass sie zufällig Constanzas Aussage gefunden hat. Das führte sie zu Cahuella, obwohl seit Skys vermeintlicher Hinrichtung mindestens zwei Jahrhunderte vergangen waren.«

»Und als sie ihn fand?«

»Sie erwartete einen Unmenschen, aber ihre Erwartungen erfüllten sich nicht ganz. Er war nicht mehr der Mann, den Constanza gekannt hatte. Ich glaube, Gitta war bereit, ihn zu hassen, aber sie konnte es nicht.«

»Wieso konnte sie eigentlich so sicher sein, ihn gefunden zu haben?«

»Vermutlich sein Name. Er hatte ihn aus der Legende des Gespensterschiffes übernommen; er konnte die Verbindung zu seiner Vergangenheit nicht gänzlich kappen. Cahuella war der Delphin der Caleuche.«

»Jedenfalls eine interessante Theorie.«

Ich zuckte die Achseln. »Aber mehr wahrscheinlich auch nicht. Glauben Sie mir, wenn Sie länger hier leben, werden sie noch ausgefallenere Geschichten hören.«

Sie war erst vor kurzem auf Yellowstone eingetroffen; sie war wie ich Soldat, aber sie war nicht wegen irgendeines Auftrags auf dem Planeten, sondern auf Grund eines Versehens.

»Wie lange leben Sie schon hier, Mister Mirabel?«

»Seit sechs Jahren«, sagte ich.

Wieder sah ich aus dem Panoramafenster. Die Aussicht auf die Stadt hatte sich nicht sehr verändert, seit ich von Refugium zurückgekommen war. Das Dickicht des Baldachins sah immer noch aus wie ein Querschnitt durch eine Lunge: ein dichtes, schwarzes Knäuel vor dem braunen Hintergrund des Moskitonetzes. Man redete davon, das Netz nächstes Jahr reinigen zu wollen.

»Sechs Jahre, das ist eine lange Zeit.«

»Nicht für mich.«


Bei diesen Worten musste ich daran denken, wie ich in Refugium wieder zu mir gekommen war. Die Wunde, die Tanner mir beigebracht hatte, musste so stark geblutet haben, dass ich das Bewusstsein verlor, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt kaum etwas davon gespürt hatte. Jemand hatte mir die Kleider aufgeschnitten und auf den nahtähnlichen Schnitt, den sein Messer gezogen hatte, eine türkisblaue medizinische Salbe aufgetragen. Ich lag auf einem Bett, und einer der schlanken Servomaten beobachtete mich.

Mein Körper war über und über mit Blutergüssen bedeckt und jeder Atemzug schmerzte. Mein Mund fühlte sich merkwürdig an, als gehörte er nicht mehr zu mir.

»Tanner?«

Das war Amelias Stimme. Gleich darauf trat sie in mein Blickfeld. Wie damals, als ich im Habitat der Eisbettler reanimiert wurde, erschien sie mir wie ein Engel.

»Das ist nicht mein Name«, sagte ich und war überrascht, als meine Stimme ganz normal klang, nur etwas rau vor Erschöpfung. So, wie sich mein Mund anfühlte, hätte ich ihm eine so diffizile Tätigkeit wie Sprechen nicht zugetraut.

»Das habe ich mitbekommen«, sagte Amelia. »Aber es ist der Einzige, unter dem ich Sie kenne, und deshalb werde ich fürs Erste dabei bleiben.«

Ich war zu schwach, um ihr zu widersprechen, und vielleicht wollte ich es auch gar nicht.

»Sie haben mich gerettet«, sagte ich. »Jetzt stehe ich in Ihrer Schuld.«

»Sie haben nicht viel Hilfe gebraucht«, antwortete sie. Der Raum war viel kleiner als der, in dem Reivich umgekommen war, doch das Licht hatte auch hier diesen herbstlich goldenen Ton, und die Wände waren mit den gleichen komplexen mathematischen Symbolen geschmückt wie überall sonst in Refugium. Das Licht spielte über die Schneeflocke, die Amelia um den Hals trug. »Was ist mit Ihnen passiert, Tanner? Was hat Sie befähigt, einen Menschen auf diese Weise zu töten?«

Die Frage klang vorwurfsvoll, nicht aber der Ton, in dem sie gestellt wurde. Ich begriff, dass Amelia nicht beabsichtigte, mir Vorwürfe zu machen. Sie sah offenbar ein, dass ich für die Gräuel meiner Vergangenheit nicht voll verantwortlich war, so wenig, wie ein wacher Mensch verantwortlich ist für die Untaten, die er im Schlaf begeht.

»Der Mann, der ich war«, sagte ich, »war ein Jäger.«

»Der Mann, von dem Sie gesprochen hatten? Dieser Cahuella?«

Ich nickte. »Er hatte sich neben anderen Spezialitäten auch Schlangen-Gene für die Augen einschleusen lassen, um bei nächtlichen Jagdausflügen die gleichen Chancen zu haben wie jedes Tier. Ich dachte, er hätte sich damit zufrieden gegeben. Das war ein Irrtum.«

»Aber das wussten Sie nicht?«

»Erst im letzten Moment. Aber Reivich wusste Bescheid. Er hatte erfahren, dass Cahuella Giftdrüsen hatte und das Gift einem Feind auch verabreichen konnte. Die Ultras müssen es ihm verraten haben.«

»Und er versuchte es Ihnen mitzuteilen?«

Ich nickte, ohne den Kopf vom Kissen zu heben. »Vielleicht wollte er, dass einer von uns weiterlebte. Ich hoffe nur, er hat die richtige Wahl getroffen.«

»Natürlich hat er das«, sagte Zebra.

Ich drehte mich — unter Schmerzen — um. Sie stand auf der anderen Seite des Bettes. »Reivich hat also die Wahrheit gesagt«, bemerkte ich. »Was die Pistole anging. Er hat euch nur schlafen gelegt.«

»Er war kein schlechter Mensch«, versicherte Zebra. »Er wollte sicher niemandem schaden außer dem Mann, der seine Familie ausgerottet hatte.«

»Aber ich lebe noch. Heißt das, er ist gescheitert?«

Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. Das goldene Licht ließ sie förmlich erstrahlen, und ich begehrte sie mit allen Sinnen, auch wenn wir uns gegenseitig immer wieder verraten hatten, auch wenn ich nicht wusste, was die Zukunft bereithielt; auch wenn ich nicht einmal einen Namen hatte, mit dem sie mich ansprechen konnte. »Ich glaube, er hat letztlich bekommen, was er wollte. Jedenfalls zum größten Teil.«

Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie mir etwas verheimlichte. »Was willst du damit andeuten?«

»Du weißt es vermutlich noch nicht«, sagte Zebra. »Aber Reivich hat uns alle belogen.«

»Inwiefern?«

»Sein Scan.« Sie schaute zur Decke. Goldene Glanzlichter betonten ihre Züge. Die Streifen auf der Haut waren immer noch schwach zu erkennen. »Es war ein Fehlschlag. Zu hastige Arbeit. Die Abbildung ist nicht gelungen.«

Ich tat so, als könnte ich es nicht fassen, obwohl ich spürte, dass Zebra die Wahrheit sagte.

»Aber das kann nicht sein. Ich habe doch nach dem Scan mit seiner Kopie gesprochen.«

»Das dachtest du nur. In Wirklichkeit war es wohl nur eine Beta-Simulation, ein Modell von Reivich, darauf programmiert, seine Reaktionen so nachzuahmen, dass du glauben musstest, der Scan sei ein Erfolg gewesen.«

»Aber warum? Warum wollte er unbedingt so tun, als hätte es geklappt?«

»Ich denke, es ging ihm um Tanner«, sagte sie. »Er wollte Tanner das Gefühl geben, alles sei umsonst gewesen; selbst die Zerstörung von Reivichs Körper sei nur eine leere Geste.«

»Aber das war nicht der Fall.«

»Nein. Reivich wäre zwar früher oder später ohnehin gestorben — doch eigentlich hat ihn Tanner getötet.«

»Und Reivich wusste das, nicht wahr? Während wir mit ihm zusammen waren, wusste er die ganze Zeit, dass der Scan missglückt war und dass er sterben würde.«

»Heißt das, er hat gewonnen?«, fragte Zebra. »Oder hat er alles verloren?«

Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr eine Rolle. Tanner, Cahuella, Reivich — sie sind alle tot.«

»Alle?«

»Jedenfalls, so weit es darauf ankommt.«

Als Zebra und Amelia gegangen waren, starrte ich noch eine Ewigkeit lang in das diffuse goldene Licht. Ich war müde; diese überwältigende Müdigkeit, die zu schwer auf einem lastet, als dass man ihr in den Schlaf entkommen könnte. Irgendwann kam der Schlaf dann aber doch. Und mit ihm die Träume. Ich hatte gehofft, davon verschont zu bleiben, aber in den Träumen war ich wieder in dem weißen Raum und spürte die Urangst vor dem, was dort geschehen war; was mir widerfahren war; was ich mir selbst angetan hatte.


Später — viel später — kehrte ich nach Chasm City zurück. Es war eine lange Reise, und ich machte Zwischenstation am Habitat der Eisbettler und setzte Amelia dort ab, damit sie ihre Pflichten wieder aufnehmen konnte. Sie hatte die turbulenten Ereignisse bemerkenswert gut überstanden, und als ich mich erbot, ihr irgendwie zu helfen — ohne so recht zu wissen, wie —, lehnte sie ab und bat mich stattdessen um eine Spende für die Eisbettler, sobald ich mich dazu imstande sähe.

Das versprach ich ihr. Und ich habe mein Versprechen gehalten.

Quirrenbach, Zebra und ich verabredeten uns mit Voronoff, sobald wir wieder im Baldachin waren.

»Es geht um das Große Spiel«, sagte ich. »Wir schlagen vor, die gesamte Inszenierung von Grund auf umzugestalten.«

»Und warum sollte mich das interessieren?«, gähnte Voronoff.

»Lass uns doch erst einmal ausreden«, mahnte Quirrenbach, und dann erklärte er ihm das System, das wir drei nach dem Aufenthalt in Refugium ausgearbeitet hatten. Es war ziemlich kompliziert, und es dauerte einige Zeit, bis wir zu Voronoff durchdrangen. Doch dann dämmerte ihm allmählich, worum es ging.

Er hörte sich unsere Vorstellungen an.

Und erklärte sich schließlich durchaus davon angetan. Vielleicht ließen sich unsere Ideen ja sogar verwirklichen.

Wir planten eine neue Form der Jagd; ein Spiel, das wir Schatten nennen wollten. In den Grundzügen hatte es viel Ähnlichkeit mit dem alten Großen Spiel, das sich nach der Seuche in der Stadt zu einem verbotenen Zeitvertreib entwickelt hatte. Doch in den Einzelheiten sollte es sich drastisch unterscheiden. Wir wollten das Große Spiel aus der Illegalität herausholen und ins Rampenlicht bringen, die Finanzierung durch Sponsoren regeln und dem Ganzen eine Struktur geben, die auch Berichte und Kommentare für all jene einschloss, die das Spektakel einer Menschenjagd aus zweiter Hand erleben wollten. Bei uns waren die Jäger nicht nur Kinder reicher Leute, die eine aufregende Nacht erleben wollten, sondern gut ausgebildete Experten; Berufskiller. Wir wollten sie nicht nur professionell schulen, sondern auch differenzierte Identitäten für sie erfinden, einen Persönlichkeitskult aufbauen, der das Große Spiel in den Rang einer Kunstform erhob. Natürlich würden wir zunächst unter den derzeit aktiven Spielern die besten auswählen. Chanterelle Sammartini hatte sich schon bereiterklärt, als Erste in unsere Dienste zu treten. Ich zweifelte nicht daran, dass sie für die Rolle perfekt geeignet war.

Aber die Veränderungen beschränkten sich nicht nur auf die Jäger.

Bei uns gab es auch keine Opfer. Die Gejagten waren Freiwillige. Das klang verrückt, aber genau das war der Punkt, für den sich Voronoff sofort erwärmen konnte.

Die Überlebenden hatten nichts zu gewinnen als das Leben selbst. Aber dieses Leben war mit einem ungeheuren Prestige verbunden. An Freiwilligen würde es uns sicher nicht mangeln: der Baldachin war schließlich ein einziges Reservoir gelangweilter, wohlhabender Beinahe-Unsterblicher. Das Große Spiel in unserer neuen Form bot ihnen endlich eine Möglichkeit, ihr Leben unter kontrollierten Bedingungen etwas aufregender zu gestalten. Wir wollten mit jedem Bewerber einen Kontrakt abschließen, in dem die Regeln für die jeweilige Jagd einzeln aufgeführt waren: die Dauer, das Gelände und die Art der Waffen, die vom Killer zugestanden wurden. Ein Gejagter brauchte nur bis zum Ende des Vertrages am Leben zu bleiben, dann war er berühmt und wurde von aller Welt beneidet. Andere würden ihm folgen und sich bemühen, seine Leistung zu übertreffen: durch eine längere Vertragsdauer oder anspruchsvollere Spielregeln.

Natürlich würden wir Implantate verwenden, aber sie würden nicht so funktionieren wie das Gerät, das Waverly mir in den Schädel gepflanzt und Dominika freundlicherweise so rasch wieder entfernt hatte. Jäger und Gejagter sollten die gleichen Implantate tragen, und die Geräte wären so eingestellt, dass sie sich erst dann aktivierten und sendeten, wenn die Gegner eine bestimmte — ebenfalls vertraglich festgelegte — Entfernung voneinander unterschritten. Die Betroffenen sollten im entscheidenden Moment alarmiert werden — vielleicht durch ein Klingeln im Kopf oder etwas dergleichen. Und in dieser letzten Phase durften dann erstmals die Medien dazukommen, um das Ende mitzuerleben — wie es auch ausfallen mochte.

Voronoff ließ sich schließlich überzeugen. Er wurde unser erster Kunde.

Wir nannten unsere Firma Omega Point. Bald bekamen wir Konkurrenz, aber die belebte nur das Geschäft. Innerhalb eines Jahres war die alte Jagd in Vergessenheit geraten. Niemand wollte diesem Teil der Stadtgeschichte ein Denkmal setzen. Und dabei blieb es.

Anfangs achteten wir noch darauf, dass die meisten unserer Klienten die Vertragsdauer überlebten. Entweder verloren unsere Killer im kritischen Moment die Fährte, oder sie verfehlten mit der im Vertrag festgelegten einschüssigen Waffe das Ziel. Auf diese Weise bauten wir einen ersten Kundenstamm auf und machten uns rasch einen Namen.

Danach machten wir ernst. Wir gingen aufs Ganze; der Kunde hatte schwer zu kämpfen, wenn er das Ende seines Kontrakts erleben wollte.

Doch die Mehrzahl schaffte es. Die Chancen, bei einem Schatten-Spiel getötet zu werden, lagen um die dreißig Prozent — niedrig genug, um niemanden von einer Teilnahme abzuschrecken, wenn er sich nur genügend langweilte —, aber doch spannend genug, um den Sieg, das Überleben begehrenswert zu machen.

Omega Point wurde sehr reich. Zwei Jahre nach meiner Ankunft in Chasm City zählte ich zu den hundert wohlhabendsten — physischen und virtuellen — Personen des ganzen Yellowstone-Systems.

Aber ich hatte das Versprechen nicht vergessen, das ich mir auf dem langen Flug nach Refugium gegeben hatte.

Wenn ich überlebte, wollte ich alles verändern.

Mit den Schatten hatte ich angefangen. Aber das genügte nicht. Die Stadt musste sich von Grund auf wandeln. Ich musste das System zerstören, das mir den Aufstieg ermöglicht hatte, ich musste das geheime Gleichgewicht zwischen Mulch und Baldachin erschüttern. Ich begann damit, dass ich meine ersten Jäger im Mulch anwarb. Das war kein großes Risiko, denn die Mulcher erwiesen sich als ebenso fähig wie alle Killer, die ich im Baldachin finden konnte — und sie waren nicht weniger aufgeschlossen für die Art der Ausbildung, die ich vertrat.

Das Spiel hatte mich zum reichen Mann gemacht, und ich sorgte wiederum dafür, dass meine besten Spieler wohlhabender wurden, als sie es sich jemals hätten träumen lassen. Und ich konnte beobachten, wie ein Teil ihres Vermögens in den Mulch zurückfloss.

Doch das war erst der Anfang. Vielleicht würde es Jahre — oder gar Jahrzehnte — dauern, bis sich die Hierarchie in Chasm City merklich änderte. Aber ich war sicher, dass es dazu kommen würde. Ich hatte es mir gelobt. Und obwohl ich in der Vergangenheit meine Gelübde immer wieder gebrochen hatte, war ich entschlossen, das nie wieder zu tun.


Nach einer Weile nahm ich den Namen Tanner wieder an. Ich wusste, es war eine Lüge; ich hatte kein Recht dazu, denn ich hatte dem echten Tanner Mirabel zuerst seine Erinnerungen und dann sein Leben geraubt.

Aber was spielte das für eine Rolle?

Ich betrachtete mich als den Hüter seiner Erinnerungen; als den Hüter all dessen, was er gewesen war. Man konnte ihn nicht als guten Menschen bezeichnen, nicht, wenn man halbwegs vernünftige Maßstäbe anlegte. Er war roh und gewalttätig gewesen, hatte die Wissenschaften wie die Kunst des Tötens mit der kühlen Distanz eines Geometers betrieben. Aber er war nie ein von Grund auf schlechter Mensch gewesen, und in dem Augenblick, der letztlich sein Leben besiegelte — bei dem Schuss auf Gitta —, hatte er nur in bester Absicht gehandelt.

Was hinterher mit ihm geschehen war; was ihn in ein Monstrum verwandelt hatte — das zählte nicht mehr. Es konnte das Bild des alten Tanner nicht beschmutzen.

Ich fand, es sei ein Name wie jeder andere. Und ich würde ohnehin nie aufhören, ihn als meinen eigenen zu betrachten.

Also beschloss ich, mich nicht länger dagegen zu wehren.


Ich war schon wieder ins Träumen geraten. Und die Frau in meinem Büro wartete immer noch auf ein Wort von mir.

»Bekomme ich nun den Job oder nicht?«

Ja, wahrscheinlich würde ich sie einstellen, aber ich musste mir noch weitere Kandidaten ansehen, bevor ich eine endgültige Entscheidung traf. Ich stand auf und schüttelte die kleine Tod bringende Hand. »Sie stehen sehr weit oben auf der Liste. Und selbst wenn Sie für die Stellung nicht ausgewählt werden sollten, über die wir gesprochen hatten, möchte ich Ihren Namen aus einem anderen Grund in meiner Kartei behalten.«

»Ja?«

Ich dachte an Gideon, der nach all den Jahren immer noch in Gefangenschaft war. Ich hatte gelobt, noch einmal in den Abgrund hinab zu steigen — wenn auch nur, um ihn zu töten —, aber ich hatte bisher noch keine Gelegenheit gefunden. Ich wusste, dass er noch am Leben war, denn es kam immer noch Traumfeuer in die Stadt, wenn auch nur in kleinen Mengen, die sehr begehrt waren. Auch mit seinen Schreckensvisionen wurden in einer Konzentration, die wir Menschen eben noch verkraften konnten, nach wie vor morbide Geschäfte gemacht. Aber er musste dem Tode nahe sein, und wenn mein Gelübde nicht jede Bedeutung verlieren sollte, blieb mir nicht mehr viel Zeit.

»Ich möchte vielleicht noch eine andere Operation durchführen; das ist alles.«

»Und wann wäre das?«

»In etwa vier Wochen, vielleicht auch erst in drei oder vier Monaten.«

Sie lächelte wieder. »Ich bin gut, Mister Mirabel. Sie können nur hoffen, dass ich Ihnen bis dahin nicht von einer anderen Organisation vor der Nase weggeschnappt werde.«

Ich zuckte die Achseln. »Dann sollte es eben nicht sein.«

»Wer weiß.«

Wir reichten uns noch einmal die Hand, dann ging sie zur Tür. Ich schaute aus dem Fenster; die Dämmerung brach herein, im Baldachin gingen die ersten Lichter an; Gondeln schwebten als winzige Glühwürmchen durch das ewig braune Zwielicht. Unter mir lag wie eine Ebene voller Lagerfeuer der Mulch, seine Lampen und seine nächtlichen Märkte warfen ihren mattroten Schein zum Netz empor. Ich dachte an die Millionen von Menschen, die in dieser Stadt auch nach den Verwüstungen durch die Seuche so etwas wie eine Heimat gefunden hatten. Seither waren immerhin dreizehn Jahre vergangen. So mancher Erwachsene da unten konnte sich kaum noch erinnern, wie es hier früher ausgesehen hatte.

»Mister Mirabel?« Sie war an der Tür stehen geblieben. »Nur noch eine Frage?«

Ich drehte mich um, lächelte höflich. »Ja?«

»Sie sind länger hier als ich. Sind Sie jemals so weit gekommen, diese Stadt zu lieben?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nur eines.«

»Nämlich?«

»Das Leben ist das, was man daraus macht.«

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