Neunzehn

»Tanner? Wachen Sie auf. Sie dürfen mir hier nicht ohnmächtig werden.«

Wir näherten uns jetzt einem Gebäude — wenn man davon sprechen konnte. Es sah eher aus wie ein verzauberter Baum, die dicken, knorrigen Äste waren planlos mit Fenstern bestückt, und dazwischen befanden sich Landeplattformen für die Seilbahngondeln. Zwischen den Hauptästen waren Kabelstränge gezogen, und Zebra steuerte so furchtlos hinein, als hätte sie das schon tausend Mal gemacht. Wenn ich durch das vielfach verschlungene Astwerk schaute, sah ich in schwindelerregender Tiefe die Feuer des Mulch funkeln.

Zebras Wohnung im Baldachin befand sich fast im Stadtzentrum, am Rand des Abgrunds, unweit der Innenseite der Kuppel, die das große qualmende Loch in Yellowstones Kruste umgab. Wir waren ein Stück weit am Abgrund entlang geflogen, nun sah ich vom Landedeck aus tief unter uns auf der anderen Seite den dünnen, blitzenden Stängel einen Kilometer weit aus der Wand ragen. Im Abgrund selbst waren weder die leuchtend bunten Gleitschirme, noch weitere Nebelspringer zu sehen, die im Begriff standen, den großen Sturz zu wagen.

»Wohnen Sie allein hier?«, fragte ich so harmlos wie möglich, als sie mich in ihre Räume führte.

»Jetzt schon, ja.« Die Antwort kam rasch, fast zu prompt. Aber sie sprach gleich weiter. »Früher lebte ich mit meiner Schwester Mavra zusammen.«

»Und Mavra ist ausgezogen?«

»Mavra wurde getötet.« Sie ließ den Satz stehen, bis er seine Wirkung getan hatte. »Sie kam den falschen Leuten in die Quere.«

»Das tut mir Leid«, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen. »Waren es Jäger wie Sybilline?«

»Eigentlich nicht, nein. Sie interessierte sich für Dinge, von denen sie besser die Finger gelassen hätte, und sie stellte den falschen Leuten die falschen Fragen, aber es hatte nicht direkt mit der Jagd zu tun.«

»Womit dann?«

»Warum wollen Sie das denn unbedingt wissen?«

»Ich bin wahrhaftig kein Engel, Zebra, aber ich mag es nicht, wenn jemand sterben muss, nur weil er zu neugierig war.«

»Dann sollten Sie vorsichtig sein und nicht selbst die falschen Fragen stellen.«

»Zu welchem Thema?«

Sie seufzte. Es war ihr sichtlich unangenehm, dass das Gespräch diese Wendung genommen hatte. »Es gibt eine gewisse Substanz…«

»Traumfeuer?«

»Sie haben es also schon kennen gelernt?«

»Ich weiß, wie es verabreicht wird, aber mehr auch nicht. Sybilline hat es sich in meiner Gegenwart gespritzt, aber mir ist nicht aufgefallen, dass sie sich hinterher anders verhalten hätte. Was ist es genau?«

»Das ist ziemlich kompliziert, Tanner. Mavra hatte erst einige Teile der Geschichte zusammengetragen, bevor man sie erledigte.«

»Es ist offensichtlich eine Droge.«

»Es ist sehr viel mehr als das. Aber können wir nicht von etwas anderem sprechen? Es fällt mir nicht leicht, mich damit abzufinden, dass sie nicht mehr da ist, und Sie reißen nur alte Wunden auf.«

Ich nickte, bereit, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen. »Sie standen sich nahe?«

»Ja«, sagte sie, als hätte ich ein tiefes Geheimnis entdeckt. »Und Mavra gefiel es hier. Sie fand, vom Stängel einmal abgesehen, gäbe es in der ganzen Stadt keine bessere Aussicht. Und zu ihren Lebzeiten hätten wir uns niemals leisten können, dort zu speisen.«

»Mir gefällt es auch. Wenn man gern Höhenluft atmet.«

»Tun Sie das nicht, Tanner?«

»Ich muss mich erst daran gewöhnen.«

Die Wohnung, ein Labyrinth von vielfach gewundenen Räumen und Korridoren, das eher an einen Dachsbau erinnerte, befand sich in einem der Hauptäste. Die Zimmer lagen in einem dünnen Zweig zwei Kilometer über dem Mulch. Nach unten schlossen sich weitere Baldachin-Schichten an, die durch senkrecht verlaufende Kabelstränge und Hohlröhren mit der unseren verbunden waren.

Sie führte mich in den Raum, der ihr vermutlich als Wohnzimmer diente.

Man kam sich vor wie in einem der Organe in einem riesigen begehbaren Modell des menschlichen Körpers. Wände, Fußboden und Decke gingen sanft gerundet ineinander über. Alle geraden Flächen waren aus dem Gebäudekörper herausgeschnitten, aber sie befanden sich auf unterschiedlichen Ebenen und waren durch Rampen und Treppen miteinander verbunden. Wände und Decke hatten eine feste Oberfläche, wirkten aber abstoßend organisch, von Adern durchzogen oder wie mit unregelmäßig geformten Schuppen besetzt. An einer Wand entdeckte ich ein Kunstwerk, eine teure in-situ-Darstellung, wie mir schien: drei grob angedeutete Gestalten, die sich aus dem Mauerwerk herausarbeiteten, so verzweifelt um ihre Freiheit kämpften wie Schwimmer auf der Flucht vor einem Tsunami. Von den Körpern war nicht viel zu sehen, nur die Hälfte eines Gesichtes oder das Ende einer Gliedmaße, aber das tat der Wirkung keinen Abbruch.

»Sie haben einen ziemlich ausgefallenen Kunstgeschmack, Zebra«, bemerkte ich. »Mir würde so etwas Albträume bereiten.«

»Das ist keine Kunst, Tanner.«

»Waren das echte Menschen?«

»In mancher Hinsicht sind sie das noch immer. Nicht lebendig, aber auch nicht unbedingt tot. Eher wie Fossilien, aber mit einer so differenzierten Struktur, dass man fast die einzelnen Neuronen erkennen könnte. Ich bin nicht die einzige mit solchen Hausgenossen. Man möchte sie nicht einfach herausschneiden, vielleicht hat doch noch einmal jemand eine Idee, wie man sie in ihren früheren Zustand zurückversetzen könnte. Also lebt man mit ihnen zusammen. Früher wollte sich niemand im gleichen Raum mit ihnen aufhalten, aber zurzeit gilt es im Baldachin offenbar als schick, ein paar davon in der Wohnung zu haben. Wenn der Wunsch übermächtig wird, kann man sich sogar eine Fälschung anfertigen lassen.«

»Aber die hier sind echt?«

»So viel Geschmack dürfen Sie mir schon noch zutrauen, Tanner. Und jetzt sollten Sie sich wohl erst einmal setzen. Nein; bleiben Sie, wo sie sind.«

Sie schnippte mit den Fingern zur Couch hin.

In Zebras Wohnung besaßen alle größeren Möbelstücke eine gewisse Autonomie und reagierten auf uns wie nervöse Haustiere. Die Couch verließ ihren Standort und stieg auf unsere Ebene herab. Anders als im Mulch, wo Dampfmaschinen als der Gipfel des Fortschritts galten, gab es im Baldachin offenbar doch noch halbwegs hochentwickelte Mechanismen. Zebras Wohnung war voll davon; hier gab es nicht nur intelligente Möbel, sondern auch Servomaten aller Art, von Drohnen im Mäuseformat über faustgroße Flieger bis hin zu Großgeräten, die sich auf Schienen an der Decke bewegten. Man brauchte nur nach einem Gegenstand zu greifen, und schon beeilte er sich, der suchenden Hand entgegenzukommen. Verglichen mit dem, was man vor der Seuche gekannt hatte, waren sicher auch diese Maschinen primitiv, trotzdem kam ich mir vor wie in einem Raum voller Poltergeister.

»Ganz recht; setzen Sie sich nur«, sagte Zebra und half mir auf die Couch. »Und rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich bin gleich wieder da.«

»Ich werde Ihnen ganz bestimmt nicht weglaufen.« Sie verließ den Raum, und ich verlor immer wieder das Bewusstsein, obwohl ich mich mit aller Kraft gegen den Schlaf wehrte. Ich wollte keine Sky-Träume mehr. Als Zebra zurückkehrte, hatte sie den Mantel ausgezogen und trug zwei Gläser mit einem heißen Kräutertrank in den Händen. Ich ließ mir das Zeug durch die Kehle rinnen, und obwohl ich nicht behaupten konnte, dass ich mich danach deutlich wohler fühlte, war es dem Mulch-Regenwasser, das ich literweise in mich hineingeschüttet hatte, doch eindeutig vorzuziehen.

Zebra war nicht allein gekommen. Hinter ihr glitt auf einer Deckenschiene einer der größeren Servomaten in den Raum, ein weißer Zylinder mit zahlreichen Gliedmaßen und einem ovalen, grün leuchtenden Gesicht voller blinkender medizinischer Messinstrumente. Die Maschine senkte sich über mein Bein, bis sie es mit ihren Sensoren berühren konnte, untersuchte leise zirpend die Schusswunde und gab ihren Befund in Form von graphischen Statusanzeigen bekannt.

»Wie sieht es aus? Werde ich überleben?«

»Sie hatten Glück«, sagte Zebra. »Die Waffe, mit der Sybilline auf Sie geschossen hat, war ein schwacher Laser; eine Duellwaffe. Sie kann keinen größeren Schaden anrichten, so lange sie keine lebenswichtigen Organe trifft, und der Strahl war so fein eingestellt, dass das angrenzende Gewebe nur minimal beschädigt wurde.«

»Ich hätte Ihnen auch das Gegenteil geglaubt.«

»Ich habe nicht versprochen, dass Sie keine höllischen Schmerzen haben würden. Aber Sie werden es überleben, Tanner.«

»Trotzdem«, sagte ich und verzog das Gesicht, als die Maschine ziemlich unsanft in der Eintrittswunde herumstocherte. »Ich glaube nicht, dass ich mit dem Bein laufen kann.«

»Das brauchen Sie auch nicht. Wenigstens bis morgen nicht. Die Maschine wird die Wunde heilen, während Sie schlafen.«

»Ich möchte aber gar nicht schlafen.«

»Warum? Haben Sie Probleme damit?«

»Sie werden es nicht glauben, aber es ist tatsächlich so.« Sie warf mir einen fragenden Blick zu, und ich sah eigentlich keinen Grund, ihr nicht von dem Indoktrinationsvirus zu erzählen. »Man hätte es im Hospiz Idlewild ausschwemmen können, aber so lange wollte ich nicht warten. Und jetzt mache ich jedes Mal, wenn ich einschlafe, Kurzurlaub in Sky Haussmanns Kopf.« Ich zeigte ihr die verschorfte Wunde in meiner Handfläche.

»Ein Mann mit einem Stigma, herabgestiegen in unsere sündhafte Welt, um alles Unrecht zu sühnen?«

»Ich habe einen Auftrag zu erledigen, das ist alles. Aber Sie werden verstehen, dass sich meine Begeisterung für den Schlaf sehr in Grenzen hält. Sky Haussmanns Kopf ist kein Ort, an dem man sich gerne über längere Zeit aufhalten möchte.«

»Ich weiß nicht viel über ihn. Alte Geschichten, und dazu noch ein anderer Planet.«

»Für mich sind es keine alten Geschichten. Mir kommt es vor, als würde er immer mehr von mir Besitz ergreifen, wie eine Stimme in meinem Kopf, die ständig lauter wird. Ich habe einen Mann kennen gelernt, der das Virus schon vor mir hatte — wahrscheinlich hat er mich sogar damit angesteckt. Er war ein Wrack. Wenn er sich nicht mit Sky Haussmann-Andenken umgeben konnte, fing er an zu zittern.«

»So weit braucht es bei Ihnen nicht zu kommen«, sagte Zebra. »Ist dieses Virus nicht schon seit einigen Jahren im Umlauf?«

»Das kommt auf den Stamm an, das Virus selbst ist eine alte Erfindung.«

»Dann haben Sie vielleicht Glück. Wenn es in den medizinischen Datenbanken von Yellowstone registriert war, bevor die Seuche zuschlug, müsste der Servomat darüber Bescheid wissen. Vielleicht könnte er sogar ein Gegenmittel herstellen.«

»Die Eisbettler meinten, es würde ein paar Tage dauern, bis es wirkte.«

»Wahrscheinlich waren sie übervorsichtig. Ein oder höchstens zwei Tage — länger sollte das Ausschwemmen nicht dauern. Wenn der Roboter das Virus kennt.« Zebra tätschelte die weiße Maschine. »Aber er wird sein Bestes tun. Was halten Sie jetzt von ein paar Stunden Schlaf?«

Ich musste Reivich finden. Das hieß, ich durfte keine Zeit verlieren; keine einzige Stunde. Seit meiner Ankunft in Chasm City hatte ich bereits eine halbe Nacht sinnlos vergeudet. Allerdings war mir klar, dass ein paar Stunden nicht genügen würden, um ihn aufzuspüren. Vielleicht würde ich Tage dazu brauchen. Und die konnte ich nur durchhalten, wenn ich meinen Verletzungen etwas Zeit zum Heilen ließ. Es wäre der Gipfel der Ironie, wenn ich genau in dem Moment, in dem ich Reivich töten wollte, vor Erschöpfung zusammenbräche. Jedenfalls wäre es für ihn ein guter Witz. Ich könnte nicht darüber lachen.

»Ich werde es mir überlegen.«

Seltsam war, dass ich nach allem, was ich Zebra erzählt hatte, diesmal gar nicht von Sky Haussmann träumte.

Ich träumte von Gitta.

Sie war in meinen Gedanken stets bei mir gewesen, seit ich in Idlewild erwacht war. Schon der Gedanke an ihre Schönheit — und an ihren Tod — traf mich wie ein geistiger Peitschenschlag; ein jäher Schmerz, gegen den meine Sinne nie abstumpften. Ich hörte sie sprechen; spürte ihren Geruch, als stünde sie neben mir und hörte genau zu, während ich die Schießübungen durchführte, auf denen Cahuella bestanden hatte. Seit meiner Ankunft im Orbit um Yellowstone hatte Gitta mich wohl keine Minute ganz verlassen. Jede andere Frau, der ich ins Gesicht sah, verglich ich mit ihr — auch wenn ich mir dessen kaum bewusst war. Ich war mir im Grunde meines Herzens ganz sicher, dass sie tot war, und obwohl ich mich nicht von aller Verantwortung dafür freisprechen konnte, war ich ebenso überzeugt, dass Reivich sie getötet hatte.

Und doch hatte ich mich kaum mit den Ereignissen vor diesem Tod befasst und so gut wie gar nicht mit ihrem Tod selbst.

Das brach jetzt alles über mich herein.

Natürlich lief der Traum nicht so ab. Die Episoden aus Sky Haussmanns Leben mochten sich fast linear aneinander gereiht haben — auch wenn einiges darin im Widerspruch zu dem stand, was ich über ihn zu wissen glaubte —, doch meine eigenen Träume waren so desorganisiert und unlogisch wie bei allen Menschen. Wenn ich also im Schlaf durch die Halbinsel reiste und den Überfall erlebte, der mit Gittas Tod geendet hatte, dann geschah das nicht mit der Klarheit der Haussmann-Episoden. Doch als ich hinterher erwachte, war durch die Traumarbeit ein ganzer Komplex von Erinnerungen aufgeschlossen worden, die ich bis dahin kaum vermisst hatte. So konnte ich das Geschehen am nächsten Morgen in allen Einzelheiten durchdenken.

Das Letzte, woran ich mich plastisch erinnerte, war mein Besuch mit Cahuella auf dem Ultra-Schiff. Captain Orcagna hatte uns davor gewarnt, dass Reivich einen Angriff auf das Reptilienhaus plane. Reivich ziehe, so der Captain, durch den Dschungel nach Süden. Man verfolge seinen Weg über die Emissionen der schweren Waffen, die seine Begleiter mitführten.

Es war ein Glück, dass Cahuella seine Geschäfte mit den Ultras so schnell abgeschlossen hatte. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte er sich mit dem Besuch auf dem Schiff in erhebliche Gefahr begeben, doch nur eine Woche später wäre dieser Besuch kaum noch möglich gewesen. Man hatte die Belohnung für seine Ergreifung so drastisch erhöht, dass etliche von den neutralen Beobachter-Parteien angekündigt hatten, sie würden jedes Schiff abfangen, wenn sie wüssten, dass Cahuella sich darauf befände, und wenn es sich nicht aufhalten ließe, würden sie es auch vom Himmel schießen. Wäre der Einsatz weniger hoch gewesen, dann hätten die Ultras solche Drohungen vielleicht ignoriert, aber inzwischen hatten sie ihre Ankunft offiziell bekannt gegeben und standen nun ausgerechnet mit diesen Parteien in schwierigen Geschäftsverhandlungen. Cahuella war also praktisch auf dem Planeten gefangen — und der Bereich, in dem er sich frei bewegen konnte, wurde immer kleiner.

Aber Orcagna hatte Wort gehalten. Er informierte uns auch weiterhin so ungefähr, wie Cahuella es verlangt hatte, über Reivichs jeweilige Position auf dessen Zug nach Süden zum Reptilienhaus.

Wir hatten einen recht einfachen Plan. Nördlich des Reptilienhauses gab es nur wenige Wege durch den Dschungel, und Reivich hatte sich bereits für eine der größeren Pisten entschieden. Diese Piste war an einer Stelle weitgehend zugewachsen, und dort wollten wir einen Hinterhalt legen.

»Wir verbinden es mit einem Jagdausflug«, hatte Cahuella gesagt, als wir uns über den Kartentisch im Keller des Reptilienhauses beugten. »Das ist erstklassiges Hamadryaden-Gebiet, Tanner. Wir waren dort noch nie — es hatte sich nie ergeben. Jetzt serviert uns Reivich die Gelegenheit auf dem Silbertablett.«

»Sie haben doch schon eine Hamadryade.«

»Aber nur ein Jungtier.« Es klang verächtlich, als hätte das Tier die Mühe kaum gelohnt. Ich musste lächeln, wenn ich daran dachte, wie er triumphiert hatte, als er sie damals nach Hause brachte. Eine Hamadryade gleich welcher Größe lebend zu fangen, war eine beachtliche Leistung, doch jetzt hatte er sich höhere Ziele gesteckt. Cahuella war der geborene Jäger, er war nie zufrieden. Immer gab es eine größere Beute, die ihn lockte, immer lebte er in dem Wahn, dass danach noch eine weitere käme, die alle seine Vorstellungen überstieg.

Er deutete wieder auf die Karte. »Ich will eine Erwachsene. Oder vielmehr eine Präadulte.«

»Niemand hat jemals eine präadulte Hamadryade lebend gefangen.«

»Einer ist immer der Erste.«

»Lassen Sie die Finger davon«, warnte ich. »Mit der Jagd auf Reivich haben wir genug zu tun. Wir können auf dieser Fahrt das Terrain erkunden und in ein paar Monaten einen richtigen Jagdausflug unternehmen. Wir haben nicht einmal ein Fahrzeug, mit dem wir eine tote Präadulte befördern könnten, ganz zu schweigen von einer lebenden.«

»Daran hatte ich auch schon gedacht«, sagte er. »Und ich habe einige Vorarbeiten geleistet. Kommen Sie mit, Tanner, ich will Ihnen etwas zeigen.«

Ich erschrak zu Tode.

Wir gingen durch mehrere Verbindungskorridore in den Vivarienbereich im Keller des Reptilienhauses. Dort standen Hunderte von großen Schaukästen, in denen mit Luftbefeuchtern und Temperatursteuerung ein angenehmes Klima für Reptilien hergestellt werden konnte. Die meisten Gäste, die in diesen Kästen hätten wohnen sollen, krochen sonst im Halbdunkel über den Waldboden. In den Vivarien hätten sie eine artgerechte Umgebung mit genau den richtigen Pflanzen vorgefunden. Das größte dieser Habitats bestand aus einer Reihe von terrassenförmigen Felsentümpeln und war für ein Boa Constrictor-Pärchen bestimmt, doch die Tiere waren schon vor Jahren im Embryonenstadium geschädigt worden.

Eigentlich gab es auf Sky’s Edge keine Reptilien im engeren Sinne. Auch auf der Erde war diese Gattung nur eine von unzähligen Möglichkeiten gewesen, unter denen die Evolution hatte wählen können.

Auf der Erde waren die Tintenfische die größten wirbellosen Tiere, auf Sky’s Edge dagegen hatten die wirbellosen Lebensformen auch das Festland erobert. Warum das Leben hier gerade diese Entwicklung genommen hatte, konnte niemand genau sagen, man vermutete jedoch, dass eine unbekannte Katastrophe die Ozeane auf etwa die Hälfte ihrer Fläche hatte schrumpfen lassen, sodass riesige neue Trockenflächen entstanden. Damit hatte das Leben am Rand der Ozeane einen gewaltigen Anreiz bekommen, sich auf die Verhältnisse zu Lande einzustellen. Die Wirbelsäule war einfach nie erfunden worden, die Evolution hatte sich langsam, mit blinder Beharrlichkeit einen Weg gesucht, auf dem sie nicht gebraucht wurde. Die Lebewesen auf Sky’s Edge waren rückgratlos im wahrsten Sinne des Wortes. Bei den größten Tieren — den Hamadryaden — bekam der Körper seine Festigkeit nur durch den Druck von Flüssigkeiten, die von Hunderten im ganzen Körper verteilten Herzen durch den Kreislauf gepumpt wurden.

Aber die Hamadryaden waren Kaltblüter, sie passten ihre Körpertemperatur ihrer Umgebung an. Auf Sky’s Edge gab es keinen Winter, folglich hatte keine Selektion auf warmblütige Säugetiere stattgefunden. Und die Kaltblütigkeit war die Eigenschaft, die am meisten an Reptilien erinnerte. Sie führte dazu, dass sich die Tiere auf Sky’s Edge langsam bewegten, in unregelmäßigen Abständen fraßen und ein hohes Alter erreichten. Für die größten Exemplare, die Hamadryaden, gab es den Tod, wie wir ihn kannten, überhaupt nicht. Sie durchliefen nur eine Metamorphose.

Der letzte Verbindungskorridor mündete in den größten Kellerraum. Dort wurde das Jungtier gehalten. Ursprünglich hatte man hier eine Familie von Krokodilen unterbringen wollen, aber die lagen vorerst auf Eis. Der für sie vorgesehene Ausstellungsraum war gerade groß genug für die junge Hamadryade. Zum Glück war sie in Gefangenschaft nicht merklich gewachsen. Wenn Cahuella allerdings ernsthaft daran dachte, eine Präadulte einzufangen, mussten wir mit Sicherheit einen riesigen Raum anbauen.

Ich hatte das Jungtier seit einigen Monaten nicht mehr gesehen. Ich fand es, wenn ich ehrlich war, nicht allzu interessant. Irgendwann kam man dahinter, dass das Vieh nicht gerade ein Ausbund an Aktivität war. Wenn es gefressen hatte, rollte es sich zusammen und fiel in einen todesähnlichen Schlaf. Hamadryaden hatten keine Raubtiere zu fürchten, sie konnten sich erlauben, in aller Ruhe ihre Nahrung zu verdauen und Energie zu speichern.

Jetzt standen wir vor der tiefen Grube mit den weißen Wänden, die ursprünglich für die Krokodile bestimmt gewesen war. Rodriguez, einer von meinen Männern, beugte sich über den Rand und fegte den Boden, der so tief unten war, dass er einen zehn Meter langen Besen brauchte. Die glatten Wände waren weiß gefliest. Manchmal musste Rodriguez in die Grube hinunter, um etwas zu reparieren, und um diese Aufgabe hatte ich ihn noch nie beneidet, obwohl sich das Jungtier hinter einer Barriere befand. Es gab eben Orte, an denen man sich lieber nicht aufhielt, und dazu zählte mit Sicherheit eine Schlangengrube. Rodriguez grinste unter seinem Schnurrbart, zog den Besen heraus und hängte ihn hinter sich an die Wand neben ein Sortiment von Werkzeugen mit ebenso langen Stielen: Zangen, Betäubungsharpunen, Stachelstöcke für Elektroschocks und so weiter.

»Wie war es in Santiago?«, fragte ich. Er war geschäftlich dort gewesen, um neue Absatzmärkte für uns auszukundschaften.

»Ich bin froh, dass ich wieder da bin, Tanner. Da unten gibt’s nur aristokratische Arschlöcher. Einerseits reden sie davon, Leute wie uns als Kriegsverbrecher anzuklagen, und gleichzeitig hoffen sie, dass der Krieg nie zu Ende geht, weil er ihrem armseligen Wohlstandsleben etwas Farbe verleiht.«

»Einige von uns wurden bereits vor Gericht gestellt«, bemerkte Cahuella.

Rodriguez zupfte Blätter aus den Besenborsten. »Ja, davon hatte ich auch gehört. Aber der Kriegsverbrecher von heute ist der Volksheld von morgen. Außerdem wissen wir doch alle, dass nicht die Waffen die Menschen töten.«

»Nein, das erledigen im Allgemeinen die kleinen Metallprojektile«, erwiderte Cahuella lächelnd und strich liebevoll über den Stachelstock. Vielleicht dachte er daran, wie er damit das Jungtier in den Transportkäfig getrieben hatte. »Wie geht’s denn meinem Baby?«

»Die Infektion der Haut macht mir ein wenig Sorgen. Häuten sich diese Tiere eigentlich?«

»Ich glaube, das weiß niemand. Wenn ja, dann sind wir die Ersten, die es erfahren.« Cahuella beugte sich über die Mauer — sie war hüfthoch — und schaute in die Grube hinab. Sie wirkte unfertig. Da und dort hatte man einen halbherzigen Versuch unternommen, sie zu begrünen, aber wir hatten bald herausgefunden, dass das Verhalten einer Hamadryade kaum etwas mit ihrer Umgebung zu tun hatte. Sie atmete, witterte Beute und gelegentlich fraß sie auch. Sonst rollte sie sich zusammen und lag so reglos da wie ein riesiges Schiffstau.

Selbst Cahuella hatte nach einer Weile das Interesse verloren — immerhin war es nur ein Jungtier: bevor es auch nur annähernd ausgewachsen war, wäre er längst tot.

Die Hamadryade war nicht zu sehen. Ich beugte mich über den Rand, aber sie war offensichtlich nicht in der Grube selbst. Unter uns befand sich eine kühle, dunkle Nische in der Wand; dort war das Vieh gewöhnlich zu finden, wenn es schlief.

»Sie schläft«, sagte Rodriguez.

»Ja«, sagte ich. »Wenn wir in einem Monat wiederkommen, hat sie sich vielleicht bewegt.«

»Nein«, sagte Cahuella. »Passen Sie auf.«

Neben uns hing ein weißer Metallkasten an der Mauer, der mir bisher noch nicht aufgefallen war. Cahuella klappte den Deckel auf und nahm eine Art Walkie-Talkie heraus: ein Steuergerät mit einer Antenne und einer Reihe von Schaltern.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?«

Cahuella stand mit leicht gegrätschten Beinen da. In einer Hand hielt er das Steuergerät, mit der anderen tippte er so zögernd auf die Knöpfe, als kenne er die Sequenz nicht ganz genau. Aber was er tat, zeigte Wirkung: von unten war ein unverwechselbares Geräusch zu hören, ein trockenes Scharren, als würde eine Segeltuchplane über rauen Beton gezogen. Die Schlange entrollte sich.

»Was passiert jetzt?«

»Raten Sie mal.« Cahuella amüsierte sich königlich. Er beugte sich weit über die Mauer und beobachtete, wie das Vieh aus seinem Versteck kam.

Die Hamadryade mochte ein Jungtier sein, aber sie war so groß, dass ich ihr lieber nicht zu nahe hätte kommen wollen. Der Schlangenleib hatte eine Länge von zwölf Metern und war fast überall so dick wie mein Oberkörper. Natürlich bewegte sie sich auch wie eine Schlange: für ein langes Raubtier ohne Gliedmaßen gab es nur diese eine Art der Fortbewegung, besonders, wenn es mehr als eine Tonne wog. Der Körper war glatt und kränklich fahl, denn das Vieh passte seine Hautfarbe den weißen Wänden seines Käfigs an. Hamadryaden hatten keine Feinde, aber sie waren Meister der Tarnung.

Der Kopf war augenlos. Wie sich die Schlangen tarnen konnten, obwohl sie blind waren, wusste niemand so genau. Vermutlich waren irgendwelche Sehorgane über die Haut verteilt, die aber nur Farben wahrnehmen konnten und nicht mit dem höheren Nervensystem verbunden waren. Im Übrigen waren die Hamadryaden nicht wirklich blind, sie hatten zwei Augen, die nicht nur bemerkenswert scharf, sondern auch weit genug voneinander entfernt waren, um räumliches Sehen zu ermöglichen. Aber sie befanden sich, vergleichbar den Wärmesensoren einer Giftschlange, im Innern des Mauls am Gaumen. Das Tier sah erst etwas von der Welt, wenn es das Maul aufriss, um zuzustoßen. Bis dahin hatte ihm bereits eine ganze Batterie von anderen Sinnen — hauptsächlich Infrarot- und Geruchssinn — gemeldet, dass es auf eine geeignete Beute gestoßen war. Die Augen im Oberkiefer hatten lediglich die Aufgabe, ihm in den letzten Momenten des Angriffs den Weg zu weisen. Für uns klang das sehr fremdartig, aber ich hatte von einer Froschmutation gehört, bei der sich die Augen ebenfalls im Maul befanden, ohne dass das Wohlbefinden des Frosches dadurch merklich beeinträchtigt worden wäre. Auch irdische Schlangen waren blind kaum weniger geschickt als sehend.

Jetzt hielt die Hamadryade an. Sie hatte die Nische vollends verlassen und lag locker zusammengerollt unter uns.

»Und?«, sagte ich. »Ein guter Trick. Verraten Sie mir, wie Sie das machen?«

»Mentale Kontrolle«, sagte Cahuella. »Doktor Vicuna und ich haben sie betäubt und ein paar neurologische Experimente an ihr durchgeführt.«

»Der Vampir ist wieder da?«

Vicuna war unser Haus-Veterinär. Außerdem war er früher Verhörspezialist gewesen und hatte als solcher angeblich eine ganze Reihe von Kriegsverbrechen auf dem Kerbholz. Unter anderem sollte er medizinische Versuche an Gefangenen durchgeführt haben.

»Der Vampir ist Fachmann für neurale Kontrollverfahren. Vicuna hat die größten Knoten im Zentralnervensystem der Hamadryade vermessen — das, nebenbei bemerkt, nur ziemlich rudimentär ausgebildet ist. Dann hat er einfache Implantate zur Elektrostimulation entwickelt, die wir dem Vieh an strategischen Punkten seines Gehirns — oder des Organs, das man gnädigerweise so nennen könnte — eingesetzt haben.«

Mit diesen Implantaten, so fuhr er fort, hätten sie so lange experimentiert, bis sie der Schlange eine Reihe von einfachen Verhaltensmustern entlocken konnten. Nichts besonders Raffiniertes — die Schlange kannte keine komplexen Verhaltensmuster. Eine Hamadryade konnte so groß werden, wie sie wollte, im Grunde blieb sie ein einziger Jagdreflex mit einigen simplen Subroutinen. Das hatten wir auch bei den Krokodilen beobachtet, bevor wir sie auf Eis legten. Sie waren gefährlich, aber leicht zu lenken, wenn man erst begriffen hatte, wie ihr Bewusstsein funktionierte. Bei Krokodilen löste der gleiche Reiz immer die gleiche Reaktion aus. Bei den Hamadryaden waren die Routinen anders — angepasst an das Leben auf Sky’s Edge —, aber kaum komplizierter.

»Ich habe nur den Knoten stimuliert, der einer Schlange sagt, dass es Zeit ist aufzuwachen und sich etwas zu fressen zu suchen« sagte Cahuella. »In Wirklichkeit hat sie natürlich keinen Hunger — sie hat erst vor einer Woche eine lebende Ziege bekommen —, aber das hat ihr kleines Gehirn schon wieder vergessen.«

»Ich bin beeindruckt.« Das stimmte, aber die Sache war mir auch unheimlich. »Wozu können Sie sie sonst noch bringen?«

»Passen Sie auf. Das ist ein guter Trick.«

Er drückte eine Taste, und die Hamadryade schnellte wie eine Peitschenschnur auf die Wand zu. Im letzten Moment riss sie das Maul auf, dann krachte der stumpfe Kopf mit markerschütternder Wucht gegen die weißen Keramikfliesen.

Dann fiel die Schlange betäubt zurück und rollte sich wieder zusammen.

»Lassen Sie mich raten. Sie haben ihr soeben vorgegaukelt, sie hätte etwas Essbares entdeckt.«

»Ein Kinderspiel«, sagte Rodriguez lächelnd. Er hatte das Schauspiel offenbar schon einmal erlebt.

»Sehen Sie«, sagte Cahuella. »Ich kann sie sogar veranlassen, in ihr Loch zurückzukehren.«

Die Schlange zog sich zusammen und schob sich in die Nische, bis auch die letzte schenkeldicke Schlinge verschwunden war.

»Hat das auch irgendeinen praktischen Zweck?«

»Ja natürlich.« Sein Blick verriet tiefe Enttäuschung über meine Begriffsstutzigkeit. »Das Gehirn einer präadulten Hamadryade ist nicht komplexer als dieses hier. Wenn wir eine große gefangen haben, können wir sie gleich draußen im Dschungel betäuben. Von unserer Arbeit mit dem Jungtier wissen wir, wie Beruhigungsmittel auf die Biochemie der Schlangen wirken. Ist das Vieh erst weggetreten, dann kann ihm Vicuna auf den Rücken klettern, die gleichen Implantate einsetzen und sie mit einem Steuergerät wie diesem verbinden. Danach brauchen wir die Schlange nur auf das Reptilienhaus zu richten und ihr einzureden, vor ihrer Nase gäbe es Futter, und sie wird brav den ganzen Weg nach Hause robben.«

»Ein paar Hundert Kilometer durch den Dschungel?«

»Was sollte sie aufhalten? Wenn sie Zeichen von Unterernährung zeigt, wird sie gefüttert. Sonst lassen wir sie einfach kriechen — nicht wahr, Rodriguez?«

»Er hat Recht, Tanner. Wir können ihr in unseren Fahrzeugen folgen und sie beschützen, falls andere Jäger es auf sie abgesehen haben sollten.«

Cahuella nickte. »Und wenn sie hier ist, stecken wir sie in eine neue Schlangengrube und befehlen ihr, sich einzurollen und sich richtig auszuschlafen.«

Ich lächelte und suchte dabei nach einem einleuchtenden Gegenargument — aber ohne Erfolg. Cahuellas Plan klang wahnwitzig, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte das Gebäude nicht zum Einsturz bringen. Wir hatten uns ausgiebig mit dem Verhalten von Präadulten befasst und hatten zumindest eine Vorstellung, wo man sie zu suchen hatte. Das Beruhigungsmittel ließ sich proportional zum Körpervolumen entsprechend höher dosieren. Auch die Nadeln mussten darauf abgestimmt werden — wahrscheinlich brauchten wir eher Harpunen, aber auch das war nicht unmöglich. Irgendwo in seinem Waffenarsenal hatte Cahuella ganz sicher auch Harpunengewehre.

»Wir müssten zuerst eine neue Grube ausheben«, sagte ich.

»Ihre Männer sollen sich gleich an die Arbeit machen. Bis wir zurückkommen, können sie fertig sein.«

»Reivich ist eigentlich nur ein Vorwand, nicht wahr? Selbst wenn er morgen kehrt machte, fänden Sie bestimmt eine andere Ausrede, um nach Norden zu ziehen und sich eine Präadulte zu suchen.«

Cahuella verstaute das Steuergerät, lehnte sich mit dem Rücken zur Wand und musterte mich kritisch. »Nein. Halten Sie mich etwa für besessen? Wenn mir so viel daran läge, wären wir längst losgefahren. Ich finde nur, es wäre töricht, sich eine solche Gelegenheit entgehen zu lassen.«

»Zwei Fliegen mit einer Klappe?«

»Zwei Schlangen«, sagte er mit deutlicher Betonung auf dem letzten Wort. »Eine im wörtlichen, die andere im übertragenen Sinn.«

»Sie halten Reivich nicht wirklich für eine Schlange, oder? Für mich ist er nur ein reicher Junge, der Angst hat, aber tut, was er für richtig hält.«

»Kümmern Sie sich nicht darum, was ich denke.«

»Ich glaube, wir müssen uns vor Augen führen, was ihn antreibt. Damit wir ihn verstehen und seine nächsten Züge vorhersehen können.«

»Wozu soll das gut sein? Wir wissen, wo wir den Jungen finden können. Wir bauen den Hinterhalt auf, und damit hat es sich.«

Unter uns veränderte die Schlange ihre Lage. »Hassen Sie ihn eigentlich?«

»Reivich? Nein. Er tut mir Leid. Manchmal glaube ich, ich könnte sogar Verständnis für ihn haben. Wenn er sich irgendjemand anders ausgesucht hätte, um den Mord an seiner Familie zu rächen — die übrigens nicht ich auf dem Gewissen habe —, würde ich ihm vielleicht sogar Glück wünschen.«

»Ist er den ganzen Aufwand wert?«

»Haben Sie einen anderen Vorschlag, Tanner?«

»Wir könnten ihn abschrecken. Ein Präventivschlag, um ein paar von seinen Leuten zu erledigen und ihn zu demoralisieren. Vielleicht bräuchten wir nicht einmal so weit zu gehen. Wir könnten ihm auch irgendwie den Weg versperren — vielleicht, indem wir einen Waldbrand entfachen. Die Monsunregen beginnen erst in ein paar Wochen. Es muss doch Dutzende von Alternativen geben. Der Junge braucht nicht unbedingt zu sterben.«

»Nein; hier irren Sie sich. Wer mich angreift, darf nicht überleben. Und dabei ist es mir scheißegal, ob derjenige gerade seine ganze Familie samt seinem beschissenen Hund begraben hat. Ich muss ein Exempel statuieren, verstehen Sie? Wenn wir es jetzt nicht tun, müssen wir in Zukunft jedes Mal wieder von vorne anfangen, wenn irgendein aristokratischer Schwanzlutscher zu übermütig wird.«

Ich seufzte. Diese Diskussion konnte ich nicht gewinnen. Ich hatte gewusst, dass es so weit kommen würde; dass sich Cahuella diesen Jagdausflug nicht ausreden ließe. Aber ich fand, man müsste ihm zumindest zeigen, dass man anderer Meinung war. Ich stand so lange in seinen Diensten, dass ich mich fast verpflichtet fühlte, seine Befehle zu hinterfragen. Auch dafür wurde ich bezahlt: um sein Gewissen zu spielen, wenn er sein eigenes suchte und nur noch ein eiterndes Loch fand.

»Aber deshalb braucht man doch nicht persönlich zu werden«, wandte ich ein. »Wir können Reivich sauber erledigen, ohne ein blutiges Strafgericht zu veranstalten. Sie hielten es für einen Scherz, als Sie sagten, ich könnte mit einem gezielten Kopfschuss bestimmte Hirnfunktionen ausschalten. Aber es war kein Scherz. Unter entsprechenden Bedingungen bin ich dazu tatsächlich imstande.« Ich dachte an die Soldaten aus den eigenen Reihen, die ich hatte töten müssen; unschuldige Männer und Frauen, die sterben mussten, weil irgendein unerforschlicher höherer Plan es so vorsah. Ich hatte mich immer bemüht, sie so schnell und schmerzlos aus dem Leben zu befördern, wie meine Fähigkeiten es erlaubten, obwohl das meine Schuld nicht geringer machte. Und ich war — damals — der Ansicht gewesen, auch Reivich hätte diese Gnade verdient.

Heute in Chasm City dachte ich darüber ganz anders.

»Keine Sorge, Tanner. Es wird ein schöner, schneller Tod. Eine klinisch saubere Sache.«

»Gut. Ich stelle mir mein Team natürlich selbst zusammen. Ist Vicuna auch mit von der Partie?«

»Natürlich.«

»Dann brauchen wir zwei Zelte. Ich setze mich mit dem Vampir nicht an einen Tisch, auch wenn er noch so gut mit Schlangen umgehen kann.«

»Wir werden mehr als zwei Zelte brauchen, Tanner. Dieterling kommt natürlich auch mit — er kennt sich besser mit Schlangen aus als irgendjemand sonst —, und ich will Gitta dabei haben.«

»Dazu möchte ich eines klar stellen«, sagte ich. »Ein Ausflug in den Dschungel ist immer mit Risiken verbunden. Sobald Gitta das Reptilienhaus verlässt, ist sie in größerer Gefahr, als wenn sie hier bliebe. Wir wissen, dass einige unserer Feinde uns genauestens beobachten, und wir wissen, dass es im Dschungel Kreaturen gibt, denen man besser aus dem Weg geht.« Ich hielt inne. »Ich will die Verantwortung nicht abwälzen, aber ich möchte Ihnen ganz deutlich sagen, dass ich auf einer solchen Expedition nicht für die Sicherheit aller Beteiligten garantieren kann. Ich kann nur mein Bestes tun — aber mein Bestes ist vielleicht nicht gut genug.«

Er klopfte mir auf die Schulter. »Wenn Sie Ihr Bestes tun, dann wird das gut genug sein, Tanner. Sie haben mich noch nie enttäuscht.«

»Einmal ist immer das erste Mal«, gab ich zurück.

Unser kleiner Jagdkonvoi bestand aus drei gepanzerten Bodeneffekt-Fahrzeugen. Cahuella, Gitta und ich fuhren mit Dieterling im vordersten Wagen. Dieterling hatte die Hände am Steuerknüppel und lotste uns geschickt über die zugewachsene Piste. Er kannte das Gelände und war Spezialist für Hamadryaden. Der Gedanke, dass auch er jetzt tot war, schmerzte noch immer.

Hinter uns fuhren Vicuna und drei weitere Sicherheitsleute im zweiten Fahrzeug: Letelier, Orsono und Schmidt hatten Erfahrung mit der Arbeit in der Wildnis. Das dritte Fahrzeug beförderte die schweren Waffen — darunter die Harpunengewehre des Vampirs — zusammen mit der Munition, der Reiseapotheke, den Lebensmittel- und Wasservorräten und unseren zusammengefalteten aufblasbaren Zelten. Gesteuert wurde es von einem von Cahuellas alten Verwaltern, während Rodriguez vom Rücksitz aus die Piste beobachtete, falls jemand versuchen sollte, uns von hinten anzugreifen.

Der Bildschirm am Armaturenbrett zeigte, in Rasterquadrate unterteilt, eine Karte der Halbinsel. Ein blinkender blauer Punkt markierte unsere jeweilige Position. Etliche Hundert Kilometer weiter nördlich, auf einem Weg, der sich früher oder später mit dem unseren vereinen würde, blinkte ein roter Punkt, der jeden Tag etwas weiter nach Süden rückte. Das waren Reivich und seine Leute; sie glaubten sich unbemerkt, aber Orcagna konnte die Signaturen ihrer Waffen verfolgen, und das verriet sie. Sie legten pro Tag fünfzig bis sechzig Kilometer zurück, mehr war im Dschungel eigentlich nicht zu schaffen. Unser Plan sah vor, eine Tagesreise südlich von Reivich ein Lager aufzuschlagen.

Zunächst durchquerten wir den südlichen Teil des Hamadryaden-Gebiets. Cahuellas Augen blitzten vor Erregung, er spähte angestrengt in den Dschungel hinein, um sich nur ja nichts entgehen zu lassen, was groß und langsam war. Präadulte Hamadryaden bewegten sich so schwerfällig — und waren so unangreifbar für alle natürlichen Feinde —, dass sie niemals einen Fluchtreflex entwickelt hatten. Das Einzige, was eine Hamadryade in Gang bringen konnte, war der Hunger oder der durch ihren Fortpflanzungszyklus bedingte Wandertrieb. Vicuna sagte, die Tiere hätten nicht einmal das, was wir unter einem Überlebensinstinkt verstünden. Den brauchten sie auch etwa so dringend wie ein Gletscher.

»Da ist ein Ham-Baum«, sagte Dieterling gegen Abend. »Sieht nach einer Neuverschmelzung aus.« Er deutete in die tiefe Finsternis seitlich der Piste. Ich hatte gute Augen, aber Dieterlings Sehvermögen musste geradezu übermenschlich sein.

»Du meine Güte…«, sagte Gitta, die sich eine Bildverstärkerbrille im Tarnmuster übergestreift hatte. »Der ist ja riesig.«

»Auch die Tiere sind nicht gerade klein«, sagte ihr Mann. Er schaute in die gleiche Richtung wie Dieterling und kniff angestrengt die Augen zusammen. »Sie haben Recht. Der Baum hat — wie viele? — acht oder neun Verschmelzungen hinter sich.«

»Mindestens«, sagte Dieterling. »Und die letzte ist möglicherweise noch nicht ganz abgeschlossen.«

»Noch warm, meinen Sie?«, fragte Cahuella.

Ich sah ihm an, in welche Richtung er dachte. Wo es einen Baum mit frischen Wachstumsschichten gab, waren andere präadulte Hamadryaden möglicherweise nicht weit.

Wir beschlossen, etwa zweihundert Meter weiter auf der nächsten Lichtung neben der Piste unser Nachtlager aufzuschlagen. Die Fahrer brauchten nach einem Tag auf der Dschungelpiste eine Pause, und an den Fahrzeugen waren zahlreiche kleinere Schäden aufgetreten, die vor der nächsten Etappe behoben werden mussten. Wir hatten es nicht eilig, die Stelle für den Hinterhalt zu erreichen, und Cahuella ging am Abend, bevor er sich zur Ruhe begab, gern noch ein paar Stunden in der Nähe des Lagers auf die Jagd.

Ich vergrößerte die Lichtung mit einer Monofil-Sense, dann half ich beim Aufblasen der Zelte.

»Ich gehe in den Wald«, sagte Cahuella und klopfte mir auf die Schulter. Er trug seine Jagdjacke und hatte sich ein Gewehr über die Schulter gehängt. »In etwa einer Stunde bin ich wieder zurück.«

»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie über eine Präadulte stolpern«, sagte ich nur halb im Scherz.

»Nur ein kleiner Fischzug, Tanner.«

Ich ging zu dem Kartentisch, den ich vor dem Zelt aufgestellt hatte. Dort lag ein Teil unserer Ausrüstung. »Hier. Vergessen Sie die nicht, besonders, wenn Sie sich weiter entfernen.« Ich hielt die Bildverstärkerbrille hoch.

Er zögerte, dann nahm er die Brille und schob sie in seine Hemdtasche. »Danke.«

Als er den Lichtkreis um die Zelte verließ, nahm er das Gewehr von der Schulter. Ich machte das erste Zelt fertig, in dem Gitta und Cahuella schlafen sollten, dann suchte ich Gitta, um ihr Bescheid zu geben. Sie saß in einem Fahrzeug, hatte ein teures Notepad auf dem Schoß und scrollte sich zerstreut durch verschiedene Seiten — Gedichte, so viel ich sehen konnte.

»Ihr Zelt steht bereit«, sagte ich.

Fast erleichtert klappte sie das Notepad zu und ließ sich von mir zum Zelteingang führen. Ich hatte die Lichtung bereits auf unerwünschte Mitbewohner untersucht — kleinere giftige Vettern der Hamadryaden, die wir Wickelschlangen nannten —, aber es bestand keine Gefahr. Doch Gitta blieb trotz meiner Beteuerungen ängstlich und wagte nur dort hinzutreten, wo der Boden hell erleuchtet war.

»Sie scheinen sich hier ja pudelwohl zu fühlen«, sagte ich.

»Was soll der Sarkasmus, Tanner? Glauben Sie wirklich, dass mir so etwas gefällt?«

»Ich habe ihm gesagt, es wäre für uns alle besser, wenn Sie im Reptilienhaus blieben.«

Ich zog den Reißverschluss der Zeltklappe auf. Dahinter befand sich eine kleine Luftschleuse, die verhinderte, dass das Zelt zusammenfiel, wenn jemand ein- und ausging. Die drei Zelte wurden im Dreieck aufgestellt und mit Korridoren von wenigen Schritten Länge verbunden. Die Luft wurde von einem kleinen, lautlos arbeitenden Generator ins Innere gepumpt. Gitta trat ein, dann sagte sie: »Das ist also Ihre Haltung, Tanner? Frauen haben im Dschungel nichts zu suchen? Ich dachte, diese Einstellung wäre schon vor dem Start der Flottille ausgestorben?«

»Nein…«, sagte ich, bemüht, mich nicht in die Defensive drängen zu lassen. »So denke ich nun wirklich nicht.« Ich wollte die Außenklappe hinter mir schließen, damit sie allein das eigentliche Zelt betreten konnte.

Aber sie nahm meine Hand und zog sie vom Reißverschluss weg. »Wie denken Sie denn dann?«

»Ich denke, dass hier mit ziemlich unerfreulichen Ereignissen zu rechnen ist.«

»Sie meinen den Hinterhalt? Komisch, darauf wäre ich von alleine nie gekommen.«

Was ich dann sagte, war sehr töricht: »Gitta, Sie müssen sich im Klaren sein, dass Sie über Cahuella nicht alles wissen. Ebenso wenig wie über mich. Über unsere Arbeit. Gewisse Dinge, die wir in der Vergangenheit getan haben. Ich fürchte, in nächster Zeit werden Ihnen in dieser Hinsicht die Augen aufgehen.«

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Weil ich finde, Sie sollten darauf gefasst sein.« Ich sah über die Schulter, doch ihr Mann war im Dschungel verschwunden. »Ich müsste mich um die anderen Zelte kümmern, Gitta…«

Ihre Stimme hatte einen seltsamen Unterton. »Ja, natürlich.« Sie sah mich eindringlich an. Vielleicht lag es daran, wie das Licht auf ihren Zügen spielte, jedenfalls erschien sie mir wunderschön — wie ein Gemälde von Gaugin. Ich glaube, in diesem Augenblick fasste ich endgültig den Entschluss, Cahuella zu verraten. Der Wunsch war im Unterbewusstsein wohl immer da gewesen, aber jetzt hatte sie ihn mit ihrer herzzerreißenden Schönheit ans Licht geholt. Ob ich mich wohl auch so entschieden hätte, wenn die Schatten aus einem klein wenig anderen Winkel auf ihr Gesicht gefallen wären?

»Tanner, Sie irren sich.«

»Inwiefern?«

»Was Cahuella betrifft. Ich weiß sehr viel mehr über ihn, als Sie ahnen. Sehr viel mehr, als alle anderen hier zu wissen glauben. Ich weiß, dass er ein gewalttätiger Mensch ist und schreckliche Taten begangen hat. Grausamkeiten. Dinge, die nicht einmal Sie ihm zutrauen würden.«

»Sie würden sich wundern«, sagte ich.

»Nein; genau darum geht es, ich würde mich nicht wundern. Ich rede nicht über die kleinen Verbrechen, die er begangen hat, seit Sie ihn kennen. Sie sind kaum der Rede wert, verglichen mit dem, was vorher war. Und so lange Sie davon nichts wissen, können Sie nicht behaupten, ihn zu kennen.«

»Wenn er so schlimm ist, warum bleiben Sie dann bei ihm?«

»Weil er nicht mehr der Unmensch ist, der er einmal war.« Zwischen den Bäumen zuckte ein bläulich-weißer Blitz auf, Augenblicke später war der Knall eines Lasergewehrs zu hören. Etwas brach durch das Laub und fiel zu Boden. Im Geiste sah ich Cahuella herumwandern, bis er die Beute gefunden hatte; wahrscheinlich eine kleine Schlange.

»Manche Leute würden sagen, ein Unmensch ändert sich nie, Gitta.«

»Aber das wäre ein Irrtum. Was uns unmenschlich macht, sind unsere Taten, Tanner. Nur sie bestimmen unseren Charakter; nichts sonst, weder unsere Absichten, noch unsere Gefühle. Aber was sind ein paar böse Taten gegen ein ganzes Leben, besonders gegen ein Leben, wie wir es jetzt führen dürfen?«

»Das gilt nicht für jeden«, sagte ich.

»Cahuella ist älter, als Sie denken, Tanner. Und seine bösen Taten liegen weit, weit zurück. Damals war er viel jünger. Diese Verbrechen haben mich irgendwann zu ihm geführt.« Sie hielt inne und warf einen Blick zu den Bäumen hin, doch bevor ich fragen konnte, was sie damit meinte, sprach sie schon weiter. »Doch der Mensch, den ich fand, war kein Unmensch. Er war grausam, gewalttätig und gefährlich, aber er konnte auch lieben, konnte die Liebe eines anderen Menschen erwidern. Er hatte einen Sinn für die Schönheit und erkannte das Böse in seinen Mitmenschen. Er war nicht so, wie ich erwartet hatte, er war besser. Nicht vollkommen — bei weitem nicht —, aber auch kein Monstrum; das ganz gewiss nicht. Ich stellte fest, dass es mir nicht so leicht fiel, ihn zu hassen, wie ich gehofft hatte.«

»Sie wollten ihn hassen?«

»Ich wollte noch sehr viel mehr. Ich wollte ihn töten oder vor Gericht bringen. Stattdessen…« Wieder hielt sie inne. Wieder zuckte ein bläulicher Blitz durch den Wald: ein zweites Tier fiel tot zu Boden. »Stattdessen stellte ich mir eine Frage; eine Frage, die mir bis dahin nie in den Sinn gekommen war. Wie lange muss man wohl als guter Mensch leben, wie lange muss man Gutes tun, bis die Summe aller guten Taten frühere Verbrechen aufwiegt? Was meinen Sie, ob dafür wohl ein Menschenleben ausreicht?«

»Ich weiß es nicht«; antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber eines weiß ich. Cahuella mag heute ein besserer Mensch sein als früher, aber man würde ihn immer noch nicht unbedingt zum Bürger des Monats wählen, nicht wahr? Wenn Sie ihn so, wie er jetzt ist, als Menschen bezeichnen, der Gutes tut, dann möchte ich lieber nicht wissen, wie er früher war.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, sagte Gitta. »Ich denke, Sie kämen damit auch nicht zurecht.«

Ich wünschte ihr eine gute Nacht und ging, um die anderen Zelte aufzubauen.

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