Zweiundvierzig

Wieder juckte es mich in den Fingern; der Soldat in mir wollte nach einem Todeswerkzeug greifen. Aber es war nichts zur Hand, außerdem war mir allen großen Worten zum Trotz vollkommen klar, dass ich eines nicht tun konnte: ich war nicht fähig, Tanner Mirabel eiskalt abzuknallen. Das wäre, als würde ich mich selbst erschießen.

Hinter Tanner trat Schwester Amelia von den Eisbettlern aus dem Dunkel ins goldene Licht. Sie trug nicht länger die Tracht der Eisbettler — sondern zweckmäßig lässige Kleidung —, aber ich erkannte sie sofort. Ihren Schneeflockenanhänger trug sie um den Hals.

Tanner trat vor, bis er dicht hinter Reivichs Sessel stand. In seinem dunklen, fast bis zum Boden reichenden Mantel war er größer, als ich erwartet hatte — er übertraf mich um zwei bis drei Zentimeter — und er hielt sich auch anders: Großspurigkeit war nur eines der vielen Elemente, in denen sich seine Körpersprache von der meinen unterschied, obwohl wir uns äußerlich so ähnlich waren. Wir sahen nicht gerade wie Zwillinge aus, aber wir hätten Brüder sein können oder auch ein und derselbe Mann bei unterschiedlicher Beleuchtung. Durch einen anderen Schatteneinfall wurden bestimmte Persönlichkeitsmerkmale stärker betont. So bemerkte ich in Tanners Gesicht einen grausamen Zug, der mir bei mir selbst nie aufgefallen war, aber vielleicht hatte ich auch nur nie im richtigen Moment in den Spiegel gesehen.

Amelia sprach als Erste. »Was geht hier vor? Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Gute Frage«, sagte Tanner und legte seine behandschuhte Hand auf die hohe, barock verschnörkelte Lehne von Reivichs Sessel. »Sehr gute Frage sogar.« Er beugte sich vor und schaute von oben in das blinde Gesicht des Mannes, den er töten wollte. »Wenn Sie Lust haben, darauf zu antworten, mein Hübscher, dann lassen Sie sich nicht aufhalten.«

»Sie wissen also, wer ich bin?«, fragte Reivich.

»Klar. Sie sind offenbar auf die schnelle und unangenehme Variante losgegangen. Lassen Sie mich raten. Ausgedehnte neurale, zelluläre und genetische Schäden. Die Dummköpfe hier haben Sie wahrscheinlich mit Nanomaschinen abgepuffert, aber das ist, als wollte man ein einstürzendes Gebäude mit Strohhalmen stützen. So wie die Dinge liegen, bleiben Ihnen meiner Schätzung nach noch ein paar Stunden, wahrscheinlich nicht einmal so viel. Habe ich Recht?«

»Ins Schwarze getroffen«, sagte Reivich. »Hoffentlich tröstet Sie das ein wenig.«

»Wofür brauche ich Trost?« Tanner strich jetzt mit den Fingern über Reivichs Kopf wie über die Erhebungen eines alten Globus.

»Weil Sie zu spät gekommen sind, um mich zu töten.«

»Ich könnte mich schadlos halten.«

»Durchaus. Aber was hätten Sie davon? Sie könnten natürlich meinen Körper zerstören, aber dafür würde ich Ihnen noch mit meinem letzten Atemzug danken. Alles, was ich bin — was ich jemals wusste oder empfand —, ist bereits für alle Ewigkeit konserviert.«

Tanner trat zurück. Sein Ton war jetzt ganz sachlich. »Der Scan war erfolgreich?«

»Ganz und gar. Während wir uns hier unterhalten, läuft irgendwo in den weit verstreuten Prozessoren von Refugium eine Kopie von mir. Backups wurden bereits an fünf andere Habitats geschickt, deren Namen selbst mir nicht bekannt sind. Auch wenn Sie in Refugium eine Atombombe zündeten, hätte das nicht die geringste Wirkung.«

Mir wurde klar, dass die Version von Reivich, mit der ich noch vor einer Stunde gesprochen hatte, die gescannte Kopie gewesen war. Die beiden spielten sich gegenseitig die Bälle zu wie zwei Verschwörer. Reivich hatte Recht. Tanner konnte tun, was immer er wollte, es hätte nichts zu bedeuten. Vielleicht war das Tanner sogar egal, denn immerhin hatte er mich hierher gelockt und damit sein wichtigstes Ziel erreicht.

»Sie würden sterben«, sagte Tanner. »Und Sie wollen mir einreden, das sei Ihnen völlig egal?«

»Glauben Sie, was Sie wollen, Tanner, wenn ich ehrlich bin, berührt mich das nicht weiter.«

»Wer sind Sie?«, fragte Amelia. Ratlosigkeit sprach aus ihren Zügen. Ich begriff, dass Tanner ihr bis zu diesem Moment seine wahren Motive verheimlicht hatte, um sich ihr Vertrauen zu bewahren. »Warum sprechen Sie ständig vom Töten?«

»Weil das unser Beruf ist«, sagte ich. »Wir haben Sie beide belogen. Der Unterschied ist nur, dass ich niemals vorhatte, sie umzubringen.«

Tanner wollte nach ihr greifen. Aber er konnte sich nicht von Reivich losreißen und war deshalb nicht schnell genug. Amelia huschte flink über den Zickzack-Fußboden zu mir herüber. Verwirrung malte sich in ihren Zügen. »Erklären Sie mir doch bitte, was hier vorgeht!«

»Keine Zeit«, sagte ich. »Sie müssen uns vertrauen. Es tut mir Leid, dass ich Sie belogen habe — aber ich war zu diesem Zeitpunkt nicht ich selbst.«

Chanterelle schaltete sich ein. »Sie sollten ihm glauben. Er hat sein Leben riskiert, um hierher zu kommen, und das in erster Linie, um Sie zu retten.«

»Sie sagt die Wahrheit«, bestätigte Zebra.

Ich sah Tanner fest an. Er stand immer noch hinter Reivichs Sessel. Die drei Servomaten befanden sich in Wartestellung und schienen nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorging.

»Sie stehen allein, Tanner«, sagte ich. »Ich fürchte, jetzt hat Ihre Stunde geschlagen.« Ich wandte mich an die anderen. »Wir können ihn überwältigen, wenn ihr mir folgt. Ich habe seine Erinnerungen. Ich kann jede seiner Reaktionen vorhersehen.«

Quirrenbach und Zebra stellten sich neben mich, Chanterelle postierte sich schräg dahinter, und Amelia wich noch weiter zurück.

»Vorsichtig«, flüsterte ich. »Vielleicht hat er im Gegensatz zu uns doch eine Waffe mit nach Refugium geschmuggelt.«

Ich trat zwei Schritte auf Reivichs Thron zu.

Unter der Decke bewegte sich etwas. Die bisher unsichtbare zweite Hand kam zum Vorschein. Sie hielt eine kleine, edelsteinbesetzte Pistole. Reivich brachte sie erstaunlich schnell in Anschlag — seine Gebrechlichkeit war wie weggeblasen — und feuerte drei Schüsse ab. Die Projektile rasten an mir vorbei und hinterließen silberne Nachbilder auf meiner Netzhaut.

Quirrenbach, Zebra und Chanterelle gingen zu Boden.

»Schafft sie weg«, krächzte Reivich.

Die drei Servomaten erwachten zum Leben, glitten mit unheimlicher Lautlosigkeit an mir vorüber, knieten nieder, hoben die Körper auf und trugen sie — mit Trophäen beladene Gespenster, die in ihren dunklen Wald zurückkehrten — aus dem Lichtkegel.

»Sie sind ein Stück Dreck«, knirschte ich.

Reivich schob die Hand unter die Decke zurück. »Sie sind nicht tot«, sagte er. »Ich habe sie nur ruhig gestellt.«

»Wieso?«

»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Tanner.

»Sie störten die Symmetrie. Jetzt stehen Sie beide sich allein gegenüber. Verstehen Sie? So findet die Jagd ihren perfekten Abschluss.« Er neigte den Schädel in meine Richtung. »Sie müssen zugeben, das Bild ist von verführerischer Schlichtheit.«

»Was wollen Sie?«, fragte Tanner.

»Ich habe bereits, was ich wollte. Sie beide in einem Raum zusammen. Das hat es schon lange nicht mehr gegeben, nicht wahr?«

»Nicht lange genug«, sagte ich. »Sie wissen mehr, als Sie bisher zugegeben hatten?«

»Um es anders auszudrücken: Die Informationen, die ich gesammelt hatte, bevor ich Sky’s Edge verließ, waren, gelinde gesagt, faszinierend.«

»Vielleicht wissen Sie sogar mehr als ich«, sagte ich.

Reivichs Waffe kam wieder unter der Decke hervor. Diesmal war sie auf Tanner gerichtet. Obwohl Reivich die Mündung nur ungefähr in seine Richtung hielt, erreichte er, was er wollte. Tanner trat zurück, bis er vom Sessel etwa den gleichen Abstand hatte wie ich. Dann sagte Reivich: »Warum erzählen Sie mir nicht beide, woran sie sich erinnern? Dann kann ich die Lücken füllen.« Er nickte Tanner zu. »Sie können anfangen.«

»Und womit soll ich beginnen?«

»Mit dem Tod von Cahuellas Frau, den Sie ja verschuldet haben.«

Seltsamerweise fühlte ich mich genötigt, ihn zu verteidigen. »Er hat sie doch nicht absichtlich getötet, Sie Scheißkerl. Er wollte ihr das Leben retten.«

»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Tanner verächtlich. »Ich habe nur getan, was ich tun musste.«

»Leider war es ein Fehlschuss«, sagte Reivich.

Tanner schien das überhört zu haben. Er hatte angefangen zu berichten, was er noch wusste. »Vielleicht war es ein Fehlschuss; vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wollte ich sie lieber töten, als zusehen zu müssen, wie sie weiterlebte, ohne mir zu gehören.«

»Nein«, sagte ich. »So war es nicht. Sie wollten sie retten…«

Dabei war ich gar nicht sicher, wie viel ich tatsächlich wusste.

Tanner fuhr fort. »Hinterher war mir sofort klar, dass Gitta nicht mehr zu helfen war. Aber Cahuella konnte ich retten. Seine Verletzungen waren nicht so schwer. Deshalb erhielt ich sie beide am Leben und brachte sie ins Reptilienhaus zurück.«

Ich nickte unwillkürlich. Die Fahrt durch den Dschungel hatte endlos lange gedauert, und der Stumpf meines abgeschossenen Fußes hatte mir wahre Höllenqualen bereitet. Aber das ist nicht mir widerfahren…es sind Tanners Erlebnisse, ich weiß nur aus seinen Erinnerungen davon…

»Bei meiner Ankunft wurde ich von Cahuellas Leuten in Empfang genommen. Sie nahmen mir die beiden Verletzten ab und taten für Gitta, was sie konnten, obwohl sie wussten, dass es sinnlos war. Cahuella lag mehrere Tage im Koma, kam aber irgendwann wieder zu sich. Doch er hatte kaum Erinnerungen an das Geschehen bewahrt.«

Ich erinnerte mich, wie ich nach langem, traumlosem Schlaf von Fieber geschüttelt erwacht war und mit Sicherheit nur eines wusste: ich war aufgespießt worden. Und ich erinnerte mich, dass ich sonst nichts mehr gewusst hatte. Als ich nach Tanner rief, sagte man mir, er sei verletzt, aber am Leben. Niemand erwähnte Gitta.

»Dann kam Tanner mich besuchen«, nahm ich den Faden auf. »Ich sah, dass er einen Fuß verloren hatte, und begriff, dass uns etwas Schreckliches zugestoßen sein musste. Aber ich wusste nicht viel mehr, als dass wir nach Norden gefahren waren, um Reivichs Trupp in einen Hinterhalt zu locken.«

»Sie fragten nach Gitta. Sie hatten nicht vergessen, dass sie dabei gewesen war.«

Wie hinter dicken Gazeschichten tauchten in meinem Gedächtnis Bruchstücke jenes längst vergangenen Gespräches auf.

»Und Sie legten ein volles Geständnis ab. Sie hätten lügen — hätten eine Geschichte erfinden können, die Sie schützte. Sie hätten behaupten können, Reivichs Killer hätte sie getötet — aber das taten Sie nicht. Sie erzählten mir alles genau so, wie es geschehen war.«

»Was hätte es für einen Sinn gehabt zu lügen?«, fragte Tanner. »Irgendwann wäre Ihr Gedächtnis ja doch wiedergekommen.«

»Aber Sie müssen es doch gewusst haben.«

»Was muss er gewusst haben?«, fragte Reivich.

»Dass ich Sie dafür töten würde.«

»Aha«, sagt Reivich, und aus seinem Lebenserhaltungsmodul drang ein leises, phlegmatisches Lachen. »Jetzt sind wir fast am Ziel. Allmählich stoßen wir zum kritischen Punkt vor.«

»Ich dachte nicht, dass Sie mich töten würden«, sagte Tanner. »Ich dachte, Sie würden mir verzeihen. Ich fand nicht einmal, dass es etwas zu verzeihen gäbe.«

»Vielleicht kannten Sie mich doch nicht so gut, wie Sie dachten.«

»Mag sein.«

Reivich klopfte mit der freien Hand gegen die verschnörkelte Armlehne. Ich hörte, wie seine schwarz verfärbten Fingernägel klickend das Metall berührten. »Sie ließen ihn also ermorden«, wandte er sich an mich. »Aber auf eine Art und Weise, die ihren eigenen Zwangsvorstellungen entgegenkam.«

»Ich weiß es wirklich nicht mehr«, sagte ich.

Und das war fast die Wahrheit.

In meiner Erinnerung stand ich über der offenen, weißen Grube und beobachtete Tanner, der darin gefangen war. Ich sah, wie er sich langsam seiner Lage bewusst wurde, wie er erkannte, dass er nicht allein war. Dass etwas diesen Raum mit ihm teilte.

Reivich wandte sich an Tanner. »Erzählen Sie uns, woran Sie sich erinnern«, verlangte er.

Tanners Stimme war so tonlos und ohne jedes Gefühl wie Reivichs künstliches Organ. »Ich wurde bei lebendigem Leibe verspeist. So etwas vergisst man nicht so schnell, glauben Sie mir.«

Und ich erinnerte mich, dass die Hamadryade fast unmittelbar darauf an den fremden Giften eingegangen war, die jeder Mensch in sich hatte; eine tödliche Kollision zweier Metabolismen. Das Tier hatte sich in Krämpfen gewunden und sich eingerollt wie ein Feuerwehrschlauch.

»Wir haben sie aufgeschlitzt«, sagte ich, »und Tanner aus ihrem Schlund geholt. Er atmete nicht mehr. Aber sein Herz schlug noch.«

»In diesem Moment hätten Sie ein Ende machen können«, sagte Reivich. »Ein Stich ins Herz, und alles wäre vorüber gewesen. Aber Sie mussten ihm noch etwas rauben, nicht wahr?«

»Ich brauchte seine Identität. Insbesondere seine Erinnerungen. So ließ ich ihn mit einem Aggregat am Leben erhalten und gab Anweisung, einen Trawl vorzubereiten.«

»Warum?«, fragte Reivich.

»Um Sie zu verfolgen. Ich wusste inzwischen, dass Sie den Planeten verlassen hatten und schon bald auf einem Lichtschiff nach Yellowstone reisen würden. Tanner hatte seine Strafe bekommen. Nun waren Sie an der Reihe, das war ich Gitta schuldig. Aber dazu musste ich zu Tanner werden.«

»Sie hätten auch zu jeder anderen Person auf dem Planeten werden können.«

»Seine Fähigkeiten kamen mir gelegen. Und er war zur Hand.« Ich hielt inne. »Es sollte keine Dauerlösung sein. Ich wollte meine eigene Identität nur so lange unterdrücken, dass ich an Bord des Lichtschiffs gelangen konnte. Danach sollten Tanners Erinnerungen allmählich verblassen. Reste davon durften erhalten bleiben — das ist auch jetzt noch so —, aber getrennt von meinen eigenen.«

»Und Ihre anderen Geheimnisse?«

»Meine Augen? Die musste ich verstecken, und das ging auch ganz gut. Aber jetzt sind sie in den modifizierten Zustand zurückgefallen. Vielleicht war das ja auch so vorgesehen.«

»Sie haben Ihr Gedächtnis noch immer nicht ganz zurückgewonnen«, sagte Reivich. Sein Lächeln war Grauen erregend. »Die Augen waren nämlich nicht Ihr einziges Geheimnis. Es gab noch mehr.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

Er hob die Hand und klopfte sich mit einer seltsam ausdrucksvollen Geste gegen die Überreste seiner Zähne. »Sie wissen es vielleicht nicht mehr, aber ich hatte die Ultras bereits dazu gebracht, Sie an mich zu verraten. Danach war es nicht weiter schwer, auch in Erfahrung zu bringen, was sie sonst noch mit Ihnen angestellt hatten.« Wieder lächelte er. »Ich musste doch wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Wozu Sie fähig waren.«

»Und das wissen Sie jetzt?«

»Ich halte Sie für einen Menschen, der sogar sich selbst noch überraschen könnte, Cahuella. Nur bestreiten Sie natürlich, Cahuella zu sein.«

»Ich hasse ihn nicht weniger, als Sie es tun«, sagte ich. »Ich habe die Ereignisse aus Tanners Blickwinkel gesehen. Ich weiß, was er ihm angetan hat. Er ist nicht ich.«

»Sie haben also Sympathien für Tanner.«

Ich schüttelte den Kopf. »Der Tanner, den ich kannte, starb in einer Schlangengrube. Dass etwas von ihm überlebte, spielt keine Rolle. Das ist nicht er, sondern nur ein Monstrum, das Cahuella geschaffen hat.«

»Sie glauben also, Sie könnten mich töten?«, höhnte Tanner.

»Sonst wäre ich nicht hier.«

Tanner sprang auf den Sessel zu. Ich wusste, dass er es auf Reivich abgesehen hatte. Doch Reivich kam ihm zuvor; bevor Tanner noch zwei Schritte gemacht hatte, zielte er bereits mit seiner Pistole auf ihn. »Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Was haben Sie davon, wenn Sie Ihre Differenzen ohne das nötige Publikum beilegen?«

Mir fiel Amelia wieder ein, die irgendwo im Schatten stand, und ich fragte mich, wie das alles wohl auf sie wirken mochte.

Tanner trat einen Schritt zurück und hob die behandschuhten Hände. Sie waren leer. »Sie möchten sicher wissen, wie ich überleben konnte«, sagte er zu mir.

»Die Frage hatte sich mir tatsächlich gestellt.«

»Sie hätten mich töten müssen, anstatt mich, wenn auch nur mit dem Aggregat, am Leben zu erhalten.« Er schüttelte mitleidig den Kopf. »Aber nachdem die Schlange versagt hatte, brachten Sie das nicht über sich. Deshalb befahlen Sie einem Ihrer Männer, mich umzubringen, und flüchteten aus dem Reptilienhaus, als wäre der Teufel hinter ihnen her.«

Das war die Wahrheit, doch sie kristallisierte sich für mich erst heraus, als er sie aussprach. »Ich ging in den Süden«, sagte ich. »In ein Lager, das von abtrünnigen NK-Soldaten besetzt war. Dort gab es Ärzte. Ich wusste, dass sie fähig waren, die Arbeit der Ultras zu kaschieren, meine Gene zu tarnen und mich wie Tanner aussehen zu lassen. Ich hatte immer vor, das Reptilienhaus noch einmal aufzusuchen, bevor ich den Planeten verließ.«

»Aber Sie bekamen keine Gelegenheit dazu«, schaltete Reivich sich ein. »Die NKs erreichten das Reptilienhaus, während Sie mit Dieterling unterwegs waren. Sie töteten die meisten Ihrer Leute, bis auf Tanner, der ihnen wider ihren Willen Respekt einflößte. Sie holten ihn ins Bewusstsein zurück.«

»Ein schwerer Fehler«, sagte Tanner. »Obwohl ich nur einen Fuß hatte, nahm ich ihnen die Waffen ab und tötete sie alle.«

Daran hatte ich nicht einmal eine schwache Erinnerung. Natürlich nicht — das war schließlich nach dem Trawl geschehen; nachdem ich Tanners Erinnerungen gestohlen hatte.

»Was passierte dann?«, fragte ich.

»Ich hatte einen Monat Zeit, um auf das Lichtschiff zu kommen, bevor es den Orbit verließ«. Tanner bückte sich und kratzte sich unter dem Mantel den Knöchel. »Ihr Vorsprung war nicht allzu groß. Sobald mein Fuß wieder heil war, folgte ich Ihnen. Ich war es übrigens, der Dieterling getötet hat — wen hätte er sonst so nahe an sich heran gelassen? Er saß im Wheeler, ich ging auf ihn zu und knallte ihn ab.« Er tat so, als wollte er den Mord pantomimisch vorführen.

Ein klassisches Ablenkungsmanöver.

Als Tanner sich zu voller Höhe aufrichtete, wurden seine Bewegungen rasch und fließend. Ein Messer schnellte aus seiner Hand und folgte einer genau berechneten Bahn durch den Raum. Er hatte ein sicheres Auge — sogar die durch die langsame Rotation von Refugium bedingte Corioliskraft hatte er mit berücksichtigt.

Das Messer blieb in Reivichs Hinterkopf stecken.

Aus dem Lebenserhaltungsgerät drang ein digitales Stöhnen; ein künstlich stabiler Ton, der auch nicht abriss, als Reivichs Kopf leblos auf seine Brust sank. Die Pistole entfiel seiner Hand und landete klappernd auf dem Boden. Ich wollte mich darauf stürzen, wohl wissend, dass dies wahrscheinlich meine einzige Chance war, mit Tanner wenigstens gleichzuziehen.

Doch er war schneller und warf mich zu Boden. Ich schlug so heftig mit dem Rücken auf, dass mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Die Pistole stieß er versehentlich mit dem Fuß in das Halbdunkel zwischen dem goldenen Lichtkegel und den Schatten dahinter.

Tanner griff nach dem Messer und zog es aus Reivichs Schädel. Auf der monomolekularen Klinge schillerten Prismenmuster in allen Regenbogenfarben wie ein Ölfilm auf einer Wasserpfütze.

Er wird es nicht wagen, das Messer zu werfen, dachte ich. Wenn er nicht trifft, verliert er seine einzige Waffe

»Sie sind erledigt, Cahuella. Das ist das Ende.«

Er hielt das Messer jetzt in einer Hand, wog es leicht auf der behandschuhten Handfläche. Mit der anderen griff er Reivich ins Gesicht und riss die Optikleitungen aus seinen Augenhöhlen. Jede Leitung zog einen dicken Faden aus gerinnendem Blut hinter sich her.

»Für Sie war es schon vor langer Zeit zu Ende«, sagte ich und trat in seinen Angriffsbereich. Das Messer zeichnete mit chirurgischer Präzision völlig lautlos blitzende Bögen in die Luft.

»Und was bedeutet das für Sie?« Tanner schob Reivich aus dem Sessel. Der magere Leichnam fiel samt seiner Decke zu Boden wie ein Sack Holz.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Jedenfalls bin ich nicht wie Sie.«

Ich versuchte, den Winkel seiner Messerschwünge zu berechnen, indem ich mich auf die einschlägigen Tanner-Erinnerungen konzentrierte, auf seine Erfahrungen im Nahkampf.

Es war unmöglich. Ich konnte nicht den kleinsten Vorteil herausschlagen — und er brauchte seine Erinnerungen nicht erst mühsam auszugraben. Sie waren tief verwurzelt und kamen ihm von selbst zu Hilfe.

Ich machte einen Ausfall, in der Hoffnung, seinen freien Arm erwischen und ihn aus dem Gleichgewicht bringen zu können, bevor er zustieß.

Ich hatte mich verschätzt.

Den Messerstich selbst spürte ich nicht; nur eine Kälte, die durch Mark und Bein ging. Ich wagte nicht, den Blick zu senken, doch aus dem Augenwinkel sah ich den Schnitt auf meiner Brust, wo die Klinge durch die Kleidung ins Fleisch gedrungen war. Die Wunde war nicht tödlich, dafür war sie nicht tief genug — sie ging nicht einmal bis auf die Rippen —, aber das war schieres Glück. Beim nächsten Mal war ich mit Sicherheit fällig.

»Tanner!«

Das war nicht meine Stimme. Amelia rief aus dem Schatten. Sie stand halb im Dunkeln und streckte die Hände nach mir aus.

Natürlich. Für sie war ich immer noch Tanner. Sie hatte keinen anderen Namen für mich.

Sie hatte Reivichs Pistole aufgehoben.

»Werfen Sie sie mir zu!«, rief ich.

Sie gehorchte. Die Pistole fiel zu Boden und schlitterte ein paar Meter weiter. Kleine Edelsteinsplitter spritzten davon.

Ich drehte Tanner den Rücken zu, stürzte mich auf die Waffe, fiel auf die Knie und rutschte weiter, bis ich sie in Reichweite hatte.

Bevor sich meine Finger um den Griff schließen konnten, kam Tanners Messer geflogen und bohrte sich in meine Hand. Mit einem Aufschrei ließ ich die Pistole fallen. Die Messerspitze ragte aus meiner Handfläche wie das Segel einer Jacht.

Tanner lief auf mich zu. Ich hörte seine Schritte in der dumpfen Finsternis. Tränen trübten meinen Blick. Ich hob mit der anderen Hand die Pistole auf und versuchte, auf ihn zu zielen.

Ein Schuss löste sich, ich spürte den leichten Rückstoß, sah das Projektil als verschwommenen Fleck an Tanner vorbei rasen. Ich hatte ihn um etliche Zentimeter verfehlt. Ich zielte von Neuem, zog abermals den Abzug durch.

Doch nichts geschah.

Tanner warf sich gegen mich und stieß zugleich die unbrauchbar gewordene Waffe mit dem Fuß beiseite. Er rang mich nieder und kniete in Siegerpose über mir. Ich versuchte, ihm die Messerspitze in meiner Handfläche ins Gesicht zu stoßen.

Tanner bekam das Handgelenk der durchbohrten Hand zu fassen und lächelte. Jetzt hatte er gewonnen. Er wusste es. Er brauchte nur noch die Klinge heraus zu ziehen und sie gegen mich zu richten.

Aus dem Augenwinkel sah ich Reivichs zusammengesunkenen Leichnam. Der Mund stand offen. Die wenigen Zähne blitzten im goldenen Licht.

Er hatte sich gegen die Zähne geklopft.

Und plötzlich fiel mir wieder ein, was Cahuella den Ultras noch abgekauft hatte: eine Transformation, die mehr umfasste als nur die Augen; eine Jägerhilfe, von der er Tanner Mirabel nie erzählt hatte.

Was nützt es, bei Nacht auf die Jagd zu gehen, wenn man nicht töten kann, was man fängt?

Ich riss den Mund weit auf, weiter, als es die menschliche Anatomie eigentlich erlaubte. Dabei entdeckte ich einen Muskel, von dessen Vorhandensein ich bisher nichts geahnt hatte; einen Muskel, der hoch oben an meinem Gaumen verankert war. In meinem Kiefer knackte etwas, aber ich spürte keinen Schmerz.

Ich legte meinen heilen Arm um Tanners Kopf und drehte sein Gesicht zu mir, während er weiter an dem Messer zerrte, mit dem er glaubte, den Sieg erringen zu können.

Doch dann schaute er mir in den Mund, und in diesem Moment musste er es gesehen haben.

»Sie sind tot«, sagte ich. »Ich hatte mir nämlich nicht nur das Sehvermögen einer Schlange gekauft.«

Ich spürte, wie meine Giftdrüsen in Aktion traten und das Gift durch die mikrofeinen Gänge in meinen ausklappbaren Reißzähnen pressten.

Dann zog ich Tanner an mich, als wollte ich meinen lange vermissten Bruder ein letztes Mal umarmen.

Und schlug die Zähne tief in seinen Hals.

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