Fünfundzwanzig

Nachdem die Episode vorbei war, irrte ich so lange durch die Bahnhofshalle, bis ich ein Zelt fand, wo ich gegen Gebühr für ein paar Minuten ein Telefon benützen konnte. Seit die ursprünglich so eleganten und schnellen Datennetze der Stadt nicht mehr funktionierten, war alle Welt wieder auf das Telefon angewiesen. Für eine Gesellschaft, deren Maschinen einst die Kunst der Kommunikation zu einer mühelosen Form der Beinahe-Telepathie erhoben hatten, war das ein Abstieg, aber zum Ausgleich waren die Telefone ihrerseits zu kleinen Statussymbolen geworden. Die Armen hatten keine, und für die Reichen konnten sie nicht groß und auffallend genug sein. Das Telefon, das ich mietete, sah aus wie ein primitives Schlachtross von einem Walkie-Talkie: ein klobiges, schwarzes Handgerät mit zweidimensionalem Bildschirm und einer Reihe abgegriffener Tasten mit canasischen Schriftzeichen.

Ich fragte den Vermieter, was ich tun musste, um eine Nummer im Orbit und einen Teilnehmer im Baldachin zu erreichen. Er gab mir zwei so langatmige und komplizierte Erklärungen, dass ich Mühe hatte, die Einzelheiten im Kopf zu behalten. Der Anruf im Orbit war einfacher, weil ich die Nummer hatte — sie stand auf der Geschäftskarte der Eisbettler, die Schwester Amelia mir gegeben hatte —, aber ich musste mich durch vier oder fünf instabile Netze vermitteln lassen, bevor ich durchkam.

Die Methoden der Eisbettler waren nicht uninteressant. Sie hielten Verbindung zu vielen ihrer Klienten, auch wenn die das Hospiz Idlewild längst verlassen hatten. Brachten es die Klienten im System zu Macht und Einfluss, dann pflegten sie sich bei den Eisbettlern — mit Spenden, die dem Orden halfen, sein Habitat zu finanzieren — erkenntlich zu zeigen. Aber das war nicht alles. Die Eisbettler waren außerdem darauf eingerichtet, für ihre ehemaligen Schützlinge auch andere Dienstleistungen zu erbringen — sie belieferten sie mit Informationen und stellten sich auch für eine Tätigkeit zur Verfügung, die man nur als besonders zivilisierte Form von Spionage bezeichnen konnte. Deshalb lag es stets in ihrem Interesse, leicht erreichbar zu sein.

Ich musste die Halle verlassen und in den Regen hinausgehen, bevor sich das Telefon in eins der noch bestehenden städtischen Datensysteme einwählen konnte. Selbst dann gelang es mir erst nach vielen Versuchen, eine Verbindung zum Hospiz zu bekommen. Als das Gespräch etliche Sekunden später endlich zustande kam, war die Zeitverzögerung beträchtlich, und es gab immer wieder Unterbrechungen, wenn Datenpakete ziellos im Raum um Yellowstone herumgeworfen wurden oder gelegentlich sogar auf parabolische Bahnen gerieten, die nicht wieder zurück führten.

»Hier Bruder Alexei von den Eisbettlern. Wie kann ich Gott durch Sie dienen?«

Auf dem Schirm war ein hageres Gesicht mit hohlen Wangen erschienen, die Augen strahlten mich mit der ruhigen Güte einer Eule an. Auffallend war der violette Bluterguss, der das eine Auge einrahmte.

»So, so«, sagte ich. »Bruder Alexei. Wie nett. Was ist passiert? Sind Sie etwa auf Ihre Gartenschaufel gefallen?«

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, mein Freund.«

»Dann muss ich Ihr Gedächtnis wohl ein wenig auffrischen. Mein Name ist Tanner Mirabel. Ich kam vor ein paar Tagen mit der Orvieto an und wurde in Ihr Hospiz gebracht.«

»Ich… glaube nicht, dass ich mich an Sie erinnere, Bruder.«

»Seltsam. Dabei hatten wir uns damals in der Höhle ewige Freundschaft geschworen, wissen Sie nicht mehr?«

Er knirschte mit den Zähnen, ohne seine wohlwollende Miene aufzugeben. »Nein… leider. Kein Treffer. Aber fahren Sie doch bitte fort.«

Er trug die Kutte der Eisbettler und hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet. Hinter ihm bot sich im Widerschein des künstlichen Sonnenlichts die Aussicht auf Weinterrassen, die immer steiler wurden, bis sie sich schließlich nach innen wölbten. Überall schwammen kleine Hütten und Ruheinseln, wie weiße Eisberge auf dem Ozean aus üppigem Grün.

»Ich muss Schwester Amelia sprechen«, sagte ich. »Sie war während meines Aufenthaltes sehr freundlich zu mir, und sie hatte meine persönlichen Sachen in ihrer Obhut. Wenn ich mich recht erinnere, sind Sie ein guter Bekannter von ihr?«

Das halbe Lächeln verrutschte ihm nicht. »Schwester Amelia ist eine unserer gütigsten Seelen. Es überrascht mich nicht, dass Sie sich bei ihr bedanken möchten. Leider ist sie derzeit unpässlich und liegt in den Kryo-Krypten. Darf ich Ihnen vielleicht — auf meine Weise — behilflich sein? Auch wenn ich Sie natürlich niemals mit der Hingabe betreuen könnte, die Sie von unserer engelsgleichen Schwester Amelia erfahren haben.«

»Was haben Sie ihr angetan, Alexei?«

»Gott möge Ihnen verzeihen.«

»Schluss mit dem frommen Getue. Ich breche Ihnen das Genick, wenn Sie sich an ihr vergriffen haben. Das ist Ihnen doch klar, nicht wahr? Ich hätte es gleich tun sollen, als ich Sie noch in Griffweite hatte.«

Daran hatte er eine Weile zu kauen. Endlich antwortete er. »Nein, Tanner… ich habe ihr nichts getan. Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Dann holen Sie mir Amelia an den Apparat.«

»Warum wollen Sie unbedingt mit ihr sprechen anstatt mit mir?«

»Ich weiß aus meinen Unterhaltungen mit Schwester Amelia, dass sie mit vielen Neuankömmlingen zu tun hatte, die ins Hospiz gebracht wurden, und ich möchte gerne wissen, ob sie sich an einen Mister…«Ich wollte schon Quirrenbach sagen, aber dann biss ich mir auf die Zunge.

»Entschuldigung, ich hatte den Namen nicht richtig verstanden.«

»Schon gut. Stellen Sie mich nur zu Amelia durch.«

Er zögerte, dann bat er mich, meinen eigenen Namen noch einmal zu wiederholen.

»Tanner«, knirschte ich.

Es war, als hätten wir uns eben erst bekannt gemacht. »Nur einen Augenblick… äh… Geduld, Bruder.« Die Maske saß immer noch fest, aber die Stimme klang jetzt deutlich angespannt. Er schob den Ärmel seiner Kutte zurück. Darunter trug er ein Bronzearmband, in das er jetzt sehr leise und möglicherweise in einer besonderen Eisbettlersprache hineinsprach. Auf dem Armband erschien ein Bild, aber es war so klein, dass ich nur einen rosa Fleck erkennen konnte — vielleicht ein menschliches Gesicht, vielleicht das von Schwester Amelia. Fünf oder sechs Sekunden vergingen, dann zog Alexei den Ärmel wieder über das Armband.

»Nun?«

»Ich kann sie im Moment nicht erreichen. Sie kümmert sich um die Matsch… um die Kranken, und es wäre ganz und gar nicht ratsam, sie dabei zu stören. Aber wie ich soeben höre, möchte sie ebenso dringend mit Ihnen sprechen wie umgekehrt.«

»Sie will mit mir sprechen?«

»Wenn Sie hinterlassen würden, wo Amelia Sie erreichen kann…«

Ich unterbrach die Verbindung zum Hospiz, bevor Alexei den Satz vollenden konnte. Im Geiste sah ich ihn im Weinberg stehen und verdrossen den erloschenen Bildschirm anstarren, mit dem er eben noch gesprochen hatte. Seine Worte verklangen. Er hatte versagt. Er hatte mich aufspüren wollen, aber es war ihm nicht gelungen. Reivichs Leute waren also auch an die Eisbettler herangetreten und hatten sie als Spitzel gewonnen. Man hatte nur darauf gewartet, dass ich mich meldete, in der Hoffnung, ich wäre unvorsichtig genug, meinen Aufenthaltsort verraten.

Es hätte fast geklappt.

Zebras Nummer fand ich erst nach einigen Minuten heraus. Ich hatte mir gemerkt, dass sie sich Taryn genannt hatte, bevor sie sich mir mit ihrem Decknamen in der Sabotagebewegung vorstellte. Ich hatte keine Ahnung, ob der Vorname Taryn in Chasm City sehr häufig war, aber diesmal war das Glück auf meiner Seite — es gab weniger als ein Dutzend Personen, die so hießen. Und auch sie brauchte ich nicht alle anzurufen, denn das Telefon zeigte mir einen Stadtplan, und nur eine Nummer befand sich in der näheren Umgebung des Abgrunds. Die Verbindung klappte sehr viel schneller als die zum Hospiz, aber auch hier ging es nicht ohne Verzögerungen ab, und zwischendurch rauschte es in der Leitung, als müsste sich das Signal durch ein transkontinentales Telegrafenkabel quälen, anstatt nur ein paar Kilometer smogbelasteter Luft zu überwinden.

»Tanner, wo bist du? Warum bist du weggegangen?«

»Ich…« Ich hielt inne. Ich war im Begriff gewesen, ihr zu sagen, ich befände mich unweit des Grand Central Terminals, falls sie das nicht schon der Aussicht hinter mir entnommen haben sollte. »Nein, lieber nicht. Ich denke, ich kann dir vertrauen, Zebra, aber du stehst dem Großen Spiel zu nahe. Es ist besser, du weißt es nicht.«

»Du traust mir zu, dass ich dich verraten würde?«

»Nein, obwohl ich es dir nicht einmal verdenken könnte. Aber ich kann nicht riskieren, dass mir jemand durch dich auf die Spur kommt.«

»Wer sollte das denn noch sein? So viel ich höre, hast du bei Waverly ganze Arbeit geleistet.« Ihr gestreiftes Gesicht füllte den Schirm, die blutunterlaufenen Augen betonten den schwarz-weißen Teint.

»Er hat beim Großen Spiel für beide Seiten teilgenommen. Dass ihn das früher oder später das Leben kosten würde, hätte ihm klar sein müssen.«

»Er mag ein Sadist gewesen sein, aber er war doch einer von uns.«

»Was sollte ich denn tun — freundlich lächelnd darum bit-’ ten, er möge mich doch laufen lassen?« Der warme Regen prasselte etwas heftiger vom Himmel, und ich stellte mich unter einen Gebäudevorsprung und legte schützend die Hand über das Telefon. Zebras Gesicht flimmerte wie ein Spiegelbild im Wasser. »Ich hatte nichts gegen Waverly persönlich, wenn du es genau wissen willst. Jedenfalls nichts, was man nicht mit einer warmen Kugel aus der Welt schaffen konnte.«

»Nach allem, was ich höre, hast du aber keine Kugel benutzt.«

»Er hat mich in eine Lage gebracht, in der mir keine andere Wahl mehr blieb, als ihn zu töten. Und das habe ich sehr professionell getan, falls dich das beruhigt.« Die Einzelheiten ersparte ich ihr. Sie brauchte nicht zu wissen, wie Waverly ausgesehen hatte, als ich ihn fand. Es würde nichts ändern, wenn sie erführe, dass er den Sammlern im Mulch in die Hände gefallen war.

»Du kannst recht gut auf dich aufpassen, nicht wahr? Das dachte ich mir schon, als ich dich in diesem Gebäude fand. Die wenigsten schaffen es so weit. Schon gar nicht, wenn sie angeschossen sind. Wer bist du, Tanner Mirabel?«

»Ein Mensch, der um sein Leben kämpft«, sagte ich. »Es tut mir Leid, dass ich dich bestohlen habe. Du hast mir geholfen, und dafür bin ich dankbar. Und wenn ich eine Gelegenheit finde, meine Dankbarkeit zu beweisen und dich für die Dinge zu entschädigen, die ich dir entwendet habe, werde ich sie nützen.«

»Warum bist du denn weggegangen?«, fragte Zebra. »Ich hatte dir doch bis zum Ende des Großen Spiels Asyl versprochen.«

»Ich hatte leider etwas Dringendes zu erledigen.« Das war ein Fehler; meine Rache an Reivich war das Letzte, worüber Zebra Bescheid zu wissen brauchte, und jetzt hatte ich sie geradezu provoziert, Vermutungen darüber anzustellen, was einen Mann wohl veranlassen könnte, ein sicheres Versteck zu verlassen.

»Eins ist merkwürdig«, sagte sie. »Ich nehme dir beinahe ab, dass du dich revanchieren willst. Ich weiß nicht, warum, aber ich halte dich für einen Mann, der zu seinem Wort steht.«

»Du hast Recht«, sagte ich. »Und das wird mich eines Tages den Kopf kosten.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Schon gut. Ist für heute Nacht eine Jagd angesetzt, Zebra? Ich dachte, wenn mir das überhaupt jemand sagen kann, dann du.«

»Es findet eine Jagd statt«, sagte sie nach längerem Überlegen. »Aber ich weiß nicht, was dich das angeht, Tanner. Hast du deine Lektion noch nicht gelernt? Du kannst froh sein, dass du noch unter uns weilst.«

Ich lächelte. »Wahrscheinlich habe ich einfach noch nicht genug von Chasm City.«


Ich brachte das Telefon zu seinem Besitzer zurück und überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Zebras Gesicht und ihre Stimme lauerten hinter jedem meiner Gedanken. Warum hatte ich sie angerufen? Der einzige Grund war das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, und selbst das war zwecklos; eine Geste, die mehr mein Gewissen beruhigen als der Frau helfen sollte, die ich bestohlen hatte. Mir war durchaus bewusst gewesen, wie sehr mein Verrat sie schmerzen musste, und ich wusste auch, dass ich in absehbarer Zukunft keine Gelegenheit finden würde, Wiedergutmachung zu leisten. Dennoch hatte mich etwas zu diesem Anruf gedrängt, und als ich nun versuchte, die wahren Beweggründe unter der Oberfläche aufzudecken, fand ich nur ein Durcheinander von Emotionen und Impulsen: ihr Geruch; ihr Lachen; der Schwung ihrer Hüften und der Anblick der Streifen, die sich zusammenzogen und wieder entspannten, als sie mir nach dem Liebesakt den Rücken zudrehte. Was ich gefunden hatte, gefiel mir nicht, und ich knallte den Deckel auf diese Gedanken, als hätte ich versehentlich ein Schlangennest freigelegt…

Ich kehrte auf den Basar zurück und mischte mich unter die Menge. Der Lärm drängte alle abwegigen Vorstellungen zurück, sodass ich gezwungen war, mich stattdessen auf das Jetzt zu konzentrieren. Ich hatte immer noch Geld; für die Begriffe des Mulch war ich ein reicher Mann, auch wenn das im Baldachin nicht viel zu bedeuten hatte. Nachdem ich herumgefragt und die Preise verglichen hatte, fand ich ein paar Straßen weiter in einem der weniger heruntergekommenen Viertel ein Zimmer, das ich mieten konnte.

Der Raum war selbst für Mulch-Verhältnisse schäbig, ein würfelförmiges Eckelement in einem baufälligen Teil der über acht Stockwerke reichenden Gebäudekruste, die sich um den Fuß eines größeren Bauwerks gebildet hatte. Andererseits wirkte das Ganze auch sehr alt und etabliert, denn es hatte seinerseits eine parasitäre Verkrustungsschicht aus Leitern, Treppen, horizontalen Absätzen, Abwasserleitungen, Spaliergittern und Tierkäfigen angesetzt, sodass der Komplex, auch wenn er nicht der sicherste im ganzen Mulch sein mochte, doch schon seit einigen Jahren bestand und wohl kaum gerade meine Ankunft zum Anlass nehmen würde, in sich zusammenzustürzen. Ich erreichte mein Zimmer über mehrere Leitern und Gitterstege. Der Fußboden aus Bambusgeflecht hatte breite Spalten, durch die man in schwindelerregender Tiefe die Straße sehen konnte. Beleuchtet wurde der Raum mit Gaslicht, obwohl andere Teile des Komplexes von ständig brummenden, methanbetriebenen Generatoren irgendwo unter mir mit Elektrizität versorgt wurden. Die Maschinengeräusche lieferten sich einen erbitterten Kampf mit den einheimischen Straßenmusikanten, Ausrufern, Muezzins, Hausierern und Tieren. Aber ich nahm den Lärm bald nicht mehr wahr, und als ich die Jalousien zugezogen hatte, war es sogar halbwegs dunkel.

Es gab keine Möbel außer einem Bett, aber mehr brauchte ich ja auch nicht.

Ich setzte mich darauf und dachte über die jüngsten Ereignisse nach. Ich rechnete vorerst nicht mit neuen Haussmann-Episoden und konnte deshalb die bisherigen mit kühler fast klinischer Objektivität analysieren.

Irgendetwas stimmte daran nicht.

Ich war gekommen, um Reivich zu töten, und doch bekam ich — fast beiläufig — immer wieder Einblick in größere Zusammenhänge, die mir ganz und gar nicht gefielen. Die Haussmann-Episoden spielten dabei eine große Rolle, aber es ging nicht um sie allein. Angefangen hatten sie ganz normal. Ich war nicht unbedingt erfreut gewesen, als sie mich heimsuchten, aber da ich in groben Zügen zu wissen glaubte, was mich erwartete, hatte ich gehofft, sie heil überstehen zu können.

Aber es war ganz anders gekommen.

Die Träume — oder Episoden, denn inzwischen überfielen sie mich auch am hellen Tag — enthüllten eine verborgene Geschichte: weitere Verbrechen, von denen niemand ahnte, dass Sky sie begangen hatte. Dazu kam der Infiltrator, den er am Leben erhalten hatte; das sechste Schiff — die mythische Caleuche — und die Tatsache, dass Titus Haussmann Sky für einen Unsterblichen gehalten hatte. Aber Sky Haussmann war doch tot, oder etwa nicht? Hatte ich seinen gekreuzigten Leichnam in Nueva Valparaiso nicht mit eigenen Augen gesehen? Selbst wenn dieser Leichnam eine Fälschung gewesen sein sollte, so war doch offiziell dokumentiert, dass man Haussmann in den dunklen Tagen nach der Landung gefangen genommen, inhaftiert, vor Gericht gestellt, verurteilt und hingerichtet hatte, und das alles vor den Augen des Volkes.

Wie kam ich also dazu, an seinem Tod zu zweifeln?

Das ist nur das Indoktrinationsvirus, das dir im Kopf herumspukt, sagte ich mir.

Doch Sky war nicht das Einzige, was mich beunruhigte, als ich einschlief.


Ich stand auf einem Aussichtsbalkon und schaute hinab in einen rechteckigen Raum, der mir wie ein Verlies oder eine Bärengrube vorkam. Wände und Fußboden waren mit glatten, blendend weißen Keramikfliesen verkleidet, aber große, glänzend grüne Farne und kunstvoll arrangierte Äste sorgten für eine Dschungelkulisse. Und auf dem Boden lag ein Mann. Der Raum kam mir bekannt vor.

Der Mann war nackt und hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt. Er sah aus, als hätte man ihn eben erst zum Aufwachen dort hingelegt. Seine Haut war bleich und mit einer glänzenden Schweißschicht überzogen wie mit Zuckerguss. Nun hob er langsam den Kopf, schlug die Augen auf, sah sich um und versuchte langsam auf die Beine zu kommen — versuchte es und sackte kraftlos in eine etwas andere Stellung zurück als zuvor. Stehen konnte er nicht, weil ein Bein gleich unter dem Knöchel in einem glatten, unblutigen Stumpf endete, der abgebunden war wie ein Wurstzipfel. Trotzdem unternahm er einen neuen Versuch, und diesmal erreichte er, auf einem Bein hüpfend, eine Wand, bevor er abermals das Gleichgewicht verlor. Unaussprechliches Grauen spiegelte sich in seinem Gesicht. Er fing an zu schreien und steigerte sich rasch in kopflose Verzweiflung hinein.

Ein Zittern überlief ihn. Und dann regte sich etwas auf der anderen Seite des Raums, wo in die weiße Wand eine dunkle Nische eingelassen war. Was immer es war, es bewegte sich langsam und lautlos, aber der Mann spürte seine Gegenwart und kreischte wie ein Schwein, das geschlachtet wurde. Das Ding ließ sich, ein Bündel dunkler Schlingen von der Dicke eines menschlichen Oberschenkels, aus seiner Nische zu Boden fallen. Noch immer bewegte es sich träge, der Kopf mit der Haube hob sich, um die Luft zu prüfen, bevor sich weitere Teile des Körpers ins Freie zwängten. Der Mann musste jetzt sein Geschrei immer wieder unterbrechen, um Atem zu holen, und die jähen Pausen machten sein Entsetzen noch deutlicher. Ich selbst spürte nur gespannte Erwartung. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als die Hamadryade auf den armen Teufel zukroch, für den es kein Entrinnen gab.

In Schweiß gebadet erwachte ich.

Wenig später schlenderte ich durch die Straßen. Ich hatte fast den ganzen Nachmittag verschlafen, und obwohl ich mich nicht unbedingt erquickt fühlte — der Aufruhr in meinem Innern war sicher sehr viel größer als zuvor —, war ich zumindest vor Müdigkeit nicht mehr völlig gelähmt. Ich ließ mich mit dem trägen Strom des Mulch treiben: Fußgänger, Rikschas, Fahrzeuge mit Dampf- und Methanmotoren, hin und wieder ein Palankin, ein Volantor oder eine Seilbahn, die aber nie länger verweilten. Ich stellte fest, dass ich weniger Aufmerksamkeit erregte als bei meiner Ankunft in der Stadt. Mit meinem unrasierten Gesicht und den müden, tief in den Höhlen liegenden Augen schien ich mich besser in den Mulch einzufügen.

Gegen Abend öffneten weitere Verkäufer ihre Buden, manche hängten bereits Laternen auf, um für die Dunkelheit gerüstet zu sein. Ein hässliches wurmförmiges Methan-Luftschiff zog schwerfällig über den Himmel. Aus der Gondel unter seinem Bauch schrie jemand irgendwelche Parolen durch ein Megafon. Über einen Projektionsschirm unter der Gondel flackerten bruchstückhafte Neonbilder. Eine Art Muezzin rief die Gläubigen aus dem Mulch zum Abendgebet oder einem entsprechenden religiösen Ritual. Und dann entdeckte ich einen Mann mit langen Ohren und Juwelenohrringen. Er hatte einen fahrbaren Stand mit vielen kleinen Weidenkörbchen, in denen sich Schlangen aller nur erdenklichen Größen und Farben befanden. Als er einen der Käfige öffnete und eine der zusammengerollten dunklen Schlangen so lange anstupste, bis sie gereizt die Schlingen bewegte, musste ich an den weiß gefliesten Raum in meinem Traum denken. Jetzt erkannte ich ihn: es war die Grube, in der Cahuella die Jung-Hamadryade gehalten hatte. Ich erschauerte und fragte mich, was das wohl bedeuten mochte.

Etwas später kaufte ich mir eine Waffe.

Sie war viel handlicher und weniger auffällig als das Gewehr, das ich Zebra gestohlen und dann versetzt hatte, eine kleine Pistole, die bequem in einer der vielen Taschen meines Mantels Platz fand. Sie stammte von einer anderen Welt und schoss mit Eisschrot: Kugeln aus reinem Wassereis, die in einem integrierten Geschossmantel von wellenförmig aufeinander folgenden Magnetfeldern durch den Lauf getrieben und auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigt wurden. Eisgeschosse richteten ebenso großen Schaden an wie Kugeln aus Metall oder Keramik, aber wenn sie beim Aufschlag zerschellten, schmolzen die Bruchstücke und verschwanden spurlos. Der größte Vorteil solcher Waffen bestand darin, dass sie überall mit halbwegs sauberem Wasser geladen werden konnten, auch wenn sie am besten mit vorgefrosteten Spezialkugeln in Kryo-Clips funktionierten, die vom Hersteller mitgeliefert wurden. Außerdem war es praktisch unmöglich, nach einem Verbrechen den Besitzer der Pistole ausfindig zu machen, das machte sie zu einem idealen Werkzeug für Berufskiller. Dass die Kugeln keine eigene Zielsucheinrichtung hatten und auch nicht jede Panzerung durchschlagen konnten, spielte für mich keine Rolle. Eine Waffe von so ungeheurer Durchschlagskraft wie Zebras Gewehr wäre für ein Attentat nur dann sinnvoll, wenn sich die Gelegenheit böte, Reivich über die halbe Stadt hinweg zu erschießen, und damit war kaum zu rechnen. Das würde kein Abschuss werden, bei dem man in einem Fenster saß, durch das Zielfernrohr eines Hochleistungsgewehres visierte und wartete, bis einem das Objekt hinter einem kilometerdicken, flimmernden Hitzeschleier ins Fadenkreuz lief. Ich würde schon den gleichen Raum betreten müssen, um dort mein Opfer aus so geringer Entfernung, dass ich das Weiße in seinen angstvoll aufgerissenen Augen sehen konnte, mit einem einzigen Schuss zu erledigen.

Der Abend senkte sich über den Mulch herab. Außer auf den Straßen im Umkreis der Basare lichtete sich der Fußgängerverkehr allmählich. Die hohen Türme des Baldachins warfen dumpfe, drohende Schatten.

Ich machte mich ans Werk.

Der Junge, der die Rikscha fuhr, hätte derselbe sein können, der mich beim ersten Mal in den Mulch gebracht hatte, oder er hatte einen Bruder, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah. Auch er hatte eine erklärte Abneigung gegen das von mir gewünschte Ziel — und wollte mich erst dorthin bringen, als ich ihm den Entschluss mit der Aussicht auf ein großzügiges Trinkgeld versüßte. Selbst dann zögerte er noch, aber wir brachen dennoch auf und steuerten in einem Tempo durch die dämmrigen Schneisen der Stadt, das deutlich zeigte, wie eilig er es hatte, die Fahrt hinter sich zu bringen und nach Hause zurückzukehren. Seine Nervosität griff auf mich über, meine Hand wanderte wie von selbst in die Manteltasche und suchte nach der Pistole. Ihre kühle Glätte war so beruhigend wie ein Talisman.

»Was du dort wollen, Mister? Jeder weiß, das nix guter Teil von Mulch, wenn du schlau, dann lieber draußen bleiben.«

»Das sagen mir die Leute andauernd«, antwortete ich. »Vielleicht solltest du einfach davon ausgehen, dass ich nicht so intelligent bin, wie ich aussehe.«

»Ich das nicht sagen, Mister. Du zahlen viel gut; du viel schlauer Mann. Ich dir nur geben guten Rat.«

»Danke, aber ich rate dir, jetzt einfach weiter zu fahren und auf die Straße zu achten. Alles andere kannst du mir überlassen.«

So tötete man jedes Gespräch, aber ich war nicht in Stimmung für banales Geplänkel. Stattdessen beobachtete ich, wie die schwarzen Gebäudemassen vorbeikrochen. Mit der Zeit wurden ihre bizarren Missbildungen immer mehr zur Normalität, bis ich schließlich das seltsame Gefühl hatte, letztlich sollten alle Städte so aussehen.

Manche Teile des Mulch waren kaum vom Baldachin überwuchert, in anderen Bereichen konnte die Bebauung in luftiger Höhe kaum dichter sein, dort war vom Moskitonetz nichts mehr zu sehen, und selbst wenn die Sonne im Zenith stand, fiel kein Lichtstrahl auf den Boden. Das waren vermutlich die verrufensten Gegenden des Mulch; Zonen ewiger Nacht, wo das Verbrechen die Gesetze bestimmte und die Bewohner nicht weniger blutigen Spielen frönten als die über ihnen wohnende Aristokratie. Ich konnte den Rikschajungen nicht überreden, mich ins Herz des Slums zu bringen, also gab ich mich damit zufrieden, dass er mich am Rand absetzte.

Mit einer Hand die Pistole in meiner Tasche umklammernd, stapfte ich Minuten lang durch knöcheltiefes Regenwasser, bis ich das Gebäude erreichte, das Zebra mir beschrieben hatte. Dort kauerte ich mich in eine Nische, die mir ein wenig Schutz vor dem Regen bot, und wartete, bis auch das letzte spärliche Tageslicht verschwunden war und alle Schatten einmütig zu einem gewaltigen, die ganze Stadt überspannenden Leichentuch aus düsterem Grau verschmolzen.

Und dann wartete ich weiter.

Es wurde Nacht über Chasm City. Über mir gingen im Baldachin die Lichter an. Die ineinander verschlungenen Gebäudearme funkelten wie die Tentakel phosphoreszierender Meerestiere. Seilbahnen schwebten durch das Gewirr, hüpften von Kabel zu Kabel wie Kieselsteine auf den Wellen. Eine Stunde verging. Ich wechselte Dutzende von Malen die Stellung, aber jedes Mal setzten schon nach wenigen Minuten Muskelkrämpfe ein. Immer wieder holte ich die Waffe heraus und visierte daran entlang, irgendwann gönnte ich mir den Luxus, eine Kugel auf das gegenüberliegende Gebäude zu verschwenden. Ich wollte den Rückstoß spüren und ein Gefühl für die Zielgenauigkeit oder die Schwächen der Waffe bekommen. Niemand störte mich, und vermutlich war auch niemand nahe genug, um den hellen Knall der Pistole zu hören.

Irgendwann kamen sie doch.

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