Vierzehn

Der Mann, der meine Sachen durchsah, hatte sich ein schwirrendes, klickendes Monokel um den Kopf geschnallt.

Über seinen haarlosen Schädel zog sich ein Netz feiner Narben wie Sprünge in einer zerbrochenen und schlecht gekitteten Vase. Alles, was ich ihm zeigte, fasste er mit einer Zange und hielt es sich wie ein greiser Schmetterlingsforscher vor das Monokel. Neben ihm saß, eine selbst gedrehte Zigarette rauchend, ein junger Bursche mit dem gleichen Cyber-Helm, wie ich ihn Vadim abgenommen hatte.

»Einiges von dem Mist kann ich gebrauchen«, sagte der Mann mit dem Monokel. »Wahrscheinlich. Sie sagen, das ist alles echt, wie? Alles Tatsachen?«

»Die militärischen Episoden wurden im Rahmen der üblichen Informationsbeschaffung nach den betreffenden Kampfsituationen mit einem Trawl den Erinnerungen der Soldaten entnommen.«

»Wirklich? Und wie kommen sie dann in Ihre Hände?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er unter den Tisch, zog eine kleine, mit einem Gummiband verschlossene Büchse heraus und entnahm ihr ein paar Dutzend Banknoten in hiesiger Währung. Wie ich schon einmal festgestellt hatte, hatten die Noten sehr ungewöhnliche Nennwerte — dreizehn, vier, siebenundzwanzig oder drei.

»Wo ich die Dinger herhabe, geht Sie einen Dreck an«, sagte ich.

»Stimmt, aber fragen wird man wohl noch dürfen.« Er schürzte die Lippen. »Noch etwas, wenn Sie schon meine Zeit verschwenden?«

Ich ließ ihn einen Blick auf die Empirika werfen, die Quirrenbach mir mitgegeben hatte, und beobachtete, wie er zunächst verächtlich, dann angewidert die Nase rümpfte.

»Nun?«

»Jetzt beleidigen Sie meine Intelligenz, und das nehme ich übel.«

»Wenn die Dinger nichts wert sind«, sagte ich, »dann sagen Sie es mir, und ich ziehe ab.«

»Wertlos sind sie nicht«, sagte er, nachdem er sie noch einmal untersucht hatte. »Tatsache ist, dass ich genau so etwas noch vor ein paar Monaten vielleicht gekauft hätte. Grand Teton ist sehr beliebt. Die Leute können von diesen Schleimturmformationen gar nicht genug kriegen.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Der Dreck ist bereits auf dem Markt, das ist es. Solche Empirika sind längst im Umlauf und sinken ständig im Wert. Das sind — was? — Raubkopien der dritten oder vierten Generation. Billigster Schund.«

Trotzdem zog er noch ein paar Banknoten mehr aus der Büchse, aber es waren deutlich weniger, als er mir für meine Empirika gegeben hatte.

»Noch was in der Hinterhand?«

Ich zuckte die Achseln. »Hängt davon ab, worauf Sie scharf sind.«

»Strengen Sie mal Ihre Phantasie an.« Er reichte seinem Partner eins von den militärischen Empirika. Auf dem Kinn des Jungen sprießte gerade der erste zarte Flaum. Er warf das gerade laufende Empirikum aus und schob stattdessen das meine ein, ohne auch nur die Okulare abzunehmen. »Alles was schwarz ist. Mattschwarz. Sie verstehen doch, was ich meine?«

»Ich habe einen gewissen Verdacht.«

»Dann kommen Sie damit rüber oder räumen Sie das Feld.« Neben ihm verfiel der Junge in Krämpfe. »He, was is’n das für’n Dreck?«

»Hat der Helm genügend Raumauflösung, um die Lust- und die Schmerzzentren zu stimulieren?«, fragte ich.

»Und wenn schon?« Er beugte sich vor und ohrfeigte den krampfenden Jüngling so kräftig, dass ihm der Cyber-Helm vom Kopf flog. Sabbernd und immer noch von Zuckungen geschüttelt, sank der Junge auf seinen Stuhl zurück und starrte mit glasigen Augen ins Leere.

»Er hätte wahrscheinlich nicht irgendwo einsteigen sollen«, sagte ich. »Ich schätze, er ist in ein NK-Verhör geraten. Hat man Ihnen schon mal die Finger einzeln abgezwickt?«

Der Monokelmann lachte leise in sich hinein. »Böse. Sehr böse. Aber für den Dreck gibt es einen Markt — genau wie für das schwarze Zeug.«

Das war eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, was es mit Vadims Ware auf sich hatte. Ich reichte dem Hehler eins von den schwarzen Empirika mit dem kleinen silbernen Madenmotiv. »Dachten Sie an so etwas?«

Er sah mich zunächst skeptisch an, bis er das Empirikum genauer untersucht hatte. Für ein geschultes Auge gab es vermutlich alle möglichen latenten Merkmale, um ein Original von minderwertigen Fälschungen zu unterscheiden.

»Wenn es überhaupt Schwarzmarktware ist, dann ist sie von guter Qualität, und das heißt, das Ding ist immerhin etwas wert, egal was drauf ist. He, Scheiße-im-Hirn. Probier das mal.« Er bückte sich, hob den ramponierten Cyber-Helm auf und rammte ihn dem Jungen auf den Kopf. Dann schickte er sich an, das Empirikum einzustecken, Der Junge wurde gerade wieder etwas munterer, doch als er den schwarzen Stab sah, begann er wild in der Luft herumzufuchteln, um den Hehler davon abzuhalten, ihn in die Buchse zu drücken.

»Lass mich bloß in Ruhe mit diesen Dreckswürmern…«

»He, Arschgesicht«, sagte der Mann. »Ich wollte dir doch nur ‘ne kleine Kostprobe geben.« Er steckte das Empirikum in seinen Mantel.

»Warum probieren Sie es denn nicht selbst aus?«, fragte ich.

»Aus dem gleichen Grund, warum er den verdammten Dreck nicht an sich ranlässt. Es ist nicht schön.«

»Das ist ein NK-Verhör auch nicht.«

»Aber verglichen damit ein Zuckerlecken. Das hier…« — er klopfte sich vorsichtig auf die Brusttasche — »… tut nur weh. Was dagegen hier drauf ist, könnte neun Millionen Mal unerfreulicher sein.«

»Sie meinen, es ist nicht immer das gleiche?«

»Natürlich nicht, wo wäre sonst das Risiko? Und so, wie diese Dinger gemacht sind, ist es nie zwei Mal genau der gleiche Trip. Manchmal geht’s nur um Würmer, manchmal ist man selbst der Wurm… manchmal ist es noch viel, viel schlimmer…« Sein Gesicht hellte sich auf. »Aber das Zeug ist gefragt, also worüber rege ich mich auf?«

»Warum will irgendjemand so etwas erleben?«, fragte ich.

Er grinste den Jungen an. »He, machen wir jetzt in Philosophie? Woher soll ich das wissen? Wir reden hier über die menschliche Natur; und die ist zutiefst beschissen und pervers.«

»Erzählen Sie mir mehr«, sagte ich.


Im Zentrum der Halle erhob sich wie ein Minarett ein reich verschnörkelter Turm mit einer vierseitigen, auf Chasm City-Zeit eingestellten Turmuhr. Als sie vor kurzem die siebzehnte Stunde des sechsundzwanzigstündigen Yellowstone-Tages geschlagen hatte, waren unter dem Zifferblatt kleine Figürchen in Raumanzügen erschienen und hatten irgendein undurchschaubares, vielleicht pseudo-religiöses Ritual zelebriert. Ich verglich die Zeit mit der auf Vadims Uhr — auf meiner Uhr, ermahnte ich mich streng, schließlich hatte ich sie jetzt schon zum zweiten Mal geklaut — und stellte fest, dass die beiden halbwegs übereinstimmten. Wenn Dominika richtig geschätzt hatte, müsste sie noch mit Quirrenbach beschäftigt sein.

Die Hermetiker und die Leute mit den auffälligsten Attributen des Reichtums hatten den Markt inzwischen verlassen, aber ich sah immer noch genügend Menschen mit dem leicht benommenen Gesichtsausdruck der frisch Verarmten. Vielleicht war ihr Wohlstand vor sieben Jahren nur bescheiden gewesen, oder sie hatten nicht die richtigen Beziehungen gehabt, um sich gegen die Seuche abzuschirmen. Dass es in Chasm City damals echte Armut gegeben haben sollte, hielt ich für unwahrscheinlich, aber Reichtum trat immer in verschiedenen Stufen auf. Trotz der Hitze trugen die Menschen schwere dunkle Kleidung, und viele waren mit Schmuck überladen. Die Frauen hatten oft Handschuhe an und schwitzten unter breitkrempigen Fedora-Hüten, Tschadors oder Gesichtsschleiern. Die Männer trugen dicke Wintermäntel mit hochgestelltem Kragen, ihre Gesichter lagen im Schatten von Panama-Hüten oder formlosen Baretten. Viele hatten sich kleine Glasbehälter mit Gegenständen umgehängt, die wie religiöse Reliquien aussahen, tatsächlich aber Implantate waren, die man den Trägern entfernt hatte, und die nun als Symbol früheren Reichtums zur Schau gestellt wurden. Obwohl scheinbar ein breites Spektrum von Altersgruppen vertreten war, bemerkte ich niemanden, der wirklich alt ausgesehen hätte. Vielleicht waren die Greise zu gebrechlich, um sich auf den Basar zu wagen, aber ich hatte auch nicht vergessen, was Orcagna über den Stand der Langlebigkeitsbehandlungen auf anderen Welten gesagt hatte. Danach war es durchaus möglich, dass einige von den Leuten hier zwei- oder gar dreihundert Jahre alt waren; belastet mit Erinnerungen, die bis zu Marco Ferris und in die Amerikano-Ära zurückreichten. In diesem Fall müssten sie die seltsamsten Zeiten erlebt haben… aber die jüngste Verwandlung ihrer Stadt oder der Zusammenbruch einer Gesellschaft, die in ihrer Langlebigkeit und ihrem Luxus unerschütterlich erschienen war, ließen sich wohl kaum übertreffen. Kein Wunder, dass so viele dieser Menschen so traurig aussahen, als wüssten sie, dass die alten Zeiten niemals wiederkommen würden — mochte sich ihre Lage auch von Tag zu Tag verbessern. Diese allgegenwärtige Melancholie war unwillkürlich ansteckend.

Ich machte mich auf den Weg zurück zu Dominikas Zelt, doch irgendwann fragte ich mich, warum ich das eigentlich tat.

Ich hatte einige Fragen an Dominika, aber die konnte ich ebenso gut einem ihrer Konkurrenten stellen. Früher oder später musste ich vielleicht mit allen sprechen. Meine einzige Verbindung zu Dominika war Quirrenbach… und auch wenn ich ihn irgendwann in meiner Nähe geduldet hatte, war ich von Anfang an entschlossen gewesen, ihn mir früher oder später vom Hals zu schaffen. Jetzt brauchte ich nur wegzugehen, brauchte nur den Bahnhof zu verlassen und hatte gute Chancen, ihn niemals wiederzusehen.

Ich drängte mich durch bis auf die andere Seite des Basars.

An Stelle der gegenüberliegenden Wand gab es nur eine Öffnung, durch die man hinter einem Schleier aus schmutziggrauem Regenwasser, das unentwegt über die Seite des Gebäudes rann, auf die unteren Regionen der Stadt sehen konnte. Hier stand eine bunte Reihe von Rikschas: aufrechte Kästen, die auf zwei breiten Rädern balancierten. Einige wurden von Dampfmaschinen oder tuckernden Methangasmotoren angetrieben. Ihre Fahrer lümmelten träge herum und warteten auf Fahrgäste. Andere wurden mit Pedalkraft bewegt, und wieder andere schienen aus alten Palankinen gemacht zu sein. Hinter den Rikschas standen die nobleren Verkehrsmittel: zwei niedrige Flugwägen auf Kufen, ähnlich den Volantoren, die ich von Sky’s Edge kannte, und drei Flugzeuge, die aussahen wie Helikopter mit eingeklappten Rotoren. In eins von den letzteren wurde gerade ein Palankin verladen. Die Arbeiter mussten ihn so demütigend stark kippen, um ihn durch die Tür zu bringen, dass mir nicht klar war, ob es sich hier um eine einfache Taxifahrt handelte oder um eine Entführung.

Obwohl ich mir einen von den Volantoren hätte leisten können, sahen die Rikschas am vielversprechendsten aus. Wenn ich schon kein bestimmtes Ziel im Auge hatte, dann konnte ich damit zumindest die Atmosphäre in diesem Teil der Stadt auf mich wirken lassen.

Den Blick entschlossen nach vorn gerichtet, setzte ich mich in Bewegung und drängte mich durch die Menge.

Doch dann blieb ich auf halbem Wege stehen, machte kehrt und marschierte zu Dominika zurück.

»Ist Mister Quirrenbach schon fertig?«, fragte ich Tom. Er hatte wieder zur Sitar-Musik getanzt und war sichtlich überrascht, dass jemand ohne Not Dominikas Zelt betrat.

»Er nicht fertig, Mister — zehn Minuten noch. Du haben Geld?«

Ich hatte keine Ahnung, was die Exzisionen bei Quirrenbach kosten würden, schätzte aber, dass die Summe, die er für die Empirika von Grand Teton erhalten hatte, gerade ausreichen müsste. Ich trennte die Noten von meinen und legte sie auf den Tisch.

»Nicht genug, Mister. Madame Dominika wollen eins mehr.«

Widerwillig schälte ich einen von meinen kleineren Geldscheinen ab und legte ihn auf Quirrenbachs Stapel. »Und jetzt ist es genug«, bemerkte ich. »Mister Quirrenbach ist ein Freund von mir, ich will also nicht hören, dass du von ihm noch einmal Geld verlangst, wenn er rauskommt, sonst sehen wir uns wieder.«

»Ist gut, Mister. Ist gut.«

Als der Junge durch die Trennwand in den dahinterliegenden Raum schlüpfte, konnte ich ganz kurz die schwebende Dominika und die lange Operationsliege sehen, auf der sie ihrer Arbeit nachging. Auf der Liege lag Quirrenbach mit entblößtem Oberkörper, sein Kopf war ganz und gar von dünnen Sonden umringt. Man hatte ihm den Schädel völlig kahl geschoren. Dominika bewegte ihre Finger wie ein Marionettenspieler und ließ die Sonden wie an unsichtbaren Fäden um Quirrenbachs Schädel herum tanzen. Ich sah kein Blut, nicht einmal eine Einstichwunde auf der Haut.

Vielleicht war Dominika ja besser, als ich gedacht hatte.

»Okay«, sagte ich, als Tom wieder auftauchte. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, und der ist mir einen von denen wert.« Ich zeigte ihm den kleinsten Geldschein, den ich hatte. »Und erzähle mir jetzt nicht, das wäre eine Beleidigung, bevor du überhaupt weißt, was ich von dir will.«

»Sag schon, Großer.«

Ich deutete zu den Rikschas hinaus. »Fahren die Dinger durch die ganze Stadt?«

»Fast ganzer Mulch.«

»Mulch heißt das Viertel, in dem wir hier sind?« Als er mich keiner Antwort würdigte, verließ ich kurzerhand das Zelt. Er folgte mir.

»Ich muss von hier — wo immer das sein mag — in ein bestimmtes Viertel der Stadt. Ich weiß nicht, wie weit es dahin ist, aber ich möchte nicht betrogen werden. Das kannst du doch sicher für mich arrangieren, oder? Schon deshalb, weil ich weiß, wo du wohnst.«

»Kriegen guten Preis, du keine Sorge.« Dann kroch ihm offenbar ein Gedanke durch den Schädel. »Du nicht warten auf Freund?«

»Nein — ich habe leider anderswo zu tun als Mister Quirrenbach. Wir werden uns wohl einige Zeit nicht Wiedersehen.«

Ich konnte nur hoffen, dass diese Prophezeiung auch eintraf.

Die meisten Rikschas wurden von haarigen Primaten gefahren, die mit gespleißten menschlichen Genen gezüchtet worden waren. Die betreffenden Homeobox-Gene wurden so rekombiniert, dass die Beine länger und weniger krumm wuchsen als es der Affennorm entsprach. Tom verhandelte in unverständlich rasantem Canasisch mit einem anderen Jungen. Die beiden sahen sich zum Verwechseln ähnlich, nur hatte der neue Junge kürzeres Haar und war vielleicht ein Jahr älter. Tom stellte ihn mir als Juan vor; das Verhalten der beiden ließ vermuten, dass sie alte Geschäftspartner waren. Juan schüttelte mir die Hand und begleitete mich zum nächsten Gefährt. Ich schaute nervös über die Schulter und hoffte, dass Quirrenbach noch ohne Bewusstsein wäre. Ich wollte mich nicht vor ihm rechtfertigen müssen, wenn er aufwachte und Tom ihm erzählte, ich sei im Begriff, den Bahnhof zu verlassen. Manche Pillen ließen sich nicht versüßen, und von jemandem im Stich gelassen zu werden, den man für seinen neuen Reisegefährten hielt, gehörte dazu.

Aber vielleicht konnte er den Schmerz über meinen Verrat ja in einem seiner künftigen Meisterwerke verarbeiten.

»Wohin, Mister?«

Das war Juans Stimme, er sprach mit demselben Akzent wie Tom. Wahrscheinlich ein Jargon, der sich nach der Seuche entwickelt hatte; ein Gemisch aus Russisch, Canasisch, Norte und einem Dutzend anderer Sprachen, die während der Belle Epoque hier in Gebrauch gewesen waren. »Bring mich zum Baldachin«, sagte ich. »Du weißt doch, wo das ist?«

»Klar«, sagte er. »Ich wissen, wo Baldachin ist, genau wie ich wissen, wo Mulch ist. Du glauben, ich bin Idiot wie Tom?«

»Dann kannst du mich also hinbringen?«

»Nein, Mister. Ich dich kann nicht hinbringen.«

Ich schälte bereits eine weitere Banknote ab, doch dann begriff ich, dass unsere Verständigungsschwierigkeiten nicht nur finanzieller Natur waren, und dass das Problem mit ziemlicher Sicherheit bei mir lag.

»Ist der Baldachin ein Viertel dieser Stadt?«

Demonstrativ geduldiges Nicken. »Du hier neu, wie?«

»Ja, ich bin neu hier. Und deshalb sei bitte so nett und erklär mir, warum es dir nicht möglich ist, mich zum Baldachin zu bringen.«

Der halb abgeschälte Geldschein verschwand aus meinen Fingern, dann wies Juan auf den hinteren Sitz der Rikscha als wäre es ein Thron aus feinstem Samt. »Ich dir zeigen, Mann. Aber ich dich nicht hinbringen, du verstehen? Dafür du brauchen mehr als Rikscha.«

Er sprang auf den Sitz neben mir, beugte sich vor und flüsterte dem Fahrer etwas ins Ohr. Der Primat trat in die Pedale und ächzte dabei, als sei er tief empört darüber, wie man mit seinem genetischen Erbe verfahren sei.

Die biotechnische Veränderung von Tieren war, wie ich später erfuhr, einer der wenigen boomenden Industriezweige seit der Seuche. Als alle höher entwickelten Maschinen versagten, hatte sich hier eine neue Nische aufgetan.

Wie hatte Quirrenbach vor noch nicht allzu langer Zeit ganz richtig bemerkt? Es gab keine Katastrophe, von der nicht auch irgendjemand profitierte.

Das galt auch für die Seuche.

Die fehlende Wand des Bahnhofsgebäudes diente als Ein- und Ausflugschneise für Volantoren (und vermutlich auch für andere Flugzeuge), Rikschas fuhren dagegen durch einen abschüssigen Betontunnel ein und aus. Hier fiel schleimige Flüssigkeit in dicken Tropfen von der Decke und rann über die feuchten Wände. Wenigstens war es kühler, und der Lärm der Bahnhofshalle blieb rasch hinter uns zurück. Nur das leise Rattern des Kettenantriebs war noch zu hören, der die Tretbewegungen des Affen auf die Räder übertrug.

»Du hier neu«, sagte Juan. »Nicht aus Ferrisville und auch nicht von Rostgürtel. Nicht einmal von Rest von System.«

Zeigte ich meine Unwissenheit so deutlich, das jedes Kind sie mir an der Nasenspitze ansah?

»Schätze, ihr habt in letzter Zeit nicht allzu viele Touristen?«

»Nicht seit schlimmer Zeit, nein.«

»Wie war das damals?«

»Weiß nicht, Mister. Ich erst zwei Jahre alt.«

Natürlich. Es war sieben Jahre her. Aus der Sicht eines Kindes fast ein ganzes Leben. Juan, Tom und die anderen Straßenkinder konnten sich wohl kaum an Chasm City vor der Seuche erinnern. Der weichzeichnende Blick des Kleinkindalters ließ diese wenigen Jahre unermesslichen Reichtums und grenzenloser Möglichkeiten rettungslos verschwimmen. Alles, was diese Kinder wussten, woran sie sich wirklich erinnerten, war die Stadt, so wie sie jetzt war: riesig und dunkel und abermals ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten — nur fand man diese Möglichkeiten jetzt im Risiko, im Verbrechen, in der Gesetzlosigkeit. Chasm City war eine Stadt für Diebe und Bettler und für all jene, die nicht von ihrer Kreditwürdigkeit lebten, sondern von ihrem Verstand.

Nur für mich war es ein Schock, mich hier wiederzufinden.

Wir begegneten anderen Rikschas, die in die Halle zurückfuhren. Ihre Seitenwände waren nass vom Regen. Nur wenige beförderten Fahrgäste, und die kauerten in ihren Regenmänteln so verdrossen auf den Sitzen, als wäre ihnen jeder andere Ort im Universum lieber gewesen als Chasm City. Ich konnte das gut verstehen. Ich war müde, mir war heiß, unter meinen Kleidern sammelte sich der Schweiß, und meine Haut war so lange nicht mit Wasser in Berührung gekommen, dass sie unerträglich kribbelte und juckte. Mein eigener Körpergeruch war mir ein Gräuel.

Was wollte ich eigentlich hier?

Ich hatte einen Mann über mehr als fünfzehn Lichtjahre in eine Stadt gejagt, die nur noch eine krankhafte Perversion ihrer selbst war. Und der Mann, den ich jagte, war nicht einmal wirklich böse — das sah sogar ich ein. Ich hasste Reivich für das, was er getan hatte, aber er hatte nicht viel anders gehandelt, als ich es unter den gleichen Umständen auch getan hätte. Er war Aristokrat, kein Mann der Waffe, aber in einem anderen Leben — wenn die Geschichte unseres Planeten einen anderen Verlauf genommen hätte — wären wir vielleicht sogar Freunde geworden. Respekt hatte ich jedenfalls auch jetzt vor ihm, wenn auch nur deshalb, weil er mich vollkommen überrascht hatte, als er die Weltraumbrücke von Nueva Valparaiso zerstörte. So viel unverfrorene Brutalität nötigte mir Bewunderung ab. Ein Mann, den ich so falsch eingeschätzt hatte, verdiente meinen Respekt.

Und doch hätte ich keine Skrupel, ihn zu töten.

»Ich glaube«, sagte Juan, »du brauchen Geschichtsunterricht, Mister.«

Ich hatte an Bord der Strelnikov nicht allzu viel erfahren, aber nach mehr Geschichte stand mir momentan nicht der Sinn. »Wenn du glaubst, ich wüsste über die Seuche nicht Bescheid…«

Vor uns wurde es ein klein wenig heller im Tunnel, ein Zeichen, dass wir bald die eigentliche Stadt erreichen würden. Das Licht hatte die gleiche karamellbraune Farbe, wie ich es schon vom Raumkoloss aus gesehen hatte: eine an sich schon trübe Helligkeit, die durch Verschmutzungen noch weiter getrübt wurde.

»Seuche schlagen zu, alle Gebäude knallen durch«, sagte Juan.

»Das hat man mir auch erzählt.«

»Dir nicht genug erzählen, Mister.« Trotz ihrer rudimentären Syntax war seine Sprache den Urlauten des Rikschafahrers vermutlich immer noch weit überlegen. »Alle Häuser verändern, blitzschnell.« Er unterstrich seine Worte mit ausdrucksvollen Gesten. »Machen meine Leute tot, werden zerquetscht oder landen in Mauer.«

»Das hört sich ziemlich unschön an.«

»Ich dir zeigen Leute in Mauer, Mister. Du nicht mehr Witze machen. Du dir Hose voll scheißen.« Wir schwenkten weit aus, um einer anderen Rikscha auszuweichen, die uns bereits gestreift hatte. »Aber gut aufpassen — Häuser verändern am schnellsten ganz oben, ja?«

»Ich kann dir nicht folgen.«

»Häuser sind wie Bäume. Viel dicke Wurzeln, die in Boden stecken, ja?«

»Meinst du die Zuleitungen für das Baumaterial? Durch die Rohstoffe für Reparaturen und Nachzucht aus dem Muttergestein gesaugt werden?«

»Ja. Wie gesagt. Wie große Bäume. Aber auch sonst wie große Bäume. Wachsen immer nur oben. Verstanden?« Er deutete mit weiteren Gesten die Umrisse einer Pilzwolke an.

Vielleicht hatte ich tatsächlich begriffen. »Du willst sagen, die Wachstumssysteme hätten sich in den oberen Teilen der Gebäude konzentriert?«

»Ja.«

Ich nickte. »Natürlich. Die Gebäude waren so geplant, dass sie sich selbsttätig abbauen, aber auch höher werden konnten. In beiden Fällen musste am oberen Ende Material hinzugefügt oder entfernt werden. Folglich musste das Nervenzentrum der selbst replizierenden Systeme immer mit dem Gebäude aufsteigen. Die unteren Etagen brauchten nur ein Minimum an Maschinen, um zu funktionieren, Schäden und Abnutzungserscheinungen beheben und sich in regelmäßigen Abständen umgestalten zu können.«

Ob Juans Lächeln Anerkennung ausdrückte — weil ich mir das selbst zusammengereimt hatte — oder Mitleid, weil ich dafür so lange gebraucht hatte, war schwer zu sagen.

»Seuche werden von Wurzeln hinaufgetragen und treffen zuerst Spitze. Gebäude knallen oben durch. Weiter unten alles bleiben wie vorher. Wenn Seuche dort angekommen, Menschen kappen Wurzeln, lassen Gebäude verhungern. Keine Veränderung mehr.«

»Aber bis dahin hatten sich die oberen Teile bereits bis zur Unkenntlichkeit transformiert.« Ich schüttelte den Kopf. »Es muss eine schreckliche Zeit gewesen sein.«

»Und ob, Mister.«

Wir fuhren hinaus ins Tageslicht, und nun verstand ich endlich, was Juan meinte.

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