Die Schneise wurde dunkler, je näher wir dem Netz kamen. Die überhängenden Gebäude waren so waghalsig aufeinander getürmt, dass sie sich über uns berührten und einen primitiven Tunnel bildeten, von dem Ekel erregendes Schmutzwasser herunter tropfte. Obwohl der Mulch sonst aus allen Nähten platzte, lebte hier kaum noch jemand.
Dann fuhr Quirrenbach unterirdisch weiter; an der Vorderseite der Gondel flammten starke Scheinwerfer auf. Gelegentlich huschten Ratten durch das Halbdunkel, aber weder Mensch noch Schwein ließ sich blicken. Die Ratten waren auf Ultra-Schiffen in die Stadt gekommen — die Ultras hatten sie genetisch manipuliert und zur Bordreinigung eingesetzt. Aber vor Jahrhunderten waren einige der Tiere aus dem goldenen Käfig ihres Sklavendaseins entkommen und in das Leben auf freier Wildbahn zurückgekehrt.
Jetzt rannten sie vor den hellen Ellipsen der Gondelscheinwerfer davon oder schwammen, V-förmige Wellen hinter sich her ziehend, hastig vor uns durch das braune Wasser.
»Was wollen Sie wirklich, Tanner?«, fragte Quirrenbach.
»Antworten.«
»Das ist alles? Oder geht es Ihnen eher darum, sich einen Privatvorrat Traumfeuer anzulegen? Nur zu! Sie können es ruhig zugeben. Wir sind schließlich alte Freunde.«
»Fahren Sie weiter«, sagte ich nur.
Quirrenbach beschleunigte. Der Tunnel verzweigte sich immer mehr. Wir befanden uns in einem sehr alten Teil der Stadt. So baufällig dieses unterirdische Labyrinth auch wirken mochte, die Seuche hatte ihm möglicherweise nicht allzu viel anhaben können.
»Muss das wirklich sein?«, fragte ich.
»Es gibt andere Wege«, sagte er. »Aber den hier kennen nur wenige. So können Sie diskret ins Zentrum des Geschehens gelangen und sogar den Anschein erwecken, als gehörten Sie dazu.«
Irgendwann brachte Quirrenbach die Gondel zum Stehen. Er hatte sie, ohne dass ich es bemerkte, auf eine trockene Landzunge gesteuert, die vor einer morschen Mauer mit grauen Schimmelwiesen aus dem Wasser ragte.
»Hier müssen wir aussteigen«, sagte er.
»Kommen Sie bloß nicht auf dumme Gedanken«, warnte ich. »Oder ich verarbeite Sie zu einem interessanten Element der Raumgestaltung.«
Dennoch überließ ich ihm die Führung. Die Gondel blieb auf der Schlammbank zurück. Wir waren offenbar nicht die Ersten, die sie als Landeplatz benützten. Wie die tiefen Kufeneindrücke verrieten, hatten hier schon öfter Gondeln geparkt.
»Folgen Sie mir«, sagte Quirrenbach. »Es ist nicht weit.«
»Kommen sie oft hierher?«
Zum ersten Mal klang seine Stimme aufrichtig. »Nur, wenn es unbedingt sein muss. Ich spiele keine tragende Rolle in der Traumfeuer-Connection, Tanner. Ich bin nur ein kleines Rädchen. Gewisse Leute dürften nicht einmal erfahren, dass ich Sie bis an diese Stelle gebracht habe, sonst wäre ich ein toter Mann. Würden Sie bitte möglichst diskret vorgehen?«
»Das kommt darauf an. Ich sagte Ihnen doch, ich möchte einige Antworten.«
Vor der Mauer blieb er stehen. »Ich kann sie unmöglich bis ins Zentrum des Geschehens begleiten, Tanner — bitte sehen sie das endlich ein. Es ist einfach nicht möglich. Am Besten gehen Sie alleine. Und kommen Sie bloß nicht auf die Idee, hier Ärger machen zu wollen. Dazu bräuchten Sie mehr als ein paar Schießeisen.«
»Und wohin führen Sie uns jetzt?«
An Stelle einer Antwort fasste er in den schleimigen Belag auf der Mauer und zog eine Schiebeklappe beiseite.
Über unseren Köpfen öffnete sich ein zwei Meter langes rechteckiges Loch.
Ich war auf manches gefasst — Quirrenbach hätte die Gelegenheit zur Flucht nützen können —, aber ich stieg als Erster hinauf. Dann half ich Quirrenbach und danach Chanterelle. Zebra kam als letzte und sah sich noch einmal um.
Aber niemand war uns gefolgt, und die einzigen Augen, die uns beobachteten, gehörten den Tunnelratten.
Hinter der Klappe befand sich ein niedriger, rechteckiger, mit Stahlblech ausgeschlagener Tunnel, in dem wir uns nur geduckt und auf allen vieren bewegen konnten. Mir schien er Hunderte von Metern lang zu sein, aber wahrscheinlich waren es nur ein paar fünfzig oder sechzig. Ich hatte jede Orientierung verloren, aber mein Instinkt beharrte darauf, wir hätten uns die ganze Zeit über auf den Rand des Abgrunds zu bewegt. Vielleicht befanden wir uns bereits außerhalb des Moskitonetzes, und über uns, nur durch ein paar Meter Felsgestein von uns getrennt, gab es nur giftige Atmosphäre.
Doch irgendwann, mein strapazierter Rücken begann, mit heftigen Schmerzen gegen diese Behandlung zu protestieren, gelangten wir in einen größeren Raum. Anfangs war es dunkel, doch dann schaltete Quirrenbach ein System von uralten Deckenlampen ein.
Aus einer Wand kam ein mattsilbernes Rohr mit einem Durchmesser von drei bis vier Metern, ähnlich einer Pipeline, lief durch den ganzen Raum und verschwand gegenüber. Von diesem Rohr ging seitlich ein zweites ab, das genau so dick war, aber in einer glatten Metallkappe endete.
»Sie wissen natürlich, was das ist«, sagte Quirrenbach und wies auf das längere Rohr.
»Nicht genau«, sagte ich. Ich hatte erwartet, dass einer der anderen etwas dazu sagte, aber sie schienen auch nicht klüger zu sein.
»Sie haben es oft genug gesehen.« Er ging auf das Rohr zu. »Es ist ein Teil der städtischen Atmosphäreaufbereitung.
Hunderte von solchen Rohren führen in den Abgrund hinab zu den Cracking-Anlagen. Einige enthalten Luft. Andere Wasser. Wieder andere überhitzten Dampf.« Er klopfte mit dem Finger an das Rohr, und erst jetzt fiel mir auf, dass in den abzweigenden Teil eine ovale Schiebeklappe eingelassen war, die etwa die gleiche Größe hatte wie die Klappe in der Mauer. »Dieses hier enthält normalerweise Dampf.«
»Und was enthält es jetzt?«
»Ein paar Tausend Atmosphären. Kein Grund zur Beunruhigung.«
Quirrenbach legte beide Hände auf die Klappe und schob sie auf. Sie ließ sich leicht bewegen. Darunter kamen dunkelgrünes, gewölbtes Glas und ein blanker Silberrahmen mit eingelassenen Schaltern zum Vorschein. Die Beschriftung der Schalter musste sehr alt sein; sie war in einer Sprache gehalten, die nicht Norte war, aber eine gewisse Ähnlichkeit damit hatte.
Amerikano.
Quirrenbach drückte einige Tasten, und aus der Ferne waren dumpfe Schläge zu hören. Augenblicke später vibrierte das ganze Rohr, als würde es von einem ungeheuer tiefen Ton in Schwingungen versetzt. »Jetzt wird der Dampfstrom zur Inspektion auf ein anderes Netz umgeleitet.«
Er drückte auf einen Knopf, das grüne Glas schob sich zur Seite, und ein Gewirr aus bronzenen Maschinenteilen wurde sichtbar, das den Innenraum nahezu ausfüllte. Zu beiden Seiten sah man Kolben und Faltbälge, umgeben von Rohren und Metallbürsten, Servomotoren und schwarzen Saugnäpfen. Ob das Gebilde uralt war — vielleicht noch aus der Amerikano-Periode — oder sehr viel jünger, eine Behelfskonstruktion aus der Zeit nach der Seuche, war schwer zu sagen. Sehr Vertrauen erweckend wirkte es jedenfalls nicht. Doch mitten in dem ganzen Durcheinander gab es eine winzige Zelle mit zwei großen Polstersitzen und einigen rudimentären Steuerungselementen, gegen die jeder Wheeler ein wahres Raumwunder war.
»Nun reden Sie schon!«, befahl ich.
»Ursprünglich war es ein Inspektionsroboter«, erklärte Quirrenbach. »Eine Maschine, die durch das Rohr fährt und es auf Lecks, Schwachstellen und Ähnliches untersucht. Jetzt ist es… naja, das sehen Sie ja selbst.«
»Ein Transportmittel«, sagte ich. Ich studierte das Ding genau und fragte mich, wie groß wohl die Chancen wären, eine Fahrt darin zu überleben. »Raffiniert, das muss ich zugeben. Und — wie lange dauert es, um damit ans Ziel zu kommen?«
»Ich bin erst einmal damit gefahren«, sagte Quirrenbach. »Ein Vergnügen war es nicht.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»In ein bis zwei Stunden ist man unterhalb der Nebelschicht. Die gleiche Zeit braucht man für den Rückweg. Ich kann Ihnen nur raten, sich nicht allzu lange aufzuhalten, wenn Sie erst dort sind.«
»Schön. Das hatte ich auch nicht vor. Wenn ich mit dem Ding ankomme, hält man mich dann für einen Eingeweihten?«
Er sah mich von oben bis unten an. »Nur Eingeweihte kommen auf diesem Weg. Mit Vadims Mantel können Sie als Händler durchgehen oder zumindest als jemand, der zur Organisation gehört — vorausgesetzt, Sie reißen den Mund nicht zu weit auf. Wenn man Sie am anderen Ende im Empfang nimmt, sagen Sie nur, Sie wollen Gideon besuchen.«
»Klingt ja ganz einfach.«
»Oh, Sie werden es schon schaffen. Selbst ein Affe könnte die Maschine bedienen. Verzeihung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Quirrenbach lächelte nervös. »Es ist wirklich nichts dabei. Und Sie werden sofort merken, wenn Sie angekommen sind.«
»Richtig«, sagte ich. »Sie werden mich nämlich begleiten.«
»Das ist keine gute Idee, Tanner. Ganz und gar nicht.« Quirrenbach sah sich Hilfe suchend um.
»Tanner hat Recht«, sagte Zebra und zuckte die Achseln. »Ich halte es auch für sinnvoll.«
»Aber ich war nie in Gideons Nähe. Ich kann die Leute nicht unbedingt besser überzeugen als Tanner. Was soll ich sagen, wenn man mich fragt, was wir wollen?«
Zebra funkelte ihn wütend an. »Du wirst improvisieren, du jämmerlicher kleiner Feigling. Du sagst, du hättest Gerüchte über Gideons Gesundheitszustand gehört und wolltest dich selbst vergewissern. Du kannst auch behaupten, die Leute beklagten sich über die Qualität des Produkts, das auf den Straßen gehandelt wird. Das funktioniert immer. Mit dieser Geschichte ist schon meine Schwester an Gideon herangekommen.«
»Woher willst du denn wissen, ob sie überhaupt in seiner Nähe war?«
»Gib dir einfach Mühe, Quirrenbach — von Tanner bekommst du sicher so viel moralische Unterstützung, die du brauchst.«
»Ich will aber nicht.«
Zebra richtete ihr Gewehr auf ihn. »Brauchst du Bedenkzeit?«
Er starrte in die Mündung der Waffe, dann sah er Zebra in die Augen. Seine Lippen kräuselten sich spöttisch. »Geh zur Hölle, Taryn! Du hast, was unsere Geschäftsbeziehungen angeht, soeben auch die letzte Brücke hinter dir verbrannt.«
»Steig einfach ein, ja?«
Ich wandte mich an Zebra und Chanterelle. »Nehmt euch in Acht. Ich glaube nicht, dass euch hier Gefahr droht, aber haltet trotzdem die Augen offen. Ich schätze, ich bin in ein paar Stunden wieder hier. Könnt ihr so lange warten?«
Zebra nickte. »Ich könnte schon, aber ich denke nicht daran. In dem Ding ist genügend Platz für drei, wenn Chanterelle hier die Stellung hält.«
Chanterelle zuckte die Achseln. »Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, stundenlang allein in diesem Loch herumzusitzen, aber es ist mir immer noch lieber, als mit dem Ding da nach unten zu fahren. Du bist das wahrscheinlich deiner Schwester schuldig?«
Zebra nickte. »Ich glaube, sie hätte für mich das Gleiche getan.«
»Ein weiter Weg. Hoffentlich lohnt er sich.«
Ich wandte mich an Chanterelle. »Bringen Sie sich nicht unnötig in Gefahr. Wir finden notfalls auch alleine wieder heraus, sollte also irgendetwas passieren… Sie wissen, wo die Gondel steht.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Tanner. Passen sie lieber auf sich selbst auf.«
»Das bin ich gewöhnt.« Ich schlug Quirrenbach mit falscher Herzlichkeit auf die Schulter. »Sind Sie bereit? Wer weiß? Vielleicht verhilft Ihnen die Fahrt zu neuen Ideen; ein so deprimierendes Erlebnis hat man nicht alle Tage.«
Er sah mich böse an. »Bringen wir es hinter uns, Tanner.«
Zebra war zu optimistisch gewesen. Der Inspektionsroboter bot kaum Platz für zwei Personen, zu dritt wurde man fast zerquetscht. Aber Zebras überlange Gliedmaßen waren von einer unheimlichen Gelenkigkeit, und so konnte sie sich, wenn auch unter schmerzhaften Verrenkungen, mit hineinzwängen.
»Ich hoffe zu Gott, dass das nicht allzu lange dauert«, sagte sie.
»Starten Sie!«, befahl ich Quirrenbach.
»Tanner, noch ist…«
»Nun starte das verdammte Ding schon endlich«, sagte Zebra. »Sonst komponierst du nicht, sondern wirst kompostiert.«
Das gab den Ausschlag; Quirrenbach drückte auf einen Knopf, die Maschine erwachte grollend zum Leben und polterte wie ein mechanischer Tausendfüßler langsam durch das Rohr. Vorder- und Rückseite vollführten ruckartige Bewegungen, die Saugnäpfe schlugen gegen die Wand, aber der Bereich, in dem wir saßen, blieb halbwegs ruhig. Obwohl im Tunnel kein Dampf mehr war, fühlten sich die Metallwände heiß an, und die Luft war wie ein Dauerrülpser aus den Tiefen der Hölle. Es war nicht nur eng, sondern bis auf die schwach beleuchteten Schalter vor unseren Sitzen auch dunkel. Die Innenwand des Tunnels war glatt wie Gletschereis. Der Dampf hatte sie mit ungeheurem Druck blank gescheuert. Anfangs lief das Rohr waagrecht, aber bald neigte es sich, zunächst nur leicht, doch bald so stark, als wollte es senkrecht nach unten stürzen. Ich hing in meinem Sitz wie in einem unbequemen Geschirr und hatte im Geist ständig die vielen Kilometer Rohrleitung vor Augen, die unter mir in den Abgrund führten. Auch dass mich nur die Saugnäpfe des Inspektionsroboters vor dem Fall ins Nichts bewahrten, trug nicht zu meiner Beruhigung bei.
»Wir fahren zur Cracking-Anlage, nicht wahr?« Zebra musste schreien, um das Stampfen der Maschine zu übertönen. »Dort wird es also hergestellt?«
Klingt einleuchtend, dachte ich und stellte mir die Anlage vor, die unsichtbar tief unter der ewigen Nebeldecke kauerte. Alle Rohre, alle dicken Wurzeln der Stadt kamen dort zusammen. Gigantische Konversionsmaschinen saugten die heißen, ätzenden Giftgase vom Grund der Spalte herauf. »Die Anlage ist ein rechtsfreier Raum, und die Bedienungsmannschaften sind sicher vertraut mit den chemischen Verfahren, die man braucht, um eine Substanz wie das Traumfeuer herzustellen.«
»Du glaubst, jeder dort unten kennt das Geheimnis?«
»Nein; wahrscheinlich nur eine kleine Gruppe von Spezialisten, die direkt mit der Herstellung der Droge befasst sind, und die niemand sonst in der Anlage kennt. Ist es nicht so, Quirrenbach?«
»Wie gesagt…« — er drehte einen Schalter, die Fahrt beschleunigte sich, das Stampfen steigerte sich zu einem rasenden Stakkato —, »ich war nie nahe an der Quelle.«
»Was wissen Sie denn nun wirklich? Irgendetwas über den Syntheseprozess müssen Sie doch mitbekommen haben?«
»Warum interessiert Sie das so brennend?«
»Weil ich finde, dass das alles nicht so recht zusammenpasst«, sagte ich. »Durch die Seuche funktionierte so vieles nicht mehr. Implantate — zumindest Implantate von einer gewissen Komplexität; subzelluläre Nanoroboter; medizinische Nanomaschinen — und wie sie alle heißen mögen. Das war doch ein schwerer Schlag für alle Postmortalen? Die meisten ihrer Therapien waren schließlich in irgendeiner Form auf diese Maschinchen angewiesen. Und jetzt mussten sie plötzlich darauf verzichten.«
»Und?«
»Mit einem Mal taucht etwas auf, was fast ebenso gut wirkt. In mancher Hinsicht sogar noch besser. Traumfeuer ist kinderleicht zu verabreichen — es braucht nicht einmal auf die Person abgestimmt zu sein, bei der es eingesetzt wird. Es heilt Verletzungen und stellt Erinnerungen wieder her.« Ich dachte an den Mann, der sich auf den Boden geworfen und gierig jedes Tröpfchen der scharlachroten Substanz aufgeleckt hatte, obwohl sein Körper bereits zur Hälfte von der Seuche zerfressen war. »Es bietet den Menschen, die ihre Maschinen nicht aufgegeben haben, sogar Schutz vor der Seuche. Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein, Quirrenbach.«
»Das heißt?«
»Das heißt, ich frage mich, wieso etwas derart Nützliches ausgerechnet von Verbrechern erfunden wurde. Man kann sich kaum vorstellen, dass es vor der Seuche entstanden wäre, obwohl die Stadt damals noch die Mittel zur Entwicklung der großartigsten neuen Technologien zur Verfügung hatte. Und jetzt? Manche Teile des Mulch haben nicht einmal die Dampfkraft. Im Baldachin mögen sich ein paar Enklaven mit fortgeschrittener Technik erhalten haben, aber dort beschäftigt man sich mehr mit abgefahrenen Spielchen, als dass man Wunderkuren entwickelte. Doch genau das scheint man mit dem Traumfeuer geschafft zu haben — auch wenn der Nachschub im Moment ein wenig klemmt.«
»Es hat vor der Seuche nicht existiert«, bestätigte Zebra.
»Zu viele Zufälle«, sagte ich. »Und deshalb frage ich mich, ob nicht beides ein und denselben Ursprung haben könnte.«
»Bilden Sie sich ja nicht ein, Sie wären als Erster auf diese Idee gekommen.«
»Im Leben nicht.« Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Schon jetzt fühlte ich mich wie nach einer Stunde in einer Sauna. »Aber die Überlegung hat etwas für sich, das müssen Sie zugeben.«
»Keine Ahnung. Ich interessiere mich für diese Dinge nicht allzu sehr.«
»Nicht einmal, wenn vielleicht das Schicksal der Stadt davon abhängt?«
»Aber das tut es doch nicht! Es geht nur um ein paar Postmortale, höchstens zehntausend Menschen. Traumfeuer mag für all jene, die davon abhängig sind, von unschätzbarem Wert sein, aber für die Mehrheit hat es keinerlei Bedeutung. Sollen sie doch sterben; was kümmert es mich? In ein paar hundert Jahren ist alles, was hier geschehen ist, nur noch eine Fußnote der Geschichte. Ich habe sehr viel höhere, ehrgeizigere Pläne.« Quirrenbach drehte noch an einigen Schaltern und klopfte auf das eine oder andere Messinstrument. »Schließlich bin ich Künstler. Alles andere lenkt mich nur ab. Sie dagegen… Ich muss zugeben, Sie sind mir ein Rätsel, Tanner. Mag sein, dass Sie Taryn gegenüber in einer gewissen Schuld stehen, aber Sie interessierten sich ja schon für das Traumfeuer, als wir zusammen Vadims Kabine durchsuchten. Dabei kamen Sie laut eigener Aussage hierher, um Argent Reivich zu ermorden, nicht um eine kleinere Versorgungskrise in unserer schäbigen kleinen Drogenindustrie zu beheben.«
»Inzwischen sind die Dinge eben etwas komplizierter geworden.«
»Und?«
»Dieses Traumfeuer hat etwas an sich, Quirrenbach. Irgendwie kommt es mir vor, als hätte ich es schon einmal gesehen.«
Aber es musste einen Weg ins Innere geben. Sky, Norquinco und Gomez legten ab und suchten dreißig Minuten lang das ganze Schiff ab, bis sie endlich das Loch fanden, das Oliveira und Lago als Zugang benutzt haben mussten. Es war nur etwa dreißig Meter von der Stelle entfernt, wo Oliveira sein Shuttle geparkt hatte; nicht weit von der Stelle, wo die Säule mit dem Rest des Schiffes verbunden war. Und es war so klein, dass es Sky beim ersten Vorbeiflug zwischen den blasigen Wucherungen auf der zerstörten Schiffsseite völlig übersehen hatte.
»Ich finde, wir sollten umkehren«, sagte Gomez.
»Wir gehen hinein.«
»Hast du denn nicht gehört, was Oliveira sagte? Und beunruhigt dich das seltsame Material, aus dem das Schiff besteht, denn gar nicht? Oder dass es aussieht wie eine schlechte Kopie von einem unserer Schiffe?«
»O doch, das beunruhigt mich sogar sehr. Aber es stärkt auch meine Entschlossenheit, es zu betreten.«
»Lago ist auch hineingegangen.«
»Dann werden wir wohl nach ihm Ausschau halten müssen.« Sky war jetzt bereit. Er hatte nicht einmal den Helm abgenommen, seit sie das letzte Mal die Luftschleuse passiert hatten.
»Ich möchte auch sehen, wie es drinnen aussieht«, sagte Norquinco.
»Mindestens einer von uns sollte im Shuttle bleiben«, sagte Gomez. »Falls das Schiff, das uns mit seinem Radarstrahl erfasst hat, in den nächsten Stunden hier eintrifft, wäre es nicht schlecht, wenn ihm jemand den gebührenden Empfang bereiten könnte.«
»Schön«, sagte Sky. »Du hast dich eben freiwillig dafür gemeldet.«
»Ich wollte nicht sagen…«
»Was du sagen wolltest, interessiert mich nicht. Tu einfach, was ich dir sage. Sollten Norquinco und ich auf etwas stoßen, wofür wir deine Hilfe brauchen, dann bekommst du sofort Bescheid.«
Sie verließen das Shuttle und legten die kurze Strecke zum Rumpf der Caleuche mit dem Rucksackantrieb zurück. Sie landeten in der Nähe des Loches wie auf einer weichen, elastischen Matratze, standen auf und hefteten sich mit ihren Klebesohlen an die Schiffswand.
Einer naheliegenden und lebenswichtigen Frage war Sky bisher ausgewichen, doch jetzt musste er sich ihr stellen. Nach seiner Erfahrung gab es nichts, was den Rumpf eines Schiffes in diesen schwammartigen Zustand versetzen konnte. Metall verhielt sich einfach nicht so — auch nicht unter der verheerenden Strahlung einer Antimaterie-Explosion. Nein; was immer hier geschehen war, ging weit über seinen Horizont. Der Rumpf des Gespensterschiffes schien Atom für Atom durch eine neue und erschreckend geschmeidige Substanz ersetzt worden zu sein, die alle Details nur in groben Zügen kopierte. Form, Struktur und Farbe waren vorhanden, aber die Funktion fehlte. Es war wie ein Rohabguss des ursprünglichen Schiffs. Stand er überhaupt auf der Caleuche, oder ging er auch diesmal wieder von falschen Voraussetzungen aus?
Sky und Norquinco traten an den Rand des Loches und hielten ihre Waffen ins Dunkel. Der Rand war unregelmäßig gezackt und wies Brandspuren auf. Die ganze Öffnung erinnerte an einen halb geschlossenen, runzeligen Mund. Ein bis zwei Meter unter der Oberfläche war die Wand jedoch mit einer dicken, fasrigen Masse ausgekleidet, die im Schein ihrer Helmlampen matt glänzte. Sky glaubte, die Masse zu erkennen: ein Geflecht aus extrudierten, in Epoxid eingebetteten Diamantfasern, eine schnell trocknende Paste, mit der sich Lecks im Rumpf abdichten ließen. Oliveira hatte wahrscheinlich eine Schwachstelle in der Haut der Caleuche entdeckt — er musste eine molekulare Dichtekarte erstellt haben, bevor er diesen Punkt wählte — und dann mit einem Laserbrenner oder sogar mit dem Abgasstrahl seines Shuttles den Rumpf durchschnitten. Wahrscheinlich um zu verhindern, dass der einmal geöffnete Schacht sich wieder schloss, hatte er die Dichtungsmasse aus dem Reparaturset seines Shuttles aufgesprüht.
»Wir steigen hier ein«, sagte Sky. »Oliveira hat wohl den günstigsten Zugang gefunden; wozu sich die Arbeit noch einmal machen, wir haben ohnehin nicht viel Zeit.«
Sie kontrollierten, ob die Trägheitskompasse in ihren Raumanzügen auch richtig arbeiteten, und definierten ihre derzeitige Position als Nullpunkt. Die Caleuche rotierte und trudelte nicht, der Kompass konnte sie also davor bewahren, sich im Innern zu verirren, aber selbst wenn die Instrumente nicht zuverlässig wären, könnten sie eine Leine hinter sich her ziehen und sich daran zu der Wunde im Rumpf zurückhangeln.
Sky stutzte. Wieso hatte er das Loch in Gedanken soeben als Wunde bezeichnet?
Er übernahm die Führung. Das Loch mündete in einen primitiven Tunnel, der zehn oder zwölf Meter weit senkrecht in den Rumpf hinein führte. Normalerweise hätten sie an dieser Stelle — wäre das Schiff die Santiago gewesen — die äußere Schutzhaut des Rumpfes hinter sich gelassen und wären auf eine Reihe kleiner Wartungszellen gestoßen, die zwischen Datenleitungen, Stromkabeln und Kühlrohren eingezwängt waren, vielleicht sogar auf einen der Bahntunnel. Sky wusste, dass die Rumpfhaut an manchen Stellen eine Dicke von mehreren Metern hatte, aber er war einigermaßen sicher, dass dies keine solche Stelle war.
Die Wände des Schachtes oder Tunnels, wie immer man es nennen wollte, waren härter und glänzender geworden — weniger wie Elefantenhaut als wie ein Insektenpanzer. Als Sky den Strahl seiner Helmlampe darauf richtete, glitt das Licht von der glänzend schwarzen Oberfläche förmlich ab. Und dann — gerade als es so aussah, als würde der Gang abrupt enden — machte er eine scharfe Biegung nach rechts. Im Raumanzug und zusätzlich belastet mit dem sperrigen Rucksackantrieb, hatte er Mühe, um die Kurve zu kommen — wenigstens konnte sich der Anzug an den glatten Wänden nicht verfangen, und es wurden auch keine wichtigen Teile abgerissen. Sky sah sich um. Norquinco kam hinterher. Da er etwas kräftiger gebaut war, hatte er noch mehr zu kämpfen.
Doch nun war der Schacht breiter geworden, und nachdem sie eine zweite Kreuzung passiert hatten, kamen sie noch besser voran. Sky blieb immer wieder stehen und bat Norquinco, sich zu vergewissern, dass sich die Leine nicht verheddert hatte und immer noch straff war, aber auch der Trägheitskompass arbeitete normal und zeichnete ihre Bewegungen relativ zum Einstiegspunkt getreulich auf.
Er schaltete das Funkgerät ein. »Gomez, kannst du mich hören?«
»Laut und deutlich. Was habt ihr gefunden?«
»Bisher noch nichts. Aber wir können ziemlich sicher davon ausgehen, dass dies nicht die Caleuche ist. Norquinco und ich sind sicher schon zwanzig Meter tief in den Rumpf vorgedrungen, aber wir bewegen uns immer noch durch eine massive Schicht.«
Gomez zögerte mit der Antwort. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Nein. Jedenfalls nicht, so lange wir davon ausgehen, dass dies ein Schiff wie das unsere ist. Aber das glaube ich nicht mehr. Ich halte es für etwas anderes — etwas, womit wir ganz sicher nicht gerechnet hatten.«
»Glaubst du, es kam von zu Hause — man hätte es losgeschickt, nachdem wir gestartet waren?«
»Nein. Seitdem sind erst hundert Jahre vergangen, Gomez. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass man in dieser Zeit so etwas entwickelt haben sollte.« Sie rutschten weiter. »Es fühlt sich nicht an wie von Menschen gemacht. Es fühlt sich nicht einmal an wie eine Maschine.«
»Aber was immer es ist, von außen gleicht es einem von unseren eigenen Schiffen aufs Haar.«
»Richtig — bis man es aus der Nähe betrachtet. Ich würde vermuten, es hat seine Form unseren Schiffen angepasst; vielleicht zur Tarnung. Und es hat funktioniert, nicht wahr? Titus — mein Vater — glaubte immer daran, dass wir von einem weiteren Flottillenschiff verfolgt würden. Das beunruhigte ihn, aber es ließ sich mit irgendeinem Vorfall aus der Vergangenheit erklären. Hätte er gewusst, dass uns ein fremdes Schiff folgte, dann hätte er sich ganz anders verhalten.«
»Was hätte er denn tun können?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht die anderen Schiffe alarmieren. Auf jeden Fall hätte er angenommen, dass es feindliche Absichten hegte.«
»Vielleicht hatte er Recht.«
»Ich weiß es nicht. Es ist schon so schrecklich lange hier draußen. Und es war in all den Jahren nicht gerade aktiv.«
In diesem Moment geschah etwas — sie hörten oder spürten einen Ton, so voll wie der Klang einer riesigen Glocke. Da sie im Vakuum schwebten, mussten die Schwingungen durch den Rumpf übertragen worden sein.
»Gomez — was, zum Teufel, war das?«
Die Stimme war leiser geworden. »Ich weiß nicht — hier ist nichts passiert. Aber ich höre euch plötzlich sehr viel schlechter.«
Nach fast zwei Stunden sah ich senkrecht unter mir im Rohr etwas aufleuchten.
Es war nur ein matter goldener Schein, aber er kam näher.
Ich dachte an die Episode, die ich soeben durchlebt hatte. Ich spürte Skys Angst beim Betreten der Caleuche noch auf der Zunge, so hart und metallisch wie eine Gewehrkugel. Der Angst, die mich selbst erfüllte, zum Verwechseln ähnlich. Beide waren wir auf dem Weg in die finsteren Tiefen; beide suchten wir nach Antworten — oder nach einer Belohnung. Beide wussten wir auch, dass wir uns in große Gefahr begaben, ohne zu ahnen, worauf wir uns einließen. Die Übereinstimmung zwischen der Episode und dem, was ich soeben erlebte, war geradezu unheimlich. Sky überschwemmte mein Bewusstsein nicht mehr nur mit Bildern, er war einen Schritt weiter gegangen. Jetzt steuerte er mich und meine Handlungen so, dass sie an seine eigenen, längst vergangenen Taten erinnerten; ein Puppenspieler, der über dreihundert Jahre Geschichte hinweg seine Fäden zog. Ich ballte die Faust, denn ich erwartete, dass mir nach dieser Episode das Blut in Strömen aus der Hand liefe.
Doch meine Handfläche war vollkommen trocken.
Der Inspektionsroboter polterte weiter in die Tiefe. Quirrenbach konnte die Maschine schon seit einiger Zeit nicht mehr beschleunigen. Es war jetzt unerträglich heiß geworden, und vermutlich hätte keiner von uns diese Temperaturen länger als drei oder vier Stunden ausgehalten, ohne an einem Hitzschlag zu sterben.
Aber es wurde tatsächlich heller.
Bald sah ich auch, warum. Wir näherten uns langsam einem Rohrabschnitt mit schmutzigen Glaswänden. Quirrenbach drehte die Maschine, damit wir nicht so leicht zu erkennen wären, wenn der Roboter den transparenten Abschnitt passierte. Trotzdem hatte ich einen guten Blick auf den dunklen Raum dahinter, eine Höhle mit riesigen Maschinen: hochofenartige Druckbehälter, verbunden durch ein Netz aus vielfach gewundenen, blanken Rohren, die an Gedärme erinnerten, und überspannt von schmalen Laufstegen. Lange Reihen von gewaltigen Turbinen lagen wie schlafende Dinosaurier in der Finsternis.
Wir hatten die Cracking-Anlage erreicht.
Staunend betrachtete ich die stummen Giganten.
»Offenbar hat gerade niemand Dienst«, bemerkte Zebra.
»Ist das normal?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Quirrenbach. »Dieser Teil des Systems läuft mehr oder weniger automatisch. Trotzdem bin ich froh, dass wir nicht gerade den einen Tag erwischt haben, an dem jemand hier ist und uns hätte sehen können.«
Dutzende von Rohren ähnlich dem unseren führten zur Decke, die aus einer einzigen runden Glasplatte mit speichenförmigen Verstrebungen aus schwarzem Metall bestand, und durchbohrten sie. Darüber sah ich nur dichte, rußiggraue Wolken, denn die Cracking-Anlage lag tief im Abgrund und war fast immer vom Nebel verhüllt. Nur wenn der sich kurzzeitig lichtete, aufgerissen wurde von den chaotischen Thermikspiralen, die sich an den Seiten der Spalte empor schraubten, sah ich die mächtigen, schroffen Wände aus Planetengestein aufragen. Weit, weit über uns entdeckte ich antennengleich den Stängel, von wo aus ich mit Sybilline die Nebelspringer beobachtet hatte. Das war erst vor zwei Tagen gewesen, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit.
Wir waren jetzt tief unter der Stadt.
Der Inspektionsroboter setzte seine Sturzfahrt fort. Ich hatte gedacht, wir würden auf der Höhe der Cracking-Anlage anhalten, aber Quirrenbach steuerte uns langsam an den Turbinen vorbei und weiter ins Dunkel. Vielleicht hatte die Station noch einen weiteren Raum unterhalb der Höhle, durch die wir eben gekommen waren. Eine Weile klammerte ich mich an diese Vorstellung… doch dann sah ich ein, dass wir dafür schon viel zu weit gefahren waren.
Die Leitung durchquerte die gesamte Cracking-Station.
Es ging immer noch tiefer. Mehrmals wechselte das Rohr jäh die Richtung, einmal bog es sich fast bis zur Horizontalen, um dann wieder in die Senkrechte zurückzukehren. Jetzt war es so heiß, dass man Mühe hatte, sich wach zu halten. Mein Mund war so trocken, dass schon der Gedanke an ein Glas kaltes Wasser genügte, um mir Folterqualen zu bereiten. Irgendwie blieb ich dennoch bei Bewusstsein — ich wusste, dass ich meine fünf Sinne beisammen haben musste, wenn der Roboter sein Ziel erreichte.
Nach weiteren dreißig bis vierzig Minuten sah ich wieder Licht unter mir.
Diesmal hatte es den Anschein, als wären wir am Ziel der Reise.
»Wir dich auch. Norquinco — sieh nach…« Noch während Sky das sagte, lenkte er den Strahl der Lampe nach oben in den Schacht, den sie heruntergestiegen waren, und sah, dass sich die bisher straff gespannte Leine gelockert hatte und ein wenig durchhing. Sie musste irgendwo weiter oben durchtrennt worden sein.
»Wir müssen zurück«, sagte Norquinco. »Noch sind wir nicht allzu weit vom Einstieg entfernt — wir können den… hm… den Rückweg noch finden.«
»Durch einen massiven Rumpf? Die Leine hat sich nicht von selbst gekappt.«
»Gomez hat ein Schweißgerät im Shuttle. Er kann uns rausschneiden, wenn er weiß, wo wir sind.«
Sky überlegte. Norquinco hatte natürlich Recht, und jeder normale Mensch hätte in diesem Moment alles getan, um an die Oberfläche zurück zu gelangen. Zum Teil war das auch sein Wunsch, doch eine zweite Stimme war noch stärker, eine Stimme, die wissen wollte, was es mit diesem Schiff — falls es ein Schiff war — denn nun auf sich hatte. Er war jetzt restlos davon überzeugt, dass es sich um ein Alien-Schiff handelte — und damit wäre es der erste Beweis für die Existenz einer Fremdintelligenz, den je ein Mensch entdeckt hatte. Und — auch wenn alle Wahrscheinlichkeit dagegen sprach — es hatte die träge durchs All hinkenden Kähne in den unendlichen Weiten des Raums angepeilt und sich an seine Flottille gehängt. Aber es hatte keinen Kontakt aufgenommen, sondern war ihnen nur Jahrzehnte lang gefolgt.
Was würden sie im Innern finden? Womöglich wären die Vorräte, die er sich an Bord der Caleuche erhofft hatte — selbst die Reserven an Antimaterie —, nur wertloser Trödel, verglichen mit den Schätzen, die hier lagerten und nur darauf warteten, gehoben zu werden. Das Alien-Schiff hatte sich der Bewegung der Flottille angepasst und flog nun ebenfalls mit acht Prozent Lichtgeschwindigkeit — und Sky ahnte, dass ihm das gar nicht schwer gefallen war; dass es solche Geschwindigkeiten mühelos erreichte. Irgendwo in diesem wurmzerfressenen schwarzen Rumpf musste es Mechanismen geben, die es auf seine derzeitige Geschwindigkeit gebracht hatten, und die konnte er vielleicht auswerten — nicht unbedingt verstehen, das gab er gerne zu —, aber doch für seine Zwecke nützen.
Und vielleicht viel mehr als das.
Er musste weiter vordringen. Sonst wäre das Unternehmen gescheitert. »Wir bleiben«, erklärte er Norquinco. »Noch eine Stunde. Wir werden sehen, was wir in dieser Zeit erreichen können, und wir werden gut aufpassen, damit wir uns nicht verirren. Der Trägheitskompass ist schließlich auch noch da.«
»Mir ist es hier nicht geheuer, Sky.«
»Dann stell dir vor, was du hier alles lernen kannst. Denk nur daran, wie dieses Schiff funktioniert — die Datennetzwerke; die Protokolle; die Prinzipien, nach denen es entworfen wurde. Sie könnten so großartig anders sein; unserer Denkweise überlegen wie — ich weiß nicht — wie ein DNS-Strang einer eindimensionalen Polymerkette. Man brauchte schon einen ganz besonderen Verstand, um auch nur ansatzweise erfassen zu können, welche Kräfte hier am Werk sind. Einen Verstand von ungewöhnlichem Kaliber. Und jetzt tu nicht so, als wärst du kein bisschen neugierig, Norquinco.«
»Ich hoffe, du wirst in der Hölle braten, Sky Haussmann.«
»Ich nehme das als Ja.«
Der Inspektionsroboter rangierte sich in eine ähnliche Rohrgabelung, wie Quirrenbach sie an der Oberfläche aufgesucht hatte. Das Stampfen der Saugnäpfe wurde langsamer und verstummte schließlich ganz. Die Maschine tickte nur noch leise vor sich hin. Ringsum herrschte tiefe Dunkelheit. Bis auf das ferne Grollen, mit dem der überhitzte Dampf durch andere Teile des Rohrnetzes schoss, war alles still. Ich berührte die heiße Metallwand mit der Fingerspitze und spürte ein leichtes Vibrieren. Hoffentlich bedeutete das nicht, dass eine Mauer aus sengend heißem Dampf mit tausend Atmosphären Druck auf uns zu raste.
»Wir können immer noch umkehren, noch ist es nicht zu spät«, sagte Quirrenbach.
»Wo haben Sie denn Ihre Neugier gelassen?«, fragte ich. Ich kam mir vor wie Sky Haussmann, der Norquinco ködern wollte.
»Etwa acht Kilometer weiter oben.«
In diesem Moment wurde in der Seitenwand eine Klappe aufgeschoben, und ein Mann schaute herein und betrachtete uns wie eine Lieferung Exkremente, die von Chasm City herunter gekommen war.
»Dich kenne ich«, sagte er zu Quirrenbach und nickte ihm zu. Dann streifte er Zebra und mich mit einem kurzen Blick. »Dich kenne ich nicht. Und dich erst recht nicht.«
»Und du bist für mich ein Haufen Dreck«, sagte ich, bevor er die Oberhand gewinnen konnte. Ich war schon dabei, mich aus dem Roboter zu ziehen, und genoss es, nach so vielen Stunden zum ersten Mal wieder die Beine ausstrecken zu können. »Und jetzt zeigst du mir, wo ich etwas zu trinken kriege.«
»Wer bist du?«
»Ein Mann, der ‘nen Drink von dir will. Was ist los, verdammt? Hat dir einer Schweinescheiße in die Ohren geschmiert?«
Jetzt hatte er offenbar kapiert. Ich hatte darauf gesetzt, dass jemand wie er hier unten keine tragende Rolle spielte, sondern hauptsächlich die Aufgabe hatte, sich beschimpfen zu lassen, wenn Schlägertypen zu Besuch kamen, die in der Nahrungskette etwas höher standen.
»He, war nicht so gemeint, Mann.«
»Ratko, das ist Tanner Mirabel«, sagte Quirrenbach. »Und das ist… Zebra. Ich hatte angerufen und gesagt, wir kämen runter, um Gideon zu besuchen.«
»Ja«, sagte ich. »Und wenn man’s dir nicht ausgerichtet hat, ist das, verdammt noch mal, nicht mein Problem.«
Quirrenbach schien so beeindruckt, dass er auch mitmachen wollte. »Verdammt, er hat Recht. Und jetzt gib dem verdammten Kerl… gib dem Mann den Drink, den er verlangt hat.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die ausgetrockneten Lippen. »Und mir bringst du auch einen, Ratko, du… äh… du verdammter kleiner Schwanzlutscher.«
»Schwanzlutscher? Das ist gut, Quirrenbach. wirklich gut.« Der Mann klopfte ihm auf die Schulter. »Den Kurs zur Hebung des Selbstbewusstseins musst du unbedingt weitermachen. Zahlt sich aus.« Er sah mich an, als fände er mich fast sympathisch — Profis unter sich. »Na schön. Dann kommt mal mit.«
Ratko verließ die Kammer mit den Rohren. Wir folgten ihm. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, denn seine Augen waren hinter einer grauen Brille verborgen, aus der verschiedene zarte Sensorfäden sprießten. Sein Mantel hatte das gleiche Muster wie der von Vadim, nur war er kürzer, und die Flicken waren weniger rau und schillerten bunter.
»Also, Freunde«, sagte Ratko endlich. »Was führt euch zu uns?«
»Man könnte es eine Qualitätsinspektion nennen«, sagte ich.
»Ich habe nicht gehört, dass sich jemand über die Qualität beschwert hätte.«
»Dann hast du vielleicht nicht richtig aufgepasst«, sagte Zebra. »Das Zeug ist immer schwerer zu kriegen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, tatsächlich«, sagte ich. »Das Feuer ist nicht nur knapp. Auch die Reinheit lässt zu wünschen übrig. Zebra und ich beliefern einen großen Kundenkreis bis hinauf in den Rostgürtel. Und wir kriegen jede Menge Beschwerden.« Ich sprach sachlich, mit drohendem Unterton. »Das könnte auf ein Problem irgendwo in der Verteilungskette zwischen hier und dem Gürtel hinweisen — die Kette hat viele schwache Glieder, und glaub mir, ich untersuche sie alle. Aber es könnte auch bedeuten, dass jemand am Ausgangsprodukt herumpfuscht. Es verschneidet, verwässert… nenn es, wie du willst. Deshalb haben wir Mister Quirrenbach gebeten, uns zu einem privaten Besuch hierher zu bringen. Wir müssen uns zunächst vergewissern, dass überhaupt noch hochwertiges Traumfeuer hergestellt wird. Wenn nicht, dann ist irgendwo gelogen worden, und dann bricht hier bald ein Sturm mit Stärke Zehn los, der noch mehr Scheiße in den Ventilator jagt. In beiden Fällen wird irgendjemand zittern müssen.«
»He, hört mal zu«, sagte Ratko und hob beide Hände. »Jeder weiß, dass es an der Quelle gewisse Probleme gibt. Aber die Gründe kann euch nur Gideon selbst sagen.«
Ich warf die Angel aus. »Nach allem, was man hört, ist er wohl am liebsten allein.«
»Was bleibt ihm denn auch anderes übrig?«
Ich lachte so überzeugend wie möglich, ohne eigentlich zu wissen, worüber. Aber der Mann mit der Brille war ganz offensichtlich der Meinung, er hätte einen Witz gemacht.
»Das mag schon sein.« Wir hatten ein wenn auch noch recht schwankendes Fundament gegenseitigen Respekts geschaffen. Nun schlug ich einen anderen Ton an. »Meinetwegen können wir ruhig etwas freundschaftlicher miteinander umgehen. Und meine Zweifel bezüglich der Qualität des Produkts ließen sich mit einer kleinen — wie sagt man — Gratisprobe sicher auch beschwichtigen.«
»Was ist denn jetzt los?« Ratko griff in seinen Mantel und reichte mir eine kleine dunkelrote Ampulle. »Hast dir wohl aus deiner eigenen Lieferung einen Schuss zu viel gesetzt?«
Ich nahm die Ampulle. Zebra reichte mir ihre Hochzeitswaffe. Ich wusste, dass ich es tun musste; nur mit dem Feuer konnte ich die letzten Geheimnisse meiner Vergangenheit lüften.
»Du weißt doch, wie das so geht«, sagte ich.
Sky und Norquinco drangen weiter vor, behielten aber den Trägheitskompass stets im Auge. Der Schacht schlängelte sich in Windungen dahin und verzweigte sich immer wieder, aber das Display auf der Innenseite ihrer Helme vermerkte getreulich ihre Position relativ zum Shuttle und den Weg, den sie bisher genommen hatten. Auf diese Weise konnten sie sich eigentlich nicht verirren, auch wenn sie auf dem Rückweg auf Hindernisse stoßen sollten. Bisher hatten sie mehr oder minder auf die Schiffsmitte zugehalten, und jetzt führte der Tunnel nach vorne weiter, ungefähr in Richtung auf die Kommandosphäre. Nach etwa fünf Minuten erschütterte eine weitere Schwingung den Rumpf, als hätte jemand mit einem Hammer dagegen geschlagen. Diesmal schien das Echo ein wenig stärker zu sein.
»Das genügt«, erklärte Norquinco. »Wir kehren um.«
»Kommt nicht infrage. Die Leine haben wir bereits verloren, und einen Gang nach draußen müssen wir uns ohnehin frei schneiden. Da kommt es auf ein Stück mehr oder weniger nicht an.«
Diesmal folgte ihm Norquinco nur widerwillig. Doch nun veränderte sich etwas. Die Anzugsensoren registrierten an Stelle von hartem Vakuum erste Spuren von Stickstoff und Sauerstoff, so als baute sich innerhalb des Schachts langsam eine Atmosphäre auf; als hätten die beiden Glockenschläge eine riesige fremde Luftschleuse geöffnet.
»Da vorne sehe ich Licht«, sagte Sky, als der Luftdruck eine Atmosphäre erreicht hatte und weiter anstieg.
»Licht?«
»Matt und gelblich. Aber ich täusche mich nicht. Es scheint direkt aus den Wänden zu kommen.«
Er schaltete seine Lampe aus und befahl Norquinco, seinem Beispiel zu folgen. Für einen Moment standen sie fast im Dunkeln. Sky überlief ein Schauer, die alte, nie ganz überwundene Angst vor der Finsternis, die noch aus seinen Kindertagen stammte, kroch wieder in ihm hoch. Doch dann gewöhnten sich seine Augen an die herrschenden Lichtverhältnisse, und es war fast, als würden die Lampen noch brennen. Sogar noch besser, denn der blassgelbe Schein reichte weit nach vorne und erhellte den Tunnelschacht auf mehr als zwanzig Meter.
»Sky? Da ist noch etwas.«
»Was?«
»Ich habe plötzlich das Gefühl, es geht bergab.«
Sky wollte lachen; wollte Norquinco über den Mund fahren, doch dann spürte er es selbst. Etwas drückte seinen Körper deutlich gegen eine Seite des Schachts. Zunächst war die Kraft noch schwach, doch als er weiter kroch (und jetzt war es wirklich nur ein Kriechen) wurde sie stärker, und bald fühlte er sich fast wieder wie an Bord der Santiago mit ihrer künstlichen, durch Rotation erzeugten Schwerkraft. Dabei hatte sich das Alien-Schiff weder gedreht, noch hatte es beschleunigt.
»Gomez?«
Als die Antwort endlich kam, war sie unendlich leise. »Ja. Wo seid ihr?«
»Schon ziemlich weit. Irgendwo in der Nähe der Kommandosphäre.«
»Das glaube ich nicht, Sky.«
»Unser Trägheitskompass sagt es aber.«
»Dann zeigt er falsch an. Euer Funksignal kommt etwa aus der Mitte der Säule.«
Zum zweiten Mal packte Sky das Entsetzen, doch jetzt hatte es nichts mit der Dunkelheit zu tun. Um so weit ins Schiffsinnere vorzudringen, hätten sie viel länger kriechen müssen. Hatte sich der Rumpf womöglich umgeformt, während sie unterwegs waren, und sie freundlicherweise weiter befördert? Das Funksignal konnte nicht täuschen, dachte er — durch Triangulation konnte Gomez ihre Position ziemlich genau bestimmen, auch wenn die Masse des Rumpfes seine Messungen etwas verfälschte. Das bedeutete, dass der Trägheitskompass praktisch seit dem Moment gelogen hatte, als sie das Schiff betraten. Und jetzt befanden sie sich in einem statischen Gravitationsfeld, das vom Rumpf selbst erzeugt, nicht durch Beschleunigung oder Rotation simuliert wurde. Und dieses Feld konnte sie mit dem Schacht in jede beliebige Richtung drängen. Kein Wunder, dass der Trägheitskompass falsche Werte geliefert hatte. Schwerkraft und Inertialkraft hingen so vielfältig und eng zusammen, dass man die eine kaum beugen konnte, ohne auch die andere in Mitleidenschaft zu ziehen.
»Sie können offenbar das Higgs-Feld kontrollieren«, staunte Norquinco. »Schade, dass Gomez nicht hier ist. Er hätte bestimmt schon eine Theorie entwickelt.«
Das Higgs-Feld, erinnerte er Sky, durchzog angeblich den ganzen Raum, die gesamte Materie. Masse und Trägheit waren an sich keine intrinsischen Eigenschaften der Fundamentalteilchen, sondern entstanden nur durch die Kraft, die auf sie wirkte, wenn sie mit dem Higgs-Feld interagierten — vergleichbar dem Widerstand, den eine prominente Persönlichkeit zu überwinden hatte, wenn sie einen Raum voller Bewunderer durchquerte. Norquinco glaubte offenbar, die Erbauer des Schiffes hätten einen Weg gefunden, die Persönlichkeit unbehelligt passieren zu lassen — oder sie noch stärker zu behindern. So als könnten sie die Dichte der Bewunderer erhöhen oder senken und ihre Fähigkeit, die Persönlichkeit zu belästigen, verringern oder steigern. Das war natürlich eine hoffnungslos ungenaue Beschreibung dessen, was Gomez — und vielleicht auch Norquinco — ohne Zuhilfenahme von Metaphern mit einem Blick mitten ins blanke mathematische Herz der Erscheinung erkennen konnten, aber Sky war zufrieden damit. Die Erbauer konnten Schwerkraft und Inertialkraft ebenso leicht manipulieren wie das matte gelbe Licht, und vielleicht taten sie es auch mit der gleichen Selbstverständlichkeit.
Das hieß natürlich, dass seine Ahnung richtig gewesen war. Wenn es an Bord dieses Schiffes irgendeine Möglichkeit gab, diese Technik zu erlernen, so wäre das für die Flottille — oder zumindest für die Santiago — von unschätzbarem Wert. Seit Jahren bemühten sie sich, Masse abzuwerfen, um das Bremsmanöver bis zum letztmöglichen Moment hinauszuzögern. Man stelle sich vor, sie wären imstande, die Masse der Santiago einfach abzuschalten wie das Licht in einem Raum? Dann könnten sie mit acht Prozent Lichtgeschwindigkeit in das System einbiegen, ihre Geschwindigkeit mit einem Schlag eliminieren und im Orbit um Journey’s End zum Stillstand kommen. Und selbst wenn das Manöver in dieser Dramatik nicht möglich sein sollte — jegliche Verringerung der Schiffsträgheit, und sei es nur um wenige Prozent, wäre ein Gewinn.
Der Außendruck betrug jetzt weit über eineinhalb Atmosphären, stieg aber nicht mehr so rasant an. Die Luft war warm und mit Feuchtigkeit gesättigt und enthielt einige harmlose Spurengase, die aber in der Luft, die Sky normalerweise atmete, nicht im gleichen Verhältnis vorhanden gewesen wären. Die Schwerkraft pendelte sich bei einem halben Ge ein. Gelegentlich fiel sie unter diesen Wert, höher stieg sie nie. Und das gelbe Licht war jetzt so hell, dass man dabei lesen könnte. Hin und wieder mussten sie durch eine Vertiefung auf dem Schachtboden kriechen, die eine dunkle, zähe Flüssigkeit enthielt. Spuren dieser Substanz gab es überall: alle Flächen waren mit einem roten Schleim beschmiert, der aussah wie Blut.
»Sky? Hier ist Gomez.«
»Sprich lauter. Ich kann dich kaum verstehen.«
»Sky; hör gut zu. Innerhalb der nächsten fünf Stunden bekommen wir Gesellschaft. Zwei Shuttles befinden sich im Anflug. Sie wissen, dass wir hier sind. Ich habe einen Radarstrahl auf sie gerichtet, um ihre Entfernung zu bestimmen.«
Schön; das hätte er inzwischen wahrscheinlich auch getan. »Lass es dabei bewenden. Rufe sie nicht an und tu nichts, was ihnen verraten könnte, dass wir von der Santiago kommen.«
»Und ihr kommt bitte so schnell wie möglich zurück! Noch können wir uns absetzen.«
»Norquinco und ich sind noch nicht fertig.«
»Sky, ich glaube, dir ist nicht klar…«
Er unterbrach die Verbindung. Was vor ihm lag, interessierte ihn mehr. Jetzt kam durch denselben Schacht etwas auf sie zu, ein wurmförmiger, weißrosa Körper, der sich in Wellen fortbewegte wie eine Made.
»Norquinco?«, sagte Sky, brachte sein Gewehr in Anschlag und zielte damit auf das Geschöpf. »Ich glaube, da will uns jemand willkommen heißen.« Er hätte gern gewusst, ob man ihm seine Angst anhören konnte.
»Ich sehe gar nichts. Nein; warte — jetzt schon. Oh!«
Das Wesen war nur so lang wie ein Arm; eigentlich nicht groß genug, um jemandem wie ihnen größeren Schaden zuzufügen. Es hatte auch keine sichtbaren Organe, die gefährlich werden konnten; Sky sah nicht einmal ein Maul. An der Vorderseite befand sich nur ein Gebilde, das an ein Krönchen erinnerte: ein Strauß durchscheinender Fasern, die leise hin und her schwankten. Selbst wenn sie giftig wären, würde ihn sein Anzug schützen. Und das Geschöpf hatte weder Augen noch Gliedmaßen, mit denen es greifen konnte. Das sagte er sich mehrfach vor, um sich zu beruhigen, musste jedoch leicht enttäuscht feststellen, dass seine Angst dadurch nicht geringer geworden war.
Die Made schien über die unerwarteten Gäste nicht weiter erschrocken zu sein. Sie hielt einfach an und winkte ihnen mit den bleichen Fühlern zu. Der segmentierte blassrosa Körper nahm eine intensivere Rotfärbung an, dann quoll zwischen den Segmenten ein leuchtend rotes Sekret hervor, und unter dem Wesen entstand eine neue Pfütze. Aus dieser Pfütze wuchsen wiederum Fühler, und sie kroch vorwärts, als flösse sie bergab. Skys Gefühl für Oben und Unten veränderte sich so schwindelerregend plötzlich, als hätte die Schwerkraft nur für ihn die Richtung geändert. Der scharlachrote Saft floss wie ein Bächlein auf die beiden zu, umspülte ihre Anzüge und kroch daran hinauf. Sky hatte das Gefühl, auf dem Kopf zu stehen, zu stürzen. Der rote Schleier glitt über sein Helmvisier, als suche er einen Weg ins Anzuginnere. Dann war es vorüber.
Die Schwerkraft normalisierte sich wieder. Sky atmete schwer. Immer noch starr vor Entsetzen beobachtete er, wie die rote Pfütze zurückfloss und vom Körper der Made wieder aufgesogen wurde. Einen Augenblick später verblasste auch das intensive Rot, und das Wesen war wieder so blassrosa wie zuvor.
Nun geschah etwas sehr Merkwürdiges: die Made machte nicht kehrt, sondern stülpte sich um. Die Fühler zogen sich an einem Ende in den Körper zurück und kamen am anderen wieder zum Vorschein. Dann glitt das Wesen mit wellenförmigen Bewegungen durch den gelb erleuchteten Schacht davon. Es war, als sei nichts gewesen.
Dann dröhnte mit gottähnlicher Gewalt eine Stimme aus den Wänden, zu tief, um menschlich zu sein, und sprach zu ihnen.
»Ich freue mich, ein wenig Gesellschaft zu haben«, sagte sie auf portugiesisch.
»Wer bist du?«, fragte Sky.
»Lago. Kommt bitte zu mir; es ist nicht mehr weit.«
»Und wenn wir lieber fortgehen möchten?«
»Dann macht mich das traurig, aber ich werde euch nicht aufhalten.«
Auch das Echo der Gottesstimme verklang, und wieder war alles wie vor der Ankunft der Made. Die beiden Männer keuchten wie nach einem schnellen Lauf. Endlose Augenblicke vergingen, dann sagte Norquinco: »Wir kehren zum Shuttle zurück. Und zwar sofort.«
»Nein. Wir gehen weiter, wie wir es Lago versprochen haben.«
Norquinco packte Sky am Arm. »Nein! Das ist Wahnsinn. Hast du aus deinem Kurzzeitgedächtnis gelöscht, was soeben geschehen ist?«
»Ein Wesen, das uns längst hätte töten können, wenn es das wollte, hat uns aufgefordert, noch tiefer ins Schiff vorzudringen.«
»Es nannte sich Lago. Obwohl Oliveira…«
»Er sagte nicht ausdrücklich, dass Lago tot sei.« Sky kämpfte seine Angst nieder und sprach ganz ruhig weiter: »Er sagte nur, es sei ihm etwas zugestoßen. Ich persönlich möchte wissen, was das war. Ich möchte alles wissen, was uns dieses Schiff, oder was es sonst sein mag, verraten kann.«
»Schön. Dann geh allein weiter. Ich kehre um.«
»Nein. Du bleibst hier und kommst mit mir.« Norquinco zögerte. »Du kannst mich nicht zwingen.«
»Nein, aber ich kann dafür sorgen, dass es sich für dich lohnt.« Sky legte ihm die Hand auf den Arm. »Streng deine Phantasie an, Norquinco. Hier muss es Dinge geben, die unser bisheriges Weltbild einfach zerschlagen. Zumindest muss sich etwas finden lassen, das uns vor den anderen Schiffen nach Journey’s End bringen und uns vielleicht sogar einen taktischen Vorteil verschaffen kann, wenn sie nach uns eintreffen und das Gezänk um die Gebietsverteilung anfängt.«
»Du befindest dich auf einem Alien-Raumschiff und hast nichts anderes im Sinn als kleinliche Streitereien um Landrechte?«
»In ein paar Jahren wirst du sie nicht mehr kleinlich finden, glaube mir.« Sky packte Norquincos Arm so fest, dass er spürte, wie die Schichten des Raumanzugs dem Druck seiner Finger nachgaben. »Denk nach, Mann! Dieser Moment könnte die Weichen stellen. Was hier und jetzt geschieht, könnte unsere gesamte Geschichte prägen. Wir sind keine kleinen Rädchen, Norquinco; wir sind Kolosse. Mach dir das doch wenigstens für einen Moment klar. Und denk auch daran, wie Menschen belohnt werden, die Geschichte machen. Männer wie wir.« Er dachte an die Santiago; an den geheimen Raum, wo er den chimärischen Infiltrator versteckt hielt. »Ich habe meine Pläne für die Zukunft schon längst gemacht, Norquinco. Für meine Sicherheit auf Journey’s End ist gesorgt, auch wenn sich alles gegen uns verschwören sollte. In diesem Fall würde ich auch deinen Schutz, deine persönliche Sicherheit gewährleisten. Falls uns aber das Schicksal gewogen ist, könnte ich dich zu einem mächtigen Mann machen.«
»Und wenn ich jetzt umkehre und zum Shuttle zurückgehe?«
»Würde ich es dir nicht übel nehmen«, sagte Sky leise. »Dies ist tatsächlich ein Ort, der einen das Fürchten lehren kann. Aber du hättest in den Jahren, die vor uns liegen, von mir keine Hilfe zu erwarten.«
Norquinco löste Skys Hand von seinem Arm und schaute lange ins Leere. Endlich rang er sich zu einer Antwort durch. »Schön. Wir gehen weiter. Aber wir bleiben nicht länger als eine Stunde.«
Sky nickte, obwohl Norquinco es nicht sehen konnte. »Das freut mich, Norquinco. Ich wusste doch, du würdest Vernunft annehmen.«
Sie gingen weiter. Es war nicht mehr so anstrengend, der Schacht schien ständig nach unten zu führen — man konnte sich mit minimalem Kraftaufwand einfach hinabgleiten lassen. Sky dachte an die rote Flüssigkeit, die ihn umspült hatte. Die Schwerkraft war auf engem Raum so präzise gesteuert worden, dass die Flüssigkeit lebendig gewirkt hatte, wie ein stark beschleunigter Schleimklumpen. Die Wesen, die das Schiff gebaut hatten, konnten das Higgs-Feld nicht nur irgendwie verändern. Sie spielten darauf wie auf einem Klavier.
Was immer sie auch sein mögen, dachte er — auch wenn sie alle aussehen sollten wie diese Made —, sie mussten der Menschheit um Millionen Jahre voraus sein. Die Flottille musste ihnen unsäglich primitiv vorgekommen sein. Vielleicht waren sie nicht einmal sicher gewesen, ob sie das Produkt intelligenten Denkens war. Aber sie hatte ihr Interesse erregt.
Der Schacht mündete in eine riesige Höhle mit glatten Wänden. Sie waren an einer der gerippten Seiten knapp über dem Boden herausgekommen. Alles war so mit einem süßlich riechenden Dunst erfüllt, dass man kaum die gegenüberliegende Wand erkennen konnte. Fauliggelbes Licht erhellte den Raum, und auf dem Boden stand ein großer roter See, der viele Meter tief zu sein schien. Darin schwammen, die meisten fast völlig untergetaucht, Dutzende von Maden. Viele unterschieden sich in Größe und Form von der einen, die Sky und Norquinco bisher gesehen hatten. Einige waren größer als ein Mann, und ihre Endfühler hatten speziell geformte Anhängsel, vielleicht sogar Sinnesorgane. Besonders auffallend war eine Made, die an einem Stiel ein einziges, nahezu menschliches Auge hatte, mit dem sie zu den beiden aufschaute. Doch die bei weitem größte Made saß in der Mitte des Sees, ihr blassrosa Körper ragte meterhoch aus dem Wasser, sie war fast dreißig Meter lang. Jetzt wandte sie ihnen ein Körperende zu und ein Fühlerkrönchen wedelte durch die Luft wie ein Büschel Farne.
Unter den Farnen saß ein Mund; lächerlich klein für eine Made dieser Größe. Er war menschlich geformt und rot gesäumt, und als er nun — mit einer gewaltigen, dröhnenden Stimme — zu sprechen anfing, produzierte er menschliche Laute.
»Hallo«, sagte die Made. »Ich bin Lago.«
Ich hielt die Ampulle kurz ins Licht, dann schob ich sie in die Waffe. So wie die rote Flüssigkeit funkelte, wie sie sich zuerst zäh und träge und gleich darauf mit rasender Geschwindigkeit bewegte — erinnerte sie mich nur allzu sehr an den roten See im Herzen der Caleuche. Aber die Caleuche hatte es doch niemals gegeben? Nur ein viel unheimlicheres Gebilde, an dem sich der Mythos des Gespensterschiffes festgesaugt hatte wie ein Parasit. War diese Sky-Erinnerung nicht immer im Hintergrund meines Bewusstseins gewesen? War mir das Traumfeuer nicht vom ersten Moment an bekannt vorgekommen?
Der rote See enthielt genug von dem Stoff, um darin zu ertrinken.
Ich drückte mir die Hochzeitswaffe gegen den Hals und schoss mir das Feuer in die Schlagader. Es ließ mir weder das Blut zu Kopf steigen, noch rief es Halluzinationen hervor. Es war keine Droge im eigentlichen Sinn, denn es wirkte auf das ganze Gehirn, nicht nur auf einzelne Bereiche. Es versuchte nur, den Zellverfall aufzuhalten und neuere Schäden zu reparieren; Erinnerungen ins Bewusstsein zurückzuholen und Verbindungen zu flicken, die noch nicht allzu lange zerrissen waren. Dazu griff es, bildlich gesprochen, auf eine Karte der jüngsten Vergangenheit zurück, als bewahrte der Körper ein Feld, das sich langsamer veränderte als die Zellstrukturen selbst. Deshalb konnte das Feuer ebenso leicht Verletzungen heilen wie Erinnerungen wiederherstellen, ohne dass die Droge selbst etwas von Physiologie oder Neuro-Anatomie verstanden hätte.
»Erstklassiger Stoff«, sagte Ratko. »Für mich immer nur das Beste, Mann.«
»Soll das heißen, nicht alles, was hier rauskommt, ist so gut?«, fragte Zebra.
»He, wie gesagt. Das musst du Gideon fragen.«
Ratko führte uns durch eine Reihe von provisorischen Tunneln mit vielen Kurven. Sie waren beleuchtet und hatten einen rudimentären Fußboden, aber Wände und Decke bestanden aus gewachsenem Fels, als hätte man den ganzen Komplex seitlich in den Abgrund hinein gebohrt.
»Man hört immer wieder Gerüchte«, sagte ich. »Über Gideons Gesundheitszustand. Manche Leute glauben, er lässt nur deshalb zu, dass das billige Zeug unters Volk gebracht wird, weil er zu krank ist, um sich um seine Nachschublinien zu kümmern.«
Hoffentlich hatte ich damit nicht verraten, dass ich von den Verhältnissen nicht die leiseste Ahnung hatte. Aber Ratko bemerkte nur: »Gideon produziert weiter. Das ist im Moment alles, was zählt.«
»Aber wenn ich ihn sehe, weiß ich Bescheid?«
»Ein schöner Anblick ist er nicht. Das ist dir hoffentlich klar.«
Ich lächelte. »Man hört so Verschiedenes.«