Neununddreißig

Wir gingen zu drei Schlangenhändlern, bevor wir einen fanden, der wusste, von wem wir sprachen: von einem Fremden nämlich — offensichtlich nicht von Yellowstone —, der so viele Schlangen gekauft hatte, dass der Verkäufer seinen Laden für den Rest des Tages schließen konnte. Das war gestern gewesen: der Mann hatte Dominikas Ermordung offenbar lange im Voraus geplant.

Der Mann, sagte der Schlangenhändler, habe mir sehr ähnlich gesehen. Nicht direkt wie ein Doppelgänger, aber wenn man die Augen zusammenkniff, sei die Ähnlichkeit sehr groß gewesen. Auch hätten wir beide den gleichen Akzent gehabt, nur sei der andere viel weniger gesprächig gewesen.

Natürlich hatten wir den gleichen Akzent. Schließlich stammten wir nicht nur von ein und demselben Planeten, sondern sogar von derselben Halbinsel.

»Und was ist mit der Frau, die bei ihm war?«, fragte ich.

Der Händler hatte keine Frau erwähnt, aber die Art, wie er die Spitzen seines gewichsten Schnurrbarts befingerte, verriet mir, dass die Frage berechtigt war.

»Sie fangen an, mir die Zeit zu stehlen«, sagte er.

»Gibt es in dieser Stadt irgendetwas oder irgendjemanden, den man nicht kaufen kann?«, fragte ich und steckte ihm einen Schein zu.

»Ja«, lachte er leise. »Aber ich gehöre nicht dazu.«

»Was ist nun mit der Frau?«, fragte ich und betrachtete eine pfefferminzgrüne Schlange in einem Käfig. »Wie sah sie aus?«

»Wozu soll ich sie beschreiben? Sehen sie nicht alle gleich aus?«

»Wer sieht gleich aus?«

Diesmal lachte er lauter, als fände er meine Ahnungslosigkeit zum Schreien komisch. »Die Eisbettler natürlich. Einen gesehen, alle gesehen.«

Ich starrte ihn entsetzt an.


Ich hatte einen Tag nach meiner Ankunft in Chasm City bei den Eisbettlern angerufen, um mit Schwester Amelia zu sprechen. Ich wollte sie fragen, was sie — gegebenenfalls — über Quirrenbach wusste. Ich war nicht zu ihr durchgekommen, sondern bei Bruder Alexei und seinem blauen Auge hängen geblieben. Aber ich hatte erfahren, dass auch sie mich dringend zu erreichen suchte. Damals hatte ich mit der Bemerkung nicht viel anfangen können. Doch jetzt explodierte sie in meinem Kopf wie eine Leuchtkugel.

Die Frau in Tanners Begleitung war Schwester Amelia.

Zebras Kontaktleute hatten mit keinem Wort erwähnt, dass die Frau dem Eisbettelorden angehörte. Der Schlangenhändler war dagegen ganz sicher. Vielleicht durfte ich nicht davon ausgehen, dass diese Frau immer Amelia gewesen war. Aber ich war anderer Meinung. Vermutlich musste sie sich nur immer wieder verkleiden; entweder absichtlich, oder weil sie die neue Identität, die sie sich ausgedacht hatte, nicht konsequent genug durchhielt.

Was spielte sie für eine Rolle in diesem Stück?

Ich hatte ihr nach meiner Reanimation blind vertraut, hatte mir von ihr helfen lassen, die identitätszerstörenden Auswirkungen des Kälteschlafs zu überwinden. Und während meines Aufenthalts im Habitat der Eisbettler hatte ich kein einziges Mal die Befürchtung gehabt, mein Vertrauen könnte missbraucht werden.

Aber wie sehr vertraute sie mir?

Tanner — der echte Tanner — war vielleicht nach mir ins Hospiz Idlewild gekommen. Er musste auf demselben Schiff von Sky’s Edge gewesen sein, nur hatte die Reanimation bei ihm etwas länger gedauert als bei mir, so wie sie bei mir länger gedauert hatte als bei Reivich. Aber den Namen Tanner Mirabel hatte bereits ich mit Beschlag belegt, das hieß, dass Tanner sich eine andere Identität suchen musste. Um nicht für einen tobenden Irren gehalten zu werden, dem ein besonders schweres Kälteschlaftrauma das Bewusstsein pulverisiert hatte, konnte er seinen wirklichen Namen wohl nicht zu schnell preisgeben. Da blieb man besser bei der Lüge und ließ die Bettler in dem Glauben, man sei ein anderer.

Allmählich verwirrten sich die Fäden so sehr, dass ich mich selbst nicht mehr zurechtfand. Wie das alles auf Zebra, Chanterelle und die anderen wirken mochte, wollte ich mir lieber gar nicht ausmalen.

Ich war nicht Tanner Mirabel.

Ich war… etwas anderes. Ich war ein grässliches, uraltes Reptil, eine Erkenntnis, vor der ich zurückschreckte, die ich aber nicht weiter ignorieren konnte. Als ich von Amelia und den anderen Eisbettlern reanimiert wurde, war ich unter Tanners Namen gereist, ich hatte auch seine Erinnerungen und seine Fähigkeiten besessen und — was noch wichtiger war — ich hatte gewusst, dass er einen Auftrag auszuführen hatte. Das alles hatte ich nie infrage gestellt; es war mir ganz richtig vorgekommen. Die Teile hatten ein Bild ergeben.

Doch dieses Bild war falsch.


Wir waren noch im Gespräch mit dem Schlangenhändler, als Zebras Telefon abermals anschlug. Das Klingeln ging fast unter im unaufhörlichen Rauschen des Regens und im Zischen der eingesperrten Reptilien. Sie holte das Telefon aus der Jacke und starrte misstrauisch auf das Display, nahm aber nicht ab.

»Der Anruf läuft auf Ihren Namen, Pransky«, sagte sie. »Aber Sie sind der Einzige, der diese Nummer kennt, und Sie stehen neben mir.«

»Überleg dir gut, ob du dich melden willst«, sagte ich. »Ich glaube nämlich zu wissen, wer der Anrufer ist.«

Zebra klappte das Telefon so vorsichtig auf, als wäre es die legendäre Büchse der Pandora. Regentröpfchen zierten den Bildschirm wie eine Prozession winziger Glaskäfer. Zebra hielt sich das Telefon vor das Gesicht und sprach leise hinein.

Jemand antwortete ihr. Wieder sprach sie — es klang unsicher —, dann wandte sie sich mir zu.

»Du hattest Recht, Tanner. Es ist für dich.«

Sie reichte mir das Telefon. Ich fragte mich, wie ein so unschuldiger Gegenstand so viel Böses enthalten konnte. Dann schaute ich in ein Gesicht, das dem meinen sehr ähnlich sah.

»Tanner«, sagte ich leise.

Der Mann ließ sich viel Zeit mit seiner Antwort. Seine Stimme klang belustigt. »Frage oder Feststellung?«

»Sehr komisch.«

»Ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Ich hörte ihn nur schwach, und im Hintergrund ratterten Maschinen. »Ich weiß nicht, ob Sie schon alle Teile des Bildes zusammengesetzt haben?«

»Ich bin gerade dabei.«

Wieder eine Pause. Ich begriff, dass Tanner sich im Weltraum befand — irgendwo in der Nähe von Yellowstone, aber doch etliche Bruchteile einer Lichtsekunde außerhalb des planetennahen Orbits; wahrscheinlich in der Nähe des Habitat-Gürtels, wo auch die Eisbettler angesiedelt waren. »Gut. Ich werde Sie nicht beleidigen, indem ich Sie mit Ihrem wirklichen Namen anspreche; noch nicht. Aber eines will ich Ihnen sagen.«

Ich erstarrte.

»Ich bin gekommen, um das zu tun, was Tanner Mirabel immer tut, nämlich zu Ende zu bringen, was er begonnen hat. Ich bin gekommen, um Sie zu töten — so wie Sie gekommen sind, um Reivich zu töten. Schön symmetrisch, nicht wahr?«

»Wenn Sie im All sind, gehen Sie in die falsche Richtung. Ich weiß, dass Sie schon einmal hier waren. Ich habe Ihre Visitenkarte bei Dominika gefunden.«

»Die Schlangen waren eine hübsche Idee, nicht wahr?

Oder haben Sie den Hinweis noch gar nicht verstanden?«

»Ich gebe mir alle Mühe.«

»Ich würde mich wirklich gern mit Ihnen unterhalten.« Das Gesicht lächelte. »Vielleicht findet sich ja noch eine Gelegenheit.«

Ich wusste, dass das ein Köder war, aber ich schnappte trotzdem danach. »Wo sind Sie?«

»Auf dem Weg zu einem Treffen mit jemandem, der Ihrem Herzen nahe steht.«

»Reivich«, sagte Quirrenbach leise, und ich nickte. Quirrenbach hatte uns angeblich ins All bringen wollen — zu einem Treffen mit Reivich —, bevor Chanterelle uns gerettet hatte.

Zu einem der hohen Karussells, hatte er gesagt. Mit Namen Refugium.

»Reivich hat nichts damit zu tun«, sagte ich. »Er ist nur eine Nebenfigur. Hier geht es um Sie und mich. Wir brauchen den Kreis nicht zu erweitern.«

»Das heißt, der Mann, der noch vor wenigen Stunden wild entschlossen war, Reivich zu töten, hat eine gewaltige Kehrtwendung gemacht«, sagte Tanner.

»Vielleicht bin ich nicht mehr der Mann, für den ich mich hielt. Aber warum können Sie Reivich nicht in Ruhe lassen?«

»Weil er so unschuldig ist.«

»Was heißt das?«

»Es heißt, er wird Sie zu mir führen.« Tanner lächelte mich strahlend an, um mich zum Widerspruch zu reizen. »Das ist doch richtig, nicht wahr? Sie sind gekommen, um ihn zu töten, aber Sie würden ihn lieber retten, als zuzulassen, dass ich den Job für Sie erledige.«

Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich denken sollte. Tanner zwang mich zur Auseinandersetzung mit Fragen, um die ich mich bis jetzt herumgedrückt hatte, weil mich die Zweiteilung meiner Erinnerungen vollauf beschäftigte. Doch nun hatte sich der Spalt vergrößert, er hatte mir meine Vergangenheit geraubt und mir nur etwas zurückgelassen, was vergiftet war. Wenn ich Cahuella war — und alles deutete darauf hin —, dann hasste ich mich bis ins Mark.

Aber Tanner konnte ich nicht weniger hassen. Denn er hatte Gitta getötet.

Nein: wir hatten sie getötet.

Der Gedanke — seine vernichtende Logik — traf mich mit voller Wucht. Wir hatten die gleichen Erinnerungen, ganze Stränge unserer Vergangenheit waren miteinander verflochten. Tanners Erinnerungen waren nicht wirklich die meinen, aber seit ich sie in meinem Kopf hatte, konnte ich mich von ihrem Einfluss nie wieder ganz befreien. Er hatte Gitta getötet; doch in meiner Erinnerung hatte ich selbst es getan, ich selbst hatte den Menschen getötet, der mir im ganzen Universum am meisten bedeutete. Aber das war bei weitem noch nicht alles. Tanners Verbrechen waren nichts im Vergleich zu denen, die ich verdrängt hatte; vergraben in den Erinnerungen, die ich unter Tanners Erinnerungen versteckt hatte. Sie waren jetzt im Begriff, an die Oberfläche zu steigen. Ich fühlte mich immer noch wie Tanner; seine Vergangenheit schien mir noch immer die meine zu sein; aber ich hatte genug von der Wahrheit erkannt, um zu wissen, dass diese Illusion im Laufe der Zeit zunehmend an Überzeugungskraft einbüßen würde. In Wirklichkeit gehörten Cahuellas Vergangenheit und seine Erinnerungen in meinen Körper. Und auch damit war die Talsohle noch nicht erreicht, denn auch Cahuella war nur eine Schale, die noch andere, noch tiefere Erinnerungen verbarg.

Ich wollte nicht darüber nachdenken, dennoch sah ich, wohin die Entwicklung zielte.

Ich hatte Tanners Erinnerungen gestohlen; hatte mir — vorübergehend — vorgemacht, ich wäre tatsächlich er. Doch dann — ich fing gerade an, die Tarnung abzuwerfen — schlug das Indoktrinationsvirus zu, katalysierte die Freilegung noch tieferer Erinnerungsschichten und gab den Blick frei auf meine geheime Vergangenheit, die Jahrhunderte zurückreichte.

Zurück zu Sky Haussmann.

Als die volle Erkenntnis über mich hereinbrach und ich begriff, was ich war, zersprang etwas in mir. Meine Knie gaben nach, ich sank, von Brechreiz geschüttelt, auf den regennassen Boden. Das Telefon war mir aus der Hand gefallen; jetzt lag es neben mir, mit dem Bildschirm nach oben, sodass ich Tanners Gesicht, sein spöttisches Lächeln immer noch sehen konnte.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte er.

Ich sprach in das Telefon.

»Amelia«, flüsterte ich kaum hörbar, dann wiederholte ich den Namen etwas lauter. »Sie ist bei Ihnen, nicht wahr? Sie haben sie getäuscht.«

»Sagen wir, sie hat sich als sehr nützlich erwiesen.«

»Sie weiß vermutlich nicht, was Sie vorhaben?«

Tanner fand die Frage sichtlich komisch. »Sie ist eine sehr gutgläubige Seele. Aber was Sie anging, hatte sie ihre Zweifel. Nachdem Sie die Bettler auf eigene Verantwortung verlassen hatten, fielen ihr offenbar gewisse Unregelmäßigkeiten in Ihrem Gencode auf — die sie natürlich für Spuren verschiedener Erbkrankheiten hielt. Sie versuchte, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, aber Sie waren inzwischen nur noch schwer zu erreichen.« Tanner lächelte wieder. »Inzwischen war ich reanimiert worden und wieder im Vollbesitz meiner Fähigkeiten. Ich erinnerte mich, wer ich war, und warum ich überhaupt von Sky’s Edge geflohen war. Dass ich hinter Ihnen her war, weil Sie mir meine Identität und meine Erinnerungen gestohlen hatten. Amelia erzählte ich von alledem natürlich nichts. Ihr sagte ich, wir wären Brüder, und Sie wären ein klein wenig durcheinander. Eine kleine, harmlose Täuschung, die Sie doch sicher verstehen werden.«

Er hatte Recht. Schließlich hatte auch ich Amelia belogen, weil ich hoffte, sie könnte mich auf Reivichs Spur führen.

»Lassen Sie sie gehen«, sagte ich. »Sie bedeutet Ihnen doch nichts.«

»O nein, ganz im Gegenteil. Sie ist ein weiterer Grund für Sie, zu mir zu kommen. Ein weiterer Grund für ein Treffen, Cahuella.«

Sein Gesicht erstarrte, dann riss die Verbindung ab. Wir standen allein im Regen. Ich gab Zebra das Telefon zurück.

»Was ist mit der zweiten Verletzung?«, fragte sie, während wir mit der Gondel quer über die Stadt rasten. »Du sagtest, Tanner hätte einen Fuß verloren, und jetzt wäre davon nichts mehr zu sehen. Aber das war nicht das Einzige, wonach der Meistermischer suchen sollte.« Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich möchte dich gern weiterhin Tanner nennen. Es ist nicht so einfach — mit jemandem zu reden, der seinen eigenen Namen verleugnet.«

»Mir macht es die Unterhaltung auch nicht gerade leichter«, sagte ich.

»Also, dann erzähle uns von der zweiten Verletzung.«

Ich holte tief Luft. Das war der Teil, der mir am schwersten fiel. »Tanner hat einmal jemanden erschossen. Seinen Arbeitgeber. Einen Mann namens Cahuella.«

»Wie reizend von ihm«, sagte Chanterelle.

»Nein; es war nicht so. Tanner wollte ihm eigentlich einen Gefallen tun, als er ihn erschoss. Es war eine Geiselnahme. Tanner musste durch den Mann hindurch schießen, um…« — meine Stimme klang heiser — »einen Killer zu töten, der Cahuellas Frau sein Messer an die Kehle hielt. Der Schuss sollte Cahuella nicht töten: Tanner wusste, dass er ihn nicht ernsthaft verletzen würde, wenn er den richtigen Winkel wählte.«

»Und?«

»Tanner hat geschossen.«

»Und es hat geklappt?«, fragte Zebra.

Im Geiste sah ich Gitta zu Boden sinken, nicht durch das Messer, sondern durch Tanners Fehlschuss getötet. »Der Mann überlebte«, sagte ich Sekunden später. »Tanner kannte sich aus mit der menschlichen Anatomie. Er war schließlich Berufskiller gewesen. Dabei lernt man, welche Organe man treffen muss, um ein Opfer zu töten. Aber man kann dieses Wissen auch einsetzen, um einen Strahlenschuss auf möglichst ungefährliche Weise durch den Körper zu lenken.«

»Das klingt wie eine Operation«, sagte Chanterelle.

»Genau das war es auch.«

Beim Scan des Meistermischers, so berichtete ich, war eine lange, gut verheilte Wunde durch meinen ganzen Körper entdeckt worden, die sich mit einem Strahlenschuss erklären ließ, der in spitzem Winkel in meinen Rücken eingedrungen und durch den Unterleib wieder ausgetreten war. Auf dem Scan hatte die Wunde — abgesehen wie der sich auflösende Kondensstreifen eines Flugzeugs.

»Aber das heißt…«, begann Zebra.

»Muss ich es noch deutlicher sagen? Es heißt, ich bin der Mann, für den Tanner Mirabel gearbeitet hat. Ich bin Cahuella.«

»Das wird ja immer wilder«, bemerkte Quirrenbach.

»Lass ihn ausreden«, sagte Zebra. »Vergiss nicht, ich war dabei, als er den Meistermischer aufsuchte. Er denkt sich das nicht alles aus.«

Ich wandte mich an Chanterelle. »Sie haben die genetischen Veränderungen an meinen Augen gesehen. Die hatte Cahuella bewusst an sich vornehmen lassen; er hatte die Ultras dafür bezahlt. Die Jagd war seine große Leidenschaft.«

Aber das war sicher nicht der einzige Grund gewesen. Cahuella wollte bei Nacht sehen können, weil er die Dunkelheit hasste, weil er sich nicht gern daran erinnerte, wie es gewesen war, als kleiner Junge allein und vergessen in seinem Kinderzimmer zu sitzen.

»Du redest von Cahuella noch immer in der dritten Person«, sagte Zebra. »Warum? Ich denke, du bist überzeugt davon, dass du er bist?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich sah mich wieder im Regen auf den Knien liegen, ein Mensch, dem alles genommen worden war. Das Gefühl völliger Zerrissenheit war immer noch vorhanden, aber inzwischen hatte ich es eingegrenzt, hatte es mit einem Gitter, einer — wenn auch noch so wackeligen — Mauer umgeben, die es mir zumindest erlaubte, in der Gegenwart zu funktionieren.

»Im Grunde schon. Aber seine Erinnerungen, falls ich sie tatsächlich habe, sind Stückwerk — nicht deutlicher als die von Tanner.«

»Nur um alle Missverständnisse auszuschließen«, sagte Quirrenbach. »Sie haben keine Ahnung, wer Sie sind, ist das richtig?«

»Nein«, sagte ich und bewunderte meine eigene Gelassenheit. »Ich bin Cahuella. Davon bin ich jetzt völlig überzeugt.«

»Tanner möchte dich töten?«, fragte Zebra, als wir außerhalb der Bahnhofshalle aus Chanterelles Gondel stiegen. »Obwohl ihr einmal so dicke Freunde wart?«

Bilder — ein weißer Raum, ein nackter Mann, der auf dem Boden kauerte — blitzten vor meinem inneren Auge auf wie stroboskopisch beleuchtet und wurden mit jeder Wiederholung ein wenig schärfer.

»Es ist etwas sehr Schlimmes passiert«, sagte ich. »Cahuella — der Mann, der ich bin — hat Tanner etwas Schreckliches angetan. Ich kann es Tanner nicht einmal verdenken, wenn er sich rächen will.«

»Ich kann es auch Cahuella oder Ihnen oder wem auch immer nicht verdenken«, sagte Chanterelle. »Nicht, wenn Sie — Tanner — ihn erschossen haben.«

Ihr verwirrtes Stirnrunzeln verstand ich nur zu gut. Bei diesem ständigen Wechsel von Identitäten und Erinnerungen nicht den Überblick zu verlieren, war ebenso schwierig, als wollte man nach einer komplizierten Vorlage einen Wandteppich sticken.

»Tanner hatte versagt«, erklärte ich. »Sein Schuss sollte Cahuellas Frau retten, aber stattdessen hat er sie getötet. Es könnte der erste und zugleich der letzte Fehler seiner Karriere gewesen sein. Eigentlich gar nicht so schlecht. Schließlich musste er unter ungeheurem Druck handeln,«

»Das klingt ja, als wärst du ihm gar nicht wirklich böse, weil er dich verfolgt«, sagte Zebra.

Wir marschierten in die Halle. Jetzt herrschte deutlich mehr Betrieb als vor ein paar Stunden, als wir zum letzten Mal hier gewesen waren. Noch hatten sich keine Vertreter der Obrigkeit um Dominikas Zelt gekümmert, allerdings waren auch keine Kunden zu sehen. Vermutlich schwebte ihr Körper nach wie vor mit Schlangen geschmückt und künstlich am Leben erhalten über der Liege, auf der sie ihre neuralen Exorzismen durchgeführt hatte. Gewiss hatte sich die Nachricht von ihrer Ermordung inzwischen bis weit in den Mulch hinein verbreitet, aber die Tat war so ruchlos — sie verstieß so eklatant gegen die ungeschriebenen Gesetze, die bestimmten, wer sakrosankt war und wer nicht —, dass sie förmlich einen Bannkreis um das Zelt gezogen hatte.

»Das könnte ihm wohl niemand verdenken«, sagte ich. »Denn was ich ihm angetan habe…«

Das weiße Zimmer kehrte zurück — nur sah ich es diesmal aus der Perspektive des kauernden Mannes; ich spürte seine Nacktheit, seine entsetzliche Angst; eine Angst, die emotionale Abgründe aufriss, an die er — wie ein Mensch, der im Drogenrausch ganz neue, unbekannte Farben sah — im Traum nicht gedacht hätte.

Tanners Perspektive.

Das Wesen in der Nische regte sich, entrollte sich lässig, mit unendlicher Ruhe, als verstünde es — in irgendeiner einfachen Windung seines winzigen Gehirns, dass ihm die Beute nicht entkommen konnte.

Die Jung-Hamadryade war nicht groß; nach der rosigen Farbe der photosynthetischen Haube zu schließen, die sie um den Kopf gefaltet hatte wie eine schlafende Fledermaus ihre Flügel, musste sie innerhalb der letzten fünf Jahre aus ihrem Mutterbaum geschlüpft sein. Die Farbe verlor sich mit zunehmender Reife, denn nur voll ausgewachsene Hamadryaden, die auch lang genug waren, um die Baumwipfel zu erreichen, entfalteten ihre Haube. Wenn das Wesen weiterwachsen durfte, würde sich der rosa Ton in ein bis zwei Jahren in ein fleckiges Schwarz verwandeln: eine dunkle Decke, besetzt mit den iridophor-ähnlichen photosynthetischen Zellen.

Das zusammengerollte Ding ließ sich zu Boden fallen wie eine steife Taurolle, die von einem Schiff auf den Kai geworfen wird. Einen Augenblick lang blieb es liegen, die photo-synthetische Haube öffnete und schloss sich so langsam und lautlos wie die Kiemen eines Fisches. Aus dieser Entfernung betrachtet, war es wahrhaft riesig.

Er hatte Dutzende von Hamadryaden in freier Wildbahn gesehen, aber nie aus der Nähe und nie zur Gänze; nur immer ganz flüchtig zwischen den Bäumen hindurch und aus sicherer Entfernung. Obwohl er einem solchen Tier nie ohne eine Waffe gegenübergestanden hatte, mit der er es mühelos töten konnte, war jede Begegnung mit einer gewissen Angst verbunden gewesen. Er verstand. Eigentlich war das ganz natürlich: die menschliche Angst vor Schlangen war eine Phobie, die von der Evolution über Millionen von Jahren zur Vorsicht in die Gene eingebrannt worden war. Die Hamadryade war keine Schlange, und ihre Vorfahren hatten keinerlei Ähnlichkeit mit irgendwelchen Geschöpfen, die jemals auf der Erde gelebt hatten. Aber sie sah aus wie eine Schlange und sie bewegte sich wie eine Schlange. Das war alles, worauf es ankam. Und dann schrie er.

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