Ich wurde angegriffen.
Ich überließ es der Gondel, uns möglichst schnell und sicher nach unten zu bringen, griff nach Zebras Plasmagewehr und stemmte mich mit beiden Beinen fest gegen den schwankenden Boden. Das hartnäckige Schrillen der Sirene war meiner Konzentration nicht unbedingt förderlich. Ich ging in das rückwärtige Abteil, hielt mich an dem Fahrgastsitz fest, auf dem ich am vergangenen Abend gelegen hatte, kniete nieder und öffnete die Seitentür. Ich wartete, bis sich der Knickflügel nach oben geschoben hatte. Dann beugte ich mich auf die andere Seite, öffnete auch die zweite Tür und schob mich so weit hinaus, wie ich konnte. Der Wind pfiff mir um die Ohren, und bis zum Boden waren es noch mehrere hundert Meter. Ich riskierte einen schnellen Blick nach oben. Einer der Gondelarme war mit einer Strahlenwaffe abgeschossen worden, die nur einen kauterisierten Stumpf zurückgelassen hatte.
Dann schaute ich dahin zurück, woher ich gekommen war. Etwa zweihundert Meter über und ebenso weit hinter mir verfolgten mich zwei Gondeln. Aus der ersten beugte sich eine schwarze Gestalt, die sich etwas an die Schulter hielt. Gerade als ich hinsah, gab es einen unbeschreiblich grellen Lichtblitz. Ein rosaroter Streifen ionisierter Luft raste an mir vorbei. Stechender Ozongeruch stieg mir in die Nase, bevor der Vakuumtunnel, den die Strahlenwaffe eröffnet hatte, mit einem Donnerschlag zusammenbrach.
Ich schaute nach unten. Ich hatte weitere hundert Meter an Höhe verloren, war aber für meinen Geschmack immer noch zu hoch. Wie würde das Gefährt wohl mit nur einem Arm zurecht kommen?
Ich schaltete Zebras Gewehr ein und hoffte, dass die Waffe nicht mit einer Benutzerkennung versehen war. Wenn doch, dann hatte Zebra sie ausgeschaltet. Das Visier spürte, dass ich die Waffe auf Schulterhöhe hob, und brachte seine Retinaprojektoren vor meinen Augen in Position. Gyroskope und Akkumulatoren schalteten sich zu, das Gewehr erzitterte, als würde es von magischer Energie durchströmt. Die Reservezellen lagen wie Blei in meiner Tasche. Um einen Schuss abgeben zu können, musste ich warten, bis sich der Retinasucher auf meine Augen eingestellt hatte. Das System war zunächst verwirrt, vielleicht war es auf Zebras ungewöhnlich dunkle Pferdeaugen konfiguriert und hatte Mühe, sich an die meinen zu gewöhnen. Immer wieder leuchtete die Retinagraphik auf, wurde fast scharf — und zerfiel zu einem Sumpf von unlesbaren Fehlersymbolen.
Wieder schoss ein rosaroter Luftstreifen an mir vorbei. Der nächste riss eine silberne Schramme in die Seitenwand der Gondel. In der Kabine begann es nach heißem Metall und verbranntem Plastik zu stinken.
»Verdammt«, sagte ich. Das Retinasystem war ausgefallen, aber mein Ziel war schließlich nicht irgendwo am Horizont, und ich wollte auch keinen Präzisionsschuss abgeben. Ich wollte die Bastarde nur vom Himmel holen, und wenn das in einem unappetitlichen Gemetzel mit mehr als den üblichen Kollateralschäden endete, dann war mir das auch egal.
Ich gab einen Schuss ab und spürte, wie mir der Rückstoß den Kolben in die Schulter rammte.
Die Strahlenspur verfehlte die nächste Gondel um Haaresbreite. Das war gut so. Der erste Schuss sollte knapp am Ziel vorbeigehen. Als das Gegenfeuer einsetzte, warf ich mich in die Kabine zurück. Die Schüsse rasten vorüber. Mein Gegner war jetzt gezwungen, sein Feuer zu streuen, er musste sich entscheiden, ob er die Gondel fahruntüchtig machen oder mich erledigen wollte. Ich beugte wieder mich hinaus und schulterte fast unbewusst mit einer raschen, fließenden Bewegung meine Waffe. Diesmal sollte der Schuss ins Ziel gehen.
Ich feuerte.
Ich konnte die Vorderseite der nächsten Gondel ins Visier nehmen und hatte damit ein leichteres und empfindlicheres Ziel als mein Gegner. Die erste Gondel zerplatzte zu einer grauen Wolke aus verschmolzenen Bauteilen. Der Fahrer war vermutlich sofort tot gewesen, aber der Schütze war durch die Explosion hinaus geschleudert worden. Die schwarz gekleidete Gestalt stürzte, begleitet von ihrer Waffe, auf den Mulch zu und schlug in einem Gewirr aus Verkaufsständen und notdürftig zusammengenagelten Baracken auf.
Irgendetwas stimmte nicht. Ich spürte es kommen; es entfaltete sich in meinem Geist. Eine neue Haussmann-Episode. Ich kämpfte dagegen an, krallte mich verzweifelt an die Gegenwart, aber schon senkte sich eine zweite schwache Realitätsschicht auf mich herab.
»Geh zum Teufel!«, sagte ich.
Der andere Wagen zögerte und setzte die Sinkfahrt noch einen Moment fort, dann machte er mit einem raschen, eleganten Umgreifen der Gondelarme kehrt und fuhr zum Baldachin zurück. Ich sah ihm nach. Erst jetzt bemerkte ich — zum ersten Mal, seit ich den Angriff registriert hatte —, dass in meiner Gondel noch immer die Sirene schrillte. Nur klang sie jetzt noch durchdringender als zuvor.
Ich legte die Waffe ab und stolperte durch die wild schleudernde Kabine zum Fahrersitz. Die Haussmann-Episode machte sich in meinem Kopf breit wie ein epileptischer Anfall kurz vor dem Ausbruch.
Der Boden kam viel zu schnell näher. Ich begriff, dass ich fast im freien Fall war — wahrscheinlich rutschte die Gondel nur noch an einem einzigen Kabelstrang entlang. Unten rannten Menschen, Rikschas und Tiere in wilder Flucht auseinander, schienen sich aber nicht ganz einig zu sein, wo ich aufschlagen würde. Ich zwängte mich in den Fahrersitz und bearbeitete ziemlich planlos die Schalter, in der Hoffnung, irgendetwas tun zu können, um die Fallgeschwindigkeit zu verringern. Bald war der Boden so nahe, dass ich die Gesichter der Mulch-Bewohner unter mir sehen konnte. Ihr Entzücken über meinen Besuch hielt sich offenbar in Grenzen. Und dann schlug ich im Mulch auf.
Der Sitzungssaal befand sich tief im Innern der Palästina und war vom Rest des Schiffes durch massive Schottentore getrennt, die man an Stelle von Weinreben mit verschnörkelten Metallgirlanden bekränzt hatte. In der Mitte des Saales stand ein schwerer rechteckiger Tisch mit zwanzig hochlehnigen Stühlen, von denen weniger als ein Dutzend besetzt war. Die Botschaften aus der Heimat waren streng geheim, und so hielt man es für normal, dass die anderen drei Schiffe nur jeweils zwei bis drei Vertreter geschickt hatten. Die saßen jetzt um den Tisch herum und spiegelten sich mit ihren steifen Raumanzügen in der polierten Mahagoniplatte, die so schwarz glänzte wie ein unbewegter Teich im Mondlicht. Im Zentrum war ein Projektionsapparat aufgebaut, der Graphikskelette von verwirrender Komplexität aufblitzen ließ — die technischen Schemazeichnungen der ersten Botschaft.
Sky saß neben Balcazar und lauschte auf das leise Seufzen seines medizinischen Aggregats.
»… mit diesem Umbau könnten wir die Topologie der Einschlussflasche vermutlich gezielter kontrollieren als bisher«, sagte der oberste Antriebstheoretiker der Palästina und hielt eine der Schemazeichnungen an. »In Kombination mit den anderen Vorschlägen, die wir gesehen haben, müssten wir dadurch ein steileres Dezelerationsprofil erhalten… ganz zu schweigen von der Möglichkeit, den Fluss zu drosseln, ohne einen magnetischen Rückstoß befürchten zu müssen. Das heißt, wir könnten ein Antimaterie-Triebwerk abschalten — und später wieder starten — auch wenn sich noch Treibstoff im Reservoir befände, und dazu sind wir bei der derzeitigen Konfiguration nicht in der Lage.«
»Angenommen, wir würden der Nachricht vertrauen, könnten wir die Umbauten denn überhaupt durchführen?«, fragte Omdurman, der Kommandant der Bagdad. Er trug eine glänzend schwarze Uniformjacke mit grauen und weißen Rangabzeichen. Da er obendrein eine sehr helle Haut und tiefschwarzes Haupt- und Barthaar hatte, wirkte er wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie.
»Im Grunde genommen schon.« Ein leichter Schweißfilm glänzte auf dem Gesicht des Antriebstechnikers, doch seine Züge waren ausdruckslos. »Aber ich will ganz ehrlich sein. Wir müssten im Abstand von wenigen Zentimetern von der Einschlussflasche umfassende Veränderungen vornehmen, und die Flasche müsste während der gesamten Arbeiten reibungslos weiter funktionieren. Wir können die Antimaterie nicht umlagern, bevor wir fertig sind. Eine falsche Bewegung, und Sie brauchen beim nächsten Spitzengespräch einige Stühle weniger.«
»Zur Hölle mit dem nächsten Spitzengespräch«, murmelte Balcazar.
Sky seufzte und versuchte mit einem Finger den schweißfeuchten Kragen zu lockern. Im Sitzungssaal war es so unerträglich warm, dass man kaum die Augen offen halten konnte. Die Atmosphäre auf der Palästina war sonderbar, von einer Fremdartigkeit, mit der er nicht gerechnet hatte. Die vielen Dinge, die ganz normal waren, verstärkten diesen Eindruck noch. Der Grundriss und die Ausstattung des Schiffes waren ihm auf Anhieb so vertraut gewesen, dass er sofort genau wusste, wo er sich befand, als er mit dem Captain das Shuttle verließ. Sie waren von einer bewaffneten Eskorte in Empfang genommen worden, obwohl sie eher Staatsgäste als Gefangene waren, aber bei weniger strenger Überwachung hätte er sich ohne Hilfe und vielleicht sogar, ohne gesehen zu werden, überall auf dem Schiff zurechtfinden können. Er kannte sämtliche Sackgassen und Abkürzungen auf der Santiago wie seine Hosentasche, und vermutlich war die Palästina in dieser Hinsicht eine genaue Kopie seines Heimatschiffes. Doch von der elementaren Topologie einmal abgesehen, war dieses Schiff in jeder Hinsicht ein klein wenig anders. Es war, als befände man sich in einer Welt, die in den profansten Einzelheiten ganz minimal von der gewohnten Umgebung abwich. Der Einrichtungsstil war ein anderer, Schilder und Markierungen waren in unbekannter Schrift und Sprache gehalten, wo die Santiago leere Wände hatte, waren sie hier mit Schlagworten und Bildern bemalt. Die Besatzung trug andere Uniformen, die Rangabzeichen waren Sky nicht geläufig, und wenn die Leute miteinander sprachen, verstand er fast gar nichts. Sie hatten andere Instrumente und salutierten bei jeder sich bietenden Gelegenheit geradezu aggressiv schneidig. Ihre Körpersprache war wie eine etwas falsch gespielte Melodie. Die Innentemperatur war höher als auf der Santiago, die Luftfeuchtigkeit ebenfalls — und es roch nach Küchendünsten. Das war nicht direkt unangenehm, aber es verstärkte das Gefühl von Fremdheit. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber selbst die Schwerkraft kam ihm höher vor, jeder Schritt polterte auf den Fußboden wie ein Hammerschlag. Vielleicht hatte die Palästina ihre Rotationsgeschwindigkeit ein klein wenig erhöht, um bei der Ankunft auf Journey’s End einen Vorteil vor den anderen Kolonisten zu haben. Vielleicht wollte man auch nur, dass niemand sich beim Spitzengespräch allzu wohl fühlte, und hatte deshalb auch gleich die Heizung hoch gedreht. Aber vielleicht bildete er sich das auch wirklich nur ein.
Beim eigentlichen Spitzengespräch waren deutliche Spannungen zu spüren, aber sie waren nicht so stark, dass Sky um die Gesundheit seines Captains hätte fürchten müssen — falls von Furcht die Rede sein konnte. Balcazar war inzwischen wach geworden, sein Geist war fast völlig klar. Das Beruhigungsmittel, das Rengo ihm verabreicht hatte, war so bemessen, dass es zum Zeitpunkt der Ankunft in der Wirkung nachließ. Sky stellte fest, dass einige der anderen hochrangigen Besatzungsmitglieder kaum weniger gebrechlich waren als sein eigener Captain; auch sie wurden von biomedizinischen Apparaturen versorgt und von ihren Assistenten bemuttert. Eine ganze Kollektion von ächzenden, keuchenden Schrottmühlen ganz besonderer Art war hier versammelt, fast als hätten sich die Maschinen verabredet und ihre menschlichen Wirte nur mitgeschleppt.
Natürlich hatte man hauptsächlich über die Botschaften von zu Hause gesprochen. Alle waren sich einig, dass alle beide tatsächlich aus der Heimat stammten, auch wenn sich niemand für ihren Wahrheitsgehalt verbürgen wollte. Man ging also nicht davon aus, dass es sich um einen aufgelegten Schwindel handelte, mit dem ein Schiff den Rest der Flottille über den Tisch ziehen wollte. Jeder Frequenzbereich in den beiden Funksprüchen war dank der interstellaren Elektronenwolken zwischen Sol und der Flottille relativ zu seinem Nachbarn einer bestimmten Verzögerung unterworfen. Dieses ›Schmieren‹ hätte sich nur sehr schwer überzeugend fälschen lassen, selbst wenn man das Sendegerät für die Botschaften weit genug hinter den Schiffen hätte abwerfen können. Das sechste Schiff wurde nicht erwähnt, auch Skys Captain spielte mit keinem Wort darauf an. Vielleicht war es wirklich so, dass man nur auf der Santiago von seiner Existenz wusste. Mit anderen Worten, es war ein Geheimnis, das man hüten sollte.
»Natürlich«, sagte der Antriebstheoretiker, »könnte es auch ein Schwindel sein.«
»Aber warum sollte uns jemand Informationen schicken, die abträglich für uns sind?«, fragte Zamudio, der Kommandant des Gastgeberschiffes. »Was immer uns widerfährt, braucht zu Hause niemanden zu kümmern. Warum also sollte man uns schaden wollen?«
»Das gilt genauso für alle Daten, die uns nützen«, gab Omdurman zu bedenken. »Warum also sollte man uns solche Informationen schicken? Es sei denn, man wollte ganz gewöhnlichen menschlichen Anstand unterstellen.«
»Zur Hölle mit dem menschlichen Anstand! Der Teufel soll ihn holen«, brummte Balcazar.
Sky erhob rasch die Stimme, um seinen Captain zu übertönen. »Ich halte in beiden Fällen auch andere Argumente für denkbar.« Man sah ihn so nachsichtig an wie ein Kind, das versuchte, einen Witz zu erzählen. Kaum jemand von den Anwesenden wusste, wer er war, allenfalls kannte man ihn als den vermeintlichen Sohn von Titus Haussmann. Ihm war das nur Recht: er fand es außerordentlich befriedigend, unterschätzt zu werden.
»Die Organisation, die sich einst für den Start der Flottille einsetzte«, fuhr er fort, »könnte in irgendeiner Form, vielleicht im Untergrund, zu Hause noch existieren. Sie wäre sicher nach wie vor daran interessiert, uns zu unterstützen, und sei es nur, um sicherzustellen, dass die Anstrengungen von einst nicht vergeblich waren. Vergessen Sie nicht, wir könnten die einzige interstellare Expedition geblieben sein, dann wären wir die einzige Hoffnung der Menschheit, jemals einen anderen Stern zu erreichen.«
Omdurman strich sich den Bart. »Das ist natürlich möglich. Wir sind wie eine große Moschee, die sich noch im Bau befindet: ein Jahrhundertwerk, dessen Vollendung keiner der daran Beteiligten jemals erleben wird…«
»Zur Hölle… zur Hölle mit ihnen!«
Omdurman stockte, tat aber so, als hätte er nichts gehört. »… dennoch fänden diejenigen, die wissen, dass sie vor der Fertigstellung sterben müssen, vermutlich eine gewisse Befriedigung darin, etwas zum Gelingen des Werkes beigetragen zu haben, und wäre es nur ein winziges Steinchen in der letzten Ecke eines Mosaiks. Die Schwierigkeit ist, dass wir so verflixt wenig darüber wissen, was zu Hause wirklich geschehen ist.«
Zamudio lächelte. »Selbst wenn man uns ausführlichere Berichte schickte, wüssten wir immer noch nicht, inwieweit wir ihnen vertrauen könnten.«
»Das heißt, wir stehen wieder am Anfang«, sagte Armesto von der Brasilia. Er war der jüngste Captain; nicht viel älter als Sky. Sky beobachtete ihn aufmerksam, wie um sich die Umrisse seines potenziellen Gegners einzuprägen, auch wenn das Bild erst in Jahren oder Jahrzehnten Gestalt annehmen würde.
»Ebenso könnte ich mir Motive vorstellen, aus denen man uns töten möchte«, sagte Sky. Dann wandte er sich an Balcazar. »Natürlich nur, wenn Sie gestatten?«
Der Captain fuhr auf, als wäre er am Einnicken gewesen.
»Nur zu, Titus, mein lieber Junge.«
»Nehmen wir an, wir wären nicht das einzige Ass im Ärmel.« Sky beugte sich vor, die Ellbogen fest auf die Mahagoniplatte gestützt. »Seit unserem Aufbruch ist ein Jahrhundert vergangen. Vielleicht entwirft man inzwischen schnellere Schiffe; sie könnten sogar schon gestartet sein. Vielleicht gibt es Parteien, die den Schwan für sich beanspruchen möchten und deshalb zu verhindern suchen, dass wir ihn erreichen. Natürlich könnten sie mit uns um die Zielwelt kämpfen, aber sie hätten vier große Schiffe gegen sich, und wir haben Nuklearwaffen.« Man hatte Atomsprengköpfe an Bord genommen, um damit nach der Ankunft auf Journey’s End die Landschaft der Zielwelt zu verändern — Pässe durch die Gebirge zu sprengen oder Häfen in die Küsten zu brechen —, aber sie konnten durchaus auch als Waffen eingesetzt werden. »Wir wären kein leichtes Ziel. Folglich wären solche Parteien natürlich sehr daran interessiert, uns zur Selbstzerstörung zu überreden.«
»Wollen Sie damit sagen, dass gleich viel dafür spricht, der Botschaft zu vertrauen, wie ihr nicht zu vertrauen?«
»Richtig. Das Gleiche gilt für die zweite Botschaft, die uns davor warnt, die Umbauten vorzunehmen.«
Der Antriebstheoretiker hüstelte. »Er hat Recht. Wir können nichts anderes tun, als die technischen Anweisungen selbst auf ihren Wert zu überprüfen.«
»Das wird nicht einfach sein.«
»Und wir gehen ein gewaltiges Risiko ein.«
So ging es hin und her; man spielte sich die Argumente für und gegen das Eingehen auf die Botschaft zu, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Jede Partei unterstellte der anderen, sie halte wertvolle Informationen zurück — was ja auch stimmte, dachte Sky —, aber da keine Namen genannt wurden, endete das Spitzengespräch nicht in offener Feindschaft, sondern nur in einem vagen Unbehagen. Alle Schiffe verpflichteten sich, einander auch weiterhin alle Analysen der Botschaften zugänglich zu machen. Außerdem sollte eine Sonderkommission mit Experten aus der. ganzen Flottille gegründet werden, die den Auftrag hätte, die technische Durchführbarkeit der empfohlenen Umbauten zu überprüfen. Kein Schiff sollte auf eigene Faust handeln oder den Versuch unternehmen, die Modifikationen ohne ausdrückliche Zustimmung aller anderen Parteien durchzuführen. Wer einen solchen Alleingang wagen wolle, könne das gerne tun, müsse sich aber mit seinem Schiff von der übrigen Flottille auf das Vierfache des derzeitigen Abstandes entfernen.
»Das ist Wahnsinn«, sagte Zamudio. Er war ein großer, stattlicher Mann, dem man sein Alter nicht ansah. Bei der Explosion der Islamabad hatte er das Augenlicht verloren. Nun saß auf seiner Schulter wie der Papagei eines alten Seebären eine Kamera, die scheinbar ganz von selbst hierhin und dorthin schwenkte. »Wir hatten diese Expedition einst im Geist der Kameradschaft angetreten, sie sollte nicht in ein Wettrennen ausarten, bei dem jeder als Erster am Ziel sein will.«
Armesto schob trotzig das Kinn vor. »Warum weigern Sie sich dann, die Vorräte, die Sie gehortet haben, mit uns anderen zu teilen?«
»Wir horten keine Vorräte«, behauptete Omdurman wenig überzeugend. »Ebenso wenig, wie Sie uns die Ersatzteile für unsere Kälteschlafkojen vorenthalten.«
Zamudios Kamera richtete sich auf ihn. »Was für eine lächerliche…« Er verstummte, dann fuhr er fort. »Niemand will bestreiten, dass es auf den einzelnen Schiffen gewisse Unterschiede im Lebensstandard gibt. Nichts läge uns ferner. Das war von Anfang an bewusst so geplant. Jedes Schiff sollte seine inneren Angelegenheiten selbständig regeln, und sei es nur, um sicherzustellen, dass nicht alle die gleichen unvorhersehbaren Fehler machten. Müssen wir deshalb am Ende auf jedem Schiff die gleichen Bedingungen haben? Nein, natürlich nicht. Sonst wäre etwas gründlich schief gelaufen. Die Sterblichkeitsraten innerhalb der einzelnen Besatzungen werden nie ganz einheitlich sein; das ergibt sich ganz einfach daraus, dass man nicht auf allen Schiffen das gleiche Gewicht auf die medizinische Versorgung legt.« Jetzt hatte er die Aufmerksamkeit für sich gewonnen. Also senkte er die Stimme und schaute ins Leere, während seine Kamera von einem Gesicht zum anderen schwenkte. »Ja, auch die Ausfälle in den Kälteschlafkojen variieren von Schiff zu Schiff. Sabotage? Daran glaube ich nicht, auch wenn es eine beruhigende Vorstellung wäre.«
»Beruhigend?«, fragte jemand, als hätte er sich verhört.
»Genau das. Nichts ist beruhigender als eine paranoide Verschwörungstheorie, besonders, wenn sie tiefere Probleme verdeckt. Vergessen Sie das Gerede über Saboteure; denken Sie lieber an schlechte Organisation, unzulängliche technische Fähigkeiten… die Liste ist lang.«
»Genug gefaselt«, fuhr Balcazar dazwischen. Er hatte gerade wieder einen lichten Moment. »Das ist nicht das Thema unserer heutigen Zusammenkunft. Wenn jemand den Anweisungen der verdammten Botschaft folgen will, dann soll er sich nicht aufhalten lassen. Ich werde mit lebhaftem Interesse beobachten, was daraus wird.«
Aber wahrscheinlich würde keiner diesen ersten Schritt tun. Wie der Captain unterstellt hatte, wäre die natürlichste Regung, jemand anderen den ersten Fehler begehen zu lassen. In drei Monaten, nachdem man die Botschaften genauer untersucht hatte, sollte ein weiteres Spitzengespräch stattfinden. Einige Zeit danach wollte man die gesamte Bevölkerung der Schiffe von der Existenz der Botschaften in Kenntnis setzen. Die Vorwürfe, die man sich im Sitzungssaal an den Kopf geworfen hatte, wurden stillschweigend vergessen. Man deutete sogar zaghaft an, die Angelegenheit könnte, anstatt die Spannungen zwischen den Schiffen zu verschärfen, sogar zu einem leichten Tauwetter in den Beziehungen führen.
Wenig später saß Sky mit Balcazar im Shuttle und flog nach Hause zurück.
»Wir werden bald wieder auf der Santiago sein, Captain. Sie sollten sich ein wenig ausruhen.«
»Verdammt, Titus… wenn ich mich ausruhen wollte…« Aber Balcazar war eingeschlafen, bevor er den Satz vollenden konnte.
Das Heimatschiff war als scharf umrissener Fleck auf dem Display des Taxi-Shuttles zu erkennen. Manchmal kamen Sky die Schiffe der Flottille vor wie die Inselchen in einem kleinen Archipel, wo die Wasserflächen dazwischen so riesig waren, dass jede Insel für alle anderen hinter dem Horizont lag. Auch war es in diesem Archipel immer Nacht, und die Feuer auf den Inseln waren so schwach, dass man sie nur sah, wenn man ohnehin schon ganz nahe war. Von einer der Inseln aufzubrechen und in die Dunkelheit hinaus zu fahren, war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Man musste sich darauf verlassen, dass einen die Navigationssysteme des Shuttles nicht aufs weite Meer hinaus führten. Sky wälzte wie üblich Mordpläne und überlegte, ob es sinnvoll wäre, den Autopiloten eines Taxis zu sabotieren. Der Eingriff müsste erfolgen, unmittelbar bevor sich sein ahnungsloses Opfer auf den Weg zu einem der anderen Schiffe machte. Das Shuttle so weit zu verwirren, dass es in die völlig falsche Richtung flog und in der Finsternis verschwand, wäre ein Kinderspiel. Fügte man noch Treibstoffverlust oder einen Ausfall der lebenserhaltenden Systeme hinzu, dann bot sich hier eine wahrhaft verlockende Aussicht.
Aber nicht für ihn. Da er Balcazar stets begleiten musste, war diese Strategie von nur begrenztem Wert.
Er ließ das Spitzengespräch noch einmal Revue passieren. Die Captains der übrigen Schiffe hatten sich redlich bemüht, Balcazars Konzentrationslücken zu übersehen, die sich — gelegentlich — bis zur Unzurechnungsfähigkeit steigern konnten, aber Sky waren die besorgten Blicke nicht entgangen, die über die blanke Mahagonifläche des Konferenztisches hinweg ausgetauscht wurden, wenn die anderen glaubten, er, Sky, sehe gerade nicht hin. Die Führer der Flottille waren offenkundig verstört darüber, dass einer der ihren so deutlich im Begriff war, den Verstand zu verlieren. Wer wollte sagen, ob sie dieser speziellen Form von Wahnsinn nicht alle verfallen würden, wenn sie erst in Balcazars Alter kamen? Sky hatte natürlich mit keiner Miene erkennen lassen, dass der Gesundheitszustand seines Vorgesetzten in irgendeiner Weise Anlass zur Besorgnis gab. Das wäre der Gipfel an Illoyalität gewesen.
Nein; er hatte sein Pokergesicht aufgesetzt, den gehorsamen Untergebenen gespielt, zu jeder noch so wirren Äußerung seines Captains pflichtschuldigst genickt, und mit keinem Wort zum Ausdruck gebracht, dass Balcazar in seinen Augen genau so verrückt war, wie die anderen Captains befürchteten.
Mit anderen Worten: ein treuer Diener.
Vom Armaturenbrett des Shuttles ertönte ein Ping. Die Santiago war jetzt riesengroß, aber da die Innenbeleuchtung der Kabine brannte, war sie immer noch schlecht zu sehen. Balcazar schnarchte und sabberte gleichzeitig, ein silbriger Speichelfaden zog sich wie ein dezentes neues Rangabzeichen über eine seiner Epauletten.
»Töte ihn«, sagte Clown. »Los jetzt, töte ihn! Noch hast du Zeit dazu.«
Clown war nicht wirklich im Shuttle anwesend — Sky wusste das —, aber in gewissem Sinne war er doch präsent. Die hohe, zittrige Stimme kam nicht aus Skys Kopf, sondern von etwas weiter hinten.
»Ich will ihn nicht töten«, sagte Sky und fügte bei sich ein stummes ›noch nicht‹ hinzu.
»Wenn du ehrlich bist, willst du es schon. Er steht dir im Weg. Das war schon immer so. Er ist ein alter, kranker Mann. Wenn du ihn jetzt tötest, tust du ihm eigentlich sogar einen Gefallen.« Clowns Stimme wurde leiser. »Sieh ihn dir an. Er schläft wie ein Säugling. Wahrscheinlich träumt er gerade von seligen Kindertagen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich bin Clown. Und Clown weiß alles.«
Vom Armaturenbrett meldete eine leise, metallische Stimme, sie seien im Begriff, in die Sperrzone um die Santiago einzufliegen. In Kürze würde das automatische Verkehrsleitsystem das Shuttle erfassen und zu seinem Liegeplatz steuern.
»Ich habe noch nie einen Menschen getötet«, sagte Sky.
»Aber du hast schon oft mit dem Gedanken gespielt, nicht wahr?«
Das war nicht zu bestreiten. Sky schwelgte ständig in Mordphantasien. Er dachte sich immer neue Todesarten für seine Feinde aus — Menschen, die ihn gekränkt hatten oder die er im Verdacht hatte, sie würden hinter seinem Rücken über ihn herziehen. Gewisse Personen hätten in seinen Augen schon einzig und allein deshalb den Tod verdient, weil sie zu schwach oder zu vertrauensselig waren. Auf einem Schiff wie der Santiago gab es genügend Möglichkeiten, einen Mord zu begehen, aber man hatte kaum Chancen, dabei unentdeckt zu bleiben. Sky hatte allerdings eine rege Phantasie, und er hatte sich lange genug mit dem Thema beschäftigt, um jederzeit ein Dutzend vielversprechender Strategien zur Reduzierung der Zahl seiner Feinde parat zu haben.
Doch bevor Clown jetzt zu ihm sprach, hatte er es dabei bewenden lassen. Die grausigen Todesszenarien im Geiste immer wieder durchzuspielen und langsam weiter auszuschmücken, war ihm genug gewesen. Aber Clown hatte Recht: was hatte es für einen Sinn, die raffiniertesten Pläne zu entwerfen, wenn man nicht irgendwann mit dem Bauen anfing?
Wieder warf er einen Blick auf Balcazar. Der Alte schlief so friedlich, wie Clown gesagt hatte.
So friedlich.
Und so völlig wehrlos.