Fünfzehn

Wir befanden uns auf der tiefsten Ebene von Chasm City, weit unter dem Rand der Caldera. Die Straße, auf der wir fuhren, überquerte auf Pontons einen schwarzen See. Aus dem Himmel — genauer gesagt von der Kuppel viele Kilometer über unseren Köpfen — fiel leise der Regen. Ringsum standen riesige Gebäude in den Fluten, Gebäude mit glatten Seiten, die kein Ende zu nehmen schienen. Sie umgaben uns wie ein Wald und verschmolzen schließlich in der Ferne zu einer einzigen, homogenen Wand, die aussah wie eine Nebelbank. Zumindest auf den ersten sechs bis sieben Stockwerken wirkten sie wie mit Entenmuscheln verkrustet. Eine dicke Schicht von windschiefen Wohnhäusern und Märkten, untereinander durch hauchdünne Laufstege und Strickleitern verbunden, zog sich an den Wänden empor. Überall in diesen Slums brannten Feuer, und der Gestank war noch penetranter als in der Bahnhofshalle. Allerdings war es hier ein klein wenig kühler und nicht ganz so drückend, weil ständig ein leichter Wind wehte.

»Wie heißt die Gegend?«, fragte ich.

»Das ist Mulch«, sagte Juan. »Hier unten, wo Straßen sind, ist alles Mulch.«

Jetzt verstand ich. Der Mulch war weniger ein Viertel als eine Schicht der Stadt. Er umfasste etwa die ersten sechs oder sieben Stockwerke über den überfluteten Bereichen, ein Slum-Teppich, aus dem sich der große städtische Wald erhob.

Wenn ich den Kopf in den Nacken legte und am Dach der Rikscha vorbei schaute, sah ich die glatten Gebäude himmelwärts schießen, bis sie, jedenfalls aus dieser Perspektive, mindestens einen Kilometer über meinem Kopf zusammenzustoßen schienen. Über den größten Teil der Höhe hatten sie sich die Form bewahrt, die ihre Architekten einst geplant haben mussten: rechteckig, mit parallelen, jetzt dunklen Fensterreihen. Nur hin und wieder störten eine Ausbuchtung, eine schneckenförmige Wucherung die strenge Geometrie. Doch weiter oben veränderte sich das Bild aufs Schaurigste. Obwohl keine zwei Gebäude genau die gleichen Mutationen aufwiesen, gab es abstrakte Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Erscheinungen, ein einheitliches Krankheitsbild sozusagen, das ein Arzt diagnostizieren und auf ein und dieselbe Ursache hätte zurückführen können. Einige Gebäude hatten sich auf halber Höhe in der Mitte gespalten, während andere hässlich aufgeschwollen waren. Manche hatten winzige Nachbildungen ihrer selbst ausgetrieben und sahen nun aus wie bizarre Märchenschlösser mit Türmchen und Verliesen. Weiter oben verzweigten sich die Auswüchse wieder und wieder, durchdrangen sich gegenseitig und verschlangen sich wie Bronchiolen oder eine besonders ausgefallene Art von Hirnkorallen. So entstand ein bis zwei Kilometer über dem Boden ein horizontales Floß aus verschmolzenen Ästen. Ich hatte das natürlich schon vom Himmel aus gesehen, aber von dort die Bedeutung — das gewaltige, die ganze Stadt umspannende Ausmaß — der Erscheinung noch nicht zu erfassen vermocht.

Der Baldachin.

»Du jetzt verstehen, warum ich dich nicht hinbringen kann, Mister?«

»So allmählich. Der Baldachin bedeckt die ganze Stadt, richtig?«

Juan nickte. »Wie Mulch, nur höher.«

Eines hatte man vom Raumkoloss aus nicht richtig sehen können. Der dichte Filz aus absurd deformierten Gebäuden war in der Vertikalen ziemlich flach, nur eine dünne Schicht. Der Baldachin bildete sozusagen eine schwebende Ökologie, unter der sich eine andere Stadt — ja, eine andere Welt befand. Auch seine Vielgestaltigkeit war erst von hier unten deutlich zu erkennen. Ganze Kommunen waren in den Baldachin eingebettet, in sich abgeschlossene Gebäude so groß wie Paläste klebten darin wie Vogelnester. Knäuel von spinnwebfeinen Netzen füllten die Räume zwischen den größeren Ästen und hingen fast bis zur Straße herab. Ob sie zu den Mutationen gehörten oder von den Menschen ergänzt worden waren, ließ sich schwer feststellen.

Der ganze Baldachin sah aus, als wäre er von riesigen Insekten, von unsichtbaren, mehr als hausgroßen Spinnen eingesponnen worden.

»Wer wohnt dort?« Ich wusste, dass die Frage nicht völlig sinnlos war, denn ich hatte zwischen den Ästen brennende Lichter gesehen; ein Zeichen dafür, dass sich trotz der grotesk verzerrten Geometrie in den toten Gebäuden Menschen eingenistet hatten.

»Niemand, den du kennen wollen, Mister.« Juan ließ die Aussage einen Augenblick stehen, dann fügte er hinzu. »Und niemand, der dich kennen wollen. Und das keine Beleidigung für dich.«

»Ich habe es auch nicht so aufgefasst, aber beantworte doch bitte meine Frage.«

Juan ließ sich viel Zeit. Die Rikscha fuhr weiter um die Wurzeln der Riesengebäude herum, die Räder polterten durch die wassergefüllten Risse in der Fahrbahn. Der Regen hatte natürlich nicht aufgehört, doch als ich den Kopf unter dem Verdeck hervor streckte, spürte ich ihn so warm und weich auf meinem Gesicht, dass er mich kaum störte. Ich fragte mich, ob er jemals aufhörte, oder ob sich das Kondenswasser an der Kuppel im Lauf des Tages ständig erneuerte; ob also die Witterung irgendwie gesteuert war. Wobei ich allerdings den Eindruck hatte, dass es in Chasm City nur sehr wenig gab, was von irgendjemandem gesteuert werden konnte.

»Reiche Leute«, sagte der Junge. »Wirklich reich — nicht poplig reich wie Madame Dominika.« Er klopfte sich mit dem Finger an die knochige Schläfe. »Die brauchen auch Dominika nicht.«

»Du meinst, im Baldachin gibt es Enklaven, die von der Seuche nie befallen wurden?«

»Nein, Seuche ist überall. Aber Baldachin hat Hausputz gemacht, als Gebäude aufhören sich zu verändern. Manche Reiche bleiben in Orbit. Andere wollen CC nicht verlassen oder kommen runter, als ganze Scheiße losgehen. Einige werden deportiert.«

»Warum sollte irgendjemand nach der Seuche hierher kommen, wenn er nicht muss? Selbst wenn Teile des Baldachins vor allen Resten der Schmelzseuche gesäubert wurden, verstehe ich nicht, warum jemand lieber hier leben möchte als in den verbliebenen Habitats im Rostgürtel.«

»Deportierte haben nicht viel mitzureden.«

»Nein, das ist mir klar. Aber warum sollte jemand anderer hierher kommen?«

»Weil denken, muss alles besser werden, und wollen hier sein, wenn so weit ist. Viel Möglichkeit, Geld zu machen, wenn bessere Zeiten kommen — aber nur Handvoll Leute werden wirklich richtig reich. Auch jetzt schon viel Möglichkeit Geld zu machen — hier unten weniger Polizei als oben.«

»Anders ausgedrückt, es gibt hier kein Gesetz? Man kann alles kaufen? Ich kann mir gut vorstellen, wie verlockend das nach dem strengen Regime der Demarchie gewesen sein muss.«

»Mister, du reden komisch.«

Meine nächste Frage lag auf der Hand. »Wie komme ich hinauf? Zum Baldachin, meine ich.«

»Wenn noch nicht dort, dann gar nicht.«

»Das soll wohl heißen, ich bin nicht reich genug?«

»Reich nicht genug«, sagte der Junge. »Brauchen Beziehungen. Wenn nicht dicke Freunde mit Baldachin, du niemand.«

»Nehmen wir an, ich hätte Beziehungen, wie käme ich dann hinauf? Gibt es einen Weg durch die Gebäude, alte Schächte, die durch die Seuche nicht geschlossen wurden?« Solche Fragen musste dieser Straßenjunge doch wie aus der Pistole geschossen beantworten können.

»Innenweg nicht gut, Mister. Viel gefährlich. Besonders, wenn Jagd herunterkommen.«

»Jagd?«

»Bei Nacht hier nicht geheuer, Mister.«

Ich starrte ins Halbdunkel. »Woher willst du das eigentlich wissen? Nein, das war keine Frage. Sag mir nur, wie ich da hinauf komme.« Ich wartete auf eine Antwort, und als sie nicht kam, versuchte ich es anders. »Kommen Baldachin-Leute jemals in den Mulch herunter?«

»Manchmal. Besonders wenn auf Jagd.«

Ein Fortschritt, dachte ich, auch wenn es so mühsam war wie Zähne ziehen. »Und wie kommen sie herunter? Ich habe eine Art Flugwagen gesehen, bei uns hießen sie Volantoren, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand durch den Baldachin fliegen kann, ohne sich in diesen Netzen zu verfangen.«

»Auch bei uns heißen Volantoren. Haben nur reiche Leute — schwer zu reparieren, schwer am Fliegen zu halten. Und in manchen Teilen von Stadt nicht zu gebrauchen. Baldachin-Typen kommen meistens mit Seilbahn herunter.«

»Seilbahn?«

Ein Ausdruck von Ratlosigkeit huschte über sein Gesicht. Ich begriff, dass er verzweifelt bemüht war, mich zufrieden zu stellen. Nur lagen meine Fragen so weit außerhalb seiner Sphäre, dass sie ihm geradezu physische Qualen bereiteten.

»Du sehen die Netze, Seile? Die zwischen Gebäuden hängen?«

»Kannst du mir eine Seilbahn zeigen? Ich würde sie mir gerne mal ansehen.«

»Ist gefährlich, Mister.«

»Das bin ich auch.«

Ich versüßte ihm die Aufgabe mit einem weiteren Geldschein, lehnte mich zurück und ließ mich im sanften Innenregen weiter durch den Mulch kutschieren.


Endlich ließ Juan die Rikscha langsamer werden und drehte sich zu mir um. »Da. Seilbahn. Kommen oft hierher. Wollen noch näher ran?«

Zuerst wusste ich nicht so recht, was er meinte. Schräg auf der rissigen Fahrbahn stand eines der noblen Privatfahrzeuge, die ich in und vor der Bahnhofshalle gesehen hatte. Eine Tür war seitlich hochgeklappt wie eine Möwenschwinge, und daneben standen zwei Personen in dicken Mänteln, mit breitkrempigen Hüten, die ihre Gesichter beschatteten, im Regen.

Ich starrte sie an und überlegte, was ich jetzt tun sollte.

»He Mister, ich schon mal gefragt, du wollen noch näher ran?«

Eine der zwei Personen neben der Seilbahngondel zündete sich eine Zigarette an, und dabei fiel der Feuerschein für einen Moment auf ein Aristokratengesicht mit so edlen Zügen, wie ich seit meiner Ankunft auf diesem Planeten noch keines gesehen hatte. Die Augen waren hinter einer barocken Schutzbrille verborgen, die die überscharfen Backenknochen noch betonte. Die zweite Person, eine Frau, hielt sich mit schmaler, behandschuhter Hand ein Fernglas von der Größe eines Spielzeugs vor die Augen, drehte sich auf messerscharfen Absätzen im Kreis und suchte die Straße ab, bis ihr Blick auf mich fiel. Ich sah, wie sie zusammenzuckte, obwohl sie bemüht war, sich zu beherrschen.

»Sind nervös«, flüsterte Juan. »Mulch und Baldachin sonst weit auseinander.«

»Hat das besondere Gründe?«

»Ja, ein guter Grund.« Juan flüsterte jetzt so leise, dass ich ihn über das unablässige Rauschen des Regens kaum verstehen konnte. »Mulch kommen zu nahe ran, Mulch verschwinden.«

»Verschwinden?«

Er zog sich diskret den Finger über die Kehle. »Baldachin spielen gern, Mister. Langweilen sich. Alle Unsterblichen langweilen sich. Also machen Spiele. Problem nur, sie fragen andere nicht, ob mitspielen wollen.«

»Zum Beispiel bei der Jagd, von der du gesprochen hast?«

Er nickte. »Aber davon jetzt nicht reden.«

»Schön. Sei bitte so freundlich, Juan, und halte hier an.«

Die Rikscha stellte auch den letzten Rest von Vorwärtsbewegung ein, die zuckenden Muskeln auf dem Rücken des Primaten verrieten seine Erregung. Ich beobachtete die Gesichter der beiden Baldachin-Bewohner — ihre demonstrative Gleichgültigkeit hätte mich fast überzeugt.

Ich stieg aus der Rikscha. Meine Füße berührten leise schmatzend die durchweichte Fahrbahn. »Mister«, sagte Juan. »Du jetzt sehr vorsichtig sein. Ich wollen noch Geld für Rückfahrt verdienen.«

»Warte hier auf mich«, sagte ich, doch dann verbesserte ich mich. »Hör zu, wenn dir das zu unsicher ist, dann fährst du jetzt weg und kommst in fünf Minuten wieder.«

Nichts konnte ihm gelegener kommen. Die Frau steckte das Fernglas in ihren schreiend bunt gemusterten Mantel, während sich der Mann an die Brille fasste und offenbar die Einstellung leicht veränderte. Ich ging ruhig auf die beiden zu. Zunächst interessierte mich vor allem das Fahrzeug. Es war ein glänzend schwarzer Rhombus auf drei Beinen, die sich einziehen ließen. Durch eine der getönten Windschutzscheiben sah ich gepolsterte Sitze und eine komplizierte manuelle Schaltung. Drei eingeklappte Rotorblätter zierten das Dach. Als ich die Konstruktion genauer in Augenschein nahm, stellte ich fest, dass es sich nicht um einen Hubschrauber handelte. Die Blätter waren nicht über eine rotierende Achse mit dem Rumpf des Fahrzeugs verbunden, sondern verschwanden in drei runden Löchern einer halbkugelförmigen Beule, die nahtlos aus dem Rumpf heraus wuchs. Bei näherem Hinsehen zeigte sich auch, dass es sich eigentlich gar nicht um Rotorblätter handelte, sondern um Teleskoparme, die in einer sichelförmigen Klaue endeten.

Mehr Zeit zur Besichtigung ließ man mir nicht.

»Keinen Schritt näher«, sagte die Frau in makellosem Canasisch und schwenkte zum Nachdruck eine winzige Waffe, kaum größer als eine Brosche.

»Er ist unbewaffnet«, sagte der Mann, offenbar absichtlich so laut, dass ich es hören konnte.

»Ich komme in friedlicher Absicht.« Ich breitete — langsam — die Arme aus. »Das ist Eisbettlerkleidung. Ich bin eben erst auf dem Planeten eingetroffen. Ich möchte nur wissen, wie man zum Baldachin kommt.«

»Zum Baldachin?«, fragte der Mann, als sei das unglaublich komisch.

»Das wollen sie doch alle«, sagte die Frau. Die Waffe hatte sich nicht bewegt, ihre Hand war so ruhig, dass ich mich fragte, ob sie winzige Gyroskope oder ein Biofeedback eingebaut hatte, das auf die Muskeln ihres Handgelenks wirkte. »Warum sollten wir gerade mit Ihnen sprechen?«

»Weil ich harmlos bin — unbewaffnet, wie Ihr Partner bemerkte — und neugierig, und weil es Ihnen vielleicht Spaß macht.«

»Sie haben keine Ahnung, was uns Spaß macht.«

»Nein, wahrscheinlich nicht, aber wie gesagt — ich bin ein neugieriger Mensch. Ich bin nicht unbemittelt…« — das klang wie lächerliche Prahlerei, aber ich ließ mich davon nicht beirren — »und ich hatte das Pech, im Mulch zu landen, ohne Beziehungen zum Baldachin zu haben.«

»Sie sprechen ganz passables Canasisch«, bemerkte der Mann und nahm die Hand von der Brille. »Die meisten Mulcher bringen kaum eine Beleidigung in einer Fremdsprache zustande.« Er warf seine Zigarettenkippe weg.

»Aber er hat einen Akzent«, sagte die Frau. »Ich kann ihn nicht einordnen — er kommt nicht von dieser Welt, aber woher, könnte ich nicht sagen.«

»Ich komme von Sky’s Edge. Vielleicht haben Sie Bekannte von anderen Teilen meines Planeten, die etwas anders sprechen. Sky’s Edge ist schon so lange besiedelt, dass sich Sprachvarianten herausbilden konnten.«

»Das gilt auch für Yellowstone«, sagte der Mann, ohne so zu tun, als würde ihn das Thema sonderlich interessieren. »Aber die meisten von uns leben immer noch in Chasm City. Und hier variiert die Sprache nur vertikal.« Er lachte, als hätte er damit mehr als nur eine einfache Tatsache festgestellt.

Ich wischte mir das warme, klebrige Regenwasser aus den Augen. »Der Fahrer sagte, die Seilbahn sei die einzige Möglichkeit, den Baldachin zu erreichen.«

»Das ist zwar richtig, aber es heißt noch lange nicht, dass wir Ihnen dabei helfen könnten.« Der Mann nahm den Hut ab. Er hatte sein langes blondes Haar am Hinterkopf zusammengebunden.

Seine Begleiterin fügte hinzu: »Wir haben keinen Anlass, Ihnen zu vertrauen. Jeder Mulcher könnte Eisbettlerkleider stehlen und ein paar Worte Canasisch lernen. Und kein vernünftiger Mensch käme hierher, ohne vorher Verbindungen zum Baldachin zu knüpfen.«

Ich ging ein kalkuliertes Risiko ein. »Ich habe einen Vorrat an Traummfeuer. Wären Sie daran interessiert?«

»Durchaus, aber wie, zum Teufel, kommt ein Mulcher an Traumfeuer?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Ich griff in Vadims Mantel und zog das Kästchen mit den Traumfeuer-Ampullen heraus. »Ich gebe Ihnen natürlich mein Wort, dass es sich um das Originalprodukt handelt.«

»Ich pflege mich nicht auf das Wort von Fremden zu verlassen«, sagte der Mann. »Geben Sie mir eine von den Ampullen.«

Noch ein kalkuliertes Risiko. Der Mann mochte mit der einen Ampulle davonlaufen, aber ich hätte ja immer noch die anderen.

»Ich werfe sie Ihnen zu. Ist das ein Angebot?«

Der Mann trat ein paar Schritte näher. »Dann mal los.«

Ich warf ihm die Ampulle zu. Er fing sie geschickt auf und verschwand damit in der Gondel. Die Frau blieb draußen und hielt mich weiter mit ihrer kleinen Waffe in Schach. Wenige Augenblicke später kam der Mann zurück. Er hatte nicht einmal seinen Hut wieder aufgesetzt und hielt die Ampulle in die Höhe. »Das… scheint tatsächlich das Originalprodukt zu sein.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Mit einer Lampe angestrahlt natürlich.« Er sah mich an, als wäre ich ein Idiot. »Traumfeuer hat ein unverwechselbares Absorptionsspektrum.«

»Gut. Nachdem Sie sich jetzt von der Echtheit der Ware überzeugt haben, werfen Sie mir die Ampulle zurück, dann verhandeln wir über die Bedingungen.«

Der Mann holte zum Wurf aus, zog aber im letzten Moment die Hand zurück und hielt die Ampulle hoch, wie um mich zu verhöhnen. »Nein… wir wollen nichts überstürzen. Sie behaupten, Sie hätten noch mehr davon? Traumfeuer ist heutzutage Mangelware. Zumindest guter Stoff. Sie müssen da auf einen wahren Schatz gestoßen sein.« Er hielt inne. »Ich habe Ihnen einen Gefallen getan. Betrachten wir diese Ampulle damit als bezahlt. Ich habe eine weitere Seilbahngondel angefordert, die Sie in Kürze hier abholen soll. Hoffentlich haben Sie nicht gelogen, was ihre Vermögenssituation angeht.« Er nahm die Brille ab. Seine Augen waren eisengrau und wirkten ausgesprochen grausam.

»Ich danke Ihnen«, sagte ich. »Aber was würde es für eine Rolle spielen, wenn ich gelogen hätte?«

»Eine sonderbare Frage.« Die Frau ließ ihre Waffe wie durch Zauberei verschwinden. Vielleicht war sie in ein Ärmelhalfter zurückgeschnellt.

»Ich sagte doch schon, ich bin neugierig.«

»Es gibt hier kein Gesetz«, sagte sie. »Im Baldachin halten wir uns an gewisse Regeln — aber nur, so weit es uns gefällt; nur, was uns entspricht, eine Art von Spielplatzordnung wie bei den Kindern. Doch jetzt sind wir nicht im Baldachin. Hier unten ist alles erlaubt. Und wir haben wenig Verständnis, wenn man uns betrügt.«

»Das geht in Ordnung«, sagte ich. »Ich bin auch kein sehr verständnisvoller Mensch.«

Die beiden stiegen in ihre Gondel und ließen die Türen noch einen Moment lang offen. »Vielleicht sehen wir uns im Baldachin wieder«, sagte der Mann und lächelte. Es war kein angenehmes Lächeln. Es erinnerte mich an die Schlangen in den Vivarien im Reptilienhaus.

Dann klappten die Türen zu, und das Fahrzeug erwachte mit kaum hörbarem Summen zum Leben.

Die drei Teleskoparme auf dem Dach schwenkten schräg nach oben, fuhren blitzschnell auf das Doppelte, das Dreifache und schließlich das Vierfache ihrer Länge aus und tasteten himmelwärts. Ich schirmte meine Augen gegen den lauen Regen ab und schaute ihnen nach. Der Rikschafahrer hatte mir erklärt, die Kabel, die sich zwischen den verwachsenen Gebäuden des Baldachins spannten, hingen gelegentlich wie Weinreben bis in den Mulch herunter, aber ich hatte nicht weiter darauf geachtet. Jetzt sah ich den Sinn dieser Einrichtung. Einer der Gondelarme erfasste mit seiner Klaue das unterste Kabel. Die anderen beiden Arme fuhren noch weiter aus, bis sie das Zehnfache der ursprünglichen Länge erreicht hatten, dann suchten sie sich geeignete Kabel und packten ebenfalls zu.

Und schließlich hob die Gondel ab — so ruhig wie mit Schubdüsen gesteuert — und nahm Fahrt auf. Der eine Arm ließ sein Kabel los, zog sich zusammen und schnellte wie eine Chamäleonzunge nach oben, bis er ein neues Kabel gefunden hatte. Die Gondel stieg ein Stück höher, wieder wechselte ein Arm das Kabel, und das setzte sich fort, bis das Gefährt Hunderte von Metern über mir war und immer kleiner wurde. Noch immer war die Bewegung unheimlich fließend, obwohl man ständig fürchtete, ein Arm würde ins Leere greifen und der ganze Kasten in den Mulch zurückstürzen.

»He, Mister. Immer noch da?«

Während ich der Gondel nachschaute, war die Rikscha zurückgekehrt. Ich hätte eigentlich erwartet, dass der Fahrer, Profit hin oder her, vernünftig genug wäre, wieder zur Bahnhofshalle zu fahren, aber Juan hatte Wort gehalten. Wenn ich mich überrascht gezeigt hätte, wäre er wahrscheinlich gekränkt gewesen.

»Hast du wirklich etwas anderes erwartet?«

»Wenn Baldachin runterkommen, man weiß nie. He, warum du im Regen stehen?«

»Weil ich nicht mit dir zurück fahre.« Er hatte kaum Zeit gehabt, seine Enttäuschung zu zeigen — immerhin warf er mir einen so tief gekränkten Blick zu, als hätte ich seine ganze Sippe aufs Schwerste verleumdet —, als ich ihm bereits ein großzügiges Ausfallhonorar anbot. »Das ist mehr, als du verdient hättest, wenn ich mit dir gefahren wäre.«

Er sah die zwei Sieben-Ferris-Scheine niedergeschlagen an. »Mister, du hier nicht bleiben. Hier ist nichts, ist ganz schlechte Teil von Mulch.«

»Das glaube ich dir sofort«, sagte ich, bevor ich mich noch mit der Vorstellung vertraut gemacht hatte, dass selbst ein so elendes, verkommenes Viertel wie der Mulch gute und schlechte Gegenden hatte. Dann fuhr ich fort: »Die Baldachin-Leute haben versprochen, mir eine Seilbahn herunterzuschicken. Es ist natürlich möglich, dass sie mich belogen haben, aber das werde ich früher oder später schon erfahren. Wenn sie nicht ehrlich waren, muss ich eben einen Weg durchs Innere eines dieser Gebäude finden.«

»Nicht gut, Mister. Baldachin tun keinem ‘nen Gefallen.«

Ich behielt die Sache mit dem Traumfeuer lieber für mich. »Wahrscheinlich wollten sie nicht ganz ausschließen, dass ich doch der war, der ich zu sein behauptete. Angenommen, ich wäre tatsächlich so mächtig, wie ich sagte? Dann wollten sie mich sicher nicht zum Feind haben.«

Juan tat diese Möglichkeit mit einem Achselzucken als sehr theoretisch ab. »Mister, ich jetzt fahren. Wenn du nicht mitkommen, ich nicht wollen länger bleiben.«

»Schon gut«, sagte ich. »Das kann ich verstehen. Und es tut mir Leid, dass ich dich habe warten lassen.«

Das war das Ende unserer Beziehung. Juan schüttelte den Kopf, fand sich aber damit ab, dass ich mich nicht umstimmen ließ. Dann fuhr er davon. Die Rikscha verschwand ratternd in der Ferne, ich blieb allein im Regen zurück. Diesmal war ich wirklich allein. Der Junge wartete nicht mehr hinter der nächsten Ecke, ich hatte meinen Verbündeten oder das, was dieser Bezeichnung in Chasm City am nächsten kam, verloren oder vielmehr weggeschickt. Es war ein merkwürdiges Gefühl, aber ich wusste, dass ich nur getan hatte, was nötig war.

Ich wartete.

Die Zeit verging, eine halbe Stunde vielleicht, lange genug, dass ich zusehen konnte, wie sich die Stadt verdunkelte. Als Epsilon Eridani hinter dem Horizont versank, wurde ihr Schein, der durch die Kuppel ohnehin schon Sepiabraun gefärbt war, so rot wie geronnenes Blut. Was jetzt noch an Helligkeit zu mir drang, musste durch einen Wald von Gebäuden, und diese Strapaze raubte dem Licht auch die letzte Lust am Leuchten. Ringsum wurden die Türme immer dunkler, bis sie wirklich aussahen wie gewaltige Bäume. Die wirren Ausläufer des Baldachins wirkten im Schein der Lampen, der durch die Fenster drang, wie Äste, die mit Laternen und bunten Lichterketten behangen waren. Es war ein Anblick von schauriger Schönheit.

Endlich löste sich eins der schwebenden Lichter wie eine Sternschnuppe vom Firmament und kam, immer heller werdend, auf mich zu. Als meine Augen sich auf die Dunkelheit eingestellt hatten, sah ich, dass es eine Seilbahngondel war, die genau der Stelle zustrebte, wo ich stand.

Ohne mich um den Regen zu kümmern, stand ich da und beobachtete gebannt, wie das Gefährt langsamer wurde und sich fast bis auf den Boden herab senkte. Von oben war das Singen der sich straffenden und wieder lockernden Kabel zu hören. Der einzige Scheinwerfer überstrich die regennasse Straße, ließ jeden Riss in der Oberfläche hervortreten und richtete sich schließlich auf mich.

Nicht weit vor meinen Füßen klatschte etwas in eine Pfütze. Wasser spritzte auf.

Und dann hörte ich einen Schuss.

Ich verhielt mich so, wie es jeder ehemalige Soldat unter diesen Umständen getan hätte: ich nahm mir nicht die Zeit, die Lage zu peilen, den Typ und das Kaliber der Waffe zu bestimmen, mit der auf mich geschossen wurde, oder nach dem Standort des Schützen zu suchen — ich vergewisserte mich nicht einmal, ob wirklich ich das Ziel war und nicht nur durch Zufall in einen Kampf verwickelt wurde.

Stattdessen rannte ich, so schnell ich konnte, auf den Schatten am Fuß des nächsten Gebäudes zu, widerstand aber dem für einen Flüchtenden durchaus vernünftigen Reflex, meine Reisetasche von mir zu werfen, denn ich wusste ja, dass ich ohne sie rasch in der Anonymität des Mulch versinken würde. Wenn ich sie verlor, konnte ich mich auch gleich erschießen lassen.

Die Schüsse folgten mir.

Jeder Schuss landete etwa einen Meter hinter meinen Fersen. Der Schütze verstand sein Handwerk. Er hätte mich ohne größeren Aufwand töten können — er brauchte sein Ziel nur um eine Winzigkeit nach vorne zu verlegen, und dazu wäre er durchaus imstande gewesen. Stattdessen spielte er Katz und Maus mit mir. Er konnte mich jederzeit mit einem Schuss in den Rücken erledigen, aber dafür nahm er sich alle Zeit der Welt.

Mit nassen Füßen erreichte ich das Gebäude. Die Wände waren völlig glatt; keine Nische, kein Eingang, wo ich mich verstecken konnte. Das Gewehr verstummte, aber die Ellipse des Scheinwerfers blieb, wo sie war. Das grellblaue Licht beschien den Regen zwischen mir und der Gondel wie einen dichten Vorhang.

Eine Gestalt in einem dicken Mantel trat aus der Dunkelheit. Zuerst dachte ich, es handle sich um den Mann oder die Frau, mit denen ich zuvor gesprochen hatte, doch den Mann, der nun ins Scheinwerferlicht trat, hatte ich noch nie gesehen. Sein Kopf war kahl, sein Kinn von fast schon karikaturistischer Eckigkeit, und vor einem Auge hatte er ein blinkendes Monokel.

»Keine Bewegung«, sagte er, »dann geschieht Ihnen nichts.« Sein Mantel öffnete sich, und ich sah eine Waffe, die massiver war als die Spielzeugpistole der Baldachin-Frau, eine Waffe, die man ernst nehmen musste. Sie bestand aus einem schwarzen Rechteck mit einem Griff an einem und vier schwarzen Mündungen am anderen Ende. Der Mann umfasste den Griff so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten, und streichelte mit dem Finger den Abzug.

Er feuerte aus der Hüfte; eine Art Laserstrahl löste sich aus der Mündung, kam surrend auf mich zu und schlug neben mir in die Wand des Gebäudes ein, dass die Funken sprühten. Ich rannte los, aber beim zweiten Mal hatte mein Gegner besser gezielt. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Oberschenkel, und plötzlich rannte ich nicht mehr. Plötzlich konnte ich nur noch schreien. Und dann war ich selbst dazu nicht mehr fähig.

Die Sanitäter hatten gute Arbeit geleistet, aber man durfte keine Wunder erwarten. Das bezeugten die Überwachungsgeräte, die am Bett seines Vaters langsam und feierlich die Liturgie seines biologischen Verfalls zelebrierten.

Sechs Monate war es her, seit der Schläfer erwacht war und Skys Vater verletzt hatte, und es war schon eine beachtliche Leistung, dass man es geschafft hatte, Titus Hausmann und seinen Angreifer so lange am Leben erhalten. Bei dem herrschenden Mangel an Medikamenten wie an guten medizinischen Fachkräften hatte jedoch nie eine realistische Aussicht bestanden, die beiden wieder gesund zu pflegen.

Die jüngste Serie von Streitigkeiten zwischen den Schiffen hatte die Situation auch nicht gerade verbessert. Die Spannungen hatten sich verschärft, als man wenige Wochen, nachdem der Schläfer erwacht war, auf der Brasilia einen Spion entdeckte. Die Sicherheitswache hatte den Agenten zur Bagdad zurück verfolgt, aber die Führung der Bagdad hatte erklärt, der Mann sei nicht auf ihrem Schiff geboren, sondern vermutlich von der Santiago oder der Palästina eingeschleust worden. Als weitere Personen als Agenten verdächtigt wurden, wurden Stimmen laut, die deren Verhaftung als Freiheitsberaubung und als Verstoß gegen die Flottillen-Gesetze bezeichneten. Die Beziehungen vereisten, alle Kontakte zwischen den Schiffen wurden auf ein Minimum reduziert; gegenseitige Besuche beschränkten sich von nun an auf diplomatische Missionen, die nur widerwillig durchgeführt wurden, stets scheiterten und unweigerlich in Vorwürfen endeten.

Vor diesem Hintergrund waren alle Bitten um medizinisches Gerät und medizinische Fachkräfte zur Pflege von Skys Vater auf taube Ohren gestoßen. Es sei ja nicht so, als hätten die anderen Schiffe keine Krisen. Und Titus sei als Leiter der Sicherheitswache schließlich nicht über den Verdacht erhaben, den Spionagevorfall überhaupt erst inszeniert zu haben.

Bedauere, hatte es geheißen. Wir würden wirklich gerne helfen, aber…

Jetzt fing sein Vater mühsam zu sprechen an.

»Schuyler…«, sagte er. Sein Mund klaffte wie ein Riss in der pergamenttrockenen Haut. »Schuyler… bist du das?«

»Ich bin hier, Dad. Ich bin nie weggegangen.« Sky setzte sich auf den Hocker neben dem Bett und betrachtete die graue Gestalt mit dem maskenhaften Gesicht, die so wenig Ähnlichkeit mit dem Vater aufwies, wie er ihn vor den Anschlag gekannt hatte. Das war nicht der Titus Haussmann, der auf dem ganzen Schiff gleichermaßen gefürchtet und geliebt worden war und in der Flottille widerwilligen Respekt genossen hatte. Das war nicht der Mann, der ihn während des Blackouts aus dem Kinderzimmer gerettet, nicht der Mann, der ihn an der Hand zum Shuttle geführt hatte, um mit ihm zum ersten Mal in seinem Leben das Schiff zu verlassen und ihm seine unendlich einsame Heimat mit all ihren Wundern und ihren Schrecken zu zeigen. Das war nicht der Caudillo, der im vollen Bewusstsein der vielleicht tödlichen Gefahr vor seinen Leuten in die Kälteschlafkoje gegangen war. Nur eine leise Erinnerung an diesen Mann war noch vorhanden, die Folie seiner Statue sozusagen. Die Gesichtszüge waren vorhanden, die Proportionen stimmten, aber das Bild hatte keine Tiefe, keine Festigkeit, es war auf eine papierdünne Schicht reduziert.

»Sky, was ist mit dem Gefangenen?« Sein Vater nahm alle Kräfte zusammen und hob den Kopf vom Kissen. »Ist er noch am Leben?«

»Mehr oder weniger«, sagte Sky. Er hatte sich nach der Verwundung seines Vaters gewaltsam in die Sicherheitswache gedrängt. »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass er noch lange durchhält. Seine Verletzungen waren viel schlimmer als die deinen.«

»Aber du konntest trotzdem mit ihm sprechen?«

»Wir haben das eine oder andere aus ihm herausbekommen.« Sky seufzte. Das hatte er seinem Vater alles bereits erzählt, aber entweder verlor Titus allmählich sein Gedächtnis, oder er wollte es noch einmal hören.

»Was hat er genau gesagt?«

»Nichts, was wir nicht selbst erraten hätten. Wir wissen immer noch nicht mit Sicherheit, wer ihn an Bord gebracht hat, aber es war höchstwahrscheinlich eine der Parteien, von der man erwarten konnte, dass sie irgendwelchen Ärger machte.«

Sein Vater hob den Finger. »Diese Waffe; die Maschine in seinem Arm…«

»Nicht so ungewöhnlich, wie man glauben könnte. Gegen Ende des Krieges gab es offenbar eine ganze Reihe von solchen Saboteuren. Wir hatten Glück, dass man ihm keinen Atomsprengkopf in den Arm eingebaut hat — obwohl der natürlich sehr viel schwerer zu verbergen gewesen wäre.«

»War er jemals ein Mensch?«

»Das werden wir wohl nie erfahren. Einige Exemplare wurden im Labor gezüchtet. Andere sind ehemalige Gefangene oder Freiwillige, die man mit chirurgischen Eingriffen im Gehirn und psychischer Konditionierung so formte, dass jede interessierte Macht sie als Kriegswaffe verwenden konnte. Sie waren wie Roboter, nur bestanden sie größtenteils aus Fleisch und Blut und waren in begrenztem Maße fähig, sich in gewöhnliche Menschen hineinzuversetzen, wo und wann es ihre Mission erforderte. Sie suchten Anschluss, rissen Witze und nahmen an Gesprächen teil, doch sobald das Ziel in Reichweite war, schalteten sie alle Gefühle ab und wurden zum Killer. Einigen, die für besondere Aufgaben vorgesehen waren, transplantierte man Waffen.«

»Er hatte einen ganzen Eisenwarenladen in seinem Unterarm.«

»Ja.« Sky sah jetzt, worauf sein Vater hinaus wollte. »Zu viel, als dass er damit unbemerkt hätte an Bord kommen können. Jemand muss beide Augen zugedrückt haben. Was nur beweist, dass es eine Verschwörung gab, aber das stand ja eigentlich schon von vornherein fest.«

»Dennoch haben wir den einzigen Spion entdeckt.«

»Ja.« In den Tagen nach dem Angriff hatte man alle schlafenden Passagiere nach verborgenen Waffen untersucht — eine schwierige und nicht ungefährliche Aufgabe —, aber nichts gefunden. »Was zeigt, wie sicher sie sich gefühlt haben müssen.«

»Sky… hat er gesagt, warum er es getan hat oder warum man ihn damit beauftragt hat?«

Sky zog eine Augenbraue hoch. Die Frage war neu, das musste er zugeben. Bisher hatte sich sein Vater nur auf die Details konzentriert.

»Er hat tatsächlich eine entsprechende Bemerkung gemacht.«

»Sprich weiter.«

»Ich konnte nicht allzu viel damit anfangen.«

»Mag sein, ich möchte es trotzdem hören.«

»Er sprach von einer Partei, die etwas entdeckt hätte. Er sagte allerdings nicht, wer oder was diese Leute waren oder wo sie ihren Stützpunkt hatten.«

Die Stimme seines Vaters war jetzt sehr schwach geworden, aber er konnte doch noch fragen: »Und was soll das für eine Entdeckung gewesen sein?«

»Etwas ganz Lächerliches.«

»Sag mir, was es war, Sky.« Sein Vater hielt inne. Sky ahnte, dass er Durst hatte, und befahl dem Zimmerroboter, ihm ein Glas Wasser an die rissigen Lippen zu halten.

»Er sagte, kurz bevor die Flottille das Sonnensystem verließ, hätte es einen wissenschaftlichen Durchbruch gegeben — genauer gesagt, man hätte gegen Ende des Krieges ein bestimmtes wissenschaftliches Verfahren zur Reife entwickelt.«

»Und worum ging es dabei?«

»Um die menschliche Unsterblichkeit.« Sky sprach die Worte so bedächtig aus, als besäßen sie magische Kräfte und dürften nicht leichtfertig dahingesagt werden. »Die Partei seiner Auftraggeber hätte aus verschiedenen Methoden und Forschungsansätzen, die man im Laufe des Jahrhunderts verfolgt habe, eine wirksame Therapie entwickelt. Sie wäre erfolgreich gewesen, wo andere scheiterten, oder wo man deren Werk aus politischen Gründen unterdrückte. Es handelte sich freilich nicht um ein einfaches Mittel, keine Pille, die man einmal einnehmen und dann vergessen könnte.«

»Weiter«, sagte Titus.

»Die Therapie bestünde vielmehr aus einer ganzen Batterie von verschiedenen Verfahren, einige genetisch, einige chemisch, einige auf der Basis von unsichtbar kleinen Maschinen. Eine unglaublich empfindliche, schwierig durchzuführende Prozedur, die obendrein noch regelmäßig wiederholt werden müsste — aber bei korrekter Durchführung könnte sie wirken.«

»Und was dachtest du?«

»Ich hielt es natürlich für absurd. Oh, ich will nicht leugnen, dass etwas dergleichen möglich wäre — aber wenn es einen solchen Durchbruch gegeben hätte, hätte dann nicht alle Welt davon erfahren müssen?«

»Nicht zwangsläufig. Man befand sich schließlich am Ende eines Krieges. Die normalen Kommunikationsverbindungen waren unterbrochen.«

»Willst du damit sagen, diese Partei könnte tatsächlich existiert haben?«

»Ja, das glaube ich.« Skys Vater hielt inne und nahm alle Kräfte zusammen. »Ich weiß es sogar mit Sicherheit. Ich vermute, das meiste, was der Chimäre dir sagte, war die Wahrheit. Wir reden nicht von Magie — manche Krankheiten waren damit nicht zu besiegen —, aber das Verfahren war sehr viel wirksamer als alles, was uns die Evolution geschenkt hatte. Im Idealfall konnte es die Lebensspanne auf einhundertachtzig Jahre verlängern; in Extremfällen auf zweihundert Jahre — das waren natürlich Extrapolationen —, aber das spielte keine Rolle; wichtig war nur, dass man die Chance bekam, so lange am Leben zu bleiben, bis etwas Besseres erfunden wurde.«

Er ließ sich erschöpft in die Kissen zurücksinken.

»Wer wusste davon?«

Sein Vater lächelte. »Wer wohl? Die Reichen. Menschen, die vom Krieg profitiert hatten. Die an der richtigen Stelle saßen oder die richtigen Leute kannten.«

Die nächste Frage war so grausam, wie sie naheliegend war.

Die Flottille war aufgebrochen, als sich der Krieg im Endstadium befand. Viele von denen, die sich eine Kälteschlafkoje sicherten, wollten eigentlich nur einem System entkommen, das sie für zerrüttet und gefährlich hielten, einem System, das jederzeit wieder in ein schreckliches Blutbad hineinschlittern konnte. Aber die Nachfrage nach Plätzen war ungeheuer groß gewesen, und obwohl sie eigentlich nach Verdienst verteilt werden sollten, musste es für einflussreiche Persönlichkeiten Mittel und Wege gegeben haben, um an Bord zu kommen: Wenn Sky daran jemals gezweifelt hatte, so hatte ihm die Anwesenheit des Saboteurs den Beweis geliefert. Irgendjemand hatte irgendwo die richtigen Fäden gezogen, um den Chimären an Bord zu bringen.

»Nun gut. Und die Schläfer? Wie viele von ihnen wussten von dem Durchbruch bei der Unsterblichkeitstherapie?«

»Alle, Sky.«

Sky sah seinen Vater an und fragte sich, ob der Mann nicht tatsächlich dem Tode nahe war. Von den Stichwunden hätte er sich erholen müssen — sie waren eigentlich nicht so schwer gewesen —, aber dann war es zu Komplikationen gekommen: hartnäckigen kleineren Infektionen, die sich immer weiter ausbreiteten. Früher hätte man ihn mit den medizinischen Möglichkeiten der Flottille retten können, er hätte sich ein paar Tage nicht sonderlich wohl gefühlt, doch dann wäre er wieder auf den Beinen gewesen. Aber jetzt konnte man im Grunde nicht mehr tun, als die Selbstheilungskräfte zu unterstützen. Und man war dabei, den Kampf zu verlieren.

Sky überlegte, was Titus Haussmann eben gesagt hatte. »Und wie viele von ihnen hatten die Behandlung tatsächlich bekommen?«

»Die Antwort ist die gleiche.«

»Alle?« Er schüttelte den Kopf, konnte es kaum fassen. »Alle Schläfer, die wir an Bord haben?«

»Ja. Mit ein paar unwesentlichen Ausnahmen — Menschen, die sie aus ethischen oder aus medizinischen Gründen ablehnten. Die meisten unterzogen sich der Behandlung, kurz bevor sie an Bord kamen.« Wieder hielt sein Vater inne. »Das ist das größte und einzige Geheimnis meines Lebens, Sky. Ich habe es immer gewusst — jedenfalls seit mein Vater es mir sagte. Und mir ist es damals auch nicht leicht gefallen, es zu akzeptieren, glaub mir.«

»Wie konntest du so ein Geheimnis bewahren?«

Sein Vater zuckte ganz leicht die Achseln. »Es war Teil meiner Aufgabe.«

»Sag das nicht. Das ist keine Entschuldigung. Man hat uns betrogen, oder etwa nicht?«

»Das kommt darauf an. Zugegeben, man weihte die Besatzung in das Geheimnis nicht ein. Aber das halte ich eher für eine Gnade.«

»Wie kannst du das sagen?«

»Stell dir vor, wir wären unsterblich gewesen. Wir hätten einhundertfünfzig Jahre Gefangenschaft auf diesem Schiff ertragen müssen. Das hätte uns langsam in den Wahnsinn getrieben. Und das hatte man befürchtet. Es war besser, die Besatzung ein normales Leben führen und danach eine andere Generation die Zügel in die Hand nehmen zu lassen.«

»Das nennst du eine Gnade?«

»Warum nicht? Die meisten von uns wissen es doch nicht besser, Sky. O ja, wir dienen den Schläfern, aber wir sind uns bewusst, dass nicht alle von ihnen gesund erwachen werden, wenn wir Journey’s End erreichen, und deshalb sind wir nicht allzu neidisch auf sie. Außerdem müssen wir auch an uns selbst denken. Wir führen das Schiff nicht nur für die Schläfer, wir führen es auch für uns.«

»Gewiss. Das ist nicht mehr als recht und billig. Aber man bekommt doch eine etwas andere Einstellung, wenn man weiß, dass sie uns das Geheimnis der Unsterblichkeit vorenthalten haben, das kannst du nicht leugnen.«

»Mag sein. Deshalb war ich immer sehr darauf bedacht, dieses Geheimnis zu wahren.«

»Aber mir hast du es eben verraten.«

»Du wolltest doch wissen, ob die Geschichte des Saboteurs ein Körnchen Wahrheit enthielt, nicht wahr? Nun weißt du es.« Titus’ Gesicht wirkte für einen Moment so friedlich, als sei eine große Last von ihm genommen worden. Sky dachte schon, sein Vater sei unbemerkt von ihm gegangen, doch gleich darauf bewegte Titus die Lider, befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen und sprach weiter. Noch immer kostete ihn jedes Wort eine ungeheure Anstrengung. »Ich hatte noch einen zweiten Grund, Sky… doch das fällt mir sehr schwer. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, es dir zu sagen.«

»Warum lässt du das nicht mich beurteilen?«

»Nun gut. Warum sollst du es nicht jetzt erfahren? Es gab schon unzählige Gelegenheiten, zu denen ich es dir beinahe gesagt hätte, aber ich hatte nie so recht den Mut dazu. Man sagt ja, ein wenig Wissen sei gefährlich.«

»Und wovon handelt dieses wenige Wissen?«

»Von deiner Stellung.« Titus bat noch einmal um einen Schluck Wasser. Sky dachte an das Wasser im Glas; an die Moleküle, die zwischen die Lippen seines Vaters glitten. Letztlich wurde jeder Tropfen auf dem Schiff wiederaufbereitet und immer von neuem getrunken. Im interstellaren Raum konnte man sich keine Verschwendung leisten. Irgendwann in Monaten oder Jahren würde Sky etwas von dem Wasser trinken, das jetzt den Durst seines Vaters stillte.

»Mein Status?«

»Du bist leider nicht mein Sohn.« Titus sah Sky scharf an, als erwarte er, dass der unter dieser Eröffnung zusammenbräche. »So, jetzt ist es heraus. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Jetzt musst du auch den Rest erfahren.«

Vielleicht ging es schneller mit ihm bergab, als die Maschinen anzeigten, dachte Sky. Vielleicht glitt er unaufhaltsam hinein in den finsteren Schlund der Demenz, je mehr sein Blut vergiftet wurde und sein Gehirn nach Sauerstoff schrie.

»Ich bin dein Sohn.«

»Nein. Nein, das bist du nicht. Ich muss es wissen, Sky, denn ich habe dich aus dieser Kälteschlafkoje geholt.«

»Wovon sprichst du?«

»Du warst einer von ihnen — eine von unseren Momios; einer unserer Schläfer.«

Sky nickte. Das konnte er sofort akzeptieren. Eigentlich, dachte er, wäre Ungläubigkeit die normale Reaktion gewesen, vielleicht sogar Zorn, aber er spürte nichts dergleichen; nur ein tiefes, beruhigendes Gefühl, dass jetzt alles seine Richtigkeit hatte.

»Wie alt war ich?«

»Ein Säugling, nur wenige Tage alt, als du eingefroren wurdest. Außer dir gab es nur wenige, die so jung waren.«

Sky hörte aufmerksam zu, während sein Vater — der nicht sein Vater war — erklärte, Lucretia Haussmann — die Frau, die Sky für seine Mutter hielt — habe an Bord einem Kind das Leben geschenkt. Doch dieses Kind, ein Junge, war wenige Stunden später gestorben. Titus war außer sich gewesen. Er hatte Lucretia erst Stunden, dann Tage lang die Wahrheit verschwiegen und seine ganze Phantasie mobilisiert, während man sie möglichst unter Beruhigungsmitteln hielt. Er fürchtete, die Wahrheit könnte sie umbringen, vielleicht nicht körperlich, aber sie könnte ihre Seele zerstören. Lucretia war eine der beliebtesten Frauen auf dem Schiff. Ihr Verlust wäre ein schwerer Schlag für alle und hätte womöglich verheerende Auswirkungen auf die Moral der Besatzung. Es war schließlich nur eine sehr kleine Gemeinschaft, in der jeder jeden kannte. Unter diesen Umständen wäre der Tod eines Kindes kaum zu verkraften.

Und so fasste Titus einen schrecklichen Plan, und er sollte ihn bereuen, kaum dass er ihn ausgeführt hatte. Doch da war es bereits zu spät.

Er stahl den Schläfern ein Kind. Wie sich zeigte, vertrugen Kinder die Reanimation viel besser als Erwachsene — das hatte etwas mit dem Verhältnis von Körpervolumen und Körperoberfläche zu tun —, es gab also keine größeren Probleme, als er das ausgewählte Kind erwärmte. Titus hatte eines von den Kleinsten gewählt, einen Jungen, um ihn gefahrlos als seinen toten Sohn ausgeben zu können. Doch seine Vorsicht erwies sich als übertrieben: Lucretia hatte ihr totes Baby nicht lange genug gesehen, um den Schwindel zu bemerken.

Titus legte das tote Kind in die Koje und kühlte sie wieder herunter, dann betete er um Vergebung. Wenn der kleine Leichnam entdeckt wurde, wäre er selbst längst tot. Für die Eltern wäre es zwar schrecklich, mit einer solchen Nachricht geweckt zu werden, aber immerhin würden sie von einer neuen Welt erwartet und hätten genügend Zeit, ein neues Kind zu zeugen. Sie wären in einer ganz anderen Situation als Lucretia heute. Und wenn nicht… nun, ohne dieses Verbrechen könnte sich die Lage auf dem Schiff so sehr verschlechtern, dass es sein Ziel niemals erreichte. Das mochte extrem unwahrscheinlich sein, aber es überschritt nicht die Grenzen des Möglichen. Er musste daran glauben. Er musste überzeugt sein, in irgendeinem Sinn zum Wohle der Gemeinschaft gehandelt zu haben.

Ein Verbrechen aus Liebe.

Natürlich hätte Titus das alles nicht ohne Hilfe zustande gebracht, aber nur ein paar von seinen engsten Freunden hatten jemals die Wahrheit erfahren, und sie waren so zuverlässige Partner gewesen, dass sie nie ein Wort darüber verloren hatten. Und jetzt waren sie alle tot, sagte Titus.

Deshalb war es unumgänglich geworden, Sky jetzt einzuweihen.

»Verstehst du?«, fragte Titus. »Ich habe dir immer gesagt, du wärst etwas Besonderes, weißt du noch…? Das war ganz wörtlich zu nehmen. Du warst von uns allen der einzige Unsterbliche. Deshalb hatte ich dich zunächst getrennt von den anderen Kindern erzogen; deshalb warst du so lange allein in deinem Kinderzimmer. Zum Teil auch, weil ich dich vor Infektionen schützen wollte — du warst nicht weniger empfindlich als alle Kinder und bist auch jetzt als Erwachsener nicht gegen Ansteckungen gefeit. Doch hauptsächlich, weil ich selbst neugierig war. Ich wollte deine Entwicklungskurve studieren. Bei Menschen, die auf Unsterblichkeit behandelt wurden, verläuft sie flacher, Sky, und sie flacht mit zunehmendem Alter immer weiter ab. Wenn du dreißig oder vierzig Jahre alt bist, werden die anderen feststellen, dass du ungewöhnlich jugendlich aussiehst. Aber noch wird niemand die Wahrheit ahnen — das kommt erst, wenn du sehr viel älter bist.«

»Ich bin unsterblich?«

»Ja. Das verändert alles, nicht wahr?«

Und das konnte auch Sky Haussmann nicht bestreiten.


Einige Zeit später — sein Vater war wieder in jenen abgrundtiefen Schlaf gefallen, der wie ein Schatten des sicheren Todes anmutete — besuchte Sky den gefangenen Saboteur. Der Chimäre lag auf dem gleichen Bett wie Titus und wurde ebenfalls von Maschinen betreut, doch damit war das Ende der Gemeinsamkeiten auch schon erreicht. Die Maschinen überwachten den Mann nur, er war so stark, dass er keine aktive Hilfe benötigte. Zu stark sogar — auch noch, nachdem man ihm ein ganzes Magazin voll Schrot aus dem Körper geholt hatte. Man hatte ihn mit Plastikfesseln an das Bett gebunden, ein breiter Reifen lag um seine Taille und seine Beine, zwei kleinere Reifen hielten seine Oberarme fest. Den einen Unterarm konnte er bis zum Gesicht heben, der andere hatte natürlich in der Waffe geendet, mit der er auf Titus eingestochen hatte. Diese Waffe war verschwunden, nun endete der Unterarm des Cyborg in einem sauber vernähten Stumpf. Man hatte ihn nach weiteren versteckten Waffen durchsucht, aber nichts gefunden außer den Implantaten, mit denen ihn seine Schöpfer für ihre Zwecke manipuliert hatten.

Eigentlich war die Partei, die den Infiltrator geschickt hatte, an Phantasielosigkeit nicht zu übertreffen, dachte Sky. Sie hatte viel zu viel Wert darauf gelegt, dass er das Schiff sabotierte, obwohl ein schönes, leicht übertragbares Virus genauso wirksam gewesen wäre. Vielleicht hätte es den Schläfern nicht direkt etwas anhaben können, aber ohne eine lebende Besatzung hätten sie kaum eine Chance gehabt, ihr Ziel zu erreichen.

Das sollte allerdings nicht heißen, dass der Chimäre nicht noch nützlich werden konnte.

Sky fand es außerordentlich merkwürdig, plötzlich zu wissen, dass er unsterblich war. Mit kleinlichen Definitionsfragen gab er sich gar nicht erst ab. Natürlich war er nicht unverwundbar, aber wenn er sich in Acht nahm und vorausdachte, konnte er die Risiken minimieren.

Er trat einen Schritt vom Bett des Killers zurück. Man glaubte, den Saboteur überwältigt zu haben, aber vollkommen sicher konnte man nie sein. Zwar sagten die Monitore, der Mann schlafe mindestens so tief wie Skys Vater, aber man überließ besser nichts dem Zufall. Diese Kreaturen waren eigens dafür ausgestattet, andere zu täuschen. Anders als normale Menschen konnten sie ihren Herzschlag und ihre Neuralaktivität kontrollieren. Der Chimäre hätte Sky mit seiner ungefesselten Hand am Hals packen und ihm die Kehle zudrücken können, bis er tot war. Oder er hätte ihn ganz nahe zu sich heranziehen können, um ihm mit den Zähnen das Gesicht zu zerfleischen.

Sky entdeckte einen Arztkoffer an der Wand, öffnete ihn, betrachtete das ordentlich einsortierte Chirurgenbesteck und zog ein Skalpell heraus. Das sterile Metall glänzte bläulich im gedämpften Licht. Sky drehte es hin und her und beobachtete voller Bewunderung, wie die Klinge verschwand, wenn er sie mit der Schneide zu sich hin drehte.

Eine schöne Waffe, dachte er; ein hervorragendes Werkzeug.

Dann näherte er sich damit dem Saboteur.

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