Sechsunddreißig

Während uns Ratko zu Gideon führte, ließ ich die nächste Episode zu. So empfand ich es inzwischen: es lag bei mir, wann es passierte, ich entschied, wann ich dreihundert Jahre alte Erinnerungen durchwühlen, sie in eine Art von chronologischer Ordnung bringen und dann den nächsten Schwung über mich hereinbrechen lassen wollte. Nichts war mir mehr erschütternd fremd. Es war eher, als wüsste ich so ungefähr, was passieren würde, hätte nur in letzter Zeit nicht mehr darüber nachgedacht, etwa wie ein Buch, in dem mich nichts mehr überraschen konnte, obwohl ich lange nicht darin gelesen hatte.

Sky und Norquinco verließen den Schacht und kletterten die glitschigen gerippten Wände hinunter zum Ufer des roten Sees.

Die Made, die zwanzig bis dreißig Meter entfernt in der Flüssigkeit lag, hatte sich soeben als Lago vorgestellt.

Sky nahm allen Mut zusammen. Angst und Entsetzen drohten ihn zu überwältigen, aber er war überzeugt, dass es ihm bestimmt sei, dieses Abenteuer zu überleben.

»Lago?«, sagte er. »Ich weiß nicht recht. Nach allem, was ich hörte, war Lago ein Mensch.«

»Ich bin auch das, was vor Lago existierte.« Die Stimme war laut, aber ruhig und ohne jede Drohung. »Es ist schwer, dies in Lagos Sprache auszudrücken. Ich bin Lago, aber ich bin auch Furchtloser Reisender.«

»Was ist aus Lago geworden?«

»Auch das ist nicht einfach. Entschuldigt bitte.« Die Made verstummte. Literweise ergoss sich rote Flüssigkeit aus ihrem Körper in den See, und umgekehrt strömten viele Liter aus dem See in sie zurück. »Das tut gut. Sehr gut sogar. Lasst mich erklären. Vor Lago gab es nur Furchtloser Reisender, die Helfer-Larven von Furchtloser Reisender und den All-Bau.« Die Fühler wiesen auf die Wände und die Decke der Höhle. »Doch dann wurde der All-Bau beschädigt, und viele der armen Helfer-Larven mussten… in Lagos Bewusstsein gibt es kein Wort dafür. Demontiert? Aufgelöst? Abgebaut werden? Aber sie gingen nicht restlos verloren.«

Sky sah Norquinco an, der kein Wort mehr gesprochen hatte, seit sie die Höhle betreten hatten. »Was geschah, bevor euer Schiff beschädigt wurde?«

»Ja — Schiff ist das Wort. Nicht All-Bau. Viel besser.« Der Mund verzog sich zu einem grässlichen Grinsen, und wieder plätscherte ein roter Schwall in den See. »Das ist lange her.«

»Fang ganz von vorne an. Warum seid ihr uns gefolgt?«

»Uns?«

»Der Flottille. Den fünf anderen Schiffen. Den fünf anderen All-Bauen.« Trotz seiner Angst reagierte Sky gereizt. »Himmel, was ist daran denn so schwierig?« Er hob die Faust und streckte einen Finger nach dem anderen aus. »Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Verstehst du? Fünf. Es gab fünf weitere All-Baue, gebaut von uns — von Wesen wie Lago — und ihr seid uns gefolgt. Ich wüsste gerne, warum.«

»Das war vor dem Schaden. Nach dem Schaden gab es nur noch vier All-Baue.«

Sky nickte. Das Wesen hatte also mitbekommen, was mit der Islamabad geschehen war. »Heißt das, du weißt es nicht mehr?«

»Nicht mehr genau, nein.«

»Gib dir Mühe. Wo seid ihr hergekommen? Wieso habt ihr euch an unsere Flottille gehängt?«

»Es gab zu viele Baue. Furchtloser Reisender kann sich nicht so weit zurückerinnern.«

»Du brauchst nicht bis ganz an den Anfang zu gehen. Sage mir nur, wie du an diesen Ort kamst.«

»Irgendwann einmal gab es nur noch Maden, obwohl es viele Baue gegeben hatte. Wir machten uns auf die Suche nach anderen Madenarten, aber wir fanden keine.« Das konnte man vermutlich so übersetzen, dachte Sky, dass es eine Zeit gegeben hatte, als das Volk von Furchtloser Reisender den Weltraum durchquert hatte, aber auf keine andere Intelligenzform gestoßen war.

»Wie lange ist das her?«

»Eine Ewigkeit. Eineinhalb Umdrehungen.«

Sky überlief ein Schauer kosmischer Ehrfurcht. Vielleicht irrte er sich, aber er vermutete, dass sich die Made auf die Rotation der Milchstraße bezog; den Zeitraum, den ein beliebiger Stern bei gleichbleibender Entfernung brauchte, um das galaktische Zentrum einmal zu umrunden. Ein solcher Umlauf dauerte mehr als zweihundert Millionen Jahre… das hieß, nach dem Rassengedächtnis der Made — wenn man es so nennen konnte — reisten diese Wesen seit mehr als dreihundert Millionen Jahren durch den Raum. Die Dinosaurier hatten vor dreihundert Millionen Jahren noch nicht einmal als Skizze auf dem Zeichenbrett der Evolution existiert. Zeiträume wie diese reduzierten die Menschen und alle ihre Errungenschaften auf eine dünne Staubschicht auf dem Gipfel eines Berges.

»Erzähl mir auch den Rest.«

»Irgendwann fanden wir doch andere Maden. Aber sie waren nicht wie wir. Sie waren eigentlich überhaupt keine Maden. Sie wollten uns nicht — dulden. Sie waren wie ein All-Bau, aber — leer. Nur der All-Bau war noch da.«

Ein Schiff ohne Lebewesen an Bord.

»Maschinenintelligenzen?«

Wieder grinste der Mund. Es sah wirklich abscheulich aus. »Richtig. Maschinenintelligenzen. Hungrige Maschinen. Maschinen, die Maden fressen. Maschinen, die uns fressen.«


Maschinen, die uns fressen.

Ich erinnerte mich, wie die Made das gesagt hatte: als wäre es letztlich nur ein wenig erfreulicher Teil der Realität; etwas, das man ertragen musste, ohne dass man jemanden dafür verantwortlich machen konnte. Ich erinnerte mich auch, wie sehr mich diese defätistische Denkweise abgestoßen hatte.

Nein — nicht mich hatte sie abgestoßen, beteuerte ich mir selbst. Nicht mich, sondern Sky Haussmann.

So war es doch — oder nicht?

Ratko führte uns drei durch die roh behauenen Tunnel der Traumfeuer-Fabrik. Hin und wieder stießen wir auf größere schwach beleuchtete Räume mit Arbeitern in glänzenden grauen Kitteln. Hier gab es Tische, die mit chemischen Gerätschaften so vollgestellt waren, dass sie an Miniaturstädte aus Glas erinnerten. Wir sahen auch riesige Retorten mit vielen Litern dunklen, blutrot funkelnden Traumfeuers. Ganz am Ende der Produktionsstraße warteten Regale mit säuberlich abgefüllten Ampullen darauf, verteilt zu werden. Viele der Arbeiter trugen die gleichen Brillen wie Ratko. Für jede Stufe im Produktionsprozess schoben sich mit leisem Schwirren andere Speziallinsen vor die Augen.

»Wo bringst du uns hin?«, fragte ich.

»Du wolltest doch etwas zu trinken?«

Quirrenbach flüsterte: »Ich glaube, er bringt uns zu dem Mann. Der Mann hält dies alles in Gang, also unterschätzt ihn nicht — auch wenn er in einer ganz eigenen Welt lebt.«

»Gideon?«, fragte Zebra.

»Auch das gehört dazu«, sagte Ratko. Er hatte sie offensichtlich missverstanden.

Wir durchquerten eine weitere Serie von Produktionslabors und wurden in ein Büro mit unverputzten Wänden geführt. Ein uralter Mann saß — oder lag, das war nicht auf Anhieb zu erkennen — vor einem riesigen, verbeulten Schreibtisch aus Metall. Der Mann befand sich in einer Art Rollstuhl: einem plumpen, schwarzen, gepanzerten Gefährt, das leise vor sich hin gluckerte. Aus undichten Ventilen zischte Dampf. Von der Rückenlehne führten Versorgungsleitungen in die Wand, die sich wahrscheinlich abkoppeln ließen, wenn der Mann auf den schmalen Rädern mit den gewölbten Speichen herumfahren wollte.

Sein Körper verschwand fast völlig unter mehreren aluminiumbeschichteten Decken. Seitlich ragten zwei ausnehmend knochige Arme hervor, die linke Hand lag auf dem Schenkel, die rechte spielte mit einer Batterie von schwarzen Hebeln und Knöpfen, die in eine Armlehne eingelassen waren.

»Hallo«, sagte Zebra. »Sie müssen der Mann sein.«

Der Mann sah uns der Reihe nach an. Seine Haut spannte sich straff über die Knochen und war an manchen Stellen so dünn wie Pergament. Das verlieh ihm ein seltsam durchsichtiges Aussehen. Aber man spürte, dass er früher einmal sehr stattlich gewesen sein musste, und als sich seine Augen endlich auf mich richteten, schienen sie mich zu durchbohren wie zwei Splitter aus interstellarem Eis. Sein kräftiges Kinn war fast verächtlich vorgereckt. Die Lippen zuckten, als sei er im Begriff zu antworten.

Stattdessen glitt die rechte Hand über die Bedienungselemente und betätigte mit überraschender Geschwindigkeit Hebel und Knöpfe. Die dürren Finger wirkten so kräftig und bedrohlich wie die Krallen eines Geiers.

Als er die Hand wieder wegnahm, wurde es im Inneren des Stuhles lebendig. Ein rasend schnelles metallisches Rattern war zu hören. Als das Geräusch verstummte, begann der Stuhl zu sprechen. Die Worte wurden aus melodischen Pfiffen zusammengesetzt. Wenn man sich konzentrierte, konnte man sie sogar verstehen.

»Wie man sieht. Was kann ich für Sie tun?«

Ich riss die Augen auf. Ich hatte mir Gideon in den verschiedensten Farben ausgemalt, aber darauf war ich nun ganz und gar nicht gefasst.

»Sie könnten uns die Drinks geben, die Ratko uns versprochen hat.«

Der Mann nickte — eine äußerst sparsame Bewegung —, und Ratko trat an einen Schrank, der in einer Ecke des Büros in einer Felsnische stand, und kam mit zwei Gläsern voll Wasser zurück. Ich leerte das meine auf einen Zug. In Anbetracht der Tatsache, dass es wahrscheinlich bis vor kurzem noch Dampf gewesen war, war es sogar genießbar. Ratko reichte Zebra das zweite Glas. Sie nahm es mit sichtlichem Misstrauen, doch der Durst war offensichtlich stärker als die Angst, vergiftet zu werden. Ich stellte mein leeres Glas auf den verbeulten Schreibtisch.

»Ich hatte Sie mir etwas anders vorgestellt, Gideon.«

Quirrenbach versetzte mir einen Rippenstoß. »Das ist nicht Gideon, Tanner. Das ist…« Er verstummte und erklärte schließlich einigermaßen hilflos: »Wie ich schon sagte, der Mann.«

Der Mann gab eine Reihe von neuen Befehlen in seinen Stuhl ein. Wieder ging das Geratter los — es dauerte etwa fünfzehn Sekunden — dann ertönte die pfeifende Stimme von Neuem: »Nein, ich bin nicht Gideon. Aber Sie haben wahrscheinlich von mir gehört. Ich habe dies alles hier erbaut.«

»Was?«, sagte Zebra. »Das Tunnel-Labyrinth?«

»Nein«, sagte der Mann, nachdem der Stuhl die neuen Befehle in Sprache umgesetzt hatte. »Nein. Nicht das Tunnel-Labyrinth. Die ganze Stadt. Den ganzen Planeten.« An dieser Stelle hatte er eine Pause einprogrammiert. »Ich bin Marco Ferris.«

Ich erinnerte mich an Quirrenbachs Bemerkung, der Mann lebe in einer ganz eigenen Welt. Das konnte man wohl sagen. Aber ich spürte unwillkürlich eine gewisse Verwandtschaft mit der Gestalt im dampfbetriebenen Rollstuhl.

Schließlich wusste auch ich nicht mehr so genau, wer ich war.

»Nun, Marco«, sagte ich. »Dann beantworten Sie mir doch eine Frage. Sind Sie hier der Chef oder hat Gideon die Leitung? Genauer gesagt, existiert Gideon überhaupt?«

Der Stuhl klirrte und klapperte. »Oh, natürlich bin ich der Chef, Mister…« Er lehnte es mit einer winzigen Handbewegung ab, meinen Namen zu erfahren; zu mühsam, mitten im Satz innezuhalten und mich danach zu fragen. »Aber Gideon ist hier. Gideon war immer hier. Ohne Gideon wäre ich nicht hier.«

»Warum bringen sie uns dann nicht zu ihm?«, fragte Zebra.

»Weil dafür keine Notwendigkeit besteht. Weil niemand Gideon zu Gesicht bekommt, der nicht ganz ausgezeichnete Gründe dafür hat. Alle Geschäfte laufen über mich, wozu also Gideon mit hineinziehen? Gideon ist nur der Lieferant. Er weiß nicht Bescheid.«

»Trotzdem hätten wir gern mit ihm gesprochen«, sagte ich.

»Tut mir Leid. Unmöglich. Völlig ausgeschlossen.« Er fuhr rückwärts von seinem Schreibtisch weg. Die großen Räder mit den gewölbten Speichen polterten über den unebenen Boden.

»Ich möchte Gideon aber trotzdem sehen.«

»He«, sagte Ratko und trat zwischen mich und den Mann, der sich für Marco Ferris hielt. »Du hast doch gehört, was der Mann sagt?«

Ratko wollte auf mich los, aber er war kein Profi. Ich warf ihn zu Boden, und er blieb mit gebrochenem Unterarm stöhnend liegen. Ich bedeutete Zebra, sich zu bücken und die Pistole an sich zu nehmen, die er hatte ziehen wollen. Jetzt waren wir beide bewaffnet. Ich zog meine eigene Pistole, während Zebra mit der ihren auf den Mann zielte, der sich Ferris nannte.

»Sie haben die Wahl«, sagte ich. »Entweder Sie bringen mich zu Gideon. Oder bringen mich vor Schmerzen wimmernd zu Gideon. Was halten Sie davon.«

Er fingerte an einer anderen Schalterreihe herum. Der Stuhl löste sich von den Versorgungsleitungen. Ich musste damit rechnen, dass er auch über eingebaute Waffen verfügte, aber sie reagierten sicher nicht schnell genug und würden wenig ausrichten können.

»Hier entlang«, sagte der Stuhl nach einem neuerlichen kurzen Ratteranfall.

Ferris führte uns durch weitere Tunnel spiralförmig nach unten. Der Stuhl bewegte sich mit schnellen Dampfstößen vorwärts. Ferris steuerte ihn geschickt durch die engen Felsserpentinen. Ich machte mir so meine Gedanken. Quirrenbach und vielleicht auch Zebra waren offenbar der Meinung, dass er in einer Scheinwelt lebte. Aber wenn er nicht der war, der er behauptete zu sein, wer war er dann?

»Sagen Sie mir, wie Sie hierher kommen«, forderte ich ihn auf. »Und was Gideon damit zu tun hat.«

Der Stuhl ratterte wieder. »Das ist eine lange Geschichte. Zum Glück hat man mich schon oft gebeten, sie zu erzählen. Deshalb habe ich die folgende Erklärung bereits vorprogrammiert.«

Der Stuhl ratterte hoch eine Weile weiter, dann setzte die Stimme wieder ein. »Ich wurde auf Yellowstone geboren, in einem stählernen Schoß ausgetragen und von Robotern aufgezogen. Bevor wir die Menschen nämlich lebend von Stern zu Stern befördern konnten, mussten sie aus einer gefrorenen Eizelle gezüchtet und von vorausgeschickten Robotern zum Leben erweckt werden.« Ferris war einer von den Amerikanos gewesen; so viel wusste ich bereits. Die Zeit, von der er sprach, war so lange her — es war sogar noch vor Haussmann gewesen —, dass sie sich zumindest in meiner Vorstellung nahtlos in ein historisches Panorama mit Segelschiffen, Konquistadoren, Konzentrationslagern und Pestepidemien einfügte.

»Wir fanden den Abgrund«, erzählte Ferris. »Das war die große Überraschung. Vom System der Erde aus hatte man ihn auch mit den besten Instrumenten nicht sehen können. Er war zu klein. Doch als wir anfingen, unsere Welt zu erkunden, war er plötzlich da. Ein tiefes Loch in der Planetenkruste, das Wärme und eine Gasmischung ausrülpste, aus der wir Luft gewinnen konnten.

Eine einleuchtende geologische Erklärung für sein Vorhandensein gab es nicht. Oh, ich kenne die Theorien — Yellowstone sei in jüngerer Vergangenheit durch eine Annäherung des Gasriesen in den Sog von Gezeitenkräften geraten und müsse nun die in seinem Kern gespeicherte Wärme durch solche Abzugsöffnungen an die Oberfläche abgeben. Vielleicht enthält die Geschichte ja sogar ein Körnchen Wahrheit, aber sie ist sicher nicht vollständig, denn sie kann die ungewöhnlichen Eigenschaften des Abgrunds nicht erklären; warum die Gase so anders sind als die übrige Atmosphäre: wärmer, feuchter, um einige Stufen weniger toxisch. Der Abgrund erschien uns fast wie eine Visitenkarte. Und genau das ist er. Ich muss es wissen, denn ich bin unten gewesen und habe mir angesehen, was sich auf dem Grund befindet.«

Er war mit einem der Kleinschiffe zur Erforschung der Atmosphäre in Spiralen immer tiefer und tiefer in den Abgrund hinabgeflogen, bis weit unter die Nebelschicht. Mithilfe seines Radargeräts konnte er es vermeiden, gegen die Seitenwände geschleudert zu werden, aber der Flug war nicht ungefährlich, und irgendwann war sein einsitziges Luftschiff durch einen Systemausfall noch tiefer abgesackt. Dreißig Kilometer unter der Oberfläche war er schließlich auf Grund gestoßen. Das Schiff war auf einer Schicht aus losem Schutt gelandet, die den gesamten Boden bedeckte. Automatische Reparaturprozesse leiteten sich ein, aber er wusste, dass es viele Stunden dauern würde, bis ihn das Schiff zur Oberfläche zurückbringen konnte.

Nur um irgendetwas zu tun, hatte Ferris einen der Atmosphäreanzüge — zum Schutz vor extremen Drücken, Temperaturen und chemischen Zusammensetzungen — angelegt und sich daran gemacht, die Schuttschicht zu untersuchen. Er sprach vom Geröllfeld. Durch Spalten im Fels drang warme, feuchte, sauerstoffreiche Luft nach oben.

Ferris arbeitete sich mühsam durch den Schotter nach unten vor. Es war schier unerträglich heiß, und mehr als einmal war er in Gefahr, sich zu Tode zu stürzen, aber er blieb auf den Beinen und fand einen Weg, der ihn mehrere hundert Meter in die Tiefe führte. Der Schutt drückte auf die darunter liegenden Schichten, aber es gab immer wieder eine Lücke, durch die er sich zwängen, eine Stelle, wo er einen Haken setzen und ein Seil festmachen konnte. Der Gedanke an den Tod begleitete ihn auf Schritt und Tritt, aber immer nur als abstrakte Möglichkeit. Keiner der erstgeborenen Amerikanos hatte sich jemals mit dem Tod auseinander gesetzt; sie hatten nie erleben müssen, wie Menschen älter wurden als sie selbst und schließlich starben. Deshalb konnten sie auch keine gefühlsmäßige Beziehung zum Tod entwickeln.

Und das war gut so. Denn wenn Ferris die Risiken etwas besser erkannt und genau verstanden hätte, was der Tod bedeutete, wäre er wahrscheinlich nicht so tief in das Geröllfeld eingedrungen.

Und er hätte Gideon niemals gefunden.

Sie mussten so lange durch das Weltall gereist sein, bis sie eine andere Spezies fanden, dachte Sky — eine Roboter- oder Cyborg-Intelligenz.

Ganz langsam und mit viel Mühe entlockte er Furchtloser Reisender so etwas wie eine zusammenhängende Geschichte. Die Maden waren viele Millionen Jahre lang eine friedfertige, arglose Raumfahrerzivilisation gewesen, bis sie auf die Maschinen stießen. Den Sprung ins All hatten sie aus ziemlich obskuren Gründen gewagt, die Furchtloser Reisender nicht erklären konnte. Sky erfuhr nur, dass weder Neugier noch die Erschließung neuer Ressourcen ihre Hauptmotive waren. Es war einfach etwas, das man als Made tat; ein imperatives Element aus der Frühzeit der Evolution. Wissenschaft und Naturwissenschaften um ihrer selbst willen besaßen für Maden keine unwiderstehliche Anziehungskraft, sie bedienten sich offenbar nur gewisser Verfahren, die schon so lange im Rassengedächtnis schlummerten, dass die ihnen zugrundeliegenden Gesetze in Vergessenheit geraten waren.

Wie nicht anders zu erwarten, war es ihnen schlecht ergangen, als die fernen Kolonien auf die madenfressenden Maschinen stießen. Die Madenfresser drangen langsam aber sicher in ihren Lebensraum vor und zwangen die Maden, Verhaltensmuster zu ändern, in denen sie seit mehreren zehn Millionen Jahren erstarrt waren. Die Maden konnten nur überleben, wenn sie begriffen, dass sie verfolgt wurden.

Selbst dazu brauchten sie eine Million Jahre.

Dann begannen sie mit gletscherhafter Langsamkeit zumindest Überlebensstrategien zu entwickeln, wenn auch von Gegenwehr noch nicht die Rede sein konnte. Sie gaben ihre Oberflächenkolonien auf und evakuierten die gesamte Bevölkerung in den interstellaren Raum, um sich besser vor den Madenfressern verstecken zu können. Sie errichteten All-Baue von der Größe kleiner Planeten. Nach und nach trafen sie auf die bedrängten Überreste anderer Spezies, die ebenfalls von den Fressern verfolgt wurden, für die sie allerdings andere Namen hatten. Von ihnen übernahmen die Maden die für ihre Bedürfnisse erforderlichen Technologien, bemühten sich aber meist nicht, sie auch zu verstehen. Die Kontrolle der Schwer- und Inertialkraft lernten sie von einer symbiotischen Rasse namens ›Nestbauer‹. Eine Form der instantanen Kommunikation erbten sie von einer Zivilisation, die sich die ›Sternenspringer‹ nannte. Als die Maden sich erkundigten, ob durch Anwendung der gleichen Gesetze auch Reisen ohne Zeitverlust möglich wären, wurden sie allerdings streng getadelt. Bei den Sternenspringern galt es als Frevel, die feine Grenze zwischen der Signalübertragung und der Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit zu überschreiten. Das eine war unter genau definierten Bedingungen statthaft. Das andere galt als abscheuliche Perversion; schön die Vorstellung war den Sternenspringern so zuwider, dass empfindsamere Naturen einfach dahinwelkten und starben.

Nur einer sehr jungen und sehr unkultivierten Spezies konnte diese Haltung unbegreiflich sein.

Doch trotz aller technischer Errungenschaften der Maden und anderer lose mit ihnen verbündeter Zivilisationen, es reichte nie, um die Maschinen zu schlagen. Stets waren sie schneller; stets waren sie stärker. Hin und wieder errangen die Organischen einen Sieg, aber der allgemeine Trend ging stets dahin, dass die Madenfresser die Oberhand behielten.

Sky war tief in Gedanken, als Gomez sich wieder meldete. Das Signal war sehr schwach, doch die Ungeduld in seiner Stimme nicht zu überhören.

»Sky. Schlechte Nachrichten. Die beiden Shuttles haben zwei Drohnen abgesetzt. Vielleicht sind es nur Kameras, aber ich vermute, sie haben Sprengköpfe mit Aufschlagzündern. Sie fliegen mit hoher Beschleunigung und werden uns in etwa fünfzehn Minuten erreichen.«

»Ausgeschlossen«, sagte Norquinco. »Sie würden uns nicht angreifen, ohne vorher festgestellt zu haben, was hier vorgeht. Genau wie wir müssen sie doch glauben, ein ganzes Flottillen-Schiff mit… hm… Überlebenden und Vorräten vor sich zu haben, das sie damit zerstören würden.«

»Nein«, sagte Sky. »Sie würden es tun — denn sie wollen um jeden Preis verhindern, dass wir bekommen, was immer sie auf der Caleuche vermuten.«

»Ich glaube es nicht.«

»Warum nicht? Ich würde genauso handeln.«

Er befahl Gomez, sich nicht von der Stelle zu rühren, und unterbrach die Verbindung. Er hatte mit einer Frist von mehreren Stunden gerechnet, jetzt blieben ihm weniger als fünfzehn Minuten. Wahrscheinlich hätte die Zeit nicht einmal ausgereicht, um zum Shuttle zurückzukehren und abzulegen, auch ohne sich erst den Weg frei schneiden zu müssen. Doch noch war Zeit zum Handeln. Zeit, sich den Rest von Furchtloser Reisenders Geschichte anzuhören. Vielleicht änderte das alles. Sky verdrängte jeden Gedanken an die verrinnenden Sekunden, an die heranrasenden Flugkörper, und bat die Made, mit ihrer Erzählung fortzufahren.

Furchtloser Reisender war gern dazu bereit.


»Gideon«, sagte der Mann im Rollstuhl, nachdem er seine Geschichte mit einer Befehlssequenz radikal abgekürzt hatte.

Wir waren in einer natürlichen Höhle angekommen, die hoch oben in einer konkaven Felswand lag. Davor befand sich ein Sims, das breit genug war für den Rollstuhl. Ich überlegte, ob ich Ferris über den Rand stoßen sollte, aber das verhinderte ein stabiles Geländer, das nur an einer Stelle Zugang zu einer vergitterten Wendeltreppe bot, die zum Boden der Höhle führte.

Quirrenbach schaute über den Rand. »Verdammter Mist!«, fluchte er.

»Allmählich kriegen Sie den Bogen raus«, lobte ich.

Vermutlich wäre ich ebenso schockiert gewesen wie Quirrenbach — aber ich wusste, was Sky in der Caleuche vorgefunden hatte, und war vorgewarnt. Da unten befand sich eine Made — sogar noch größer als jene, die Sky gesehen hatte, dachte ich —, aber sie war allein; es gab keine Helfer-Larven.

»Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet«, sagte Zebra.

»Damit rechnet niemand«, sagte der Mann im Rollstuhl.

»Kann mir bitte ein Mensch erklären, was, zum Teufel, das sein soll?«, flehte Quirrenbach. Er hatte größte Mühe, sich einen letzten Rest von klarem Denken zu bewahren.

»Mehr oder weniger das, wonach es aussieht«, sagte ich. »Ein großes außerirdisches Wesen. Auf seine ganz eigene Art auch intelligent. Sie nennen sich Maden.«

»Woher… Wissen… Sie… Das.« Quirrenbach stieß die Worte einzeln und mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Ich hatte schon einmal das Vergnügen, die Bekanntschaft eines ihrer Vertreter zu machen.«

»Wann?«, fragte Zebra.

»Vor sehr, sehr langer Zeit.«

Quirrenbachs Stimme hörte sich an, als stünde er am Rand eines Nervenzusammenbruchs. »Ich kann Ihnen nicht folgen, Tanner.«

»Glauben Sie mir, ich kann das alles selbst noch gar nicht fassen.« Ich nickte Ferris zu. »Sie und er — die Made — Sie haben eine sehr enge Beziehung, wie?«

Der Stuhl ratterte. »Eigentlich ist es ganz einfach. Gideon gibt uns etwas, das wir brauchen. Ich erhalte Gideon am Leben. Ein fairer Handel«

»Sie foltern ihn.«

»Manchmal muss man ihn ein wenig ermuntern, das ist alles.«

Wieder schaute ich auf die Made hinab. Sie lag in einem Metallbehälter, einer Badewanne mit steilen Wänden, die knietief in einer ekelhaften dunklen Flüssigkeit stand, die an Tintenfischsekret erinnerte. Das Wesen war angekettet, und die Wanne war von hohen Gerüsten und Laufstegen umgeben. Seltsame technische Geräte warteten darauf, an Kränen über die Made bewegt zu werden, in deren Körper an verschiedenen Stellen Elektrokabel und Schlauchleitungen steckten.

»Wo haben Sie ihn gefunden?«, fragte Zebra.

»Sie werden es nicht glauben: hier«, sagte Ferris. »Er lag zwischen den Trümmern eines Raumschiffs, das vielleicht eine Million Jahre zuvor in den Abgrund gestürzt und zerschellt war. Eine Million Jahre. Aber für ihn ist das gar nichts. Obwohl das Schiff beschädigt und nicht mehr flugfähig war, hatte es ihn in einer Art Winterschlaf die ganze Zeit über am Leben erhalten.«

»Er ist hier einfach so abgestürzt?«

»Nicht ganz. Er war auf der Flucht. Aber ich habe nie so recht begriffen, wovor.«

Ich unterbrach die Geräuschflut, die aus dem Stuhl quoll. »Lassen Sie mich raten. Eine Spezies von intelligenten Killermaschinen hatte seine — und andere — Spezies angegriffen; sie über Millionen von Jahren von Stern zu Stern gejagt. Irgendwann wurden die Maden in den interstellaren Raum abgedrängt, fern jeder Sonne. Aber diese hier muss ein bestimmtes Ziel gehabt haben — vielleicht hatte man sie auf eine Spionagemission hierher geschickt.«

Ferris tippte neue Befehle ein, und der Stuhl pfiff: »Woher wollen Sie das wissen?«

»Wie ich Quirrenbach eben sagte: ich und die Maden, wir sind sehr, sehr alte Bekannte.«

Ich rief Skys Erinnerungen an die Geschichte seiner Made ab. Auf der Flucht lernte die Spezies, dass sie sich verstecken musste, um zu überleben, und zwar gründlich. Im All gab es Nischen, wo sich in jüngerer Zeit kein intelligentes Leben entwickelt hatte — Regionen, die nach Supernova-Explosionen oder Neutronensternverschmelzungen steril waren — und diese Zonen eigneten sich am besten als Versteck. Doch die Gefahr war nicht gebannt. Die Intelligenz war stets auf dem Sprung; ständig entstanden neue Kulturen und strömten scharenweise ins All. Solche Ausbrüche von Leben zogen die räuberischen Maschinen an. Sie postierten im Umkreis vielversprechender Sonnensysteme automatische Beobachtungsanlagen und Fallen, die ausgelöst wurden, sobald das System von einer neuen Raumfahrerzivilisation entdeckt wurde. Die Maden und die wenigen Verbündeten, die ihnen noch geblieben waren, fühlten sich zunehmend bedroht und hielten wachsam Ausschau nach Spuren neuen Lebens.

Dem Sonnensystem der Erde hatten sie nie sonderlich viel Beachtung geschenkt. Neugier war für die Maden nach wie vor keine natürliche Regung, sondern ein Willensakt, und erst als die Spuren von Intelligenz im Umfeld der Erde nicht mehr zu übersehen waren, begannen sie, sich dafür zu interessieren. Sie warteten ab, ob die Menschen Reisen in den interstellaren Raum unternahmen, doch Jahrhunderte und dann Jahrtausende vergingen, ohne dass etwas geschah.

Und als dann doch etwas geschah, war es nicht günstig.

Was Ferris von Gideon erfahren hatte, passte genau zu dem, was Sky an Bord der Caleuche entdeckt hatte. Ferris’ Made war von einem einzigen hartnäckigen Feind über Hunderte von Lichtjahren — und zeitlichen Jahren — gejagt worden. Die feindliche Maschine war schneller als das Madenschiff, sie konnte engere Wendungen fliegen und schärfer abbremsen. Daneben wirkten die Maden mit ihrer Manipulation der Inertialkraft unglaublich schwerfällig. Doch bei aller Schnelligkeit und Stärke hatten auch die Killermaschinen ihre Grenzen — genauer gesagt, ihre blinden Stellen —, und die hatten die Maden im Lauf der Jahrtausende sorgfältig dokumentiert. Für so effektive Killer waren ihre Verfahren zur Gravitationsmessung erstaunlich primitiv. Madenschiffe hatten Angriffe überlebt, indem sie sich in der Nähe — oder im Innern — von Körpern mit größerer Masse versteckt hatten.

Als Gideon, gnadenlos verfolgt von der Killermaschine, die gelbe Welt entdeckte, sah er dort eine Chance. Die tiefe geologische Spalte weckte ein Gefühl, das der Glückseligkeit so nahe kam, wie seine Neurophysiologie es überhaupt zuließ.

Beim Anflug hatte ihn der Feind mit Langstreckenwaffen angegriffen. Aber Gideon hatte sein Schiff hinter dem Mond des Planeten versteckt, während eine Salve von Antimateriegeschossen eine Kette von Kratern in dessen Oberfläche riss. Dann hatte er gewartet, bis ihm die Stellung des Mondes einen schnellen, unbemerkten Sprung in die Atmosphäre und dann in den Abgrund ermöglichte, den er bereits aus dem All als potenziellen Unterschlupf ausgemacht hatte. Er hatte die Spalte mit seinen eigenen Waffen vergrößert und vertieft und sich immer weiter in die Kruste der Welt hinein gebohrt. Zu seinem Glück wurden diese Aktivitäten durch die dichte, giftige Atmosphäre weitgehend kaschiert. Doch beim Einfliegen hatte er die schroffen Wände mit einem projizierten Panzernetzstrahl gestreift. Ein verhängnisvoller Fehler. Eine Milliarde Tonnen Schutt waren heruntergekracht und hatten ihn unter sich begraben, während er sich doch nur so lange hatte verstecken wollen, bis die Killermaschine weiterzog und sich ein anderes Ziel suchte. Er hatte mit einer Wartezeit von längstens tausend Jahren gerechnet — für das Zeitgefühl einer Made nicht mehr als ein Lidschlag.

Doch es hatte beträchtlich länger gedauert, bis endlich jemand kam.

»Er wollte wohl von Ihnen gefunden werden«, sagte ich.

»Ja«, antwortete Ferris. »Er hatte sich ausgerechnet, dass sein Feind inzwischen weitergezogen sein musste. Deshalb veränderte er mithilfe seines Schiffes die Zusammensetzung der Gase im Abgrund und erwärmte sie, um seine Anwesenheit zu signalisieren. Außerdem schickte er ein weiteres Signal aus — exotische Strahlung. Aber nicht einmal die hatten wir entdeckt.«

»Die anderen Maden vermutlich auch nicht.«

»Ich denke, mit ihnen blieb er über lange Zeit in Kontakt. Ich fand in diesem Schiff ein Gerät — es konnte kaum Teil des Schiffes sein, und es war völlig intakt, während alles andere uralt wirkte und oft nicht mehr funktionierte. Es sah aus wie eine funkelnde Pusteblume von etwa einem Meter Durchmesser und schwebte, von unsichtbaren Kräften gehalten, in einer eigenen Zelle. Wunderschön und faszinierend anzusehen.«

»Was war es?«, fragte Zebra.

Er hatte die Frage bereits erwarte. »Das versuchte ich auch herauszufinden, aber die Ergebnisse, die ich mithilfe der äußerst groben und in ihrer Aussagekraft begrenzten Tests, die mir zur Verfügung standen, bekam, waren widersprüchlich, paradox. Das Objekt war erstaunlich dicht, so dicht, dass es solare Neutrinos aufhalten konnte. So wie es alles Licht um sich herum beugte, hätte ein starkes Gravitationsfeld vorhanden sein müssen — aber da war nichts. Es schwebte einfach.

Man brauchte nur die Hand auszustrecken, um es zu berühren, aber es war von einer kribbelnden Schutzwand umgeben, die man nicht durchdringen konnte.« Während der Stuhl noch sprach, gab Ferris bereits eine neue Befehlssequenz ein. Seine Finger glitten so mühelos und schnell über die Schaltelemente, als wäre er ein Pianist, der Tonleitern spielte. »Irgendwann bekam ich natürlich heraus, worum es sich handelte, aber ich musste schon die Made überreden, es mir zu verraten.«

»Überreden?«

»Gideon besitzt so etwas wie Schmerzrezeptoren, und einige Bereiche seines Nervenssystems produzieren emotionale Reaktionen, die mit panischer Angst vergleichbar sind. Ich musste sie nur erst finden.«

»Was war es denn?«, fragte Zebra.

»Ein Kommunikationsgerät, aber von ganz besonderer Art.«

»Schneller als Licht?«

»Nicht ganz«, antwortete Ferris nach der üblichen Pause. »Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass wir es als solches erkennen könnten. Es sendet und empfängt keine Informationen. Das haben dieses Gerät — und seine Gegenstücke auf anderen Madenschiffen — nicht nötig. Sie enthalten bereits alle Informationen, die jemals würden empfangen werden.«

»Das ist mir nicht so ganz klar«, sagte ich.

»Dann will ich es anders formulieren«, sagte Ferris. Die Antwort war wohl schon in der Warteschleife gewesen. »Jedes einzelne Kommunikationsgerät enthält bereits alle Botschaften, die jemals an ein infrage kommendes Schiff übermittelt werden sollen. Die Botschaften sind darin eingeschlossen, aber vor dem festgelegten Freigabezeitpunkt nicht zugänglich. In etwa zu vergleichen mit versiegelten Befehlen auf einem Segelschiff aus früherer Zeit.«

»Ich kann immer noch nicht folgen«, sagte ich.

»Ich auch nicht«, nickte Zebra.

»Passen Sie auf.« Der Mann beugte sich vor — was ihn sicherlich große Anstrengung kostete. »Im Grunde ist es ganz einfach. Die Maden archivieren jede Botschaft, die sie im Laufe ihrer Rassengeschichte jemals schicken werden. Weit in der Zukunft — die auch für uns noch weit in der Zukunft liegt — werden die Aufzeichnungen miteinander verschmolzen. Wozu, das habe ich nie richtig verstanden — nur dass es sich um einen geheimen Mechanismus handelt, der über die ganze Galaxis verteilt ist. Ich muss gestehen, dass mir das System auch nie in allen Einzelheiten klar wurde. Eindeutig ist nur der Name, und auch den kann man in einer Übersetzung wahrscheinlich nur ungefähr wiedergeben.« Er hielt inne und sah uns alle mit seinen merkwürdig kalten Augen an. »Galaktisches Endgedächtnis. Das ist ein riesiges, lebendes Archiv — oder wird es einmal sein. Derzeit existiert es, glaube ich, erst in Teilen: der Rohbau eines Gebäudes, das in Millionen oder Milliarden von Jahren entstanden sein wird. Aber sein Zweck ist ganz leicht zu erklären. Das Archiv — was immer es sein mag — ist zeitübergreifend. Es steht in Verbindung mit allen vergangenen und künftigen Versionen seiner selbst bis zurück zur Gegenwart und weiter in die Vergangenheit. Die Daten werden ständig ausgetauscht und unablässig wiederholt. Und das Kommunikationsgerät der Maden ist, wenn ich recht verstanden habe, ein Splitterchen dieses Archivs, ein winziger Teil, der nur datierte Botschaften zwischen den Maden und einer Handvoll verbündeter Spezies enthält.«

»Was hindert die Maden, die Botschaften früher zu lesen, als sie abgeschickt werden, um herauszufinden, wie sich künftige Ereignisse abwenden lassen?«

Auch auf diese Frage war Ferris vorbereitet. »Das können sie nicht. Alle Botschaften sind verschlüsselt — und ohne den Schlüssel kommt man nicht an sie heran. Das ist das Raffinierte an der Sache. Der Schlüssel ist offenbar, so weit die Made verstanden hat, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Universum emittierte Gravitationsstrahlung. Wenn die Made eine Botschaft in das Kommunikationsgerät eingibt — die Botschaften werden damit nämlich auch gespeichert —, dann spürt das Gerät den gravitationellen Herzschlag des Universums — das Ticken der Pulsare, die sich spiralförmig auf einander zu bewegen, das leise Stöhnen, wenn im Herzen ferner Galaxien Schwarze Löcher die Sterne verschlingen. Das alles fängt das Gerät auf und schafft daraus eine einmalige Signatur; einen Schlüssel, mit dem es die eingehende Botschaft chiffriert. Die Botschaft ist in jedem Gerät vorhanden, aber sie kann erst abgerufen werden, wenn das Gerät festgestellt hat, dass der gravitationelle Hintergrund übereinstimmt. Oder fast übereinstimmt — es muss natürlich auch die räumliche Position des Empfängers berücksichtigen. Damit sind die Geräte auf Entfernungen von einigen tausend Lichtjahren einsetzbar. Wird diese Reichweite überschritten, dann wird die Hintergrundsignatur nicht mehr als korrekt erkannt. Nun könnte man versuchen, den Hintergrund zu fälschen, auf der Basis bereits bekannter Beiträge die künftige Gravitationssignatur des Universums zu erschließen, aber das scheint nicht zu funktionieren. Die Geräte fallen dann einfach in sich zusammen und gehen ein.«

Die Made hatte also wohl über Jahrhunderte einen gewissen Kontakt zu ihren weit entfernten Verbündeten halten können. Doch dann war sie an die Grenzen der Speicherkapazität ihres Kommunikationsgeräts gestoßen und hatte nur noch sparsam gesendet. Auch hieß es, der Feind hätte ebenfalls Zugriff auf die Botschaften — er besäße Kopien der Geräte —, deshalb sei es nicht ungefährlich, sie zu benützen. Das Wesen hatte sich einsam gefühlt, als es gejagt wurde, aber jetzt begriff es, dass es wahre Einsamkeit nie kennen gelernt hatte. Einsamkeit war eine schwere, eine erdrückende Last, vergleichbar den Felsbergen, die sich über ihm türmten. Dennoch war es nicht dem Wahnsinn verfallen. Alle zwanzigtausend Jahre hatte es sich ein Gespräch mit seinen Verbündeten gestattet und sich so ein schwaches Gefühl der Zugehörigkeit bewahrt, die Illusion, in der Arena der Madenpolitik noch eine kleine Rolle zu spielen.

Doch dann hatte Ferris die Made aus dem Schiff geholt und sie von ihrem Kommunikationsgerät getrennt. Damit hatte für Gideon wohl der Sturz in den Madenwahnsinn begonnen.

»Sie melken ihn, nicht wahr?«, sagte ich. »Er sondert das Traumfeuer ab. Und nicht nur das. Sie verwerten auch seine Angst und seine Einsamkeit, destillieren diese Eindrücke und verkaufen Sie.«

»Wir haben Sonden in sein Gehirn eingeführt«, pfiff Ferris’ Stuhl, »und lesen seine Neuralmuster ab. Die werden im Rostgürtel durch irgendein Computerprogramm gejagt und zu einem Produkt verarbeitet, das ein Mensch gerade noch verkraften kann.«

»Wovon redet er da?«, fragte Zebra.

»Empirika«, antwortete ich. »Die schwarzen mit dem kleinen Madenlogo am oberen Ende. Ich habe sogar eins ausprobiert. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete.«

»Von denen habe ich gehört«, sagte Zebra. »Aber ich habe selbst keine Erfahrung damit. Ich war nicht einmal sicher, ob es sich dabei nicht um eine Legende handelt.«

»Nein, es gibt sie wirklich.« Ich erinnerte mich nur zu gut an den Schwall von Emotionen, den der Datenstab damals an Bord der Strelnikov in mein Gehirn geleitet hatte. Am stärksten waren die entsetzliche Klaustrophobie und eine lähmende Angst gewesen — unterlegt mit dem abscheulichen Eindruck, die Klaustrophobie wäre, so bedrückend sie auch sein mochte, immer noch besser als das All, in dem die Räuber ihr Unwesen trieben. Ich spürte noch immer das Entsetzen, das das Empirikum mir eingeflösst hatte; seine kaum merkliche, aber doch erkennbar fremde Ausstrahlung. Damals hatte ich mir nicht vorstellen können, warum ein Mensch für eine solche Erfahrung auch noch bezahlen sollte, inzwischen verstand ich das schon sehr viel besser. Es ging um Grenzerfahrungen; um alles, was die Qual der Langeweile etwas mildern konnte.

»Was bekommt er dafür?«, fragte Zebra.

»Eine Pause«, erklärte Ferris.

Ich sah, was er meinte. In dem schwarzen Schleim auf dem Boden des Tanks wateten grau gekleidete Arbeiter mit riesigen Stachelstöcken herum. Das schwarze Zeug reichte ihnen bis zu den Knien. Hin und wieder fuhr einer mit dem Stachelstock über die graue Seite der Made. Dann überlief ein Zittern den plumpen Körper. Blassrotes Sekret spritzte aus den Poren der silbrig-fleckigen Haut. Einer der Arbeiter sprang hin und fing es mit einem Glaskolben auf.

Aus dem Mundorgan am anderen Ende kam ein hohes, schrilles Quieken.

»Ich nehme an, er produziert nicht mehr so viel Traumfeuer wie früher«, sagte ich angewidert. »Was ist es überhaupt? So etwas wie eine organische Maschinerie?«

»Das nehme ich an«, antwortete Ferris mit einer Gleichgültigkeit, die kaum zu überbieten war. »Schließlich hat er die Schmelzseuche hierher gebracht.«

»Hierher gebracht?«, fragte Zebra. »Aber er ist doch schon seit Jahrtausenden hier?«

»Richtig. Und er lag die ganze Zeit im Winterschlaf. Doch dann kamen wir und besetzten die Oberfläche mit unseren jämmerlichen kleinen Siedlungen und Städten.«

»Wusste er, dass er die Seuche hatte?«

»Das bezweifle ich sehr. Vermutlich trug er sie in sich, ohne es zu ahnen; eine alte Infektion, mit der sein Körper sich längst arrangiert hatte. Vielleicht ist das Traumfeuer nur wenig jünger; ein natürlicher oder künstlich entwickelter Schutz gegen die Krankheit: eine lebendige Suppe aus mikroskopisch kleinen Maschinen, die er unaufhörlich absondert. Die Maschinen waren gegen die Seuche immun und hielten sie in Schach, aber sie taten noch viel mehr. Sie heilten Verletzungen und nährten ihren Wirt, leiteten Informationen zwischen ihm und den untergeordneten Maden hin und her… irgendwann wurde das Sekret wohl so sehr ein Teil der Spezies, dass die Maden nicht mehr ohne es leben konnten.«

»Aber irgendwie gelangte die Seuche in die Stadt«, sagte ich. »Wie lange sind Sie schon hier unten, Ferris?«

»Unendlich lange, fast vierhundert Jahre. Seit ich Gideon fand. Mir konnte die Seuche natürlich nichts anhaben — ich hatte nichts in mir, das Schaden nehmen konnte. Andererseits hielt mich sein Traumfeuer — man könnte auch sagen, sein Blut — am Leben, denn andere Verfahren zur Lebensverlängerung standen mir nicht zur Verfügung.« Er strich über die silbrige Decke, die seinen Körper verhüllte. »Natürlich konnte es dem Alterungsprozess nicht restlos aufhalten. Das Feuer hat Heilkräfte, aber ein Wundermittel ist es ganz sicher nicht.«

»Dann haben Sie Chasm City nie gesehen?«, fragte ich.

»Nein — aber ich weiß, was dort geschehen ist.« Er sah mich scharf an; unter der Kälte seines Blicks gefror mir fast das Blut in den Adern. »Ich hatte es prophezeit. Ich wusste, was geschehen würde. Ich wusste, die Stadt würde sich in ein Monstrum verwandeln, bevölkert von Blutsaugern und Dämonen. Unsere klügsten, schnellsten und kleinsten Maschinen würden sich gegen uns wenden, Körper und Geist zersetzen, uns zu perversen Missgeburten machen. Es würde eine Zeit kommen, da wir auf einfachere Maschinen, ältere, primitivere Konstruktionen zurückgreifen müssten.« Er hob anklagend den Zeigefinger. »All das habe ich vorausgesehen. Können Sie sich vorstellen, dass ich diesen Stuhl in nur sieben Jahren gebaut habe?«

Am anderen Ende der Made beugte sich ein Arbeiter mit einer Art Kettensäge von einem Laufsteg und säbelte von Gideons Rücken eine große, in allen Regenbogenfarben schillernde Scheibe ab.

Ich betrachtete die Flicken auf meinem Mantel.

»Gut gemacht, Ferris«, sagte Zebra. »Kann ich Ihnen noch eine Frage stellen, bevor wir uns wieder auf den Weg machen?«

Er tippte die Antwort in seinen Stuhl ein. »Ja?«

»Haben Sie auch das prophezeit?«

Dann zog sie ihre Pistole und schoss auf ihn.


Auf der Fahrt nach oben überdachte ich noch einmal, was Ferris mir gezeigt und was ich aus Skys Erinnerungen erfahren hatte.

Die Maden hatten einen massiven Energieausstoß in der Gegend des Erdsystems beobachtet: fünf feurige Explosionen mit der Signatur von Materie-Antimaterie-Vernichtung. Fünf All-Baue wurden auf eine Geschwindigkeit beschleunigt, über die sich kein Sternenspringer empören konnte: lächerliche acht Prozent Lichtgeschwindigkeit. Dennoch eine beachtliche Leistung, wenn man bedachte, dass die Primaten nur eine Million Jahre zuvor noch mit Knochen aufeinander eingeschlagen hatten.

Als die fünf menschlichen Schiffe bemerkt wurden, hatten die Maden selbst schmerzhafte Verluste hinter sich. Ihre einstmals mächtigen All-Baue waren bei Zusammenstößen mit dem Feind zertrümmert, zerstört worden. Voll Trauer dachten die langlebigen Maden an die Zeit zurück, in der man die Baue zerschlagen und in kleinere, mobilere Unterbaue aufgeteilt hatte. Die großen Maden waren gesellige Wesen, und ihr Schmerz über die Teilung war groß, auch wenn sie dank des überlichtschnellen Signalsystems der Sternenspringer in begrenztem Maße Verbindung zu ihren Baugefährten halten konnten.

Irgendwann heftete sich einer der Unter-Baue an die Fersen der fünf Menschenschiffe und bildete sich so um, dass er einem dieser Schiffe glich. Eine statistische Analyse von Begegnungen mit anderen Rassen im Lauf von zehn Millionen Jahren hatte ergeben, dass diese Taktik den Maden auf lange Sicht Vorteile brachte, auch wenn sie im Einzelfall katastrophale Folgen haben konnte.

Für Madenverhältnisse war der Plan von Furchtloser Reisender ganz einfach. Er wollte die Menschen studieren, um dann zu entscheiden, wie gegen sie vorzugehen wäre. Sollten sie Anstalten machen, sich in diesem Abschnitt des Weltraums massiv auszubreiten und für die Art von Unruhe zu sorgen, die den Fressern kaum entgehen konnte, dann könnte es erforderlich werden, sie auszurotten. Unter den überlebenden Spezies gab es einige, die es übernommen hatten, solche schmerzlichen aber unvermeidlichen Vernichtungsaktionen durchzuführen.

Furchtloser Reisender hoffte, dass es dazu nicht kommen würde. Er hoffte, die Menschen würden ein kleines Ärgernis bleiben, sodass auf eine sofortige Ausrottung verzichtet werden konnte. Wenn sie nur ein oder zwei nahe gelegene Sonnensysteme besiedeln wollten, konnte man sie vorerst in Ruhe lassen. Der Vorgang der Ausrottung barg selbst das Risiko in sich, die Fresser anzulocken, deshalb griff man zu diesem Mittel nur, wenn es wirklich zwingende Gründe gab. Als Jahrzehnte vergingen und die Menschen sich in keiner Weise auffällig oder aggressiv benahmen, brachte Furchtloser Reisender den All-Bau näher und näher an ihre Flottille heran. Vielleicht musste er sich bemerkbar machen; den Dialog aufnehmen und die Schwierigkeit der Lage erklären. Doch gerade als die Made einen Plan für den ersten Annäherungsversuch ausgearbeitet hatte, explodierte eines der Schiffe.

Die Stärke der Explosion entsprach der völligen Vernichtung mehrerer Tonnen Antimaterie. Die Druckwelle hatte den All-Bau von Furchtloser Reisender schwer getroffen. Die Tarnhülle war beschädigt, und von den Larven, die nahe an der Außenhaut arbeiteten, waren viele getötet worden. Furchtloser Reisender hatte ihre Todesqualen über ihre Sekretionen mit empfunden, und als die verletzten Helfer-Larven sich in ihre organischen Bestandteile auflösten, hatte er so viel wie möglich von ihren individuellen Erinnerungen in sich aufgenommen.

Doch die Hälfte seines Gedächtnisses war zerstört. Von Schmerzen gequält, hatte sich Furchtloser Reisender mit dem All-Bau wieder von der Flottille entfernt.

Aber jemand hatte ihn bemerkt. Wenig später waren Oliveira und Lago eingetroffen. Sie hatten nicht so recht gewusst, was sie zu erwarten hatten, und halb und halb an die alte Geschichte von einem Gespensterschiff geglaubt; einem ursprünglichen sechsten Schiff der Flottille, das aus der Geschichte getilgt worden war.

Das hatten sie natürlich nicht vorgefunden.

Oliveira hatte Lago vorgeschickt. Er sollte den Treibstoff suchen, den sie sich aneignen wollten. Und Lago hatte rasch festgestellt, dass er sich nicht auf einem menschlichen Schiff befand. Als die Helfer-Larven ihn in Furchtloser Reisenders Höhle brachten, kam es zur Katastrophe. Furchtloser Reisender hatte dem Fremden nur helfen wollen, indem er ihn darauf hinwies, dass er keinen Raumanzug brauche, weil sie beide die gleiche Luft atmeten. Aber vielleicht war die Form, die er gewählt hatte — er hatte die Helfer-Larven angewiesen, ihm den Anzug vom Leib zu fressen —, im Rückblick betrachtet nicht unbedingt ideal gewesen. Lago war in Panik geraten und hatte die Helfer-Larven mit dem Schweißbrenner angegriffen. Als die Helfer verbrannten, trank Furchtloser Reisender ihre Schmerz-Sekrete und spürte ihre Qualen, als wären es seine eigenen.

Er tat es nicht gern, aber er hatte keine andere Wahl. Er musste Lago zerlegen. Natürlich war auch Lago davon nicht sehr angetan, aber es war bereits zu spät. Die Helfer-Larven hatten Lagos Extremitäten abgetrennt, die interessanteren Teile aus seinem Innern herausgelöst und sich eingeprägt, wie die verschiedenen Komponenten funktionierten und zusammenpassten, bevor sie sein Zentralnervensystem im Sekret auflösten. Furchtloser Reisender hatte so viele von Lagos Erinnerungen in sich aufgenommen, wie er irgendwie verarbeiten konnte. Er hatte gelernt, die gleichen Laute hervorzubringen wie Lago, er hatte gelernt, diesen Lauten Bedeutung zu verleihen, und er hatte sich nach Lagos Vorbild einen Mund wachsen lassen. Andere Maden hatten Lagos Sinnesorgane kopiert oder Teile von ihm in sich integriert.

So war Furchtloser Reisender zu einem umfassenderen Verständnis gelangt und konnte nachvollziehen, warum Lago beim ersten Blick in die Madenhöhle so unangenehm berührt gewesen war. Er bedauerte, was er Lago hatte antun müssen, und versuchte, es wieder gut zu machen, indem er so viel von Lagos Gedächtnis und seinen Bauteilen verwendete, wie er nur konnte.

Die Menschen würden diese Geste sicher zu würdigen wissen.

»Nach Lagos Besuch war die Einsamkeit wieder sehr groß«, sagte der Mund. »Viel größer als zuvor.«

»Du wusstest doch gar nicht, was Einsamkeit ist, bevor du ihn gefressen hattest, du blöder Wurm.«

»Das ist… möglich.«

»Na schön, dann hör mir gut zu! Du hast mir erklärt, dass du Schmerzen empfinden kannst. Gut. Das wollte ich nur wissen. Vermutlich hast du auch einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb, sonst hättest du nicht so lange überlebt. Nun, ich habe einen Hafenbrecher mitgebracht. Wenn du nicht weißt, wovon ich spreche, dann zieh Lagos Erinnerungen zu Rate. Er wusste es bestimmt.«

Eine Pause trat ein. Die Made wurde unruhig; die rote Flüssigkeit schwappte herum wie Meerwasser um einen gestrandeten Wal. Hafenbrecher waren Atomsprengköpfe, die die Flottille an Bord hatte, um sie auf Journey’s End zur Veränderung der Landschaft einzusetzen.

»Ich verstehe.«

»Gut. Vielleicht kannst du ihn mit diesem Gravitationstrick blockieren, aber ich möchte wetten, dass du nicht so ohne weiteres beliebig starke Felder erzeugen kannst, sonst hättest du doch Lago damit lähmen können, als er dir Schwierigkeiten machte.«

»Ich habe dir zu viel erzählt.«

»Wahrscheinlich. Trotzdem will ich noch mehr wissen. Hauptsächlich über dieses Schiff. Du warst in einen Krieg verwickelt, nicht wahr? Vielleicht warst du nicht am Gewinnen, aber ich gehe davon aus, dass du ohne Waffen irgendwelcher Art nicht so lange überlebt hättest.«

»Wir haben keine Waffen.« Der Madenmund verzog sich gekränkt. »Nur Panzernetze.«

»Panzernetze?« Sky überlegte, versuchte, sich in die Denkweise der Made hineinzuversetzen. »Eine Form von Energieprojektion, ja? Du kannst dieses Schiff mit einem Kraftfeld umgeben?«

»Früher konnten wir das. Aber die notwendigen Teile wurden beschädigt, als der fünfte All-Bau zerstört wurde. Nun kann nur noch ein Teil-Netz erzeugt werden. Und das ist gegen einen mächtigen Feind wie die Madenfresser völlig nutzlos. Sie sehen die Löcher.«

»Schön. Hör mir zu. Spürst du die zwei kleinen Maschinen, die auf uns zu fliegen?«

»Ja. Sind das auch Freunde von Lago?«

»Nicht unbedingt.« Bei den Shuttlebesatzungen war das zwar nicht ganz ausgeschlossen, dachte Sky — aber sie waren keinesfalls Freunde von Sky Haussmann, und nur darauf kam es an. »Ich möchte, dass du dein Netz gegen diese Maschinen einsetzt — sonst setze ich den Hafenbrecher gegen dich ein. Ist das klar?«

Die Made hatte verstanden. »Du verlangst, dass ich sie zerstöre?«

»Ja. Sonst zerstöre ich dich.«

»Das würdest du nicht tun. Es wäre dein Tod.«

»Du irrst dich«, sagte Sky freundlich. »Ich bin nicht Lago; ich denke nicht wie er, und ganz sicher handle ich nicht wie er.«

Er suchte sich eine der Helfer-Larven in seiner Nähe aus und jagte eine Maschinengewehrsalve in sie hinein. Die Kugeln schlugen daumengroße Löcher in die blassrosa Außenhaut. Rote Flüssigkeit sickerte heraus, und dann stieß das Wesen mit irgendeinem Teil seines Körpers einen durchdringend schrillen Schrei aus. Aber nein, wenn man genau hinhörte, kam der Schrei von der großen Made, nicht von der kleinen, auf die er geschossen hatte.

Die verletzte Larve versank in dem roten See, bis nur noch ein Teil von ihr zu sehen war. Mehrere Helfer-Larven schlängelten sich auf sie zu und betasteten sie mit ihren Fühlern.

Der Schmerzensschrei schwächte sich zu einem leisen Wimmern ab.

»Du hast mir weh getan.«

»Ich wollte nur etwas klar stellen«, sagte Sky. »Auch Lago hat dir weh getan, aber er schlug nur blind um sich, weil er verängstigt war. Ich bin nicht verängstigt. Ich habe dir weh getan, um dir zu zeigen, wozu ich fähig bin.«

Zwei Helfer-Larven kämpften sich nur wenige Meter von Sky und Norquinco entfernt ans Ufer.

»Nein«, sagte Sky. »Wenn ihr näher kommt, erschieße ich noch eine — und keine dummen Tricks mit der Schwerkraft, sonst geht der Hafenbrecher los.«

Die Larven hielten an und schwenkten hysterisch die Fühler.

Der gelbe Schein, der die ganze Höhle erfüllte, erlosch für eine Sekunde. Auf Dunkelheit war Sky nicht gefasst. Heilloses Entsetzen überkam ihn. Er hatte vergessen, dass die Maden auch die Kontrolle über das Licht hatten. Im Dunkeln konnten sie fast alles mit ihm machen. Er malte sich aus, wie sie den roten See verließen, ihn an den Füßen packten und hineinzogen. Und dann würden sie ihn auffressen, genau wie Lago. Vielleicht kam irgendwann der Moment, wenn er den Hafenbrecher nicht mehr zünden, seinen eigenen Qualen kein Ende mehr setzen konnte.

Vielleicht sollte er es gleich tun.

Doch dann ging das gelbe Licht wieder an.

»Ich habe getan, was du verlangst«, sagte Furchtloser Reisender. »Es war nicht leicht. Wir mussten all unsere Energie zusammennehmen, um das Netz so weit hinaus zu stoßen.«

»Hat es funktioniert?«

»Da draußen sind noch zwei — kleinere All-Baue.«

Die Shuttles. »Ja. Aber bis sie hier sind, dauert es noch eine Weile. Dann kannst du den Trick noch einmal abziehen.« Er rief Gomez. »Was ist passiert?«

»Die Drohnen sind einfach hochgegangen, Sky — als wären sie mit etwas zusammengestoßen.«

»Atomexplosion?«

»Nein. Sie hatten keine Hafenbrecher an Bord.«

»Gut. Du bleibst, wo du bist.«

»Sky — was, zum Teufel, geht da drin vor?«

»Das möchtest du lieber nicht wissen, Gomez — glaube mir.«

Die nächste Frage war so leise, dass er sie kaum verstand. »Hast du — wie hieß er noch? — Lago? Hast du ihn gefunden?«

»O ja. Lago haben wir gefunden. Nicht wahr, Lago?«

Jetzt schaltete sich Norquinco ein. »Sky. Hör zu. Wir sollten jetzt abziehen. Es ist nicht nötig, auch die anderen Besatzungen zu töten. Wir wollen doch keinen Krieg zwischen den Schiffen anzetteln.« Er hob die Stimme, sein Helmlautsprecher ließ die Worte über den roten See schallen. »Du kannst uns auch auf andere Weise beschützen, nicht wahr? Du könntest uns, das Schiff — den ganzen All-Bau in Sicherheit bringen? Sodass uns die Shuttles nicht mehr erreichen können?«

»Nein«, sagte Sky. »Ich will, dass diese Shuttles zerstört werden. Wenn sie einen Krieg zwischen den Schiffen wollen, können sie ihn haben. Wir werden ja sehen, wie lange sie durchhalten.«

»Um Himmels willen, Sky.« Norquinco streckte die Arme aus, als wollte er nach ihm greifen. Sky wich zurück und kam auf dem harten, glatten Boden ins Rutschen. Plötzlich kippte er hintenüber und fiel in die rote Brühe. Er landete auf seinem Rucksack, versank zur Hälfte in den Fluten. Die rote Flüssigkeit schwappte mit unheimlichem Eifer über sein Helmvisier, als suchte sie einen Weg in seinen Anzug. Aus dem Augenwinkel sah er zwei Helfer-Larven auf sich zu schwimmen. Er schlug um sich, aber er fand nirgendwo genügend Halt, um sich ans Ufer zu ziehen oder gar aufzustehen.

»Norquinco. Hol mich raus!«

Norquinco trat vorsichtig an den Rand des roten Sees. »Vielleicht sollte ich dich lassen, wo du bist, Sky. Vielleicht wäre das für uns alle das Beste.«

»Hol mich raus, du Bastard!«

»Ich bin nicht hierher gekommen, um ein Verbrechen zu begehen, Sky. Ich wollte der Santiago — und vielleicht auch dem Rest der Flottille nur helfen.«

»Ich habe den Hafenbrecher.«

»Aber ich glaube nicht, dass du den Mut hast, ihn zu zünden.«

Jetzt hatten ihn die beiden Larven erreicht — dann kam eine dritte dazu, die er noch nicht gesehen hatten. Sie berührten mit verschieden geformten Anhängseln seinen Anzug, drückten und kneteten daran herum. Er schlug um sich, aber die rote Flüssigkeit wurde immer dicker, half mit, ihn festzuhalten.

»Hol mich raus, Norquinco! Das ist die letzte Warnung…«

Norquinco stand immer noch vor ihm, war aber dem Rand nicht näher gekommen. »Du bist krank, Sky. Ich hatte es schon immer geahnt, aber jetzt sehe ich es ganz deutlich. Und ich weiß nicht, wozu du noch fähig bist.«

Dann geschah etwas, womit Sky nicht gerechnet hatte. Er hatte aufgehört, um sich zu schlagen, die Anstrengung ging fast über seine Kräfte. Nun wurde er aus der roten Flüssigkeit gehoben. Die Flüssigkeit selbst schien ihn zu tragen, und die Larven schoben vorsichtig mit. An allen Gliedern zitternd fand er sich am Ufer wieder. Die letzten Spuren des roten Safts liefen an ihm ab.

Sprachlos starrte er Furchtloser Reisender an. Er wusste, dass die Made seine Aufmerksamkeit spürte.

»Du glaubst mir, nicht wahr? Du wirst mich nicht töten. Denn du weißt, was dann geschehen würde.«

»Ich will dich nicht töten«, sagte Furchtloser Reisender. »Denn dann wäre ich wieder so einsam wie vorher, ehe du kamst.«

Sky verstand, und das war ihm ein Gräuel. Das Wesen schätzte seine Gesellschaft, obwohl er ihm Schmerzen bereitet, obwohl er einen Teil von ihm ermordet hatte. Es war in seiner Einsamkeit so verzweifelt, dass es sogar die Nähe seines Folterers ersehnte. Er dachte an den kleinen Jungen, der schreiend in tiefer Dunkelheit stand, verraten von einem Freund, der nie wirklich existiert hatte, und — obwohl die Schwäche des Wesens seinen tiefen Hass erregte — dann verstand er.

Und das fachte seinen Hass noch mehr an.

Er musste noch eine Larve töten, bevor Furchtloser Reisender sich bereit fand, die anfliegenden Shuttles zu zerstören, und diesmal war es nicht nur der Mord an der Larve, der dem Wesen Qualen bereitete. Auch die Erzeugung des Netzes war offenbar schmerzhaft, so als könnte die Made die Schäden des Schiffes spüren.

Doch da war es schon vorüber. Er hätte bleiben, hätte die Made so lange foltern können, bis sie ihm alles sagte, was sie wusste. Hätte sie unter Druck setzen können, bis sie ihm zeigte, wie das Schiff angetrieben wurde, um dann festzustellen, ob es sie womöglich schneller nach Journey’s End bringen konnte als die Santiago. Er hätte sogar erwägen können, einen Teil der Santiago-Besatzung hierher in den All-Bau zu holen — die Maden zu zwingen, Luftzusammensetzung und Temperatur den menschlichen Verhältnissen anzupassen, um dann in den endlosen Tunneln zu hausen. Wie viele Menschen mochte das Alien-Schiff wohl fassen — Dutzende vielleicht, oder Hunderte? Womöglich sogar die Momios, wenn man sie weckte? Eventuell mussten man einige davon an die Helfer-Larven verfüttern, um die bei Laune zu halten, aber damit hätte er leben können.

Stattdessen beschloss er, das Schiff zu zerstören.

Es war die einfachste Lösung. Sie ersparte es ihm, mit der Made zu verhandeln; befreite ihn von dem Ekel, der ihn überkam, wenn er deren Einsamkeit spürte. Und er brauchte nicht mehr zu befürchten, dass der All-Bau jemals den anderen Flottillenschiffen in die Hände fallen könnte.

»Lass uns gehen«, befahl er Furchtloser Reisender. »Öffne uns einen Weg zur Oberfläche nahe der Stelle, an der wir hereingekommen sind.«

Mit tiefen Glockenschlägen wurden Gänge verlegt; Luftschleusen öffneten und schlossen sich. Ein Luftzug strich über das rote Wasser.

»Jetzt könnt ihr gehen«, sagte die Made. »Es tut mir Leid, dass es Meinungsverschiedenheiten gab. Kommt ihr bald wieder?«

»Verlass dich darauf«, sagte Sky.

Wenig später legten sie mit dem Shuttle ab. Gomez hatte immer noch keine Ahnung, was geschehen war; konnte sich nicht erklären, wieso die Gegner beim Anflug einfach explodiert waren.

»Was habt ihr in diesem Schiff vorgefunden?«, fragte er. »Hat sich irgendetwas von dem bestätigt, was Oliveira sagte, oder war er einfach wahnsinnig?«

»Ich denke, er war wahnsinnig«, sagte Sky. Norquinco äußerte sich nicht; seit dem Zwischenfall am See hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen. Vielleicht dachte Norquinco, Sky würde einfach vergessen, was geschehen war, wenn er es nicht mehr erwähnte — es war doch verständlich, wenn einem unter diesem Druck die Nerven versagten. Aber Sky spielte den Sturz im Geist immer wieder durch; sah, wie die rote Flut sich über sein Helmvisier her machte; fragte sich, wie viele Moleküle tatsächlich durchgeschlüpft sein mochten.

»Was ist mit medizinischen Geräten — hast du etwas entdeckt? Und hast du eine Ahnung, was mit dem Rumpf passiert ist?«

»Wir haben das eine oder andere in Erfahrung gebracht«, sagte Sky. »Aber jetzt nichts wie weg von hier, ja? Maximalschub.«

»Aber was ist mit dem Triebwerksbereich? Ich muss mir den Sicherheitsbehälter ansehen, um festzustellen, ob wir die Antimaterie…«

»Tu einfach, was ich sage, Gomez.« Er versuchte es mit einer tröstlichen Lüge. »Wegen der Antimaterie kommen wir ein anderes Mal zurück. Die läuft uns nicht weg.«

Der All-Bau entfernte sich. Gomez flog eine Schleife zur unversehrten Seite, dann schaltete er die Schubdüsen zu. Aus zwei- oder dreihundert Metern Entfernung war nicht mehr zu erkennen, dass das Schiff — zum letzten Mal nannte Sky es in Gedanken Caleuche: das Gespensterschiff — etwas anderes war, als es zu sein vorgab. Sie waren einem Irrtum erlegen, einem katastrophalen Irrtum. Doch das konnte ihnen niemand verdenken — schließlich war die Wahrheit noch um vieles unheimlicher.

Natürlich würde es Ärger geben, wenn sie zur Flottille zurückkehrten. Eins von den anderen Schiffen hatte ihnen seine Shuttles hinterher geschickt, Sky musste also mit Vorwürfen rechnen, vielleicht stellte man ihn sogar vor Gericht. Aber das hatte er eingeplant, und er wusste, dass er mit der nötigen Gerissenheit alles zu seinem Vorteil wenden konnte. Sobald die falsche Spur aufgedeckt wurde, die er mit Norquinco gelegt hatte, würde alles darauf hindeuten, dass Ramirez mit Unterstützung von Constanza die Expedition zur Caleuche arrangiert hatte. Sky erschiene als das ahnungslose Werkzeug eines größenwahnsinnigen Captains. Ramirez würde seinen Posten verlieren, würde vielleicht sogar hingerichtet. Constanza müsste mit einer schweren Strafe rechnen. Und, das verstand sich von selbst, kaum jemand hätte noch Zweifel, wer als Einziger als Ramirez’ Nachfolger infrage kam.

Sky wartete noch eine Minute, länger wagte er es nicht. Womöglich hatte Furchtloser Reisender Verdacht geschöpft und versuchte zu verhindern, was jetzt kam. Dann zündete er den Hafenbrecher. Der grelle Atomblitz hatte die Reinheit einer heiligen Flamme, die Plasmasphäre erblühte wie eine Blume. Dann verlor sich das Blau-Weiß im interstellaren Schwarz, und nichts blieb zurück.

»Was hast du eben getan?«, fragte Gomez.

Sky lächelte: »Ich habe jemanden von seinem Elend erlöst.«


»Ich hätte ihn töten sollen«, sagte Zebra, als sich der Inspektionsroboter der Oberfläche näherte.

»Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte ich. »Aber dann wären wir wahrscheinlich nicht mehr weggekommen.« Sie hatte auf Ferris gezielt, aber man konnte nicht so genau erkennen, wo Ferris aufhörte und sein Rollstuhl anfing, und so hatte der Schuss nur das Lebenserhaltungssystem beschädigt. Von Ferris war ein Wimmern gekommen, dann hatte er versucht, einen Satz zu bilden, doch das Innenleben des Stuhles hatte nach langem Rattern und Knirschen nur eine Folge von sinnlosen Pfiffen hervorgebracht. Vermutlich war mehr als ein schlecht gezielter Schuss erforderlich, um einen vierhundert Jahre alten Mann zu töten, dessen Blut mit Traumfeuer übersättigt war.

»Und was hat dir der kleine Ausflug nun eingebracht?«, fragte sie.

»Das würde ich auch gern wissen«, sagte Quirrenbach. »Wir haben lediglich etwas mehr über die Produktionsmethode erfahren. Gideon ist immer noch da unten, und Ferris ebenfalls. Nichts hat sich geändert.«

»Das kommt noch«, sagte ich.

»Was heißt das?«

»Das war nur ein Informationsbesuch. Wenn alles vorüber ist, fahre ich noch einmal hinunter.«

»Beim nächsten Mal wird er uns erwarten«, sagte Zebra. »Dann rauschen wir nicht mehr so leicht durch die Kontrollen.«

»Wir?«, fragte Quirrenbach. »Du bist zu diesem zweiten Besuch bereits fest entschlossen, Taryn?«

»Richtig. Und tu mir bitte einen Gefallen. Nenn mich von jetzt an Zebra.«

»Ich würde an Ihrer Stelle auf sie hören, Quirrenbach.« Der Inspektionsroboter kippte langsam in die Horizontale, wir näherten uns dem Raum, wo Chanterelle — hoffentlich — noch auf uns wartete. »Ja, wir gehen noch einmal zurück, und nein, beim zweiten Mal wird es nicht mehr so einfach.«

»Was versprechen Sie sich davon?«

»Da unten ist jemand, der von seinem Elend erlöst werden sollte, wie ein guter Freund von mir es einmal ausdrückte.«

»Soll das heißen, Sie wollen Gideon töten?«

»Lieber das, als ständig daran denken zu müssen, wie er leidet.«

»Aber das Traumfeuer…«

»Die Stadt wird eben lernen müssen, darauf zu verzichten. Darauf und auf alles andere, was sie Gideon verdankt. Sie haben gehört, was Ferris sagte. Die Reste von Gideons Schiff liegen immer noch da unten und verändern die chemische Zusammensetzung der Gase im Abgrund.«

»Aber Gideon ist nicht mehr im Schiff«, sagte Zebra. »Du glaubst doch nicht, dass er es immer noch beeinflusst, oder?«

»Ich hoffe nicht«, sagte Quirrenbach. »Angenommen, Sie töten ihn, und der Abgrund hört plötzlich auf, die Stadt mit all den Dingen zu versorgen, auf die sie angewiesen ist… können Sie sich wirklich vorstellen, was dann geschieht?«

»Ja«, sagte ich. »Verglichen damit wäre die Seuche wahrscheinlich wie ein Schnupfen. Trotzdem würde ich es tun.«

Chanterelle erwartete uns. Als wir eintrafen, öffnete sie die Ausstiegsluke und betrachtete uns nervös. Erst als sie überzeugt war, auch wirklich die Personen vor sich zu haben, die hinuntergefahren waren, legte sie ihre Waffe weg und half uns heraus. Wir atmeten erleichtert auf, als wir das Rohr endlich verlassen konnten. Auch hier war die Luft keineswegs frisch, dennoch sog ich sie in tiefen Zügen in meine Lungen.

»Nun?«, fragte Chanterelle. »Hat es sich gelohnt? Sind Sie an Gideon herangekommen?«

»So weit wie nötig«, antwortete ich.

In diesem Moment war unter Zebras Kleidern ein gedämpftes Klingeln zu hören. Sie reichte mir ihre Waffe und fischte eins von den klobigen Uralt-Telefonen aus der Tasche, die derzeit in Chasm City der letzte Schrei waren.

»Er hat wohl schon die ganze Fahrt über versucht, mich zu erreichen«, sagte sie, als sie den Bildschirm aufklappte.

»Wer ist es?«, fragte ich.

»Pransky.« Zebra hielt sich das Telefon ans Ohr, während ich Chanterelle erklärte, der Mann sei Privatdetektiv und hätte als Statist alles mitbekommen, was seit meiner Ankunft geschehen war. Zebra redete leise auf ihn ein und schirmte dabei mit einer Hand die Sprechmuschel ab. Ich konnte nicht hören, was Pransky sagte, und auch Zebras Äußerungen bekam ich nur zur Hälfte mit — aber das genügte mir.

Jemand, vermutlich einer von Pranskys Kontaktleuten, war ermordet worden. Pransky telefonierte vom Schauplatz des Verbrechens, und so, wie Zebra mit ihm sprach, war er sehr aufgeregt und wäre wohl lieber an jedem anderen Ort der Welt gewesen.

»Haben Sie…?« Sie wollte wahrscheinlich fragen, ob er die Behörden benachrichtigt hätte, doch dann begriff sie, dass die Obrigkeit da, wo Pransky sich aufhielt, noch weniger zu sagen hatte als im Baldachin.

»Nein, warten Sie. Niemand braucht davon zu erfahren, bis wir dort sind. Sie rühren sich nicht von der Stelle.« Damit klappte Zebra das Telefon zu und steckte es wieder ein.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Jemand hat sie umgebracht«, antwortete Zebra.

Chanterelle sah sie an. »Wen umgebracht?«

»Die dicke Frau. Dominika. Sie ist Geschichte.«

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