Schlosslos

Stapes geleitete Meluan herein, und Alveron und ich erhoben uns. Meluan war ganz in Grau und Lavendel gekleidet und hatte die kastanienbraunen Locken nach hinten gebunden, so dass ihr schlanker Hals zu sehen war.

Hinter ihr folgten zwei Dienstboten, die eine hölzerne Truhe trugen. Der Maer trat zu seiner Frau, um ihren Arm zu nehmen, während Stapes die Diener anwies, die Truhe neben den Sessel Meluans zu stellen. Dann scheuchte er sie wieder hinaus, zwinkerte mir noch verschwörerisch zu und schloss die Tür hinter sich.

Ich drehte mich zu Meluan um und verbeugte mich. »Was für eine Freude, Euch wiedersehen zu dürfen … gnädige Frau?« Die letzten beide Worte ließ ich wie eine Frage klingen, denn ich wusste nicht, wie ich sie anreden sollte. Die Ländereien der Lackless waren früher eine Grafschaft gewesen, doch war das vor dem unblutigen Aufstand gewesen, als die Lackless noch über Tinuë geherrscht hatten. Ihre Heirat mit Alveron komplizierte die Sachlage zusätzlich, da ich nicht wusste, ob es ein weibliches Gegenstück zum Titel eines Maershon gab.

Meluan machte eine lässige Handbewegung. »Gnädige Frau reicht zwischen uns vollkommen aus, zumindest im privaten Rahmen. Ich lege keinen Wert auf Förmlichkeiten bei jemandem, dem ich so viel verdanke.« Sie nahm Alverons Hand. »Setz dich doch, wenn du willst.«

Ich verbeugte mich wieder, setzte mich und sah möglichst beiläufig zu der Truhe hinüber. Sie war ungefähr so groß wie eine große Trommel, aus festgefügtem Birkenholz gefertigt und mit Messing beschlagen.

Ich wusste, dass es sich schickte, zunächst einige höfliche Floskeln zu wechseln, bis einer der beiden auf die Truhe zu sprechen kam. Doch meine Neugier ließ mir keine Ruhe. »Mir wurde schon gesagt, dass Ihr eine Frage mitbringen würdet. Sie muss sehr gewichtig sein, wenn Ihr sie in einem so festen Gefäß aufbewahrt.« Ich wies mit einem Nicken auf die Truhe.

Meluan sah Alveron an und lachte, als hätte er einen Witz erzählt. »Mein Mann sagte schon, du seist jemand, dem Rätsel keine Ruhe lassen.«

Ich lächelte ein wenig verlegen. »Es geht mir gegen die Natur, Rätsel ruhen zu lassen, gnädige Frau.«

»Meinetwegen brauchst du deine Natur nicht zu unterdrücken.« Sie lächelte ebenfalls. »Wärst du so nett, die Truhe vor mich zu stellen?«

Ich konnte die Truhe zwar gerade noch heben, ohne mir irgendwelche Muskeln zu zerren, aber wenn sie weniger als sechzig Kilo wog, bin ich ein Dichter.

Meluan rückte auf ihrem Sessel vor und beugte sich darüber. »Lerand hat mir gesagt, auf welche Weise du an unserer Bekanntschaft mitgewirkt hast. Dafür danke ich dir. Ich stehe in deiner Schuld.« Sie sah mich mit ihren dunkelbraunen Augen tiefernst an. »Doch betrachte ich den größeren Teil der Schuld durch das, was ich dir gleich zeigen werde, als abgegolten. Die Menschen, die den Inhalt dieser Truhe gesehen haben, kann ich an den Händen abzählen. Ich zeige ihn dir nur, weil mein Mann mir deine vollste Verschwiegenheit zugesichert hat.« Sie sah mich bedeutungsvoll an.

»Ich werde bei meiner Hand mit niemandem darüber sprechen, was ich sehe«, versicherte ich ihr, mühsam meine Ungeduld beherrschend.

Meluan nickte. Dann drückte sie, statt einen Schlüssel hervorzuziehen, wie ich es erwartet hatte, mit den Händen an die Seiten der Truhe und verschob zwei Brettchen ein wenig. Ein leises Klicken ertönte und der Deckel sprang einen Spalt auf.

Schlosslos, dachte ich.

Unter dem Deckel kam eine zweite, kleinere und niedrigere Truhe zum Vorschein. Sie war etwa so groß wie ein Brotkasten. Die flache Deckplatte des Messingschlosses hatte ein Schlüsselloch, das allerdings rund war. Meluan nahm eine Kette mit einem Schlüssel von ihrem Hals.

»Darf ich das sehen?«, fragte ich.

Meluan sah mich überrascht an. »Wie bitte?«

»Den Schlüssel. Darf ich ihn kurz sehen?«

»Du lieber Himmel«, rief Alveron. »Wir sind doch noch gar nicht beim eigentlich Interessanten angelangt. Ich biete dir an, ein Jahrhundertgeheimnis zu sehen, und du bewunderst das Einwickelpapier!«

Meluan gab mir den Schlüssel, und ich wendete ihn in den Händen hin und her und unterzog ihn einer kurzen, aber eingehenden Prüfung. »Ich nehme Geheimnisse gern schichtweise zu mir«, erklärte ich.

»Wie eine Zwiebel?« Alveron schnaubte.

»Wie eine Blume«, konterte ich und gab Meluan den Schlüssel zurück. »Danke.«

Meluan steckte ihn ins Schloss und öffnete den Deckel der inneren Truhe. Sie hängte sich die Kette wieder um den Hals, schob sie in ihren Ausschnitt und strich Kleider und Haare glatt, die dadurch womöglich in Unordnung geraten waren. Dazu brauchte sie für mein Gefühl etwa eine Stunde.

Endlich griff sie mit beiden Händen in die Truhe und hob etwas heraus. Sie hielt es so hinter den geöffneten Deckel, dass ich es nicht sehen konnte. Dann blickte sie auf und holte tief Luft. »Das ist seit …«, begann sie.

»Lass es ihn doch einfach sehen, Liebes«, fiel Alveron ihr freundlich ins Wort. »Ich wüsste gern, was er selbst davon hält.« Er lachte leise in sich hinein. »Außerdem bekommt der Junge gleich einen Anfall, wenn du ihn noch länger warten lässt.«

Meluan reichte mir ehrfürchtig eine aus dunklem Holz gefertigte Kassette von der Größe eines dicken Buches. Ich nahm sie mit beiden Händen.

Sie war ungewöhnlich schwer für ihre Größe und das Holz unter meinen Fingern fühlte sich so glatt an wie polierter Stein. Ich strich mit den Händen darüber und stellte fest, dass in die Seiten etwas eingeschnitzt war, allerdings nicht so tief, dass es auf den ersten Blick sichtbar gewesen wäre. Man spürte es kaum mit den Fingern, ein Muster von Erhebungen und Vertiefungen. Ich strich mit den Händen über den Deckel und fühlte ein ähnliches Muster.

»Du hast recht«, sagte Meluan leise. »Er ist wie ein Kind, das ein Geschenk zur Wintersonnenwende bekommt.«

»Das Beste hast du noch nicht gesehen«, erwiderte Alveron. »Warte, bis er erst richtig anfängt. Der Kerl schlägt mit seinem Verstand zu wie mit einem eisernen Hammer.«

»Wie öffnet man die Kassette?«, fragte ich und wendete sie in den Händen hin und her. Ich spürte, wie sich drinnen etwas bewegte, doch sah ich weder Scharniere noch einen Deckel, nicht einmal eine Naht, die einen Deckel hätte anzeigen können. Was ich in Händen hielt, war allem Anschein nach aus einem einzigen Stück Holz gefertigt. Doch wusste ich, dass es sich um eine Kassette handeln musste, denn der Gegenstand fühlte sich so an. Er verlangte danach, geöffnet zu werden.

»Das wissen wir nicht«, sagte Meluan. Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber ihr Mann brachte sie sanft zum Schweigen.

»Was ist in der Kassette?« Ich kippte sie und spürte, wie der Inhalt sich verschob.

»Das wissen wir nicht«, wiederholte Meluan.

Schon das Holz war interessant. Es war so dunkel, dass es Roah hätte sein können, hatte aber eine tiefrote Maserung. Außerdem verströmte es einen aromatischen Duft. Es roch ganz schwach nach … irgendetwas. Ich kannte den Geruch, konnte ihn aber nicht benennen. Ich beugte mich mit dem Gesicht darüber und atmete ihn tief durch die Nase ein. Das Holz roch fast wie Zitrone, so vertraut, es war zum Verrücktwerden. »Was ist das für ein Holz?«

Das Schweigen der anderen genügte mir als Antwort.

Ich hob den Kopf. »So besonders viele Anhaltspunkte habt Ihr nicht für mich.« Ich lächelte, um den Worten ihre Schärfe zu nehmen.

Alveron beugte sich vor. »Du musst zugeben«, sagte er mit kaum verhohlener Begeisterung, »das ist ein wunderbares Rätsel. Du hast schon einmal gezeigt, wie gut du im Raten bist.« Seine Augen glitzerten grau. »Was rätst du also diesmal?«

»Es handelt sich um ein Erbstück«, sagte ich ruhig. »Etwas sehr Altes …«

»Auf wie alt schätzt du es?«, wollte Alveron gespannt wissen.

»So um die dreitausend Jahre«, sagte ich. »Mehr oder weniger.« Meluan erstarrte und sah mich überrascht an. »Ihr habt ein ähnliches Alter geschätzt, nehme ich an?«

Sie nickte stumm.

»Die Ornamente haben sich gewiss durch die langen Jahre des Gebrauchs abgenützt.«

»Ornamente?«, fragte Alveron und beugte sich vor.

»Sie sind kaum zu sehen«, sagte ich und schloss die Augen. »Aber ich spüre sie.«

»Ich habe nichts gespürt.«

»Ich auch nicht«, sagte Meluan. Sie klang ein wenig gekränkt.

»Ich habe besonders empfindliche Hände«, sagte ich offen. »Die brauche ich für meine Arbeit.«

»Für die Magie?«, fragte Meluan und unterdrückte einen Anflug kindlicher Scheu.

»Und für die Musik«, sagte ich. »Ihr erlaubt?« Sie nickte, und ich nahm ihre Hand und drückte sie ganz leicht auf die obere Fläche der Kassette. »Da. Spürt Ihr es?«

Sie runzelte die Stirn vor Anstrengung. »Vielleicht ein bisschen.« Sie nahm ihre Hand wieder weg. »Und du bist sicher, dass es sich um Ornamente handelt?«

»Sie sind für einen Zufall zu regelmäßig. Wie kann es sein, dass Ihr sie bisher noch nicht bemerkt habt? Ist in Euren Geschichtsbüchern nicht davon die Rede?«

Meluan sah mich entgeistert an. »Es würde niemandem einfallen, darüber zu schreiben. Ich sagte doch, es handelt sich um das geheimste aller Geheimnisse.«

»Ich will es auch spüren«, sagte Alveron. Ich führte seine Finger über die Ornamente. Er runzelte die Stirn. »Nichts. Offenbar sind meine Finger zu alt. Handelt es sich vielleicht um Buchstaben?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist ein durchgehendes Muster, wie ein Rollsiegel. Allerdings wiederholt es sich nicht, sondern wechselt …« Ich hatte eine Idee. »Es könnte sich um einen Geschichtenknoten der Yller handeln.«

»Kannst du so etwas lesen?«, fragte Alveron.

Ich fuhr mit den Fingern über das Holz. »Ich kann nicht einmal genug Yllisch, um einen einfachen Knoten zu lesen, selbst wenn ich den Faden in den Fingern hielte.« Ich schüttelte den Kopf. »Außerdem hätten die Knoten sich in den vergangenen dreitausend Jahren geändert. Ich kenne allerdings an der Universität einige Leute, die das vielleicht übersetzen könnten.«

Alveron sah Meluan an, aber sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich will nicht, dass darüber mit Fremden gesprochen wird.«

Der Maer schien über ihre Antwort enttäuscht, bedrängte sie aber nicht weiter. Stattdessen wandte er sich mir zu. »Dann stelle ich dir jetzt die Fragen, die du uns gestellt hast. Um was für ein Holz handelt es sich?«

»Es hat dreitausend Jahre gehalten«, überlegte ich laut. »Und es ist schwer, obwohl es hohl ist. Also handelt es sich um ein langsam wachsendes Holz wie Hainbuche oder Kennel. Aus Farbe und Gewicht schließe ich, dass es wie Roah einiges Metall enthält, wahrscheinlich Eisen oder Kupfer.« Ich zuckte mit den Schultern. »Mehr fällt mir dazu nicht ein.«

»Und was ist in dem Kasten?«

Ich überlegte lange, bevor ich etwas sagte. »Ein Gegenstand, der kleiner ist als ein Salzfässchen …« Meluan lächelte, aber Alveron runzelte kaum merklich die Stirn, deshalb fuhr ich hastig fort. »Etwas aus Metall, so wie es hin und her rutscht, wenn ich die Kassette kippe.« Ich schloss die Augen und lauschte auf das gedämpfte Anschlagen des Gegenstands an die Seitenwand der Kassette. »Nein, dem Gewicht nach zu schließen könnte es ein Gegenstand aus Glas oder Stein sein.«

»Etwas Wertvolles«, sagte Alveron.

Ich öffnete die Augen. »Nicht unbedingt. Jetzt ist der Gegenstand auf jeden Fall wertvoll, weil er so alt ist und schon so lange im Besitz der Familie. Und weil ihn ein Geheimnis umgibt. Aber war er es von Anfang an?« Ich zuckte mit den Schultern. »Wer könnte das sagen?«

»Aber man bewahrt wertvolle Dinge in solchen Kassetten auf«, gab Alveron zu bedenken.

»Stimmt.« Ich hob die Kassette und zeigte ihre glatten Oberflächen. »Aber diese Kassette hat kein Schloss. Vielleicht wollte man in ihr etwas wegschließen, etwas das gefährlich ist.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Alveron neugierig.

»Warum sollte man sich die Mühe machen?«, protestierte Meluan. »Warum etwas Gefährliches aufbewahren? Wenn etwas gefährlich ist, vernichtet man es.« Sie beantwortete ihre eigene Frage, kaum dass sie sie gestellt hatte. »Es sei denn, der Gegenstand war gefährlich und zugleich kostbar.«

»Vielleicht war er so nützlich, dass man ihn nicht vernichten wollte«, meinte Alveron.

»Oder man konnte ihn nicht vernichten«, sagte ich.

»Jetzt die letzte und entscheidende Frage«, sagte Alveron und beugte sich noch weiter vor. »Wie öffnet man die Kassette?«

Ich betrachtete sie eingehend, wendete sie in den Händen hin und her und drückte an die Seiten. Dann fuhr ich mit den Fingern über das Muster und tastete nach einer Fuge, die meine Augen nicht sehen konnten. Ich schüttelte sie vorsichtig, schnupperte an ihr und hielt sie ins Licht.

»Keine Ahnung«, gestand ich.

Alveron sackte ein wenig in sich zusammen. »Wahrscheinlich war das zu viel erwartet. Vielleicht braucht man dafür Magie?«

Ich wollte ihm nicht unbedingt sagen, dass es diese Art von Magie nur im Märchen gab. »Aber keine, die ich beherrschen würde.«

»Hast du je daran gedacht, sie einfach aufzusägen?«, fragte Alveron seine Frau.

Meluan sah ihn entsetzt an, was ich ihr nachfühlen konnte. »Niemals!«, rief sie, als sie sich wieder gefasst hatte. »Sie steht für den Ursprung unserer Familie. Eher würde ich jeden Morgen Land, den wir haben, versalzen.«

»Und da das Holz so hart ist«, fügte ich hastig hinzu, »würde man den Inhalt dabei wahrscheinlich beschädigen, zumal wenn er zerbrechlich ist.«

»Es war ja nur ein Vorschlag«, beruhigte Alveron seine Frau.

»Ein unbedachter«, sagte Meluan scharf, schien ihre Worte aber sofort zu bereuen. »Es tut mir leid, aber die bloße Vorstellung …« Sie verstummte sichtlich verstört.

Alveron tätschelte ihr die Hand. »Das verstehe ich ja, meine Liebe. Du hast vollkommen recht, mein Vorschlag war unbedacht.«

»Kann ich sie dann wieder haben?«, fragte Meluan ihn.

Widerstrebend gab ich Meluan die Kassette zurück. »Wenn sie ein Schloss hätte, könnte ich versuchen, sie irgendwie zu öffnen, aber ich wüsste nicht einmal, wo Scharniere sind oder die Fuge des Deckels.« Für die Klunker ihres Herren / Gibt’s ein Kästchen ohne Sperren. Ich musste ständig an diesen Kinderreim denken und konnte mein Lachen gerade noch in ein Husten verwandeln.

Alveron schien nichts zu bemerken. »Ich verlasse mich wie immer auf deine Verschwiegenheit.« Er stand auf. »Leider ist die uns zur Verfügung stehende Zeit so gut wie um. Du hast bestimmt anderes zu tun. Sollen wir uns morgen treffen, um über die Amyr zu sprechen? Zur zweiten Stunde?«

Ich war ebenfalls aufgestanden. »Mit Verlaub, Euer Gnaden, ich würde gerne noch über etwas anderes mit Euch sprechen.«

Er musterte mich ernst. »Ich hoffe doch etwas Wichtiges.«

»Von größter Wichtigkeit, Euer Gnaden«, bestätigte ich nervös. »Es sollte nicht noch einen Tag warten. Ich hätte Euch schon früher davon erzählt, hätte sich eine Gelegenheit ergeben, bei der wir ungestört gewesen wären.«

»Also gut.« Er setzte sich wieder. »Was liegt dir so sehr auf dem Herzen?«

»Lerand«, fiel Meluan ihm mit einem leichten Tadel ins Wort, »es ist schon nach der Stunde. Hayanis wird warten.«

»Lass ihn warten«, sagte Alveron. »Kvothe hat mir in jeder Hinsicht gute Dienste geleistet. Er tut nichts Unüberlegtes, und wenn ich nicht auf ihn hören würde, wäre das nur zu meinem Nachteil.«

»Ihr schmeichelt mir, Euer Gnaden, aber die Sache ist tatsächlich ernst.« Ich warf Meluan einen Blick zu. »Und nichts für zarte Gemüter. Wenn Eure Gattin zu gehen wünscht, wäre es vielleicht zu ihrem Besten.«

»Aber sollte ich nicht bleiben, wenn die Angelegenheit so wichtig ist?«, erwiderte Meluan schelmisch.

Ich sah den Maer fragend an.

»Du kannst alles, was du mir sagst, auch meiner Gattin sagen«, meinte er.

Ich zögerte. Einerseits musste ich Alveron möglichst bald von den falschen Schauspielern berichten. Wenn er meine Version der Ereignisse zuerst hörte, konnte ich mich ihm in einem günstigen Licht darstellen. Wenn er dagegen zuerst auf offiziellem Weg davon erfuhr, war er womöglich nicht mehr willens, die Tatsache zu übersehen, dass ich in voller Absicht neun Reisende getötet hatte.

Andererseits wollte ich keinesfalls, dass Meluan bei dem Gespräch dabei war. Es hätte alles nur verkompliziert. Ich versuchte es ein letztes Mal. »Es geht um eine höchst unschöne Sache, Euer Gnaden.«

Alveron runzelte ein wenig die Stirn und schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Geheimnisse voreinander.«

Ich unterdrückte einen resignierten Seufzer und zog ein dickes, zusammengefaltetes Pergament aus einer Innentasche meines shaed. »Habt Ihr diesen Schutzbrief ausstellen lassen, Euer Gnaden?«

Er überflog das Pergament und hob überrascht den Kopf. »Ja. Wie kommt er in deine Hand?«

»Ach Lerand«, sagte Meluan, »ich wusste, dass du die Bettler durch deine Länder reisen lässt, aber ich hätte nicht gedacht, dass du ihnen auch noch Schutzbriefe ausstellst.«

»Es handelte sich nur um eine Truppe fahrender Schauspieler«, erwiderte er. »Und sie in meinen Schutz zu nehmen entspricht meiner Stellung. Jedes Haus, das etwas auf sich hält, beschäftigt zumindest ein paar Schauspieler.«

»Meines nicht«, entgegnete Meluan fest.

»Es ist nur zweckmäßig, eine eigene Truppe zu haben«, erklärte Alveron freundlich. »Oder besser gleich mehrere. Man kann dann, wenn man ein Fest plant, die entsprechende Wahl für die Unterhaltung treffen. Woher glaubst du kamen die Musiker bei unserer Hochzeit?«

Da Meluan keine Anzeichen der Besänftigung zeigte, fuhr er fort: »Sie dürfen keine obszönen oder gottlosen Stücke spielen, meine Liebe. Ich lasse sie streng beaufsichtigen. Und sei versichert, keine Stadt in meinem Land würde eine Schauspieltruppe ohne einen solchen Schutzbrief auftreten lassen.«

Er wandte sich wieder an mich. »Womit wir wieder beim Thema wären. Wie kommst du in den Besitz ihres Briefs? Ohne ihn kann die Truppe nicht auftreten.«

Ich zögerte, denn ich wusste nicht, wie ich in Meluans Anwesenheit am besten anfangen sollte. Ich hatte vorgehabt, den Maer allein zu sprechen. »Sie treten in der Tat nicht mehr auf, Euer Gnaden. Sie wurden getötet.«

Der Maer zeigte keine Überraschung. »Ich dachte es mir. So bedauerlich es ist, es passiert ab und zu.«

Meluans Augen blitzten. »Ich gäbe viel darum, wenn es öfter passieren würde.«

»Weißt du, wer sie getötet hat?«, fragte der Maer.

»Das könnte man so sagen. Ja, Euer Gnaden.«

Er hob fragend die Augenbrauen. »Und?«

»Ich.«

»Du hast was?«

Ich seufzte. »Ich habe die Leute getötet, die diesen Schutzbrief mit sich führten, Euer Gnaden.«

Der Maer erstarrte. »Wie bitte?«

»Sie hatten zwei Mädchen aus einem Dorf entführt, durch das sie kamen.« Ich überlegte, wie ich mich vor Meluan am schonendsten ausdrücken konnte. »Die Mädchen waren noch jung, Euer Gnaden, und die Männer behandelten sie nicht gut.«

Meluans bereits finstere Miene erstarrte vollends zu Eis. Doch bevor sie etwas sagen konnte, fragte Alveron ungläubig: »Und du hast sie eigenmächtig getötet? Eine ganze Truppe Schauspieler, die unter meinem Schutz standen?« Er rieb sich die Stirn. »Wie viele waren es?«

»Neun.«

»Großer Gott …«

»Ich finde, er hat richtig gehandelt«, sagte Meluan heftig. »Ich schlage vor, du gibst ihm ein Dutzend Leibwächter mit, und er soll mit allen Truppen der Ruh, die er auf deinen Ländern findet, genauso verfahren.«

»Die Ruh kümmern mich so wenig wie dich, meine Liebe«, erwiderte Alveron etwas strenger, »aber Gesetz ist Gesetz. Wenn …«

»Gesetz ist, was du daraus machst«, fiel Meluan ihm ins Wort. »Dieser Mann hat dir einen großen Dienst erwiesen. Du solltest ihn mit Titel und Lehen belohnen und in deinen Rat aufnehmen.«

»Er hat neun meiner Untertanen getötet«, entgegnete Alveron streng. »Wenn sich Menschen außerhalb des Gesetzes stellen, ist Anarchie die Folge. Wenn ich von dieser Angelegenheit von anderen erfahren hätte, hätte ich Kvothe als Banditen aufknüpfen lassen.«

»Er hat neun Ruh getötet, neun Vergewaltiger, Mörder und Diebe. Neun Ruh weniger auf der Welt, davon profitieren wir alle.« Meluan sah mich an. »Ich glaube, was du getan hast, war richtig und angemessen.«

Ihr auf einer falschen Annahme beruhendes Lob machte mich wütend. »Nicht alle waren Männer, gnädige Frau«, sagte ich.

Meluan erbleichte ein wenig.

Alveron rieb sich das Gesicht. »Du meine Güte, Kvothe, du schlägst mit deiner Aufrichtigkeit zu wie mit einer Axt.«

»Außerdem«, fuhr ich ernst fort, »sollte ich mit Verlaub noch erwähnen, dass die Getöteten keine Edema Ruh waren, nicht einmal fahrende Schauspieler.«

Alveron schüttelte müde den Kopf und klopfte mit dem Finger auf das Pergament. »Hier steht etwas anderes. Hier ist von Edema Ruh und Schauspielern die Rede.«

»Der Schutzbrief wurde gestohlen, Euer Gnaden. Die Leute, denen ich auf der Straße begegnete, hatten eine Truppe von Ruh ermordet und ihren Platz eingenommen.«

Der Maer musterte mich neugierig. »Du scheinst dir dessen ja sehr sicher zu sein.«

»Einer von ihnen sagte es mir, Euer Gnaden. Er gab zu, dass sie nur so tun würden, als seien sie Schauspieler. Sie gaben vor, Ruh zu sein.«

Meluan schien zwischen Verwirrung und Verständnislosigkeit hin- und hergerissen. »Warum sollten sie das tun?«

Alveron nickte. »Meine Frau hat recht. Wahrscheinlich haben sie dich angelogen. Das will doch niemand sein. Wer würde sich freiwillig als ein Edema Ruh ausgeben?«

Mir wurde innerlich ganz heiß, und ich schämte mich plötzlich, dass ich mich bisher nicht zu meiner Zugehörigkeit zu den Edema Ruh bekannt hatte. »Ich bezweifle nicht, dass die ursprünglichen Schauspieler Eurer Truppe Edema Ruh waren, Euer Gnaden. Aber die Banditen, die ich getötet habe, waren keine. Kein Ruh würde tun, was sie getan haben.«

In Meluans Augen trat ein wütendes Funkeln. »Du kennst sie nicht.«

Ich erwiderte ihren Blick. »Ich glaube, ich kenne sie sehr gut, gnädige Frau.«

»Aber warum?«, fragte Alveron. »Warum sollte sich ein normaler Mensch als Edema Ruh ausgeben?«

»Weil es das Reisen erleichtert«, sagte ich. »Und weil Euer Name ihn schützt.«

Alveron tat meine Erklärung mit einem Schulterzucken ab. »Deine Banditen waren wahrscheinlich Ruh, die es leid waren, ehrlich zu arbeiten, und sich lieber als Diebe betätigten.«

»Nein, Euer Gnaden«, beharrte ich. »Sie waren keine Edema Ruh.«

Alveron sah mich vorwurfsvoll an. »Also bitte, wer könnte zwischen Banditen und einer Truppe von Ruh unterscheiden?«

»Es gibt keinen Unterschied«, warf Meluan beißend ein.

»Ich kann es, Euer Gnaden«, sagte ich heftig. »Ich bin selbst ein Edema Ruh.«

Schweigen. Auf Meluans Gesicht malten sich nacheinander Fassungslosigkeit, Unglaube, Empörung und Abscheu. Sie stand auf, sah einen Moment lang so aus, als wollte sie mich anspucken, und rauschte dann hinaus. Aus dem Vorzimmer ertönte ein Rasseln. Ihr Leibwächter hatte Haltung angenommen und folgte ihr nach draußen.

Alveron starrte mich mit finsterem Gesicht an. »Wenn das ein Scherz sein soll, dann war es ein schlechter.«

»Es ist keiner, Euer Gnaden«, antwortete ich, meinen Zorn niederkämpfend.

»Und warum hast du es bisher für notwendig gehalten, mir das zu verheimlichen?«

»Ich habe es Euch nicht verheimlicht, Euer Gnaden. Ihr habt selbst wiederholt gesagt, dass ich keineswegs von vornehmer Abstammung bin.«

Alveron schlug zornig auf die Armlehne seines Sessels. »Du weißt genau, was ich meine! Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ein Ruh bist?«

»Ich denke, der Grund liegt auf der Hand, Euer Gnaden«, antwortete ich mühsam beherrscht. »Die Worte ›Edema Ruh‹ haben für viele adlige Nasen einen zu starken Geruch. Eure Frau hat festgestellt, dass ihr Parfüm ihn nicht zu überdecken vermag.«

»Meine Frau hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit den Ruh gemacht«, erwiderte Alveron. »Nimm das bitte zur Kenntnis.«

»Ich weiß von ihrer Schwester, von der schrecklichen Schande ihrer Familie. Mit einem fahrenden Schauspieler durchgebrannt, weil sie sich in ihn verliebt hatte, wie schrecklich«, sagte ich schneidend. Ich bebte am ganzen Körper vor Wut. »Die Einsicht der Schwester gereicht der Familie zur Ehre, das Vorurteil Eurer Gattin nicht. Ich bin nicht weniger wert als andere Menschen und mehr als die meisten. Und selbst wenn es nicht so wäre, hätte Eure Gattin doch kein Recht, mich so zu behandeln.«

Alveron presste die Lippen zusammen. »Ich denke, sie kann dich behandeln, wie sie will«, sagte er. »Deine unerwartete Erklärung hat sie erschreckt. Angesichts ihrer Gefühle für derlei Gesindel hat sie sich meiner Meinung nach bemerkenswert zurückgehalten.«

»Ich glaube, sie kann die Wahrheit nicht ertragen. Dass nämlich die Worte eines fahrenden Schauspielers sie schneller ins Bett gebracht haben als ihre Schwester.«

Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich, dass ich zu weit gegangen war. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht noch etwas Schlimmeres zu sagen.

»Das reicht«, sagte Alveron kalt und förmlich. Seine Augen brannten vor Zorn.

Ich ging mit aller Würde, die ich in meiner Erregung noch aufbringen konnte. Ich ging nicht, weil ich nichts mehr zu sagen gehabt hätte, sondern weil Alveron die Wachen gerufen hätte, wäre ich auch nur einen Moment länger geblieben. Einen solchen Abgang aber wollte ich mir ersparen.

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