Zwischenspiel: Allgegenwärtiges Gewisper

Reshi!«, schrie Bast mit entsetztem Blick. »Nein! Hör auf!« Er streckte die Hände aus, als wollte er dem Wirt den Mund zuhalten. »Das darf man doch nicht laut aussprechen!«

Kvothe lächelte ironisch. »Bast, wer hat dir denn überhaupt erst die Grundlagen der Namenskunde beigebracht?«

»Nicht du, Reshi«, erwiderte Bast und schüttelte den Kopf. »Manches weiß bei den Fae schon jedes Kind. Es ist nie gut, solche Dinge laut auszusprechen. Nie.«

»Und warum ist das so?«, fragte Kvothe in seinem besten Lehrer-Tonfall.

»Weil manche Wesen es spüren können, wenn ihr Name irgendwo ausgesprochen wird«, sagte Bast und schluckte. »Sie spüren sogar, wo das geschieht.«

Kvothe seufzte leicht gereizt. »Wenn man einen Namen nur ein einziges Mal ausspricht, kann überhaupt nichts passieren, Bast.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Was glaubst du denn, weshalb die Adem bei dieser Geschichte von jeher diese Regeln befolgen? Dass sie nur ein einziges Mal erzählt wird und anschließend keine Fragen dazu gestellt werden dürfen?«

Bast kniff nachdenklich die Augen zusammen, und Kvothe sah ihn mit einem kleinen, angespannten Lächeln an. »Eben darum. Wenn man jemanden aufspüren wollte, der einen Namen nur ein einziges Mal ausgesprochen hat, könnte man genauso gut versuchen, einem Mann nur anhand eines einzigen Fußabdrucks durch einen ganzen Wald zu folgen.«

Der Chronist meldete sich zögernd zu Wort, als fürchtete er, die beiden zu unterbrechen. »Ist so etwas denn überhaupt machbar?«, fragte er. »Ganz ehrlich?«

Kvothe nickte ernst. »Ich nehme an, dass sie auf diese Weise damals meine Truppe gefunden haben, als ich noch ein kleiner Junge war.«

Der Chronist blickte sich ängstlich um, ertappte sich stirnrunzelnd dabei und bemühte sich sichtlich, es zu unterlassen. Das Ergebnis war, dass er reglos dasaß und genauso ängstlich wirkte wie zuvor. »Heißt das, dass sie hierher kommen könnten? Ihr habt ja schließlich viel über sie gesprochen …«

Kvothe tat das mit einer Handbewegung ab. »Nein. Die Namen sind das Entscheidende. Die wahren Namen. Die ursprünglichen Namen. Und die habe ich aus eben diesem Grund vermieden. Mein Vater war detailversessen. Er hat jahrelang überall herumgefragt und alte Geschichten über die Chandrian ausgegraben. Ich nehme an, dass er dabei auf einige ihrer ursprünglichen Namen stieß und sie in sein Lied aufnahm …«

Dem Chronisten ging sichtlich ein Licht auf. »Und dann hat er es immer wieder geprobt.«

Der Wirt lächelte matt und liebevoll. »Unendlich oft, wie ich ihn kannte. Gemeinsam mit meiner Mutter hat er zweifellos alles getan, um auch noch die letzte kleine Unebenheit aus dem Lied zu tilgen, bevor sie damit an die Öffentlichkeit gingen. Sie waren Perfektionisten.« Er seufzte. »Für die Chandrian muss es gewesen sein, als hätte jemand ununterbrochen ein Leuchtsignal ausgesandt. Ich nehme an, das Einzige, was meine Eltern so lange geschützt hat, war der Umstand, dass sie unentwegt auf Reisen waren.«

Bast schaltete sich wieder ein. »Und eben darum solltest du diese Dinge nicht aussprechen, Reshi.«

Kvothe runzelte die Stirn. »Ich habe seither etliche tausend Nächte geschlafen und bin etliche tausend Meilen weit gereist, Bast. Es einmal auszusprechen birgt keine Gefahr. Angesichts der Schrecknisse der heutigen Zeit kann man davon ausgehen, dass die Leute öfter alte Geschichten erzählen. Falls die Chandrian nach Namen lauschen, müssen sie zweifellos ein dumpfes, allgegenwärtiges Gewisper hören, das von Arueh bis hin zum Ringozean reicht.«

Bast war anzusehen, dass ihn das alles andere als beruhigte.

»Und außerdem«, sagte Kvothe nach einem leisen, überdrüssigen Seufzer, »ist es gut, sie schriftlich festgehalten zu haben. Das könnte sich eines Tages als nützlich für jemanden erweisen.«

»Trotzdem solltest du vorsichtiger sein, Reshi.«

»Was war ich in den vergangenen Jahren denn sonst noch – außer vorsichtig?«, entgegnete Kvothe, dem die Gereiztheit nun doch anzumerken war. »Und was hat es mir gebracht? Und außerdem: Wenn es zutrifft, was du über den Cthaeh gesagt hast, wird das alles hier ja, egal was ich mache, so oder so ein tränenreiches Ende nehmen. Ist es nicht so?«

Bast machte den Mund auf … und wieder zu. Ihm fehlten offensichtlich die Worte. Er warf dem Chronisten einen hilfesuchenden Blick zu.

Als Kvothe das sah, wandte er sich ebenfalls dem Chronisten zu und hob erwartungsvoll eine Augenbraue.

»Ich verstehe davon nicht das Geringste«, sagte der Chronist, senkte den Blick, schlug seine Mappe auf und zog einen tintenfleckigen Lappen daraus hervor. »Ihr habt selbst gesehen, wie weit meine namenskundlichen Fähigkeiten reichen: gerade mal bis zum Eisen. Der Meister der Namenskunde hat damals gesagt, es wäre die reine Zeitverschwendung für ihn, sich überhaupt mit mir abzugeben.«

»Das kommt mir bekannt vor«, murmelte Kvothe.

Der Chronist zuckte die Achseln. »Ich für meinen Teil habe ihn beim Wort genommen.«

»Wisst Ihr noch, welche Gründe er dafür genannt hat?«

»Er hatte alles Mögliche an mir auszusetzen: Mein Wortschatz sei zu groß. Ich hätte nie Hunger gelitten. Ich sei zu weich …« Die Hände des Chronisten waren derweil damit beschäftigt, seine Feder zu putzen. »Seine Gesamteinschätzung brachte er damit zum Ausdruck, dass er sagte: Wer hätte gedacht, dass so ein verdruckster Bücherwurm wie du auch nur das Eisen in den Griff kriegt?«

Kvothes Mund verzog sich zu einem mitfühlenden Lächeln. »Hat er das wirklich so gesagt?«

Der Chronist hob die Schultern. »Er hat mich auch wörtlich als ›männliche Dummfotze‹ bezeichnet. Ich wollte den unschuldigen Ohren unseres jungen Freundes nur derlei Gossensprache ersparen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Bast. »Mir scheint, er hat auch so schon einen harten Tag hinter sich.«

Jetzt lächelte Kvothe. »Es ist wirklich schade, dass wir nicht zur gleichen Zeit an der Universität waren.«

Der Chronist polierte die Feder noch ein letztes Mal und hielt sie dann in das bereits schwindende Licht, das durch das Wirtshausfenster drang. »Ach nein«, sagte er. »Ihr hättet mich nicht gemocht. Ich war tatsächlich ein verdruckster Bücherwurm. Und verwöhnt. Und sehr von mir eingenommen.«

»Und was hat sich seither daran geändert?«, fragte Kvothe.

Der Chronist schnaubte. »Nicht viel – je nachdem, wen man fragt. Aber ich glaube doch, dass mir ein wenig die Augen geöffnet wurden«, sagte er und schraubte die Feder sehr sorgfältig wieder in den Halter.

»Und wie genau ist das geschehen?«, fragte Kvothe.

Der Chronist sah ihn über den Tisch hinweg an und schien erstaunt über die Frage. »Wie genau?«, sagte er. »Ich bin nicht hier, um eine Geschichte zu erzählen.« Er steckte den Lappen in die Mappe zurück. »Kurz gesagt: Ich habe einen Wutanfall bekommen und habe die Universität verlassen, um mich nach besseren Möglichkeiten für mich umzusehen. Und etwas Besseres hätte ich gar nicht tun können. In einem Monat habe ich unterwegs auf Reisen mehr gelernt als davor in drei Jahren in meinen Seminaren.«

Kvothe nickte. »Teccam hat das Gleiche gesagt: Kein Mann ist tapfer, solange er nicht hundert Meilen gewandert ist. Wenn du wissen willst, wer du wirklich bist, dann wandere so weit, bis kein Mensch mehr deinen Namen kennt. Das Reisen ist der große Gleichmacher, der große Lehrer, es ist bitterer als Medizin und grausamer als Spiegelglas. Bei einer langen Wanderung wirst du mehr über dich lernen als in hundert Jahren stiller Selbstbeobachtung.«

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