Fragen
Der Bürgermeister schien zu billigen, wie ich mit den falschen Schauspielern verfahren war, aber ich wusste, dass ich trotzdem mit Schwierigkeiten rechnen musste. Nach dem Eisernen Gesetz hatte ich mich mindestens dreier schwerer Verbrechen schuldig gemacht, von denen jedes ausreichte, mich zu hängen.
Unglücklicherweise kannten alle in Levinshir meinen Namen und mein Gesicht, und ich fürchtete, die Kunde davon könnte mir vorauseilen. In diesem Fall konnte es leicht passieren, dass die Wachtmeister eines Ortes, durch den ich kam, mich pflichtschuldigst einsperrten, bis ein Wanderrichter eintraf, um über meinen Fall zu entscheiden.
Ich musste also zusehen, dass ich so schnell wie möglich nach Severen kam. Zuerst marschierte ich zwei Tage lang fast ohne Pause, dann belegte ich einen Platz in einer nach Süden fahrenden Kutsche. Gerüchte breiten sich schnell aus, aber wenn man sich anstrengt und auf einen Teil seines Schlafes verzichtet, kann man auch schneller sein.
Nach dreitägiger Fahrt, in deren Verlauf ich gründlich durchgeschüttelt wurde, traf ich in Severen ein. Die Kutsche fuhr durch das östliche Stadttor ein, und ich sah zum ersten Mal den Galgen, von dem Bredon gesprochen hatte. Der Anblick der ausgebleichten Knochen in dem eisernen Käfig trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Der Maer hatte einen Menschen, der ein Straßenräuber gewesen war, in diesen Käfig gesteckt. Was mochte er erst mit jemandem tun, der neun fahrende Schauspieler erschlagen hatte?
Ich war versucht, mich auf kürzestem Wege zu den VIER KERZEN zu begeben, wo ich trotz der Worte des Cthaeh Denna vorzufinden hoffte. Doch war ich von der mehrtägigen Reise schmutzig und verschwitzt. Bevor ich mit jemandem sprach, musste ich dringend baden und mich abschrubben.
Sobald ich in der Burg des Maer angekommen war, schickte ich Stapes einen Ring mit einer Nachricht, denn ich wusste, dass ich auf diesem Weg am schnellsten zu einem privaten Gespräch mit dem Maer vorgelassen würde. Dann eilte ich unverzüglich in mein Quartier, wobei ich mich auf dem Weg dorthin recht unhöflich an einigen Höflingen vorbeidrängeln musste. Ich hatte eben erst meinen Reisesack abgestellt und einige Laufburschen nach warmem Wasser ausgeschickt, da stand auch schon Stapes in der Tür.
»Der junge Herr Kvothe!«, rief er strahlend und schüttelte heftig meine Hand. »Was für eine Freude, dass Ihr wieder hier seid. Du lieber Himmel, habe ich mir Sorgen gemacht.«
Seine Begeisterung entlockte mir ein erschöpftes Lächeln. »Auch ich freue mich, dass ich wieder da bin, Stapes. Habe ich viel verpasst?«
»Viel?« Er lachte. »Zum Beispiel die Hochzeit.«
»Hochzeit?«, fragte ich, kannte die Antwort aber schon, sobald ich es gesagt hatte. »Des Maer?«
Stapes nickte aufgeregt. »Ein großartiges Fest. Zu schade, dass ausgerechnet Ihr nicht dabei sein konntet.« Er sah mich wissend an, wurde aber nicht ausführlicher, denn er war immer sehr diskret.
»Die beiden hatten es wohl ziemlich eilig.«
»Die Verlobung war vor zwei Monaten«, sagte Stapes. In seiner Stimme schwang ein Anflug von Tadel. »Die Mindestfrist wurde eingehalten.« Seine Anspannung legte sich wieder und er zwinkerte. »Aber die beiden konnten es kaum erwarten.«
Ich lachte leise. Im selben Augenblick traten die Dienstboten mit dampfenden Eimern durch die offene Tür. Das Rauschen des Wassers, mit dem sie die Wanne füllten, klang in meinen Ohren wie die lieblichste Musik.
Der Kammerdiener wartete, bis sie wieder gegangen waren, dann beugte er sich zu mir und sagte leise: »Ihr werdet Euch freuen zu hören, dass auch unsere andere ungeklärte Angelegenheit inzwischen auf angemessene Weise erledigt worden ist.«
Ich sah ihn verständnislos an und überlegte, auf was er damit anspielte. Seit meiner Abreise war so vieles passiert.
Stapes merkte es. »Caudicus«, sagte er mit einer abschätzigen Grimasse. »Dagon kehrte nur zwei Tage nach Eurer Abreise mit ihm zurück. Er hatte sich keine zehn Meilen nördlich der Stadt versteckt.«
»So nahe?«, rief ich überrascht.
Stapes nickte düster. »Er hatte sich in einem Bauernhaus verkrochen wie ein Dachs in seinem Bau. Er tötete dabei vier Leibwächter des Maer, und es kostete Dagon ein Auge. Man konnte ihn nur fassen, indem man das ganze Haus anzündete.«
»Und dann?«, fragte ich. »Er bekam bestimmt keinen Prozess.«
»Die Angelegenheit wurde erledigt«, wiederholte Stapes. »Auf angemessene Weise.« Das Letzte sagte er in einem sehr bestimmten, endgültigen Ton. Aus seinen sonst so freundlichen Augen sprühte Hass. In diesem Augenblick sah der rundgesichtige, kleine Mann überhaupt nicht mehr wie ein Krämer aus.
Ich hörte Alveron wieder seelenruhig sagen: »Schneidet ihm die Daumen ab.« So wie ich seinen raschen, heftigen Zorn kannte, bezweifelte ich, dass ich Caudicus je wieder sehen würde.
»Konnte der Maer ein Motiv entdecken?« Den Rest ließ ich ungesagt, obwohl ich leise sprach. Ich wusste, dass Stapes es nicht billigen würde, wenn ich offen von Vergiftung sprach.
»Es steht mir nicht an, das zu sagen«, antwortete Stapes vorsichtig. Er klang ein wenig gekränkt, als hätte ich wissen müssen, dass ich ihm eine solche Frage nicht stellen durfte.
Ich ließ das Thema fallen, da ich wusste, dass ich aus Stapes nichts weiter herausbekommen würde. »Ihr würdet mir einen Gefallen tun, wenn Ihr dem Maer etwas bringen könntet«, sagte ich und ging zu meinem abgenutzten Reisesack. Ich durchwühlte ihn, bis ich fast ganz unten die Kassette des Maer fand.
Ich hielt sie Stapes hin. »Ich weiß nicht, was darin ist«, sagte ich. »Aber sie trägt sein Wappen auf dem Deckel. Und sie ist schwer. Womöglich enthält sie einen Teil der gestohlenen Steuergelder, ich hoffe es zumindest.« Ich lachte. »Sagt ihm, es sei ein Hochzeitsgeschenk.«
Stapes nahm die Kassette lächelnd. »Er wird sich gewiss sehr darüber freuen.«
Drei weitere Diener erschienen, aber nur zwei davon eilten mit dampfenden Eimern an mir vorbei. Der dritte trat zu Stapes und überreichte ihm eine Nachricht. Aus dem anderen Zimmer hörte ich wieder das Wasser rauschen. Dann gingen die drei Diener, nicht ohne mir zuvor verstohlene Blicke zugeworfen zu haben.
Stapes überflog die Nachricht und hob den Kopf. »Der Maer hofft auf Euren Besuch zur fünften Stunde im Garten«, sagte er.
»Garten« bedeutete höfliche Unterhaltung. Hätte der Maer etwas Ernstes besprechen wollen, hätte er mich in seine Gemächer bestellt oder mich durch den Geheimgang, der seine Räume mit meinen verband, selbst aufgesucht.
Ich sah auf die Uhr an der Wand. Es handelte sich nicht um eine Sympathieuhr, wie ich sie von der Universität kannte, sondern um eine Harmonieuhr mit einem schwingenden Pendel und allem Drumherum. Trotz der schön gearbeiteten Mechanik ging sie freilich nicht annähernd so genau. Die Zeiger standen auf Viertel vor fünf.
»Geht diese Uhr vor, Stapes?«, fragte ich hoffnungsvoll. Eine Viertelstunde reichte kaum, meine Straßenkleider auszuziehen und ein für einen Besuch beim Maer angemessenes Gewand anzulegen. Angesichts der vielen Schichten Dreck und Schweiß, die mich bedeckten, wäre es auch in etwa so unsinnig gewesen, wie einen dampfenden Kuhfladen mit einem Seidenband zu umwickeln.
Stapes blickte über meine Schulter und anschließend auf eine kleine mechanische Uhr, die er in seiner Tasche aufbewahrte. »Im Gegenteil, sie scheint etwa fünf Minuten nachzugehen.«
Ich rieb mir das Gesicht und überlegte. Einerseits war ich von der Reise des Tages noch mitgenommen, aber das war nicht alles. Ich starrte vor Schmutz. Zuerst war ich lange in der sommerlichen Hitze marschiert, dann tagelang in einem stickig heißen Wagen eingesperrt gewesen. Der Maer urteilte nicht unbedingt nach dem Aussehen, legte aber Wert auf eine angemessene Erscheinung. Ich würde keinen guten Eindruck hinterlassen, wenn ich stinkend und schmutzig bei ihm auftauchte.
Unwillkürlich erschien wieder der eiserne Käfig vor meinem geistigen Auge und ich beschloss, dass ich keinen schlechten Eindruck riskieren durfte, nicht bei den Neuigkeiten, die ich mitbrachte. »Ich werde noch mindestens eine Stunde brauchen, Stapes. Wenn es dem Maer recht ist, könnte ich ihn um die sechste Stunde aufsuchen.«
Stapes’ Gesicht nahm einen empfindlichen Ausdruck an. Was er damit sagen wollte, war klar. Man verschob ein Gespräch mit dem Maer nicht. Wenn der Maer ruft, kommt man, so einfach ist das.
»Stapes«, sagte ich, so freundlich ich konnte. »Seht mich an, riecht an mir. Ich bin in der vergangenen Spanne dreihundert Meilen gereist. Ich kann nicht voller Straßenstaub und stinkend wie ein Barbar im Garten spazieren gehen.«
Stapes presste missbilligend die Lippen zusammen. »Dann sage ich ihm, Ihr seid anderweitig beschäftigt.«
Weitere dampfende Eimer trafen ein. »Sagt ihm die Wahrheit, Stapes.« Ich begann mein Hemd aufzuknöpfen. »Er versteht mich bestimmt.«
Ich wusch mich gründlich und kleidete mich sorgfältig an, dann schickte ich dem Maer meinen goldenen Ring und eine Karte, auf der stand: »Stehe zu einem Gespräch unter vier Augen zur Verfügung, sobald Ihr könnt.«
Keine Stunde später kehrte ein Bote mit einer Karte des Maer zurück. »Warte, bis ich dich rufe.«
Also wartete ich. Ich schickte einen Diener nach Essen, dann wartete ich auch noch den Rest des Abends. Auch der folgende Tag verging ohne Nachricht. Und weil ich nicht wusste, wann Alveron mich rufen lassen würde, war ich praktisch wieder in meinem Quartier eingesperrt und ausschließlich damit beschäftigt, auf seinen Ring zu warten.
Es war zwar angenehm, ein wenig Schlaf nachholen und ein zweites Bad nehmen zu können. Doch machte ich mir Sorgen, die Nachricht aus Levinshir könnte mich einholen. Dass ich mich nicht in die Unterstadt begeben und nach Denna suchen konnte, machte mir außerdem erheblich zu schaffen.
Man kennt diese Art des stummen Tadels in höfischen Kreisen zu Genüge. Die Botschaft des Maer war klar: Wenn ich dich rufe, kommst du. Entweder zu meinen Bedingungen oder überhaupt nicht.
Es war kindisch auf eine Art, wie nur Adlige kindisch sein können. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Also schickte ich Bredon meinen silbernen Ring. Er kam noch rechtzeitig zum Abendessen und brachte mich über den Klatsch bei Hof auf das Laufende. Dieser Klatsch kann furchtbar geistlos sein, aber Bredon wählte nur die Höhepunkte für mich aus.
Die meisten Geschichten hatten das stürmische Werben und die anschließende Hochzeit des Maer mit der Erbin der Lackless zum Inhalt. Offenbar war das Paar bis über beide Ohren verliebt. Sogar ein Kind sei schon unterwegs, munkelte man. Über den Königshof in Renere gab es ebenfalls viel zu berichten. Prinzregent Alaitis war in einem Duell getötet worden. Verschiedene Adlige versuchten, den Tod eines so hochrangigen Mitglieds des Hofes auszunützen, und entsprechend herrschten in weiten Teilen des südlichen Farrel chaotische Verhältnisse.
Es kursierten Gerüchte. Männer des Maer hatten in einer abgelegenen Gegend des Eld einigen Banditen das Handwerk gelegt. Die Banditen hatten offenbar Steuereintreibern aufgelauert. Im Norden herrschte Unmut, da die Steuereintreiber des Maer bereits zum zweiten Mal dort gewesen waren. Doch wenigstens waren die Straßen wieder frei und die Bösewichter tot.
Außerdem berichtete Bredon von einem interessanten Gerücht, dem zufolge ein junger Mann mehr oder weniger unbeschadet, wenngleich mit Augen, die an die Fae erinnerten, von einem Besuch bei Felurian zurückgekehrt war. Genaugenommen handelte es sich nicht um ein Gerücht bei Hof, sondern um Geflunker, wie man es in einer Schenke hört, billigen Klatsch, für den sich keine höhergestellte Person je interessiert hätte. Bredons schwarze Eulenaugen glänzten amüsiert, als er davon sprach.
Ich stimmte ihm zu, dass solche Geschichten billig und auch unter der Würde anständiger Menschen wie unsereins waren. Mein Mantel? Eine sehr schöne Arbeit, nicht wahr? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wo ich ihn hatte schneidern lassen. An irgendeinem ungewöhnlichen Ort. Übrigens hatte ich erst am Vortag ein interessantes Lied zum Thema Felurian gehört. Ob er es hören wolle?
Außerdem spielten wir natürlich Tak. Obwohl ich es lange nicht gespielt hatte, meinte Bredon, ich sei viel besser geworden. Offenbar lernte ich nach und nach, wie man schön spielte.
Überflüssig zu sagen, dass ich, als Alveron mich das nächste Mal rufen ließ, sofort aufbrach. Ich war versucht, einige Minuten später zu erscheinen, widerstand der Versuchung aber, weil ich wusste, dass ich mir nur Ärger einhandeln würde.
Der Maer spazierte allein durch den Garten, als ich mich ihm näherte. Er ging aufrecht, und kein Mensch hätte vermutet, dass er sich je auf mich hatte stützen müssen oder einen Spazierstock gebraucht hatte.
»Kvothe.« Er lächelte freundlich. »Es freut mich, dass du Zeit für einen Besuch bei mir findest.«
»Es ist mir wie immer ein Vergnügen, Euer Gnaden.«
»Sollen wir ein Stück gehen?«, fragte er. »Die Aussicht von der südlichen Brücke ist um diese Tageszeit besonders schön.«
Ich trat neben ihn und wir gingen die Wege zwischen den sorgfältig gestutzten Hecken.
»Wie ich sehe, bist du bewaffnet«, sagte er. In seiner Stimme schwang Tadel.
Ich legte unwillkürlich die Hand an Caesura. Das Schwert hing natürlich an meiner Hüfte, nicht mehr an meinem Rücken. »Ist das schlimm, Euer Gnaden? Meines Wissens sind in Vintas alle Männer berechtigt, ein Schwert zu tragen.«
»Es ist nicht angemessen.« Er betonte das letzte Wort.
»Aber soviel ich weiß, würde am königlichen Hof in Renere kein Edelmann es wagen, sich ohne Schwert zu zeigen.«
»Du sprichst beredt wie immer, aber du bist kein Edelmann«, erwiderte Alveron kühl, »und tätest gut daran, es nicht zu vergessen.«
Ich schwieg.
»Außerdem ist es eine barbarische Gepflogenheit und eine, die dem König noch bald genug Kummer bereiten wird. Aber egal, wie das in Renere gehandhabt wird, in meiner Stadt, meiner Burg und meinem Garten wirst du nicht bewaffnet vor mich treten.« Er sah mich mit einem strengen Blick an.
»Bitte entschuldigt, wenn ich Euch gekränkt habe, Euer Gnaden.« Ich blieb stehen und verbeugte mich tiefer, als ich es bei unserer Begrüßung getan hatte.
Meine so offenkundige Zerknirschung schien ihn zu besänftigen. Er lächelte und legte mir die Hand auf die Schulter. »Lassen wir das. Sieh dir lieber das Trauerfeuer an. Die Blätter werden sich bald verfärben.«
Wir spazierten eine Stunde lang und plauderten über verschiedene Belanglosigkeiten. Ich war stets höflich, und Alverons Laune besserte sich zusehends. Wenn ich ihm um den Bart gehen musste, um mich seiner Gunst zu versichern, war das ein kleiner Preis.
»Ich muss sagen, dass die Ehe Euer Gnaden gut bekommt.«
»Danke.« Er nickte gnädig. »Ich fühle mich auch sehr wohl.«
»Und Ihr erfreut Euch weiterhin guter Gesundheit?«, fragte ich. Die Frage sprengte den Rahmen eines öffentlichen Gespräches schon fast.
»Bester Gesundheit, auch das gewiss eine Auswirkung des Ehelebens.« Sein Blick gab mir zu verstehen, dass ich zumindest an einem so öffentlichen Ort wie dem Garten keine weiteren Fragen dazu stellen sollte.
Wir setzten unseren Spaziergang fort und nickten den Adligen zu, denen wir begegneten. Der Maer plauderte über Gerüchte bei Hof. Ich spielte mit und trug meinen Teil zum Gespräch bei. In Wirklichkeit wollte ich es rasch hinter mich bringen, damit wir eine ernsthafte Unterredung unter vier Augen führen konnten.
Doch ich wusste, dass Alveron sich nicht drängen ließ. Unsere Gespräche folgten einem festen Ritual. Wenn ich dagegen verstieß, ärgerte ich ihn nur. Also übte ich mich in Geduld, roch an den Blumen und tat, als interessierte ich mich für den Hofklatsch.
Nach einer weiteren Viertelstunde entstand, wie es für unsere Gespräche typisch war, eine Pause. Als Nächstes würde Alveron mich zu einem strittigen Thema befragen und dann würden wir uns an einen Ort zurückziehen, wo wir ungestört über wichtige Dinge reden konnten.
»Ich war immer der Ansicht«, begann Alveron endlich mit dem Thema unserer Diskussion, »dass jeder Mensch in seinem Innersten eine Frage mit sich herumträgt.«
»Wie meint Ihr das, Euer Gnaden?«
»Ich glaube, jeder Mensch wird von einer Frage umgetrieben. Einer Frage, die ihn nachts wach hält und an der er herumnagt wie ein Hund an einem alten Knochen. Wer diese Frage kennt, kennt auch den betreffenden Menschen besser.« Er warf mir einen Blick von der Seite zu und lächelte ein wenig. »Zumindest meine ich das schon immer.«
Ich überlegte einen Moment lang. »Da würde ich Euch zustimmen, Euer Gnaden.«
Alveron hob die Augenbrauen. »So schnell?« Er klang ein wenig enttäuscht. »Ich hatte mit mehr Widerspruch gerechnet.«
Ich schüttelte den Kopf, froh über die Gelegenheit, meinerseits ein Thema anschneiden zu können. »Mich selbst beschäftigt seit einigen Jahren eine ganz bestimmte Frage und das wird meiner Einschätzung nach auch noch einige Zeit so bleiben. Deshalb leuchtet mir vollkommen ein, was Ihr sagt.«
»Wirklich?«, fragte er neugierig. »Was für eine Frage denn?«
Ich überlegte, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte. Dass ich die Chandrian suchte, die meine Familie getötet hatten. Doch das kam nicht wirklich in Frage. Dieses Geheimnis lag immer noch schwer wie ein großer Stein auf dem Grund meines Herzens begraben. Es war so persönlich, dass ich es einem intelligenten und schlauen Menschen wie dem Maer nicht anvertrauen konnte. Außerdem hätte ich damit meine Herkunft von den Edema Ruh preisgegeben, von der bisher noch niemand am Hof des Maer etwas ahnte. Der Maer wusste zwar, dass ich nicht dem Adel angehörte, aber keineswegs, dass meine Abstammung so gering war.
»Es muss sich um eine gewichtige Frage handeln, wenn du so lange überlegst«, scherzte Alveron auf mein Zögern hin. »Sage sie mir, ich bestehe darauf. Ich biete dir sogar einen Tausch an: eine Frage für eine Frage. Vielleicht können wir einander zu einer Antwort verhelfen.«
Auf eine schönere Ermutigung konnte ich nicht hoffen. Ich dachte noch kurz nach und wählte meine Worte dann mit Bedacht. »Wo sind die Amyr?«
»Die Amyr mit den blutigen Händen«, murmelte Alveron. Er musterte mich von der Seite. »Du fragst wahrscheinlich nicht, wo ihre Gebeine ruhen?«
»Nein, Euer Gnaden«, sagte ich ernst.
Er wurde nachdenklich. »Interessant.« Ich atmete erleichtert auf, denn ich hatte schon halb mit einer oberflächlichen Antwort gerechnet, etwa, dass die Amyr seit Jahrhunderten tot seien. Stattdessen sagte der Maer: »Ich habe mich nämlich in meiner Jugend eingehend mit den Amyr beschäftigt.«
»Wirklich, Euer Gnaden?«, fragte ich, ganz überrascht von diesem Zufall.
Er sah mich mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln an. »So überraschend ist das auch wieder nicht. Als Junge wollte ich ein Amyr sein.« Er klang ein wenig verlegen. »Es gibt nicht nur böse Geschichten über sie. Sie haben schwierige Entscheidungen getroffen, die niemand sonst treffen wollte. So etwas macht den Menschen Angst, aber ich glaube, dass sie sehr viel Gutes bewirkt haben.«
»Das fand ich auch immer«, gestand ich. »Neugierige Frage: Welches ist eure Lieblingsgeschichte?«
»Die von Atreyon«, sagte Alveron ein wenig wehmütig. »Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gehört. Ich könnte die acht Eide des Atreyon wahrscheinlich auswendig aufsagen.« Er schüttelte den Kopf und sah mich an. »Und deine?«
»Atreyon ist mir ein wenig zu blutig«, musste ich gestehen.
Alveron wirkte belustigt. »Die Amyr wurden nicht umsonst ›die mit den blutigen Händen‹ genannt«, sagte er. »Die Tätowierungen der Ciridae waren kein Schmuck.«
»Stimmt. Trotzdem bevorzuge ich Sir Savien.«
»Natürlich«, sagte Alveron und nickte. »Du bist ein Romantiker.«
Schweigend setzten wir unseren Weg fort, bogen um eine Ecke und gingen an einem Brunnen vorbei. »Als Kind habe ich sie geliebt«, sagte Alveron schließlich. Es klang wie ein verlegenes Geständnis. »Die Männer und Frauen, die die gesamte Macht der Kirche hinter sich wussten. Und hinter der Kirche stand damals die gesamte Macht des Aturischen Reiches.« Er lächelte. »Tapfer, verwegen und niemandem verantwortlich als nur sich selbst und Gott.«
»Und den anderen Amyr«, fügte ich hinzu.
»Und letztlich dem Pontifex«, schloss Alveron. »Du kennst wahrscheinlich seinen Erlass gegen die Amyr?«
»Ja.«
Wir betraten eine kleine, aus Holz und Stein erbaute Brücke, blieben auf dem Scheitel des Brückenbogens stehen, blickten auf das Wasser hinunter und sahen den Schwänen zu, die langsam auf der Strömung trieben. »Weißt du, was ich festgestellt habe, als ich jünger war?«, fragte der Maer.
Ich schüttelte den Kopf.
»Als ich für die Kindergeschichten über die Amyr schließlich zu alt war, begann ich über sachliche Fragen nachzudenken. Wie viele Amyr gab es zum Beispiel? Und wie viele davon gehörten dem Adel an? Wie viele Pferde konnten sie für den bewaffneten Kampf stellen?«
Er sah mich an, um meine Reaktion einzuschätzen.
»Ich war damals in Felton. Dort gibt es ein altes aturisches Mendarium, in dem die Kirchenbücher des gesamten nördlichen Farrel aufbewahrt werden. Ich habe diese Bücher zwei Tage lang durchgesehen. Und was, glaubst du, habe ich gefunden?«
»Nichts«, antwortete ich. »Ihr habt nichts gefunden.«
Alveron hob den Kopf und musterte mich mit sorgfältig beherrschter Überraschung.
»Mir ging es nämlich an der Universität genauso«, fuhr ich fort. »Ich hatte den Eindruck, dass jemand die Nachrichten über die Amyr aus der Bibliothek dort entfernt hat. Natürlich nicht alle, aber ich habe kaum noch handfeste Informationen gefunden.«
Ich las in den klugen grauen Augen des Maer, dass er daraus sofort eigene Schlüsse zog. »Und wer hätte daran wohl das größte Interesse?«, fragte er.
»Die Amyr selbst«, antwortete ich. »Und das heißt, dass es sie immer noch irgendwo gibt.«
»Von daher deine Frage.« Alveron begann wieder zu gehen, doch langsamer als zuvor. »Wo sind die Amyr?«
Wir verließen die Brücke und folgten dem Weg um den Teich. Der Maer war tief in Gedanken versunken. »Ob du es glaubst oder nicht, ich kam damals zum selben Schluss«, sagte er. »Ich dachte, vielleicht wollten die Amyr verhindern, dass ihnen der Prozess gemacht wird, und sind untergetaucht. Ich hielt es sogar für möglich, dass es sie bis heute gibt und dass sie im Verborgenen für das allgemeine Wohl der Menschen wirken.«
Ich spürte ein aufgeregtes Kribbeln in der Brust. »Was habt Ihr herausgefunden?«, fragte ich eifrig.
»Herausgefunden?« Alveron sah mich überrascht an. »Nichts. Mein Vater starb in jenem Jahr, und ich wurde Maer. Ich tat das Ganze als kindliches Wunschdenken ab.« Er blickte über das Wasser und auf die sanft darüber hingleitenden Schwäne. »Aber wenn du eine halbe Welt entfernt dasselbe festgestellt hast …« Er verstummte.
»Und ich bin zum selben Schluss gekommen, Euer Gnaden.«
Alveron nickte langsam. »Es ist beunruhigend, dass es ein so wichtiges Geheimnis geben könnte.« Er blickte durch den Garten und auf die Mauer der Burg. »Noch dazu in meinem eigenen Land. Das gefällt mir nicht.« Er wandte sich wieder zu mir und sah mich mit einem durchdringenden Blick an. »Wie könnte man sie deiner Meinung nach ausfindig machen?«
Ich lächelte bitter. »Wie Ihr bereits angedeutet habt, werde ich nie ein Edelmann sein, auch wenn ich noch so gut reden kann und noch so gebildet bin. Deshalb fehlen mir die Beziehungen und Mittel, dieser Frage so gründlich nachzugehen, wie ich es gerne tun würde. Wenn mir allerdings Euer Name die Türen öffnen würde, könnte ich in vielen privaten Bibliotheken suchen, in Archiven, die so privat oder verborgen sind, dass niemand daran gedacht hat, sie zu säubern …«
Alveron nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Ich denke, ich habe dich verstanden. Ich persönlich würde sehr viel darum geben, diese Sache aufzuklären.«
Lachen drang zu uns herauf, und in das Lachen mischten sich die näherkommenden Schritte einer Gruppe von Adligen. »Du hast mir sehr viel Stoff zum Nachdenken gegeben«, sagte Alveron leiser. »Wir sprechen weiter darüber, wenn wir ungestört sind.«
»Welche Zeit wäre für Euch günstig, Euer Gnaden?«
Alveron betrachtete mich lange forschend. »Komm heute Abend in meine Gemächer. Und da ich deine Frage nicht beantworten kann, will ich dir stattdessen eine Frage von mir stellen.«
»Fragen bedeuten mir fast genauso viel wie Antworten, Euer Gnaden.«