Schulden

Da ich nun viel freie Zeit zur Verfügung hatte, mietete ich mir Mitte des Trimesters einen schnellen Zweispänner und unternahm damit einen Ausflug nach Tarbean.

Die Hinfahrt dauerte den ganzen Reaving, und den Cendling verbrachte ich damit, Orte aufzusuchen, die einmal wichtig für mich gewesen waren und an denen ich alte Schulden zu begleichen hatte: bei einem Schuhmacher, der sehr freundlich zu einem unbeschuhten Jungen gewesen war, bei einem Gastwirt, der mich hin und wieder vor seinem Kamin hatte schlafen lassen, und bei einem Schneider, dem ich übel mitgespielt hatte.

Einige Ecken von Waterside waren mir noch erstaunlich vertraut, andere erkannte ich überhaupt nicht wieder. Das war aber auch nicht weiter verwunderlich: Eine Stadt, die so groß und geschäftig ist wie Tarbean, ist einem beständigen Wandel unterworfen. Was mich verwunderte, war die seltsame Nostalgie, die ich diesem Ort gegenüber empfand, der doch so grausam zu mir gewesen war.

Ich war zwei Jahre lang nicht mehr hier gewesen, und meine Zeit damals erschien mir nun wie aus einem anderen Leben.

Der letzte Regen lag schon eine Spanne zurück, und die ganze Stadt war knochentrocken. Die schlurfenden Füße Hunderttausender Passanten wirbelten einen feinen Staub auf, der die Straßen der Stadt erfüllte. Dieser Staub setzte sich bald in meine Kleider, hing mir im Haar, juckte mir in den Augen. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass er größtenteils aus pulverisierter Pferdescheiße bestand, verfeinert mit je einer Prise faulem Fisch, Kohlenrauch und Urin.

Wenn ich durch die Nase atmete, überfiel mich der Gestank. Atmete ich aber durch den Mund, so hatte ich ihn auf der Zunge, und der Staub drang mir in die Lunge und brachte mich zum Husten. Ich hatte es nicht so schlimm in Erinnerung. War es hier immer schon so dreckig gewesen? Hatte es hier immer schon so gestunken?

Nachdem ich eine halbe Stunde lang danach gesucht hatte, fand ich schließlich das ausgebrannte Gebäude mit dem Kellergewölbe. Ich ging die Treppe hinunter und den langen Korridor entlang und betrat einen klammen Raum. Trapis war immer noch da, barfuß und in dem gleichen zerlumpten Gewand wie eh und je, und kümmerte sich in dem kalten, dunklen Zimmer im Souterrain um die Kinder, für die es keine Hoffnung mehr gab.

Er erkannte mich. Aber nicht so, wie andere Leute mich erkannten – als den jungen Helden aus den Geschichten, die man gehört hatte. Für derlei Dinge hatte Trapis keine Zeit. Nein, er erinnerte sich an mich als den verdreckten, halb verhungerten Jungen, der in einer Winternacht fieberkrank und weinend seine Treppe herabgestürzt war. Und dafür liebte ich ihn umso mehr.

Ich gab ihm so viel Geld, wie er von mir annahm: fünf Talente. Ich wollte ihm mehr geben, aber er lehnte ab. Wenn er zu viel Geld ausgab, so sagte er, würde das nur ungute Aufmerksamkeit erregen. Die Kinder und er seien am sichersten, wenn sie niemand bemerkte.

Ich beugte mich seiner Weisheit und verbrachte den Rest des Tages damit, ihm zu helfen. Ich pumpte Wasser und holte Brot. Ich untersuchte die Kinder, ging zu einer Apotheke und brachte ihnen ein paar Mittel, die ihnen helfen würden.

Zu guter Letzt kümmerte ich mich auch noch um Trapis selbst, jedenfalls so weit er es zuließ. Ich rieb seine schmerzenden, geschwollenen Füße mit Kampfer und Mutterblatt ein und schenkte ihm Stützstrümpfe und ein Paar gute Schuhe, damit er nicht mehr barfuß in dem feuchten Keller umhergehen musste.

Am späten Nachmittag trudelten nach und nach die zerlumpten Kinder in dem Keller ein. Sie kamen, weil sie auf etwas zu essen hofften oder sich verletzt hatten oder einen sicheren Schlafplatz suchten. Sie alle beäugten mich argwöhnisch. Meine Kleider waren sauber und neu. Ich gehörte nicht zu ihnen. Ich war nicht willkommen.

Wenn ich noch länger geblieben wäre, hätte es Schwierigkeiten gegeben. Zumindest wäre meine Anwesenheit einigen Straßenkindern so unangenehm gewesen, dass sie nicht mehr dort übernachtet hätten. Und so verabschiedete ich mich von Trapis und ging. Manchmal ist Weggehen das Einzige, was man tun kann.

Da mir noch ein paar Stunden blieben, bis sich die Wirtshäuser füllen würden, kaufte ich mir ein Blatt cremefarbenes Schreibpapier und einen passenden Umschlag aus schwerem Pergament. Es war allererste Qualität, besser als alles, was ich je besessen hatte.

Anschließend suchte ich mir ein stilles Café und bestellte mir eine Schokolade und ein Glas Wasser. Ich legte das Papier auf meinem Tisch zurecht und zog Feder und Tinte aus meinem Shaed. Dann schrieb ich in eleganter Schreibschrift:

Ambrose,

das Kind ist von Dir. Du weißt das so gut wie ich.

Ich fürchte, dass meine Familie mich verstoßen wird. Wenn Du Dich nicht wie ein Gentleman verhältst und Deinen Verpflichtungen nachkommst, werde ich zu Deinem Vater gehen und ihm alles erzählen.

Versuche nicht, mich umzustimmen. Ich bin fest entschlossen.

Ich setzte keinen Namen darunter, sondern nur eine einzelne Initiale, bei der es sich um ein verschnörkeltes »R« handeln konnte oder um ein etwas zittriges »B«.

Dann tunkte ich eine Fingerspitze in mein Glas und ließ einige Wassertropfen auf das Blatt fallen. Sie ließen das Papier ein wenig aufquellen und die Tinte ein wenig verschmieren, ehe ich sie wieder abtupfte. Sie sahen aus wie Tränen.

Einen letzten Wassertropfen ließ ich auf die Initiale fallen und machte sie damit noch unkenntlicher. Jetzt hätte es auch ein »F«, »P« oder »E« sein können. Vielleicht sogar ein »K«. Im Grunde hätte es jeder Buchstabe sein können.

Dann faltete ich das Blatt zusammen, steckte es in den Umschlag, ging zu einer Lampe, brachte daran etwas Siegelwachs zum Schmelzen und verschloss den Umschlag mit einem ordentlichen Klacks davon. Auf die Vorderseite schrieb ich:

Ambrose Jakis

Universität (Zwei Meilen westlich von Imre)

Belenay-Barren

Zentrales Commonwealth

Dann zahlte ich und ging zum Drover’s Lot. Einige Ecken vor diesem Platz zog ich meinen Shaed aus und verstaute ihn in meinem Reisesack. Ich ließ den Brief auf die Straße fallen und scharrte ein wenig mit der Schuhsohle darauf herum, ehe ich ihn wieder aufhob und abstaubte.

Kurz vor dem Platz entdeckte ich das Letzte, was mir noch fehlte. »He!«, rief ich einem alten, backenbärtigen Mann zu, der an einer Mauer lehnte. »Ich gebe dir einen Halbpenny, wenn du mir mal kurz deinen Hut leihst.«

Der Alte nahm das unansehnliche Ding ab und besah es sich. Der Kopf, der darunter zum Vorschein kam, war kahl und bleich. Er blinzelte in den spätnachmittäglichen Sonnenschein. »Meinen Hut?«, fragte er mit rauher Stimme. »Für einen ganzen Penny verkauf ich ihn dir, und du kriegst auch noch meinen Segen dazu.« Er lächelte hoffnungsfroh und hielt mir den Hut mit seiner schmalen, zitternden Hand entgegen.

Er bekam seinen Penny. »Kannst du den mal kurz halten?«, bat ich und gab ihm den Brief. Dann schraubte ich mir das alte, labberige Ding mit beiden Händen auf den Kopf, bis über die Ohren. Mit Hilfe einer Schaufensterscheibe stellte ich sicher, dass mein rotes Haar komplett darunter verschwand.

»Steht dir!«, sagte der Alte und hustete nicht gerade trocken. Ich nahm den Brief wieder an mich und betrachtete die schmierigen Fingerabdrücke, die er darauf hinterlassen hatte.

Von dort waren es nur noch ein paar Schritte zum Drover’s Lot. Ich ging nun ein wenig gebeugt und kniff die Augen zusammen, während ich mich durch das Gedränge schob. Nach ein paar Minuten erhaschte mein Ohr den unverkennbaren Klang eines südvintischen Akzents, und ich ging zu einigen Männern, die Säcke von einem Wagen luden.

»He«, sagte ich in dem gleichen Akzent. »Seid ihr nach Imre unterwegs?«

Einer der Männer wuchtete seinen Sack auf die Ladefläche, klopfte sich die Hände ab und kam zu mir. »Ja, das sind wir. Willst du mitfahren?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und zog den Brief aus meinem Reisesack. »Ich hab hier einen Brief, der dahin muss. Ich wollte ihn eigentlich selbst überbringen, aber jetzt legt mein Schiff doch erst morgen ab. Ich hab ihn in Gannery von einem Seemann übernommen, hab einen ganzen Doppel-Bit dafür bezahlt«, sagte ich. »Er hatte ihn von einem adligen Fräulein bekommen, für einen Bit.« Ich zwinkerte dem Mann zu. »Soll wohl eine sehr eilige Sendung sein.«

»Einen Doppel-Bit hast du dafür bezahlt?«, fragte der Mann und schüttelte den Kopf. »Ganz schön dumm. So viel blecht doch kein Mensch für einen Brief.«

»Hoho«, sagte ich und hob einen Zeigefinger. »Du hast ja noch gar nicht gesehen, an wen der Brief geht.« Ich hielt den Umschlag so, dass er die Anschrift lesen konnte.

»Jakis?«, sagte er, und dann ging ihm sichtlich ein Licht auf. »Ist das etwa der Sohn von Baron Jakis?«

Ich nickte selbstgefällig. »Ja, und zwar der älteste Sohn. Ein so reicher Junge wird ordentlich was hinlegen für einen Brief von seiner Liebsten. Da ist eventuell ein ganzer Nobel drin.«

Er beäugte den Brief. »Könnte sein«, sagte er vorsichtig. »Aber schau mal, da steht bloß ›Universität‹, weiter nichts. Ich bin da oben schon gewesen, und der Ort ist nicht gerade klein.«

»Der Sohn von Baron Jakis wohnt in keiner Bruchbude«, sagte ich leicht gereizt. »Frag einfach nach der teuersten Unterkunft, da wird er anzutreffen sein.«

Der Mann nickte vor sich hin, und seine Hand bewegte sich schon unwillkürlich zu seinem Geldbeutel. »Ich denke schon, dass ich dir den abnehmen könnte«, sagte er widerwillig. »Aber höchstens für einen Doppel-Bit. Ich gehe damit ja sowieso schon ein ziemliches Risiko ein.«

»Jetzt gib deinem Herzen mal einen Ruck!«, jammerte ich. »Ich habe diesen Brief achthundert Meilen weit befördert! Das muss doch irgendwas wert sein!«

»Also gut«, sagte er und zog einige Münzen aus seinem Beutel. »Ich gebe dir drei Bits dafür.«

»Ein halbes Rundstück würde ich nehmen«, grummelte ich.

»Du nimmst drei Bits«, sagte er und streckte mir seine schmutzige Hand entgegen.

Ich gab ihm den Brief. »Denk dran, ihm zu sagen, dass er von einer adligen Dame kommt«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Das ist ein reicher Schnösel. Hol so viel aus ihm raus, wie du nur kannst, das rate ich dir.«

Dann verließ ich den Platz, richtete mich wieder auf und nahm den Hut ab. Ich zog meinen Shaed wieder aus dem Reisesack und warf ihn mir um die Schultern. Ich pfiff ein fröhliches Lied, und als ich wieder bei dem kahlköpfigen Bettler vorbeikam, gab ich ihm seinen Hut zurück und die drei Bits obendrauf.

Als ich zum ersten Mal die Geschichten gehört hatte, die man sich an der Universität über mich erzählte, hatte ich erwartet, dass das schnell vorübergehen würde. Ich nahm an, es wäre nur ein kurzes Auflodern und würde sich bald wieder legen, wie ein Feuer, dem flugs der Brennstoff ausgeht.

Von wegen. Die Geschichten von Kvothe, wie er Mädchen rettete und mit Felurian schlief, mischten sich mit Bruchstücken der Wahrheit und den abstrusen Lügen, die ich selbst über mich in die Welt gesetzt hatte, um meinen Ruf zu festigen. Das alles zusammen ergab Brennstoff in Hülle und Fülle, und so verbreiteten sich die Geschichten wie ein Lauffeuer.

Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, ob mich das amüsieren oder ängstigen sollte. Wenn ich nach Imre ging, zeigten die Leute mit den Fingern auf mich und tuschelten. Bald war ich so berühmt-berüchtigt, dass ich nicht mehr unerkannt hinübergehen und mit anhören konnte, was man sich über mich erzählte.

Tarbean hingegen war vierzig Meilen weit entfernt.

Nachdem ich Drover’s Lot verlassen hatte, kehrte ich auf das Zimmer zurück, das ich mir in einer der netteren Gegenden von Tarbean genommen hatte. In diesem Teil der Stadt vertrieb der Wind vom Meer den Gestank und den Staub, und die Luft war rein und klar. Ich bestellte mir ein Vollbad und gab in einem Anfall von Verschwendungssucht, bei dem mir einige Zeit zuvor noch schwindelig geworden wäre, drei Penny dafür aus, dass der Portier meine Kleider in die nächstgelegene kealdische Wäscherei bringen ließ.

Anschließend ging ich, wieder sauber und wohlriechend, hinab in den Schankraum.

Ich hatte dieses Wirtshaus mit Bedacht gewählt. Es war nicht nobel, aber auch nicht schäbig. Der Schankraum mit seiner niedrigen Decke hatte etwas Behagliches. Das Haus stand an einer Ecke, an der sich zwei vielbefahrene Straßen kreuzten, und ich sah, dass kealdische Händler dort ebenso ein und aus gingen wie yllische Matrosen und vintische Fuhrleute. Es war der ideale Ort für Geschichten.

Ich ließ mich am Ende des Tresens nieder, und es dauerte nicht lange, und ich hörte mit an, wie ich die Schwarze Bestie von Trebon zur Strecke gebracht hatte. Ich war verblüfft. Zwar hatte ich ja tatsächlich in Trebon einen herumwütenden Draccus getötet, doch als Nina mich ein Jahr zuvor besuchen kam, wusste sie noch nicht einmal meinen Namen. Mein zunehmender Ruf war wie ein Sturm auch durch Trebon gefegt und hatte dort diese Geschichte mit sich gerissen.

Dort am Tresen erfuhr ich vielerlei: Anscheinend besaß ich einen Ring aus Bernstein, mit dem ich Dämonen zwingen konnte, sich meinem Willen zu unterwerfen. Ich konnte die ganze Nacht zechen, ohne dass es mir irgendetwas anhaben konnte. Schlösser öffneten sich, wenn ich sie auch nur mit der Hand berührte, und ich besaß einen Mantel, der ganz aus Spinnweben und Schatten bestand.

Dort hörte ich auch zum ersten Mal, dass mich jemand »Kvothe, der Arkane« nannte. Es war offenbar keine neue Bezeichnung. Die Männer, die der Geschichte lauschten, nickten einfach nur, als sie es hörten.

Ich erfuhr, dass Kvothe, der Arkane, ein Wort kannte, mit dem er Pfeile mitten im Flug aufhalten konnte. Kvothe, der Arkane, blutete nur, wenn das Messer, das ihn schnitt, aus reinem Eisen war.

Der junge Mann, der diese Geschichte erzählte, kam allmählich zum dramatischen Höhepunkt, und ich war wirklich gespannt, wie es mir gelingen würde, dem dämonischen Untier Einhalt zu gebieten, da mein Ring ja bereits zerschmettert und mein Schattenmantel fast vollständig verbrannt war. Doch gerade in dem Moment, da ich mir Zutritt zu der Kirche in Trebon verschaffte, indem ich die Tür mit einem Zauberwort und einem einzigen Schlag meiner bloßen Hand zerschmetterte, flog die Wirtshaustür auf, und alle Anwesenden fuhren zusammen, als sie gegen die Wand knallte.

Ein junges Pärchen stand in der Tür. Die Frau war sehr schön, hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Der Mann war prächtig gekleidet und blickte panisch. »Ich weiß nicht, was sie hat!«, rief er und sah sich wie von Sinnen um. »Wir sind einfach nur spazieren gegangen, und plötzlich kriegt sie keine Luft mehr!«

Ich war bei ihr, ehe die anderen im Raum auch nur aufstehen konnten. Die Frau war auf einer leeren Sitzbank halb in sich zusammengesunken, und ihr Begleiter beugte sich über sie. Sie presste sich eine Hand auf die Brust und hielt ihn mit der anderen schwächlich auf Abstand. Der Mann ignorierte es, drängte sich an sie und sprach leise und eindringlich auf sie ein. Die Frau rutschte immer weiter von ihm weg, bis sie ganz am Ende der Bank lag.

Ich schob den Mann unsanft beiseite. »Ich glaube, sie möchte, dass Ihr sie mal einen Moment lang in Ruhe lasst.«

»Wer seid Ihr?«, herrschte er mich an. »Seid Ihr ein Arzt? Wer ist dieser Mann? Holt einen Arzt! Schnell!« Er versuchte mich mit dem Ellenbogen fortzudrängen.

»Du da!« Ich zeigte auf einen großen Seemann, der in der Nähe an einem Tisch saß. »Pack diesen Mann, und schaff ihn da rüber!« Meine Stimme peitschte durch den Raum, und der Seemann sprang auf, packte den jungen Edelmann im Genick und zerrte ihn fort.

Ich wandte mich wieder der Frau zu und sah, wie sich ihr wunderschöner Mund öffnete. Sie strengte sich an, bekam aber kaum Luft. Ihre Augen blickten verängstigt. Ich sagte ihr in meinem sanftesten Tonfall ins Ohr: »Du wirst wieder gesund. Alles wird gut. Du musst mir jetzt in die Augen sehen.«

Ihr Blick richtete sich starr auf mich, und als sie mich erkannte, riss sie verblüfft die Augen auf. »Ich will, dass du für mich atmest.« Ich legte eine Hand auf ihre fliegende Brust. Ihre Haut war gerötet und erhitzt. Ihr Herz raste wie das eines verängstigten Vogels. Meine andere Hand legte ich an ihre Wange. Dann sah ich ihr tief in die Augen. Sie waren wie dunkle Seen.

Ich beugte mich über sie, nah genug, um sie zu küssen. Sie duftete nach Selasblüten, grünem Gras und Straßenstaub. Ich spürte, wie sie sich anstrengte, Luft zu bekommen. Ich lauschte. Ich schloss die Augen. Ich hörte, wie ein Name gewispert wurde.

Ich sprach ihn ganz leise, war ihr dabei aber so nah, dass er ihr über die Lippen strich. Ich sprach ihn ganz leise, war ihr dabei aber so nah, dass sich sein Klang in ihr Haar schlängelte. Ich sprach ihn eindringlich, dunkel und süß.

Dann spürte ich, wie ganz nah Luft eingesogen wurde. Ich schlug die Augen auf. Im Raum war es so still, dass ich den samtenen Sog ihres zweiten verzweifelten Atemzugs hören konnte. Ich entspannte mich.

Sie legte eine Hand auf meine, über ihrem Herzen. »Ich will, dass du für mich atmest«, wiederholte sie. »Das sind sieben Worte.«

»Ja, stimmt«, sagte ich.

»Mein Held«, sagte Denna und atmete langsam und lächelnd weiter.

»Es war sehr sonderbar«, hörte ich den Seemann am anderen Ende des Schankraums sagen. »In seiner Stimme lag etwas. Ich schwör’s bei meiner Seel’, ich hab mich gefühlt wie ’ne Marionette, der man an den Strippen zieht.«

Ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Der Mann war es wahrscheinlich einfach nur gewohnt, aufzuspringen und in Aktion zu treten, wenn ihn eine Stimme mit dem entsprechenden autoritären Klang dazu aufforderte.

Aber es wäre sinnlos gewesen, ihm das zu sagen. Durch das, was ich mit Denna angestellt hatte, hatte ich mich, zusammen mit meinem roten Haar und dem dunklen Mantel, als Kvothe zu erkennen gegeben. Es war also alles Zauberei gewesen, ganz egal, was ich dazu gesagt hätte. Doch das kümmerte mich nicht. Was ich an diesem Abend vollbracht hatte, war die eine oder andere Legende wert.

Nachdem die Leute mich erkannt hatten, sahen sie uns beiden zu, ohne aber näher zu kommen. Dennas Begleiter war bereits aus dem Lokal verschwunden, als wir auf den Gedanken kamen, nach ihm zu sehen, und so erfreuten wir beide uns in unserer kleinen Ecke des Schankraums einer gewissen Ungestörtheit.

»Ich hätte wissen müssen, dass ich dich hier treffe«, sagte sie. »Du tauchst immer dort auf, wo ich am wenigsten mit dir rechne. Bist du etwa von der Universität hierher gezogen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich schwänze bloß mal ein paar Tage lang den Unterricht.«

»Fährst du bald wieder zurück?«

»Morgen. Ich habe mir einen Zweispänner gemietet.«

Sie lächelte. »Hättest du dabei gern ein bisschen Gesellschaft?«

Ich sah sie freimütig an. »Die Antwort darauf kennst du doch.«

Denna errötete ein wenig und wandte den Blick ab. »Ja, ich glaube, ich kenne sie.«

Als sie den Blick senkte, fiel ihr Haar wie ein Sturzbach über ihre Schultern nach vorn und rahmte ihr Gesicht. Es duftete warm und köstlich, nach Sonnenschein und Apfelwein. »Dein Haar«, sagte ich. »Schön!«

Überraschenderweise errötete sie nun noch mehr und schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen. »Da sind wir nun nach all der Zeit?«, sagte sie und warf mir einen kurzen Blick zu. »Bei Schmeicheleien?«

Nun war es an mir, verlegen zu sein, und ich stammelte: »Ich … wollte damit nicht … Ich meine, ich würde doch …« Ich atmete tief durch und berührte sacht eine kunstvolle kleine Haarflechte, die halb unter ihrem übrigen Haar verborgen war. »Ich meinte das da«, sagte ich. »Es sieht nämlich fast so aus, als stünde da ›schön‹.«

Ihr Mund formte vor Überraschung ein kreisrundes »O«, und dann fuhr sie sich mit einer Hand peinlich berührt ins Haar. »Das kannst du lesen?«, fragte sie ungläubig und guckte leicht verwirrt. »Grundgütiger Tehlu, gibt es eigentlich irgendetwas, das du nicht weißt?«

»Ich lerne gerade Yllisch«, sagte ich. »Oder ich versuche es zumindest. Es besteht aus sechs Strähnen statt aus vier, aber es gleicht fast einem Geschichtenknoten, nicht wahr?«

»Fast?«, erwiderte sie. »Also bitte! Das habe ich nicht gehört!« Ihre Finger zupften an dem kurzen blauen Band am Ende der Haarflechte. »Selbst die Yller können heutzutage kaum noch Yllisch«, murmelte sie offenkundig gereizt vor sich hin.

»Ich bin nicht sehr gut darin«, sagte ich. »Ich kann erst ein paar Worte.«

»Und selbst die, die es sprechen, geben sich nicht mit diesen Knoten ab.« Sie sah mich böse von der Seite an. »Und außerdem liest man die Knoten mit den Fingern, nicht mit den Augen.«

»Ich musste mir das größtenteils mit Hilfe von Abbildungen in Büchern beibringen«, sagte ich.

Denna löste schließlich das blaue Band, die Haarflechte fiel auseinander, und dann glättete sie mit ihren flinken Fingern ihr Haar.

»Warum hast du das getan?«, fragte ich. »Vorher hat es mir besser gefallen.«

»Das war doch der Sinn der Übung.« Sie sah mich an und reckte stolz das Kinn vor, während sie sich das Haar ausschüttelte. »So. Was sagst du jetzt dazu?«

»Ich glaube, jetzt fürchte ich mich davor, dir noch weitere Komplimente zu machen«, sagte ich und wusste nicht recht, was ich eigentlich falsch gemacht hatte.

Ihre Gereiztheit legte sich. »Es war mir einfach nur peinlich. Ich hatte nicht erwartet, dass irgendjemand das lesen könnte. Wie würdest du dir vorkommen, wenn dich jemand sehen würde, wie du mit einem Schild rumläufst, auf dem steht: ›Ich bin ein toller Typ und sehe echt gut aus‹?«

Dem folgte Schweigen. Ehe es beklommen werden konnte, sagte ich: »Halte ich dich eigentlich gerade von irgendwas Dringendem ab?«

»Nur von Squire Strahota.« Sie deutete mit einer lässigen Geste in die Richtung, in die ihr Begleiter verschwunden war.

»Der war doch eher zudringlich als dringend, oder?«, fragte ich mit einem halben Lächeln und hob eine Augenbraue.

»Das sind alle Männer auf die eine oder andere Weise«, erwiderte sie mit gespielter Strenge.

»Dann halten sie sich also immer noch alle an ihr Buch?«

Nun blickte Denna wehmütig und seufzte. »Ich hatte ja mal gehofft, dass sie das Buch im Laufe der Jahre irgendwann einmal beiseitelegen würden. Doch stattdessen musste ich feststellen, dass sie immer nur neue Kapitel darin aufschlagen.«

Sie hob ihre Hand, an der zwei Ringe prangten. »Statt Rosen schenken sie einem jetzt Gold, und dann werden sie mit einem Schlag ausgesprochen dreist.«

»Na, wenigstens sind es vermögende Männer, die dich langweilen«, sagte ich tröstend.

»Ein gemeiner Kerl bleibt ein gemeiner Kerl, egal, ob er vermögend ist oder nicht.«

Ich legte ihr besänftigend eine Hand auf den Arm. »Du solltest diesen Männern ihr krämerhaftes Denken verzeihen. Diese armen, reichen Kerle sehen, dass du nicht einzufangen bist, und dann versuchen sie halt, etwas zu kaufen, obwohl sie wissen, dass es nicht käuflich ist.«

Denna applaudierte. »Ein Gnadenappell für die Gegner!«

»Wenn ich dich daran erinnern darf: Du bist doch selbst auch nicht darüber erhaben, Geschenke zu machen«, sagte ich. »Ich weiß das nur zu gut.«

Da blickte sie streng und schüttelte den Kopf. »Es ist ein großer Unterschied, ob man aus freien Stücken etwas verschenkt oder ein Geschenk bekommt, das einen im Grunde nur an einen Mann ketten soll.«

»Das ist wohl wahr«, räumte ich ein. »Aus Gold lässt sich ebenso gut eine Kette schmieden wie aus Eisen. Aber dennoch: Kann man es einem Mann wirklich zum Vorwurf machen, wenn er hofft, dich anständig schmücken zu dürfen?«

»Wohl kaum«, sagte sie mit einem Lächeln, das ebenso amüsiert wie überdrüssig erschien. »Allerdings lassen die Vorschläge, die anschließend kommen, meist jede Anständigkeit vermissen.« Sie sah mich an. »Und du? Wie wäre ich dir lieber? Anständig geschmückt oder unanständig?«

»Darüber habe ich durchaus schon nachgedacht«, sagte ich und lächelte verstohlen, da ich an ihren Ring dachte, der sich in einem sicheren Versteck auf meinem Zimmer im ANKER’S befand. Ich musterte sie mit großer Geste. »Es hat beides etwas für sich. Aber Gold ist nichts für dich. Du bist selbst schon strahlend genug, dich muss man nicht noch aufpolieren.«

Denna nahm meinen Arm und drückte ihn und schenkte mir ein liebevolles Lächeln. »Ach, mein Kvothe. Du hast mir gefehlt. Ich bin nicht zuletzt deshalb in diese Weltgegend zurückgekehrt, weil ich hoffte, dich hier zu finden.« Sie stand auf und streckte mir einen Arm entgegen. »Komm, führe mich fort aus all dem.«

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