Träume

Ich war eine Stunde lang damit beschäftigt, die beiden Wagen zu einer Stelle im Wald zu fahren, an der die Bäume besonders dicht standen, und sie dort zu verstecken. Anschließend machte ich die Markierungen an ihnen unkenntlich und spannte die Pferde aus. Da es nur einen Sattel gab, belud ich die anderen beiden Pferde mit Proviant und allen wertvollen Dingen, die ich finden konnte.

Als ich mit den Pferden zurückkehrte, warteten Krin und Ellie auf mich. Oder genauer, Krin wartete. Ellie stand nur mit unbewegter Miene und leerem Blick vor dem Zelt.

»Kannst du reiten?«, fragte ich Krin.

Sie nickte und ich reichte ihr die Zügel des gesattelten Pferdes. Sie schob einen Fuß in den Steigbügel, hielt inne und schüttelte den Kopf. Langsam zog sie den Fuß wieder heraus. »Ich gehe zu Fuß.«

»Glaubst du, Ellie kann sich auf einem Pferd halten?«

Krin sah zu dem blonden Mädchen hinüber. Eins der Pferde schnupperte neugierig an ihr, aber sie beachtete es nicht. »Wahrscheinlich, aber ich glaube nicht, dass es ihr gut tun würde. Nach allem …«

Ich nickte verständnisvoll. »Dann gehen wir alle zu Fuß.«

»Was ist das Wesen des Lethani?«, fragte ich Vashet.

»Erfolg und richtiges Handeln.«

»Was ist wichtiger, Erfolg oder richtiges Handeln?«

»Beides ist dasselbe. Wer richtig handelt, hat Erfolg.«

»Aber andere haben vielleicht Erfolg, obwohl sie das Falsche tun«, entgegnete ich.

»Das Falsche führt nie zum Erfolg«, erwiderte Vashet bestimmt. »Wenn jemand falsch handelt und Erfolg hat, ist das nicht der Weg. Ohne Lethani gibt es keinen wahren Erfolg.«

Hallo?, rief eine Stimme. »Hallo?«

Nun nahm ich Krin wahr. Der Wind zauste ihr die Haare und ihr junges Gesicht wirkte müde. Sie sah mich ängstlich an. »Es wird dunkel.«

Ich hob den Blick, und tatsächlich, von Osten her brach die Dämmerung ein. Gegen Mittag hatten wir Pause gemacht und etwas gegessen, danach war ich wie in Trance weitermarschiert. Ich war hundemüde.

»Ich heiße Kvothe, Krin. Danke, dass du mich am Ellbogen gezogen hast. Ich war in Gedanken anderswo.«

Krin sammelte Holz und machte Feuer. Ich sattelte die Pferde ab, rieb sie trocken und gab ihnen zu fressen. Anschließend baute ich noch das Zelt auf. Unter anderen Umständen hätte ich es nicht mitgenommen, aber auf den Pferden war noch Platz dafür gewesen, und die Mädchen waren es wahrscheinlich nicht gewohnt, unter freiem Himmel zu schlafen.

Als ich mit dem Zelt fertig war, fiel mir ein, dass ich nur eine zusätzliche Decke aus den Beständen der Truppe dabei hatte. Soweit ich es aber beurteilen konnte, würde es eine kalte Nacht werden.

»Essen ist fertig«, hörte ich Krin rufen. Ich warf meine Decke und die zweite Decke ins Zelt und kehrte zum Feuer zurück. Krin hatte aus den verfügbaren Zutaten das Beste gemacht: Kartoffelsuppe mit Speck und geröstetem Brot. Außerdem entdeckte ich auf dem Feuer auch noch einen grünen Sommerkürbis.

Ellie machte mir Sorgen. Sie war den ganzen Tag wie in Trance neben uns hermarschiert, ohne etwas zu sagen oder auf eine an sie gerichtete Bemerkung von Krin oder mir zu reagieren. Zwar folgte sie mit den Augen verschiedenen Dingen, aber dahinter war kein Gedanke zu erkennen. Krin und ich hatten zu unserem Leidwesen beide feststellen müssen, dass sie, wenn wir sie sich selbst überließen, stehen blieb oder einfach die Straße verließ, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit erregte.

Krin gab mir Teller und Löffel, und ich setzte mich. »Das riecht aber gut«, lobte ich.

Sie lächelte kaum merklich und füllte einen zweiten Teller für sich selbst. Sie wollte schon einen dritten füllen, zögerte dann aber. Ellie konnte nicht selbst essen.

»Möchtest du etwas Suppe, Ellie?«, fragte ich in einem ganz normalen Tonfall. »Sie riecht gut.«

Ellie saß unbewegt am Feuer und starrte ins Leere.

»Willst du vielleicht bei mir mitessen?«, fragte ich, als sei das die natürlichste Sache der Welt. Ich rückte näher zu ihr und blies auf einen Löffel Suppe, um ihn abzukühlen. »Bitte sehr.«

Ellie aß mechanisch und drehte den Kopf ein wenig in meine Richtung, dem Löffel zu. In ihren Augen spiegelten sich die tanzenden Flammen des Feuers. Sie kamen mir vor wie Fenster eines leeren Hauses.

Ich blies auch auf den nächsten Löffel und hielt ihn dem blonden Mädchen hin. Sie öffnete den Mund erst, als der Löffel ihre Lippen berührte. Ich bewegte den Kopf, um an den tanzenden Flammen in ihren Augen vorbeizusehen. Was war dahinter?

»Dich nennt man doch bestimmt Ell, nicht wahr?«, fragte ich beiläufig. Ich sah Krin an. »Als Kurzform für Ellie?«

Krin zuckte ratlos die Achseln. »Wir waren nicht befreundet. Ich kenne sie nur als Ellie Anwater, die Tochter des Bürgermeisters.«

»Heute sind wir lange marschiert«, fuhr ich im selben ruhigen Ton fort. »Wie geht es deinen Füßen, Krin?«

Krin sah mich mit ihren ernsten, dunklen Augen unverwandt an. »Sie tun ein wenig weh.«

»Mir tun meine auch weh. Ich freue mich schon darauf, die Schuhe auszuziehen. Tun dir die Füße auch weh, Ell?«

Keine Reaktion. Ich schob ihr wieder einen Löffel in den Mund.

»Außerdem war es ziemlich heiß. Heute Nacht müsste es allerdings abkühlen. Gutes Wetter zum Schlafen. Haben wir nicht Glück, Ell?«

Wieder keine Reaktion. Krin sah mich weiter von der anderen Seite des Feuers an. Ich aß selber einen Löffel Suppe. »Die schmeckt wirklich gut, Krin«, sagte ich aufrichtig, dann wandte ich mich wieder an das Mädchen mit dem leeren Blick. »Wirklich gut, dass wir Krin zum Kochen dabeihaben, Ell. Was ich koche, schmeckt immer wie Pferdemist.«

Krin musste mit dem Mund voller Suppe lachen, was natürlich schief ging. Ich meinte eine kurzes Flackern in Ells Augen zu sehen. »Wenn ich Pferdeäpfel hätte, könnte ich uns zum Nachtisch einen Pferdeapfelkuchen machen«, bot ich an. »Wenn du willst, gleich heute Abend …« Ich verstummte und ließ es wie eine Frage klingen.

Auf Ellies Stirn erschien eine kleine Falte.

»Du hast recht«, sagte ich. »Das würde nicht gut schmecken. Willst du stattdessen lieber noch etwas Suppe?«

Ein kaum merkliches Nicken. Ich gab ihr einen Löffel.

»Sie ist ein wenig salzig. Du willst wahrscheinlich Wasser dazu.«

Wieder ein Nicken. Ich reichte ihr den Wasserschlauch, und sie setzte ihn an die Lippen und trank eine volle Minute lang. Wahrscheinlich war sie vom vielen Marschieren halb verdurstet. Ich nahm mir vor, sie am nächsten Tag genauer im Auge zu behalten, damit sie genug trank.

»Möchtest du auch etwas trinken, Krin?«

»Ja bitte«, sagte Krin, den Blick auf Ellies Gesicht gerichtet.

Ellie hielt Krin den Wasserschlauch mit einer mechanischen Bewegung hin, direkt über das Feuer. Der Schulterriemen hing in die Glut. Krin nahm ihn hastig und fügte ein verspätetes »Danke, Ell« hinzu.

Ich hielt das ruhige Gespräch die ganze Mahlzeit über aufrecht. Am Ende aß Ellie selbst. Ihre Augen wirkten etwas klarer, doch schien sie gleichsam durch eine Milchglasscheibe zu blicken. Sie sah Dinge und sah sie zugleich nicht. Immerhin war es ein Fortschritt.

Nachdem sie zwei Teller Suppe und einen halb Laib Brot gegessen hatte, begannen ihr die Augen zuzufallen. »Möchtest du gerne schlafen, Ell?«, fragte ich.

Ein etwas deutlicheres Nicken.

»Soll ich dich zum Zelt tragen?«

Sie riss die Augen auf und schüttelte entschieden den Kopf.

»Vielleicht hilft dir Krin, dich zum Schlafen fertig zu machen, wenn du sie bittest.«

Ellie drehte den Kopf in Krins Richtung und bewegte stumm die Lippen. Krin sah mich an, und ich nickte.

»Na, dann lass uns mal ins Bett gehen«, sagte Krin. Sie klang ganz wie eine ältere Schwester. Sie trat neben Ellie, nahm sie an der Hand und half ihr auf. Während die beiden zum Zelt gingen, aß ich den Rest der Suppe und ein Stück Brot, das so verkohlt war, dass die beiden Mädchen es nicht gegessen hatten.

Krin kehrte schon bald zum Feuer zurück.

»Schläft sie?«, fragte ich.

»Sie schlief schon, bevor sie richtig lag. Glaubst du, sie erholt sich wieder?«

Ellie hatte einen schweren Schock erlitten und sich in den Wahnsinn geflüchtet, um sich vor der Wirklichkeit zu schützen. »Mit der Zeit bestimmt«, sagte ich müde und hoffte, dass ich recht hatte. »Wenn man jung ist, erholt man sich schnell.« Ich musste traurig lachen, weil mir einfiel, dass Ellie wahrscheinlich nur ein Jahr jünger war als ich. Allerdings spürte ich an diesem Abend jedes Jahr doppelt, einige sogar dreifach.

Obwohl meine Glieder sich bleischwer anfühlten, zwang ich mich aufzustehen und Krin beim Abwasch zu helfen. Als wir fertig waren und auch die Pferde auf einem anderen Teil der Wiese angepflockt hatten, spürte ich, wie sie unruhig wurde. Ihre Anspannung wuchs, als wir uns dem Zelt näherten. Ich blieb stehen und hielt die Eingangsklappe für sie auf. »Ich schlafe heute Nacht draußen.«

Ihre Erleichterung war mit Händen zu greifen. »Wirklich?«

Ich nickte. Sie schlüpfte hinein, und ich ließ die Klappe hinter ihr herunterfallen. Sofort streckte Krin den Kopf wieder heraus und ihre Hand, die eine Decke hielt.

Ich schüttelte den Kopf. »Ihr werdet beide Decken brauchen. Es wird eine kalte Nacht.« Ich wickelte mich in meinen Schattenmantel und legte mich unmittelbar vor das Zelt, denn ich wollte nicht, dass Ell nachts schlafwandelte und sich dabei verirrte oder verletzte.

»Wirst du nicht frieren?«

»Mir macht das nichts«, sagte ich. Ich war so müde, dass ich auf einem galoppierenden Pferd hätte schlafen können. Auch unter einem galoppierenden Pferd.

Krin verschwand wieder im Zelt. Kurz darauf hörte ich sie unter die Decken schlüpfen. Dann kehrte Stille ein.

Ich musste an den erschrockenen Blick Ottos denken, als ich ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Dann hörte ich wieder Alleg kraftlos strampeln und fluchen, während ich ihn zu den Wagen schleifte. Das viele Blut fiel mir ein und wie es sich an den Händen angefühlt hatte, wie dickflüssig es gewesen war.

Ich hatte noch nie jemanden kaltblütig und aus nächster Nähe getötet. Wie warm das Blut gewesen war. Wie hysterisch Kete gekreischt hatte, als ich ihr durch den Wald nachgerannt war. »Ich hatte keine Wahl!«, hatte sie geschrien. »Entweder die oder ich!«

So lag ich lange wach. Als ich endlich einschlief, waren meine Träume noch schlimmer.

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