Shaed
Ich sollte vielleicht auf einige Eigenheiten der Fae gesondert hinweisen.
An Felurians Lichtung fiel auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches auf. Sie schien in einem uralten Wald zu liegen, den kein Mensch je betreten hatte. Wenn nicht die unbekannten Sterne am Himmel gewesen wären, hätte ich vermutet, dass ich mich nach wie vor in einer abgeschiedenen Gegend des Eld aufhielt.
Doch es gab Unterschiede. Seit der Trennung von meinen Gefährten hatte ich etwa ein Dutzend Mal geschlafen. Dennoch zeigte der Himmel über Felurians Laube bei jedem Erwachen dasselbe tiefe, violett getränkte Blau eines Sommerabends und änderte sich nie.
Ich hatte nur eine ganz ungefähre Vorstellung davon, wie lange ich schon hier war. Entscheidender noch: Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit inzwischen in der Welt der Sterblichen vergangen war. In vielen Märchen schlafen Knaben im Feenreich ein und wachen erst als alte Männer wieder auf. Umgekehrt gehen Mädchen in den Wald, und wenn sie Jahre später zurückkehren, sehen sie nicht älter aus und behaupten, nur einige Minuten fort gewesen zu sein.
Vielleicht vergingen jedes Mal, wenn ich in Felurians Armen einschlief, Jahre. Vielleicht stellte ich bei meiner Rückkehr fest, dass hundert Jahre vergangen waren. Oder aber überhaupt keine Zeit.
Aber daran wollte ich nicht denken. Nur ein Narr sorgt sich um Dinge, die er nicht ändern kann.
Und noch etwas war anders im Reich der Fae, es war allerdings viel weniger greifbar und ist deshalb schwerer zu beschreiben.
In der Mediho hatte ich viel Zeit mit bewusstlosen Patienten verbracht. Ich erwähne das aus einem bestimmten Grund: Es ist ein großer Unterschied, ob man in einem leeren Zimmer ist oder in einem Zimmer, in dem jemand schläft. Eine Person, die schläft, ist trotzdem anwesend. Sie nimmt einen wahr, wenn auch auf eine unbestimmte, vage Art.
Genauso erging es mir bei den Fae. Ich bemerkte es nur zunächst lange nicht, weil es so schwer zu fassen war. Und als ich es dann bemerkte, brauchte ich noch eine ganze Weile, bis ich den Unterschied benennen konnte.
Ich hatte das Gefühl, als sei ich aus einem leeren Zimmer in ein Zimmer getreten, in dem jemand schlief. Natürlich war da niemand. Aber ich hatte das Gefühl, als sei die ganze Umgebung in einen tiefen Schlaf versunken, die Bäume, die Felsen und der Bach, der in Felurians Teich mündete. All diese Dinge fühlten sich irgendwie körperlicher und präsenter an, als ich es gewohnt war, so als spürten sie auf eine unbestimmte Art und Weise meine Anwesenheit.
Die Vorstellung, dass ich das Reich der Fae lebend und ungebrochen verlassen würde, war für Felurian ungewohnt, und ich spürte, dass sie ihr zu schaffen machte. Sie wechselte oft mitten im Gespräch über etwas ganz anderes das Thema und ließ mich ihr fest versprechen, dass ich zu ihr zurückkehren würde.
Ich versicherte es ihr nach Kräften, aber man kann dasselbe nicht auf beliebig viele Arten sagen. Nachdem ich es ihr drei Dutzend Mal versprochen hatte, sagte ich: »Ich werde gut auf mich aufpassen, damit ich wohlbehalten zu dir zurückkehre.«
Ihre Miene wurde ängstlich und dann grimmig und zuletzt nachdenklich. Ich fürchtete schon, sie könnte mich nun doch als menschlichen Schoßhund behalten wollen, und machte mir Vorwürfe, dass ich nicht geflohen war, solange ich noch konnte.
Doch bevor meine Sorgen überhand nehmen konnten, legte Felurian den Kopf schräg und schien das Thema zu wechseln. »braucht mein liebster eine jacke? einen mantel?«
»Ich besitze schon einen«, antwortete ich und zeigte auf meine Habseligkeiten, die am Rand der Laube auf dem Boden verstreut lagen. Erst jetzt bemerkte ich, dass der verschlissene Mantel des Kesslers fehlte. Ich sah meine anderen Kleider, die Stiefel und den Reisesack, der immer noch mit der Kassette des Maer prall gefüllt war. Mantel und Schwert waren dagegen verschwunden. Dass ich ihr Fehlen bisher nicht bemerkt hatte, war verständlich, schließlich hatte ich seit dem ersten Erwachen an der Seite Felurians keine Kleider mehr angehabt.
Felurian betrachtete mich eingehend. Ihr Blick verweilte auf meinen Knien und den Unter- und Oberarmen. Erst als sie mich an der Schulter nahm und umdrehte, so dass sie auch meinen Rücken begutachten konnte, begriff ich, dass sie sich meine Narben ansah.
Sie fasste mich an der Hand und fuhr damit eine helle Linie auf meinem Unterarm entlang. »du scheinst aber nicht besonders gut auf dich aufzupassen, mein kvothe.«
Ich war ein wenig gekränkt, zumal sie mit ihrer Bemerkung mehr als nur ein wenig recht hatte. »Ich komme zurecht«, erwiderte ich steif. »Schließlich hatte ich auch mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen.«
Felurian drehte meine Hand um und betrachtete aufmerksam die Innenfläche und die Finger. »du bist kein krieger«, murmelte sie abwesend, »trotzdem bist du mit verletzungen übersät. du bist ein lieblich singender vogel, der nicht fliegen kann. ohne bogen, messer und kette.«
Sie fasste mit der Hand an meinen Fuß und fuhr nachdenklich über die Schwielen und Narben, die ich mir auf den Straßen von Tarbean eingehandelt hatte. »du wanderst viel, du findest mich nachts im wald. du weißt vieles und bist mutig und jung und gerätst deshalb oft in schwierigkeiten.«
Sie sah mich forschend an. »hätte mein lieber dichter gern einen shaed?«
»Einen was?«
Sie machte eine Pause, als müsste sie überlegen. »einen schatten.«
Ich lächelte. »Den habe ich doch schon.« Ich vergewisserte mich mit einem kurzen Blick. Schließlich befand ich mich im Reich der Fae.
Felurian runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf über meine Begriffsstutzigkeit. »einem anderen würde ich einen schild geben, der ihn vor schaden beschützt, oder einen bernstein, eine verzauberte schwertscheide oder eine krone, damit die menschen ihm mit wohlwollen begegnen.«
Sie schüttelte ernst den Kopf. »aber nicht dir, nicht einem nächtlichen wanderer und gefolgsmann des mondes. dich muss man vor eisen, kälte und hass schützen. du musst leise sein, und leichtfüßig, du musst lautlos durch die nacht gehen und schnell sein, und du musst furchtlos sein.« Sie nickte wie zu sich selbst. »das heißt, du brauchst einen shaed.«
Sie stand auf und ging auf den Wald zu. »komm mit«, sagte sie.
Felurian hatte eine ungewöhnliche Art, einen um etwas zu bitten. Ich hatte bereits festgestellt, dass ich ihren Bitten automatisch gehorchte, wenn ich mir nicht vorher bewusst vornahm, es nicht zu tun.
Nicht dass sie mit einer solchen Autorität gesprochen hätte. Dazu war ihre Stimme zu weich und rund. Sie stellte keine Forderungen oder versuchte einen zu etwas zu überreden. Sie sprach mit der größten Selbstverständlichkeit, als könne sie sich nicht vorstellen, dass jemand etwas anderes tun wollte als das, was sie sagte.
Als sie mich aufforderte, ihr zu folgen, sprang ich deshalb auf wie eine Marionette, an deren Fäden gezogen wird. Splitterfasernackt lief ich neben ihr her durch den dämmrigen, alten Wald.
Fast wäre ich noch einmal umgekehrt, um meine Kleider zu holen, doch dann folgte ich einem Rat, den mein Vater mir gegeben hatte, als ich klein war. »Andere Menschen haben andere Gepflogenheiten«, hatte er gesagt. »Wenn du nicht auffallen willst, passe dich an.« Andere Länder, andere Sitten.
Ich folgte Felurian also nackt und unvorbereitet. Sie schlug ein schnelles Tempo an. Das Moos dämpfte das Geräusch unserer bloßen Füße.
Im Wald wurde es immer dunkler. Zuerst glaubte ich, die Äste über unseren Köpfen seien schuld daran, doch dann erkannte ich die Wahrheit. Am dämmrigen Himmel zog die Nacht herauf. Schließlich war auch der letzte violette Schein verschwunden, und über uns wölbte sich nur noch ein samtenes, von fremden Sternen gesprenkeltes Schwarz.
Felurian ging unbeirrt weiter. Im Licht der Sterne sah ich ihre helle Haut und die Umrisse der Bäume unserer unmittelbaren Umgebung, sonst nichts. Ich stellte eine sympathetische Bindung für Licht her, was mir besonders schlau vorkam, und hielt die Hand wie eine Fackel über den Kopf. Die Bindung von Bewegung an Licht ist ohne Metall als Hilfsmedium nur sehr schwer herzustellen, ich war deshalb einigermaßen stolz auf meine Leistung.
Es wurde hell und ich sah mehr von unserer Umgebung. Schwarze Baumstämme ragten wie mächtige Säulen um uns auf, so weit der Blick reichte. Es gab weder tiefhängende Äste noch Unterholz noch Gras, nur das schwarze Moos unter unseren Füßen und die Äste über unseren Köpfen. Ich fühlte mich an eine mit schwarzem Samt ausgekleidete Kathedrale erinnert.
»ciar nalias!«, fuhr Felurian mich an.
Ich verstand die Worte nicht, dafür aber den Ton, und beendete die Bindung. Es wurde wieder dunkel. Nur einen Augenblick später sprang Felurian mich an, warf mich zu Boden und drückte sich mit ihrem geschmeidigen, nackten Körper auf mich. Sie warf sich nicht zum ersten Mal gegen mich, diesmal allerdings hielt sich der erotische Reiz in Grenzen, denn ich war mit dem Hinterkopf gegen eine vorstehende Wurzel gestoßen.
Noch betäubt vom Fall und fast blind spürte ich plötzlich, wie die Erde unter uns leicht zu beben begann. In der Luft über uns glitt ein wenig seitlich versetzt fast lautlos eine riesige Masse vorbei.
Felurian, die mit gespreizten Beinen auf mir lag, war am ganzen Leib zum Zerreißen gespannt. Die Muskeln ihrer Schenkel zitterten vor Anspannung, und ihr langes Haar fiel über uns und deckte uns zu wie ein seidenes Laken. Ihre Brüste drückten mit jedem ihrer Atemzüge gegen meine Brust.
Ihr Körper vibrierte im Rhythmus ihres hämmernden Herzens und ihr Mund bewegte sich an meiner Halsgrube. Felurian flüsterte sehr leise ein mir unverständliches Wort. Ich spürte das Wort an meiner Haut. Von ihm liefen stumme Wellen durch die Luft, ähnlich wie sich von einem Stein, den man ins Wasser wirft, Wellen ausbreiten.
Über uns waren leise Bewegungen zu hören, als falte jemand ein Samttuch um zerbrochenes Glas. Man kann sich darunter nichts vorstellen, zugegeben, aber besser kann ich das Geräusch nicht beschreiben. Ich weiß auch nicht, warum ich dabei unwillkürlich an etwas Schreckliches, Scharfes dachte, aber so war es. Mir trat der Schweiß auf die Stirn, und ganz plötzlich erfüllte mich ein namenloses Grauen.
Felurian verharrte bewegungslos wie ein erschrecktes Reh oder eine lauernde Katze. Sie atmete leise ein und sprach dann ein zweites Wort. Ich spürte ihren Atem warm an meinem Hals, und auf das undeutlich gemurmelte Wort hin begann mein Körper zu vibrieren wie das Fell einer Trommel nach einem kräftigen Schlag.
Felurian drehte den Kopf ein wenig, als lausche sie angestrengt. Dabei zog sie ihre in tausend Strähnen ausgebreiteten Haare langsam über die linke Hälfte meines nackten Körpers, und ich bekam eine Gänsehaut. Trotz meiner schrecklichen Angst erbebte ich unwillkürlich und tat einen leisen Seufzer.
In der Luft direkt über uns regte sich etwas.
Die scharfen Nägel von Felurians linker Hand gruben sich in die Muskeln meiner Schulter. Sie verlagerte das Gewicht ihrer Hüften und schob ihren nackten Leib langsam an mir hinauf, bis ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit meinem war. Ihre Zunge fuhr über meine Lippen, und ohne nachzudenken bog ich den Kopf zurück, um den Kuss zu empfangen.
Ihr Mund legte sich auf meinen. Sie atmete ganz langsam tief ein und sog dabei alle Luft aus mir heraus. Mir wurde schwindlig. Dann presste Felurian, die Lippen fest an meine gedrückt, die Luft wieder in mich hinein und füllte meine Lungen. Nicht der geringste Laut war zu hören. Sie schmeckte nach Geißblatt. Der Boden unter mir bebte, dann war alles wieder still. Einen endlosen Moment lang hörte mein Herz auf zu schlagen.
Aus der Luft über uns entwich eine unterschwellige Spannung.
Felurian gab meinen Mund frei, und mein Herz tat einen plötzlichen, harten Schlag, dann einen zweiten und einen dritten. Ich holte tief und zitternd Luft.
Erst jetzt entspannte sich auch Felurian. Ihr Körper breitete sich lose und geschmeidig über mich aus wie Wasser. Sie schmiegte den Kopf an meinen Hals und seufzte wohlig und zufrieden.
Ein träger Moment verging, dann lachte sie, dass sich ihr ganzer Körper schüttelte, ein ausgelassenes, entzücktes Lachen, als habe sie soeben jemandem einen köstlichen Streich gespielt. Sie setzte sich auf, küsste mich wild auf den Mund und biss in mein Ohr. Dann stieg sie von mir herab und zog mich auf die Füße.
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Jetzt war wahrscheinlich nicht die richtige Zeit für Fragen. Wer klug erscheinen will, schweigt zur rechten Zeit.
So setzten wir unseren Weg durch das Dunkel fort. Meine Augen gewöhnten sich allmählich daran, und ich sah zwischen den Ästen über uns die Sterne, die anders angeordnet waren und heller leuchteten als am Himmel der Sterblichen. Boden und Bäume waren in ihrem Licht freilich trotzdem kaum zu erkennen. Felurians schlanker Leib schwebte wie ein silberner Schatten durch die Nacht.
Die Bäume wurden immer größer und dicker und verdrängten das bleiche Sternenlicht nach und nach. Zuletzt wurde es ganz dunkel. Felurian war nur ein heller Schemen vor mir. Sie blieb stehen, bevor ich sie aus den Augen verlor, und legte die Hände an den Mund, als wollte sie etwas rufen.
Beim Gedanken an einen Schrei inmitten der Stille und Geborgenheit dieses Ortes überlief es mich abwechselnd heiß und kalt. Doch der Schrei blieb aus, ich hörte nichts. Oder doch, ich hörte etwas, eine Art leises Schnurren, allerdings längst nicht so laut und rauh wie das Schnurren einer Katze, sondern eher wie das Geräusch eines heftigen Schneetreibens, eine gedämpfte Stille, die fast noch leiser war als gar kein Geräusch.
Felurian schnurrte einige Male so. Dann fasste sie mich an der Hand, führte mich noch tiefer in das Dunkel und wiederholte das seltsame, kaum hörbare Geräusch. Beim dritten Mal war es so dunkel, dass ich auch von Felurian nichts mehr sah.
Nach einer letzten Pause drückte Felurian sich im Dunkeln an mich und gab mir einen langen, tiefen Kuss. Ich erwartete schon mehr, da löste sie sich wieder von mir. »leise«, flüsterte sie mir ins Ohr. »sie kommen.«
Ich lauschte eine Weile angestrengt und versuchte mit den Augen das Dunkel zu durchdringen, doch vergeblich. Dann sah ich in einiger Entfernung einen hellen Punkt. Im nächsten Moment war er wieder verschwunden, und ich glaubte schon, meine nach Licht hungernden Augen hätten mir einen Streich gespielt. Dann sah ich den Punkt wieder und außerdem noch zwei weitere Punkte. Zuletzt tanzten an die hundert schwach fluoreszierende Punkte zwischen den Bäumen auf uns zu.
Ich hatte schon von Irrlichtern gehört, aber noch nie eins gesehen. Auch glaubte ich nicht, dass es sich hier um eine so profane Erscheinung handelte, schließlich befanden wir uns im Reich der Fae. Ich ging in Gedanken ein Märchen nach dem anderen durch. Welche Wesen verbargen sich hinter diesen wie verrückt tanzenden Fünkchen? Irrwische? Dennerlinge mit Laternen voller Totenlicht?
Auf einmal umgaben uns zu meinem Schrecken die Punkte von allen Seiten. Sie waren kleiner, als ich gedacht hatte, und näher. Wieder hörte ich das leise Schneeflockengeräusch, diesmal aus allen Richtungen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, um was es sich handelte, bis eins der Wesen federleicht meinen Arm streifte. Es musste eine Art Motten sein, Motten mit fluoreszierenden Flecken auf den Flügeln.
Sie verströmten einen schwachen, silbrigen Schein. Der Schein einer Motte allein hätte das Dunkel nicht durchdringen können. Doch sie tanzten zu Hunderten zwischen den Stämmen, und in ihrem gesammelten Licht konnte ich die Umrisse unserer Umgebung erkennen. Einige der Wesen ließen sich auf Bäumen oder auf dem Boden nieder, andere landeten auf Felurian. Zwar sah ich von ihr nach wie vor nur ein wenig helle Haut, doch mit Hilfe der Lichtpunkte konnte ich ihr leichter folgen.
Wir gingen wieder ein längeres Stück zwischen den alten Bäumen hindurch. Felurian ging voran. Einmal spürte ich statt des Mooses Gras unter meinen bloßen Füßen, dann wieder weiche Erde, als überquerten wir ein frisch gepflügtes Feld. Eine Zeitlang folgten wir einem gewundenen, mit glatten Steinen belegten Weg, der über den Bogen einer hohen Brücke führte. Beharrlich folgten uns die Motten.
Schließlich blieb Felurian stehen. Inzwischen war die Dunkelheit so undurchdringlich, dass ich sie um mich spürte wie eine warme Decke. Aus dem Wehen des Windes in den Bäumen und den Bewegungen der Motten schloss ich, dass wir auf einer freien Fläche standen.
Über uns waren keine Sterne. Wenn wir uns auf einer Lichtung befanden, mussten die Bäume riesige Äste haben, die sich über unseren Köpfen berührten. Genauso gut hätten wir für mein Gefühl an einem Ort tief unter der Erde sein können. Oder der Himmel war in diesem Teil des Reichs der Fae schwarz und leer, ein seltsam beunruhigender Gedanke.
Das unterschwellige Gefühl einer schlafenden Präsenz war hier stärker. Hatte ich bisher das Gefühl gehabt, dass meine Umgebung schlief, war mir hier, als hätte sie sich soeben bewegt und stehe kurz davor aufzuwachen. Auch das beunruhigte mich.
Felurian drückte mit der flachen Hand sanft gegen meine Brust und legte mir dann einen Finger an die Lippen. Dann entfernte sie sich einige Schritte. Dabei summte sie leise die Melodie des Liedes, das ich für sie geschrieben hatte. Ich hätte mich geschmeichelt fühlen können, musste aber unablässig daran denken, dass ich blind und splitternackt im Reich der Fae stand und keine Ahnung hatte, was hier vorging.
Eine Handvoll Motten war auf Felurian gelandet und saß auf Handgelenken, Hüften, Schultern und Schenkeln. Sie ermöglichten mir eine ungefähre Vorstellung ihrer Bewegungen. Wenn ich hätte raten müssen, hätte ich gesagt, dass Felurian aus Bäumen und unter Büschen oder Steinen irgendwelche Dinge hervorzog. Ein warmer Luftzug strich seufzend über die Lichtung. Es war seltsam tröstlich, ihn auf der nackten Haut zu spüren.
Nach etwa zehn Minuten kam Felurian wieder und küsste mich. In den Armen hielt sie etwas Weiches und Warmes.
Wir kehrten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Die Motten verloren nach und nach das Interesse an uns, und unsere Umgebung versank wieder in der Nacht. Nachdem wir eine endlos lange Zeit gegangen waren, sah ich durch eine Lücke zwischen den Bäumen vor uns Licht. Es waren nur die Sterne, doch im ersten Moment schienen sie zu funkeln wie ein Vorhang aus glitzernden Diamanten.
Ich wollte durch das Licht hindurchgehen, doch Felurian hielt mich am Arm fest. Stumm hieß sie mich an der Stelle hinsitzen, an der die ersten schwachen Strahlen auf den Boden fielen.
Dann trat sie behutsam zwischen den Strahlen hindurch. Sie mied das Licht, als könnte sie sich daran verbrennen. Als sie mitten zwischen ihnen stand, setzte sie sich mit gekreuzten Beinen mir gegenüber auf den Boden. Was sie vorhin gesammelt hatte, hielt sie im Schoß. Ich konnte nur eine gestaltlose, dunkle Masse erkennen.
Felurian streckte die Hand aus, ergriff einen dünnen Strahl des Sternenlichts und zog ihn zu der dunklen Masse in ihrem Schoß.
Meine Überraschung wäre noch größer gewesen, hätte sie es nicht mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt getan. Im Dämmerlicht sah ich ihre Hände eine Bewegung machen, die mir vertraut vorkam. Dann streckte sie die Hand erneut aus und packte mit Daumen und Zeigefinger einen zweiten Strahl.
Sie zog ihn genauso mühelos wie den ersten zu sich und richtete ihn auf die dunkle Masse. Wieder kam mir die Bewegung bekannt vor, doch hätte ich nicht sagen können, woher.
Felurian begann leise vor sich hin zu summen, während sie den nächsten Strahl ergriff. Mit jedem Strahl fiel ein wenig mehr Licht auf den Gegenstand in ihrem Schoß. Er sah aus wie ein dickes schwarzes Tuch. Jetzt fiel mir auch ein, an wen Felurian mich erinnerte: an meinen Vater, wenn er nähte. Nähte sie im Licht der Sterne?
Sie nähte mit dem Licht der Sterne. Die Erkenntnis überkam mich ganz plötzlich. Shaed bedeutete Schatten. Felurian hatte irgendwie einen Arm voll Schatten mitgebracht, den sie jetzt mit Sternenlicht vernähte. Sie nähte mir einen Mantel aus Schatten.
Das klang abwegig. Doch Felurian nahm völlig unbekümmert den nächsten Strahl und zog ihn in ihren Schoß. Ich schob meine Zweifel beiseite. Nur ein Narr zweifelt an dem, was er mit eigenen Augen sieht.
Außerdem schienen über mir Sterne, die ich nicht kannte, und ich saß neben einer Märchengestalt, die seit tausend Jahren jung und schön war, die mein Herz mit einem Kuss anhalten und mit Schmetterlingen sprechen konnte. Warum sollte ich mir da wegen ein paar Lichtstrahlen Gedanken machen?
Nach einer Weile rückte ich näher an Felurian heran, um ihr besser zusehen zu können. Schließlich setzte ich mich neben sie, und sie lächelte und gab mir einen flüchtigen Kuss.
Ich stellte einige Fragen, aber ihre Antworten waren entweder unverständlich oder vollkommen desinteressiert. Von den Gesetzen der Sympathie, der Sygaldrie oder des Alar hatte sie keine Ahnung, und sie fand es überhaupt nicht merkwürdig, mit den Händen voll Schatten im Wald zu sitzen. Zuerst war ich gekränkt, dann wurde ich schrecklich eifersüchtig.
Ich dachte daran, wie ich in Felurians Laube den Namen des Windes gefunden hatte. Wie mir gewesen war, als sei ich zum ersten Mal ganz wach, und wie mich dieses Bewusstsein eiskalt durchströmt hatte.
Meine Laune besserte sich für einen Augenblick, dann empfand ich meinen Verlust nur umso deutlicher. Mein schlummernder Geist war wieder eingeschlafen. Ich wandte meine Aufmerksamkeit erneut Felurian zu und dem, was sie tat.
Wenig später stand sie auf und half auch mir auf die Beine. Heiter vor sich hin summend nahm sie meinen Arm, und wir kehrten auf dem Weg zurück, den wir gekommen waren, und plauderten dabei über verschiedene belanglose Dinge. Den dunklen Mantel aus Schatten hatte sie sich locker über den Arm gehängt.
Doch als dann der erste Schein des Dämmerlichts am Himmel aufzog, hängte sie ihn unsichtbar an die schwarzen Äste eines Baums. »manchmal geht es nur mit langsamer gewöhnung«, sagte sie. »der zarte schatten fürchtet die kerzenflamme. wie sollte es deinem noch ganz neuen shaed anders ergehen?«