Caesura

Beim Aufwachen am nächsten Tag dröhnte mir der Kopf. Nicht dass ich so viel getrunken hätte, aber mein Körper war den Alkohol nicht mehr gewöhnt, deshalb spürte ich an jenem Morgen jeden Schluck dreifach. Ich schleppte mich ins Badehaus, setzte mich in das heißeste Becken, das ich gerade noch aushalten konnte, und schrubbte, so gut es ging, das sandige Gefühl auf der Haut ab.

Auf dem Rückweg zum Speisesaal kamen mir im Gang Vashet und Shehyn entgegen. Vashet bedeutete mir, ihnen zu folgen, was ich auch tat. Zum Kämpfen oder zu einer förmlichen Unterhaltung fühlte ich mich nicht imstande, aber deshalb die Aufforderung abzulehnen kam auch nicht in Frage.

Wir gingen verschiedene Gänge entlang und gelangten zuletzt ins Zentrum der Schule. Dort überquerten wir einen Innenhof und näherten uns einem kleinen, viereckigen Gebäude. Shehyn schloss es mit einem kleinen eisernen Schlüssel auf. Es war die erste abgesperrte Tür, die ich in Haert sah.

Wir traten in einen engen, fensterlosen Flur. Vashet schloss die äußere Tür und es wurde stockdunkel, und auch der ständige Wind war nicht mehr zu hören. Dann öffnete Shehyn die innere Tür. Das warme Licht eines halben Dutzends Kerzen hieß uns willkommen. Es kam mir am Anfang seltsam vor, dass man sie in einem leeren Zimmer hatte brennen lassen …

Nun sah ich erst, was an den Wänden hing: Dutzende von Schwertern. Ihre blanken Klingen schimmerten im Kerzenlicht, die Scheiden hingen jeweils darunter.

Ansonsten gab es keinerlei kultischen Schmuck, wie man ihn etwa in einer Tehlanerkirche finden mochte, weder Wandteppiche noch Gemälde. Nur die Schwerter. Trotzdem merkte man sofort, dass der Raum eine besondere Bedeutung hatte. Es lag eine Spannung in der Luft, wie man sie etwa in der Bibliothek der Universität oder auf einem alten Friedhof spürt.

Shehyn wandte sich an Vashet. »Triff deine Wahl.«

Vashet sah sie erschrocken, geradezu unglücklich an. Sie wollte eine Gebärde machen, doch Shehyn hob die Hand, bevor sie protestieren konnte.

»Er ist dein Schüler«, sagte Shehyn. Ablehnung. »Du hast ihn in die Schule gebracht, deshalb musst du jetzt wählen.«

Vashet sah Shehyn an, dann mich und dann die vielen blitzenden Schwerter mit ihren schmalen, tödlichen Klingen, von denen keine zwei gleich waren. Einige waren gekrümmt, andere länger oder breiter. Einige zeigten starke Gebrauchsspuren, einige wenige ähnelten mit ihren abgenutzten Griffen und makellosen Klingen aus grau schimmerndem Metall Vashets Schwert.

Langsam trat Vashet an die Wand auf der rechten Seite, nahm ein Schwert herunter, bewegte es prüfend hin und her und hängte es wieder an seinen Platz. Dann nahm sie ein anderes, packte es und hielt es mir hin.

Ich ergriff es. Es war leicht und hauchdünn.

»Die Sich Kämmende Jungfrau«, sagte Vashet.

Ich gehorchte ein wenig befangen, weil Shehyn zusah. Doch noch bevor ich die ausladende Bewegung zur Hälfte ausgeführt hatte, schüttelte Vashet schon den Kopf. Sie nahm das Schwert wieder und hängte es zurück.

Nach kurzem Suchen reichte sie mir ein zweites. Über die Klinge zog sich wie eine Efeuranke eine abgenutzte Gravur. Auf Vashets Aufforderung vollführte ich einen Fallenden Reiher. Ich riss das Schwert in die Höhe und schlug mit einem Ausfallschritt zu. Die Klinge zitterte. Vashet sah mich mit fragend erhobenen Augenbrauen an.

Ich schüttelte den Kopf. »Die Spitze ist zu schwer für mich.«

Vashet schien nicht sehr überrascht und hängte auch dieses Schwert wieder an die Wand.

Und so ging es weiter. Vashet nahm die Schwerter prüfend in die Hand und hängte sie meist ohne ein Wort zu sagen gleich wieder auf. Sie gab mir drei weitere und ich musste bestimmte Übungen des Ketan ausführen, dann nahm sie sie mir wieder ab, ohne mich um meine Meinung zu fragen.

An der zweiten Wand ließ sie sich mehr Zeit. Sie reichte mir ein Schwert, das wie Penthes Schwert ein wenig gekrümmt war. Der Atem stockte mir, als ich sah, dass die Klinge aus demselben makellosen, grau schimmernden Metall bestand wie die von Vashets Schwert. Vorsichtig nahm ich es, aber es lag mir nicht gut in der Hand. Als ich es Vashet zurückgab, war ihr die Erleichterung deutlich anzumerken.

Vashet suchte weiter und warf Shehyn hin und wieder einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte dann nicht mehr viel mit meiner selbstbewussten, durch nichts zu erschütternden Lehrerin gemein, sondern wirkte eher wie eine junge Frau, die sich sehnlichst einen Rat wünscht. Doch Shehyn verzog keine Miene und schwieg.

Schließlich kam Vashet zur dritten Wand. Sie wurde immer langsamer, nahm fast jedes Schwert in die Hand und prüfte es eingehend, bevor sie es an seinen Platz zurückhängte.

Dann kam sie wieder zu einem Schwert mit einer grau schimmernden Klinge. Langsam nahm sie es in die Hand, hob es von der Wand und hielt es vor sich hin. Sie wirkte auf einmal zehn Jahre älter.

Ohne Shehyn anzusehen reichte sie es mir. Die Parierstange stand an beiden Enden deutlich über und war gekrümmt, so dass sie immerhin einen kleinen Schutz für die Hand bildete. Sie war nicht mit einem richtigen Handschutz vergleichbar, aber ein sperriger Handschutz hätte die Hälfte der Übungen des Ketan unmöglich gemacht. Wenigstens schien sie den Fingern einen gewissen Schutz zu geben, und das zog mich an.

Der warme Griff schmiegte sich in meine Hand wie der Hals meiner Laute.

Noch ehe Vashet mich dazu auffordern konnte, führte ich die Sich Kämmende Jungfrau aus. Sie fühlte sich an, als streckte ich nach langem Schlaf die steifen Glieder. Ich ging zu den Zwölf Steinen über und kam mir einen Augenblick lang so anmutig vor wie Penthe, wenn sie kämpfte. Dann machte ich den Fallenden Reiher, und er ging mir so angenehm und leicht von der Hand wie ein Kuss.

Vashet hob die Hand, um mir das Schwert abzunehmen. Ich wollte es ihr eigentlich gar nicht geben, tat es aber doch. Für eine Szene waren Ort und Zeit denkbar ungeeignet.

Mit dem Schwert in der Hand wandte Vashet sich an Shehyn. »Das ist das richtige Schwert für ihn«, sagte sie. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, war von ihrer forschen, unbekümmerten Art nichts mehr zu spüren. Ihre Stimme klang dünn und brüchig.

Shehyn nickte. »Ich stimme zu. Du hast das Richtige gefunden.«

Ich konnte Vashets Erleichterung förmlich spüren, obwohl sie immer noch nicht glücklich aussah. »Es kann vielleicht seinen Namen ausgleichen«, sagte sie. Sie hielt das Schwert Shehyn hin.

Shehyn machte eine Handbewegung. Ablehnung. »Nein. Er ist dein Schüler. Deine Wahl, deine Verantwortung.«

Vashet nahm die Scheide von der Wand und steckte das Schwert hinein. Dann hielt sie es mir hin. »Es heißt Saicere.«

»Caesura?«, fragte ich ein wenig verwirrt. Hatte nicht Sim die Pause in den Versen altvintischer Gedichte so ähnlich genannt? Zäsur? Bekam ich das Schwert eines Dichters?

»Saicere«, sagte Vashet leise, als handelte es sich um den Namen eines Gottes. Sie trat zurück, und ich spürte das Gewicht des Schwertes wieder in meinen Händen.

Da ich das Gefühl hatte, dass von mir etwas erwartet wurde, zog ich es aus der Scheide. Das leise Geräusch des Leders und Metalls hörte sich an wie ein Flüstern des Namens: Saicere. Leicht lag es mir in der Hand. Die Klinge war ohne die kleinste Schramme. Ich steckte es wieder ein. Diesmal war das Geräusch anders. Es klang wie die Pause in der Mitte eines Verses, wie Zäsur.

Shehyn öffnete die innere Tür und wir gingen, wie wir gekommen waren, stumm und voller Respekt.

Der restliche Tag war alles andere als aufregend. Vashet brachte mir mit akribischer Beharrlichkeit bei, wie ich mein Schwert zu pflegen hatte. Wie ich es säubern und einölen, zerlegen und wieder zusammensetzen musste, wie ich die Scheide an Schulter oder Hüfte zu befestigen hatte und wie ich aufgrund der größeren Parierstange einige Griffe und Bewegungsabläufe des Ketan ändern musste.

Das Schwert gehöre nicht mir, sagte Vashet, sondern der Schule, dem Land. Wenn ich einmal nicht mehr kämpfen könne, müsse ich es zurückgeben.

Ich kann es ja eigentlich nicht leiden, wenn sich jemand ständig wiederholt, aber diesmal ließ ich Vashet reden. Es war das Mindeste, was ich tun konnte, denn sie war sichtlich erregt und musste sich beruhigen.

Als sie aber zur fünfzehnten Wiederholung ansetzte, fragte ich, was ich tun sollte, wenn das Schwert zerbrach. Nicht der Griff oder die Parierstange, sondern die Klinge. Sollte ich es trotzdem zurückgeben?

Vashet starrte mich bestürzt, geradezu entsetzt an. Sie antwortete nicht, und ich hütete mich den ganzen Vormittag über, weitere Fragen zu stellen.

Nach dem Mittagessen ging Vashet wieder mit mir zu Magwyns Höhle. Ihre Verfassung hatte sich ein wenig gebessert, aber sie war immer noch weit von ihrer gewohnten Geselligkeit entfernt.

»Magwyn wird dir die Geschichte von Saicere erzählen«, sagte sie. »Du musst sie dir merken.«

»Die Geschichte?«

Vashet zuckte mit den Schultern. »Auf Ademisch heißt sie atas, die Geschichte deines Schwertes, der Menschen, die es getragen haben, und ihrer Taten. Du musst sie kennen.«

Wir hatten das obere Ende des Weges erreicht und standen vor Magwyns Tür. Vashet sah mich mahnend an. »Benimm dich bitte so gut du kannst und sei höflich.«

Ich nickte.

»Magwyn ist eine wichtige Person und du musst ihr gut zuhören.«

Ich nickte wieder.

Vashet klopfte an und begleitete mich nach drinnen.

Magwyn saß am selben Tisch wie zuvor und schrieb, soweit ich es beurteilen konnte, dasselbe Buch ab. Sie lächelte, als sie Vashet sah. Dann bemerkte sie mich und setzte die mir vertraute ausdruckslose Miene der Adem auf.

»Magwyn«, begann Vashet. Höflichste Bitte. »Dieser Schüler braucht das atas seines Schwertes.«

»Welches Schwert hast du für ihn gefunden?«, fragte Magwyn. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und ihr Gesicht wurde noch runzliger.

»Saicere«, sagte Vashet.

Magwyn lachte. Es klang mehr wie ein Gackern. Dann mühte sie sich von ihrem Stuhl herunter. »Ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht bin«, sagte sie und verschwand durch eine Tür, die tiefer in den Felsen hinein führte.

Vashet ging wieder hinaus und ich stand verlegen da wie in einem dieser Albträume, in denen man auf der Bühne steht und vergessen hat, was man sagen soll oder welche Rolle man überhaupt spielt.

Magwyn kehrte mit einem dicken, in braunes Leder gebundenen Buch zurück. Auf eine Handbewegung von ihr nahmen wir in den Sesseln Platz, die einander gegenüberstanden. Ihrer war weich gepolstert und mit Leder bezogen, meiner nicht. Das Schwert legte ich mir auf die Beine. Einerseits schien es mir richtig, das zu tun, andererseits spürte ich es gerne unter meinen Händen.

Magwyn legte sich das Buch auf den Schoß. Das Leder knackte, als sie es aufschlug. Dann blätterte sie, bis sie die gesuchte Stelle fand. »Zuerst kam Chael«, las sie. »Der mich zu unbekanntem Zwecke im Feuer schmiedete. Er trug mich, dann legte er mich ab.«

Magwyn blickte auf. Da sie das Buch mit den Händen hielt, konnte sie keine Gebärden machen. »Und?«, fragte sie.

»Was soll ich tun?«, fragte ich höflich. Ich konnte aufgrund meines Verbands auch keine Gebärden machen. Wir waren wirklich ein schönes Paar, beide halb stumm.

»Sprich mir nach«, sagte sie ärgerlich. »Du musst es auswendig lernen.«

»Zuerst kam Chael«, sagte ich. »Der mich zu unbekanntem Zwecke im Feuer schmiedete. Er trug mich, dann legte er mich ab.«

Magwyn nickte. »Als Nächster kam Etaine …«

Ich sprach ihr nach. In dieser Weise fuhren wir etwa eine halbe Stunde lang fort und gingen namentlich einen Besitzer nach dem anderen durch und wem sie in Treue verbunden gewesen waren und welche Gegner sie getötet hatten.

Anfangs machten mich die vielen Namen und Orte noch neugierig, dann begann mich die Liste zu deprimieren. Jeder Eintrag endete mit dem Tod des Besitzers, und keiner war eines natürlichen Todes gestorben. Einige waren in Kriegen gefallen, andere im Zweikampf. Bei vielen hieß es nur »getötet von« oder »ermordet von«, ohne Hinweis auf die näheren Umstände. Die ersten dreißig Einträge lauteten alle gleich, ich hörte kein einziges Mal etwas wie »Schied friedlich im Schlaf und umringt von seinen wohlgenährten Enkeln aus dieser Welt«.

Schließlich war die Liste nicht mehr deprimierend, sondern nur noch langweilig.

»Als Nächste kam Finol mit dem klaren, leuchtenden Auge«, wiederholte ich bereitwillig. »Von Dulcen sehr geliebt. Sie tötete zwei Daruna und wurde dann von Graumännern in Drossen Tor getötet.«

Ich räusperte mich, bevor Magwyn fortfahren konnte. »Mit Verlaub«, sagte ich, »wie viele haben Caesura im Lauf der Jahre getragen?«

»Saicere«, verbesserte Magwyn mich scharf. »Maße dir nicht an, den Namen zu verändern. Er bedeutet zu brechen, zu fangen und zu fliegen.«

Ich blickte auf das in der Scheide steckende Schwert auf meinem Schoß hinunter und spürte sein Gewicht und das kalte Metall unter meinen Fingern. Am oberen Rand der Scheide war ein schmaler Streifen der glatten, grauen Klinge zu sehen.

Wie soll ich es sagen, damit ihr mich versteht? Saicere war ein schöner Name, dünn, schimmernd und gefährlich. Er passte zu dem Schwert wie ein Handschuh auf eine Hand.

Aber er war nicht vollkommen. Der Name dieses Schwertes war Caesura. Das Schwert war die jähe Pause in einer vollkommenen Verszeile, ein angehaltener Atem. Es war glatt, schnell, scharf und tödlich. Dieser Name passte nicht wie ein Handschuh, sondern wie die Haut. Mehr noch, er war zugleich Knochen, Muskel und Bewegung, alles, was eine Hand ausmacht. Und Caesura war das Schwert. Es war sowohl der Name wie die Sache.

Ich kann euch nicht sagen, woher ich das weiß. Ich wusste es einfach.

Außerdem konnte ich, wenn ich schon ein Namenskundiger werden sollte, wohl gefälligst den Namen meines eigenen Schwertes selbst bestimmen.

Ich hob den Kopf und sah Magwyn an. »Der Name passt sehr gut«, stimmte ich höflich zu. Ich beschloss, meine Meinung für mich zu behalten, bis ich weit weg war von Ademre. »Mich hätte nur interessiert, wie viele Besitzer das Schwert insgesamt hatte. Das sollte ich schließlich wissen.«

Magwyn sah mich mit einem verärgerten Blick an, der besagte, dass sie meinen herablassenden Ton sehr wohl bemerkte. Doch dann blätterte sie einige Seiten weiter und dann noch einige.

Und noch einige.

»Zweihundertsechsunddreißig«, sagte sie. »Du bist der Zweihundertsiebenunddreißigste.« Sie blätterte zum Anfang der Liste zurück. »Lass uns noch einmal anfangen.« Sie holte Luft und begann: »Zuerst kam Chael, der mich zu unbekanntem Zwecke im Feuer schmiedete. Er trug mich, dann legte er mich ab.«

Ich unterdrückte einen Seufzer. Auch mit meinem guten Gedächtnis als Schauspieler würde es lange, mühsame Tage dauern, bis ich alle Namen auswendig kannte.

Dann wurde mir plötzlich noch etwas klar. Wenn jeder meiner Vorbesitzer das Schwert im Schnitt zehn Jahre getragen hatte und zwischen den Besitzerwechseln nie mehr als ein, zwei Tage vergangen waren, hieß das, dass das Schwert selbst bei vorsichtiger Schätzung über zweitausend Jahre alt war.

Die nächste Überraschung kam, als ich mich zum Abendessen entschuldigen wollte. Ich wollte schon aufstehen, da erklärte Magwyn, ich müsse bei ihr bleiben, bis ich die ganze Geschichte auswendig gelernt hätte. Jemand würde uns die Mahlzeiten bringen, und schlafen könne ich in einem Gästezimmer.

Zuerst kam Chael …

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