Der Cthaeh
Nachdem ich mit Felurians Hilfe entdeckt hatte, wozu ich imstande war, konnte ich an der Herstellung meines shaed mitwirken. Felurian schien über meine Fortschritte erfreut, doch ich selber ärgerte mich nur. Es gab keine Regeln zu befolgen und nichts zu merken. Deshalb nützten mir meine Auffassungsgabe und mein Schauspielergedächtnis nichts, und ich hatte das Gefühl, nur quälend langsam voranzukommen.
Immerhin konnte ich meinen Schattenmantel nach einiger Zeit berühren, ohne gleich fürchten zu müssen, ihn zu beschädigen, und ihn nach meinen Wünschen formen. Mit einiger Übung konnte ich ihn aus einem kurzen Umhang in einen langen Trauermantel mit Kapuze oder jede beliebige Form dazwischen verwandeln.
Trotzdem wäre es anmaßend von mir, auch nur das kleinste Verdienst an seiner Herstellung zu beanspruchen. Es war allein Felurian, die den Schatten einsammelte und mit Mond-, Feuer- und Tageslicht verwob. Mein wichtigster Beitrag war die Anregung, dass der Mantel zahlreiche kleine Taschen haben sollte.
Nachdem wir mit dem shaed im Tageslicht angekommen waren, hielt ich unsere Arbeit für beendet. Dass wir uns zunächst längere Zeit mit Schwimmen und Singen und noch auf andere Weise miteinander vergnügten, bestätigte mich in meiner Annahme.
Doch Felurian wich aus, sobald ich auf den Schattenmantel zu sprechen kam. Mir war das einerseits recht, weil sie es stets auf so unterhaltsame, heitere Art tat. Andererseits bekam ich dadurch den Eindruck, dass er zumindest noch teilweise unfertig war.
Eines Morgens wachten wir eng umschlungen auf. Wir verbrachten etwa eine Stunde mit Küssen, um unseren Appetit zu wecken, anschließend fielen wir über ein Frühstück aus Obst und feinem Weißbrot mit Honigwaben und Oliven her.
Auf einmal wurde Felurian ernst und bat mich um ein Stück Eisen.
Die Bitte überraschte mich. Ich hatte vor einiger Zeit beschlossen, einige alltägliche Gewohnheiten wieder aufzunehmen. Mit der Wasseroberfläche des Teiches als Spiegel hatte ich mich mit Hilfe meines kleinen Messers rasiert. Felurian schien zunächst von meinen glatten Wangen angetan, doch als ich sie küssen wollte, schob sie mich auf Armeslänge von sich und schnaubte, als sei ihre Nase verstopft. Sie meinte, ich stinke nach Eisen, und schickte mich in den Wald. Ich dürfe erst dann zurückkehren, wenn ich den bitteren Gestank in meinem Gesicht losgeworden sei.
Als ich jetzt eine zerbrochene Eisenschnalle aus meinem Reisesack holte, war ich deshalb ziemlich neugierig. Nervös hielt ich ihr die Schnalle hin, wie man etwa einem Kind ein scharfes Messer reicht. »Wozu brauchst du denn Eisen?«, fragte ich so beiläufig wie möglich.
Felurian antwortete nicht . Sie klemmte sich das Metall zwischen Daumen und zwei Finger, als sei es eine Schlange, die sich jederzeit umdrehen und sie beißen konnte. Die Lippen hatte sie zu einem Strich zusammengepresst, das sonst dämmrige Violett ihrer Augen hatte sich zu einem tiefen Blau aufgehellt.
»Kann ich helfen?«, fragte ich.
Sie lachte. Es war nicht das glockenhelle Lachen, das ich so oft gehört hatte, sondern ein wildes, heftiges Lachen. »du willst mir wirklich helfen?«, fragte sie. Die Hand, die das Eisen hielt, zitterte kaum merklich.
Ich nickte ein wenig ängstlich.
»dann geh weg.« Ihre Augen hellten sich weiter zu einem weißlichen Blau auf. »ich kann jetzt keinen liebsten, keine lieder und keine fragen gebrauchen.« Als ich mich nicht rührte, scheuchte sie mich mit der Hand fort. »geh in den wald. geh nicht weit, aber bleib so lange weg, wie es dauert, sich vier mal zu lieben.« Auch ihre Stimme hatte sich verändert. Sie klang immer noch weich, hatte aber einen abweisenden Unterton, der mich beunruhigte.
Ich wollte protestieren, da durchbohrte sie mich mit einem so furchtbaren Blick, dass ich aufsprang und in besinnungslosem Schrecken von der Lichtung floh.
Eine Weile irrte ich ziellos durch den Wald und versuchte mich zu beruhigen, was nicht einfach war. Schließlich war ich nackt wie ein Säugling, und eine mächtige Fee hatte mich weggeschickt wie eine Mutter, die ein aufsässiges Kind aus der Küche weist.
Da ich wusste, dass ich auf der Lichtung vorerst nicht willkommen sein würde, wandte ich mich tagwärts in der Absicht, mich ein wenig im Wald umzusehen.
Ich kann nicht sagen, warum ich an jenem Tag so weit ging. Felurian hatte mir geraten, in der Nähe zu bleiben, ein sehr guter Rat, wie ich wusste. Hunderte Geschichten aus meiner Kindheit erzählten davon, wie gefährlich es war, im Reich der Fae unterwegs zu sein. Davon abgesehen hätten die Geschichten, die Felurian selbst mir erzählt hatte, Grund genug für mich sein müssen, in der Nähe der dämmrigen Lichtung zu bleiben, auf der ich sicher war.
Wahrscheinlich war zum Teil meine angeborene Neugier schuld. Es war allerdings vor allem anderen mein verletzter Stolz. Stolz und Torheit hängen zusammen wie zwei Hände, die sich festhalten.
Jedenfalls ging ich fast eine Stunde, und der Himmel über mir wurde nach und nach taghell. Ich folgte einer Art Weg, begegnete aber von einem gelegentlichen Schmetterling oder Eichhörnchen abgesehen keinem Lebewesen.
Meine Stimmung schwankte bei jedem Schritt zwischen Langeweile und Beklemmung. Schließlich wanderte ich hier durch das Reich der Fae und hätte auf Schritt und Tritt wundersamen und absonderlichen Dingen begegnen müssen wie gläsernen Burgen, brennenden Brunnen, blutrünstigen Trollen und barfüßigen alten Männern, die mir unbedingt einen Rat geben wollten …
Die Bäume wichen einer weiten, grasbewachsenen Ebene. Mit Felurian war ich bisher nur in bewaldeten Gebieten unterwegs gewesen. Die Ebene war deshalb eine deutliche Warnung, dass ich mich ungebührlich weit von dem Ort entfernt hatte, an den ich gehörte.
Trotzdem wanderte ich weiter und genoss die Sonne auf meiner Haut nach der langen Zeit auf Felurians dämmriger Lichtung in vollen Zügen. Der Weg, dem ich folgte, schien zu einem Baum zu führen, der ganz allein mitten auf der Ebene stand. Ich beschloss, noch bis zu diesem Baum zu gehen und dann umzukehren.
Ich ging eine Zeitlang, aber der Baum schien nicht näher zu kommen. Zuerst hielt ich das für eine weitere Eigenart der Welt der Fae und marschierte beharrlich weiter. Doch dann begriff ich, dass der Baum in Wirklichkeit viel größer war, als ich gedacht hatte. Viel größer und viel weiter entfernt.
Der Weg führte gar nicht zu dem Baum. Er bog davor ab und führte im Abstand von über einer halben Meile daran vorbei. Ich wollte schon umkehren, da sah ich in der Krone des Baumes ein farbiges Leuchten. Nach kurzem Hin und Her siegte meine Neugier. Ich verließ den Weg und stapfte durch das hohe Gras.
Einen solchen Baum hatte ich noch nie gesehen. Langsam näherte ich mich ihm. Er ähnelte einer riesigen, ausladenden Weide, hatte jedoch breitere Blätter von einem dunkleren Grün. Das nach unten hängende Laub war mit blassblauen Blüten übersät.
Der Wind drehte. Die Blätter bewegten sich, und ein seltsam süßer Geruch nach Rauch, Gewürzen, Leder und Zitrone stieg mir in die Nase. Ein unwiderstehliches Aroma, doch nicht von der Art, wie etwa gutes Essen riecht. Weder lief mir das Wasser im Munde zusammen noch knurrte mir der Magen. Trotzdem: Hätte ich einen Gegenstand auf einem Tisch gesehen, der so gerochen hätte, auch wenn es ein Stein oder ein Stück Holz gewesen wäre, ich hätte ihn bedenkenlos in den Mund gesteckt. Nicht aus Hunger, sondern eher aus reiner Neugier wie ein Kind.
Beim Nähertreten wurde mir erst richtig bewusst, wie schön der Anblick war, der sich mir bot. Vom tiefen Grün der Blätter hoben sich Schmetterlinge ab, die gaukelnd von Ast zu Ast flogen und an den blassblauen Blüten nippten. Was ich zuerst für ein Meer von Blumen am Fuß des Baumes gehalten hatte, war ein Teppich von Schmetterlingen, der den Boden fast vollständig bedeckte. Der Anblick war so atemberaubend schön, dass ich in einiger Entfernung stehen blieb, um die Schmetterlinge nicht aufzuschrecken.
Einige schimmerten violett-schwarz oder blau-schwarz wie die Schmetterlinge auf Felurians Lichtung, andere leuchteten grün, grau-gelb oder silbern-blau. Doch dann nahm ein einzelner, großer Schmetterling meinen Blick gefangen. Seine tiefroten Flügel waren größer als meine ausgebreitete Hand und mit einem feinen, golden glänzenden Adernetz überzogen. Ich sah ihm nach, wie er auf der Suche nach neuen Blüten tiefer in das Laub hineinflatterte.
Plötzlich bewegten sich seine Flügel nicht mehr im Einklang. Sie fielen auseinander und sanken kreiselnd zu Boden wie Blätter im Herbst.
Ich sah ihnen bis zum Fuß des Baumes nach und erkannte erst jetzt, was ich in Wirklichkeit vor mir hatte. Der Boden war nicht mit Schmetterlingen übersät, die sich ausruhen wollten … sondern mit leblosen Flügeln. Zu Tausenden bedeckten sie das Gras wie eine Decke aus Edelsteinen.
»Die roten passen für meinen Geschmack nicht dazu«, bemerkte eine Stimme sachlich. Sie kam aus dem Baum.
Ich trat einen Schritt zurück und versuchte durchs dichte Laub der Baumkrone zu spähen.
»Was für Manieren«, schalt die sachliche Stimme. »Willst du dich nicht vorstellen? Mich nur anstarren?«
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte ich höflich. »Aber ich habe noch nie mit einem Baum gesprochen und bin daher etwas ratlos.«
»Das merkt man. Ich bin kein Baum, genauso wenig wie ein Mensch ein Stuhl ist. Ich bin der Cthaeh. Du hattest großes Glück, mich zu finden. Viele würden dich darum beneiden.«
»Worum?« Ich versuchte zu erkennen, wer da auf den Ästen des Baumes saß und mit mir sprach. Ein Märchen fiel mir ein, auf das ich während meiner Nachforschungen über die Chandrian gestoßen war. »Du bist ein Orakel«, sagte ich.
»Orakel, wie putzig. Aber komm mir nicht mit solchen Etiketten. Ich bin Cthaeh. Ich bin. Ich sehe. Ich weiß.« Zwei blau-schwarz schillernde Flügel flatterten getrennt an der Stelle, an der eben noch ein Schmetterling gewesen war. »Manchmal spreche ich auch.«
»Ich dachte, du könntest die roten Schmetterlinge nicht leiden.«
»Von denen sind keine mehr übrig«, erwiderte die Stimme gleichgültig. »Und die blauen sind nur wenig besser.« Wieder sah ich eine Bewegung, und ein weiteres Paar saphirblauer Flügel schwebte kreiselnd zu Boden. »Du bist Felurians neuer kleiner Mann, nicht wahr?« Ich zögerte, doch die sachliche Stimme fuhr fort, als hätte ich geantwortet. »Dachte ich mir schon. Du riechst nach Eisen. Nur ganz schwach, aber man muss sich doch fragen, wie sie es aushält.«
Eine Pause entstand. Dann ein Flattern. Ein Dutzend Blätter bewegten sich sacht, und wieder schwebten zwei Flügel zu Boden. »Komm schon«, fuhr die Stimme fort. Sie kam jetzt aus einem anderen Teil des Baums, doch war der Sprecher immer noch hinter dem herunterhängenden Laub verborgen. »Ein neugieriger Junge wie du hat doch bestimmt Fragen. Also los, stelle sie. Dein Schweigen kränkt mich sehr.«
Ich zögerte und sagte dann: »Ich habe schon die eine oder andere Frage.«
»Ahaaa«, tönte es langgezogen und zufrieden aus den Blättern. »Wusste ich es doch.«
»Was kannst du mir über die Amyr sagen?«
»Kyxxs«, kam ein gereiztes Geräusch. »Was soll das? Warum so ängstlich und hinten herum? Frage mich nach den Chandrian und fertig.«
Ich schwieg entgeistert.
»Überrascht? Aber warum denn? Meine Güte, Junge, du liegst wie ein klarer Teich vor mir. Ich sehe drei Meter durch dich hindurch, obwohl du nicht mal einen tief bist.« Wieder ein Flattern, und zwei Flügelpaare segelten zu Boden, eins blau, eins violett.
Ich meinte in der Krone eine wellenförmige Bewegung zu erkennen, war mir aber nicht sicher, weil der Baum sich unaufhörlich im Wind wiegte. »Warum den Violetten?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen.
»Aus Bosheit«, antwortete der Cthaeh. »Ich habe ihn um seine Unschuld und Sorglosigkeit beneidet. Außerdem kann ich zu viel Anmut nicht ertragen. Genauso wenig wie vorsätzliche Dummheit.« Eine Pause entstand. »Du willst mich doch nach den Chandrian fragen?«
Ich konnte nur nicken.
»Da gibt es nicht viel zu sagen«, bemerkte der Cthaeh ein wenig obenhin. »Aber du solltest sie lieber ›die Sieben‹ nennen. ›Chandrian‹ klingt nach all den Jahren doch zu sehr nach Folklore. Früher bedeuteten beide Namen dasselbe, aber wenn man heute von den Chandrian spricht, denken die Leute an alle möglichen Ungeheuer, Schrate und Gnomen. Wie albern.«
Es folgte eine lange Pause. Ich stand nur stumm da, bis ich merkte, dass das unsichtbare Geschöpf auf eine Antwort wartete. »Erzähl mir mehr über sie«, sagte ich. Meine Stimme klang schrecklich dünn.
»Warum?« Es klang ein wenig neckisch, wie ich mir einbildete.
»Weil ich es wissen muss«, sagte ich, bemüht, meiner Stimme einen festeren Klang zu geben.
»Muss?«, fragte der Cthaeh kritisch. »Woher auf einmal dieses dringende Bedürfnis? Die Herren von der Universität kennen wahrscheinlich die Antworten, nach denen du suchst. Aber sie würden sie dir nicht geben, selbst wenn du sie fragtest, was du nicht tun wirst. Denn dazu bist du zu stolz. Du bist zu schlau, als dass du sie um Hilfe bitten würdest, und zu sehr auf deinen Ruf bedacht.«
Ich wollte etwas erwidern, aber aus meinem Hals kam nur ein trockenes Röcheln. Ich schluckte und versuchte es noch einmal. »Aber ich muss es wissen, bitte. Sie haben meine Eltern ermordet.«
»Willst du etwa die Chandrian töten?« Die Stimme klang fasziniert, geradezu erschrocken. »Sie ganz allein aufspüren und töten? Du meine Güte, wie willst du das schaffen? Haliax ist fünftausend Jahre alt und hat in fünftausend Jahren keine Sekunde geschlafen. Es ist wahrscheinlich klug von dir, nach den Amyr zu suchen. Sogar jemand, der so stolz ist wie du, erkennt, wann er Hilfe braucht. Vielleicht bekommst du sie von dem Orden. Das Problem ist nur, sie sind genauso schwer zu finden wie die Sieben selber. Nein so was! Was soll ein tapferer Junge da bloß tun?«
»Sag es mir!« Ich hatte es schreien wollen, aber es hörte sich eher wie eine flehentliche Bitte an.
»Es ist bestimmt frustrierend«, fuhr der Cthaeh seelenruhig fort. »Die wenigen Leute, die an die Existenz der Chandrian glauben, sagen vor lauter Angst nichts, und alle anderen lachen dich nur aus, wenn du sie fragst.« Ein tiefer Seufzer ertönte. Er schien von mehreren Stellen der Krone gleichzeitig zu kommen. »Aber das ist der Preis der Zivilisation.«
»Was?«, fragte ich.
»Hochmut«, antwortete der Cthaeh. »Ihr glaubt alles zu wissen. Du hast dich über Feen lustig gemacht, bis du einer begegnet bist. Kein Wunder, dass die anderen zivilisierten Menschen auch nicht an die Chandrian glauben. Du müsstest dich schon sehr weit aus deiner Welt herauswagen, bis du jemanden finden würdest, der dich ernst nimmt. Mindestens bis zum Stormwall-Gebirge reisen müsstest du.«
Eine Pause entstand, dann schwebte wieder ein violettes Flügelpaar zu Boden. Mein Hals war wie ausgetrocknet, und ich schluckte und überlegte, welche Frage mir weiterhelfen konnte.
»Dir ist klar, dass nicht viele deine Suche nach den Amyr ernstnehmen würden«, fuhr der Cthaeh ruhig fort. »Der Maer allerdings ist ein außergewöhnlicher Mensch. Er ist den Chandrian schon sehr nahe gekommen, allerdings ohne es zu merken. Halte dich an ihn, er wird dich bis vor ihre Tür führen.«
Der Cthaeh kicherte. Es klang wie ein dürres Rascheln. »Blut und Bein! Wenn ihr Menschen nur den Verstand hättet, mich ernst zu nehmen. Auch wenn du alles andere vergisst, denk an meine Worte von eben. Irgendwann wirst du den Scherz verstehen, das versichere ich dir. Und dann wirst du lachen.«
»Was kannst du mir über die Chandrian erzählen?«, fragte ich.
»Da du so artig fragst: Cinder heißt der, den du suchst. Du erinnerst dich an ihn? Weiße Haare, schwarze Augen? Er hat deiner Mutter übel mitgespielt, schrecklich. Aber sie hielt sich wacker. Laurian war die geborene Schauspielerin, wenn du das Wort entschuldigst. Eine viel bessere als dein Vater mit seinem Jammern und Flehen.«
Vor meinem geistigen Auge blitzten Bilder auf, die ich jahrelang verdrängt hatte. Meine Mutter mit vom Blut nassen Haaren und verrenkten, an Handgelenken und Ellbogen gebrochenen Armen. Mein Vater mit aufgeschnittenem Bauch und einer fünf, sechs Meter langen Blutspur. Er war zu meiner Mutter gekrochen, um ihr näher zu sein. Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund war wie ausgetrocknet. »Warum?«, krächzte ich.
»Warum?«, echote der Cthaeh. »Gute Frage. Ich kenne so viele Warums. Warum sie mit deiner armen Familie so abscheuliche Sachen gemacht haben? Na, weil sie es wollten, weil sie es konnten und weil sie einen Grund dazu hatten. Und warum sie dich am Leben gelassen haben? Weil sie geschlampt haben, weil du Glück hattest und weil etwas sie verscheucht hat.«
Was hat sie verscheucht?, dachte ich wie betäubt und überwältigt von Erinnerungen und dem, was die Stimme sagte. Meine Lippen bewegten sich und formten eine stumme Frage.
»Was?«, fragte der Cthaeh. »Du suchst nach einem anderen Warum? Du willst wissen, warum ich dir das alles erzähle? Zu welchem Nutzen? Vielleicht hat dieser Cinder ja auch mir einmal übel mitgespielt. Vielleicht macht es mir ja einfach Spaß, ihm einen jungen Hund wie dich auf die Fersen zu hetzen. Vielleicht klingt ja das leise Knarren deiner Sehnen, wenn du die Fäuste ballst, in meinen Ohren wie Musik. Ja wirklich, da kannst du sicher sein.
Warum kannst du diesen Cinder nicht finden? Das ist ein interessantes Warum. Man sollte doch meinen, jemand mit kohlschwarzen Augen fällt auf, wenn er im Wirtshaus sitzt und etwas trinkt. Aber wie kommt es dann, dass du ihn all die Jahre nicht finden konntest?«
Ich schüttelte den Kopf, um den Geruch von Blut und verbrannten Haaren aus meinen Gedanken zu bekommen.
Der Cthaeh schien es als Antwort zu verstehen. »Das stimmt, du brauchst dir nicht von mir beschreiben zu lassen, wie er aussieht. Schließlich hast du ihn erst vor ein paar Tagen gesehen.«
Die Erkenntnis traf mich mit voller Wucht. Der Anführer der Banditen, der Mann im Kettenhemd mit den geschmeidigen Bewegungen. Cinder. Er hatte damals, als ich noch ein Kind war, zu mir gesprochen. Der Mann mit dem furchtbaren Lächeln und dem Schwert wie winterliches Eis.
»Zu schade, dass er entkommen konnte«, fuhr der Cthaeh fort. »Aber du musst zugeben, du hast ziemliches Glück gehabt. Eine solche Gelegenheit, ihm zu begegnen, bekommt man nur zweimal im Leben, würde ich sagen. Schade, dass du sie nicht genützt hast. Aber mach dir keine Vorwürfe, dass du ihn nicht erkannt hast. Diese Leute haben viel Erfahrung im Verbergen verräterischer Kennzeichen. Dafür kannst du überhaupt nichts. Es ist ja schon lange her. Jahre. Und du warst sehr beschäftigt damit, dich einzuschmeicheln und mit einer Fee herumzuturteln und deine niederen Gelüste zu befriedigen.«
Gleich drei grüne Schmetterlinge zerfielen mit einem letzten Zucken. Ihre zu Boden trudelnden Flügel sahen aus wie Blätter.
»Da wir schon von Gelüsten sprechen: was deine Denna wohl dazu sagen würde? Auwei! Denk doch, wenn sie dich hier sehen könnte. Dich und die Fee, wenn ihr es wie die Karnickel miteinander treibt. Er schlägt sie, musst du wissen. Also ihr Schirmherr. Nicht immer, aber oft. Manchmal im Zorn, aber meist zum Zeitvertreib. Wie weit kann er gehen, bis sie schreit? Bis sie ihn verlassen will und er sie zurücklocken muss? Er macht nichts Ausgefallenes, wohlgemerkt, jedenfalls noch nicht. Keine Verbrennungen, nichts, das eine Narbe hinterlassen würde.
Vor zwei Tagen hat er seinen Spazierstock eingesetzt. Das war neu. Daumendicke Striemen unter den Kleidern und Blutergüsse bis auf die Knochen. Zitternd liegt sie auf dem Boden, den Mund voll Blut. Und weiß du, woran sie denkt, bevor sie ohnmächtig wird? An dich. Sie denkt an dich. Du hast wahrscheinlich auch an sie gedacht. Zwischen dem Schwimmen, dem Erdbeerenessen und deinen anderen Beschäftigungen.«
Der Cthaeh machte ein Geräusch, das wie ein Seufzer klang. »Armes Mädchen, sie hängt an ihm fest. Glaubt, dass sie zu nichts anderem taugt. Sie würde ihn auch nicht verlassen, wenn du sie darum bitten würdest. Was du nicht tun würdest, vorsichtig, wie du bist, aus Furcht, sie zu vertreiben. Mit gutem Grund natürlich. Sie läuft gerne weg. Jetzt ist sie aus Severen fort. Wie sollst du sie da finden?
Es ist wirklich eine Schande, dass du sie ohne ein Wort verlassen hast. Sie fing gerade an, dir zu vertrauen. Vor deinem Wutanfall. Bevor du wie die anderen Männer in ihrem Leben weggelaufen bist. Wie alle Männer. Zuerst ganz gierig auf sie und voller süßer Worte und dann einfach weg. Und sie wieder allein. Gut, dass sie es inzwischen gewöhnt ist, sonst hättest du sie womöglich verletzt. Sonst hättest du ihr am Ende sogar das Herz gebrochen.«
Das war zuviel für mich. Ich wandte mich ab und rannte wie besessen den Weg zurück, den ich gekommen war. Zurück zu Felurians stiller dämmriger Lichtung. Fort, fort, fort
Beim Laufen hörte ich den Cthaeh hinter mir sprechen. Seine trockene, ruhige Stimme folgte mir länger, als ich es für möglich gehalten hätte. »Komm wieder, ich bin noch nicht fertig. Ich muss dir noch viel erzählen. So bleibe doch.«
Erst Stunden später traf ich auf Felurians Lichtung ein. Ich weiß nicht, wie ich den Weg gefunden habe. Nur daran erinnere ich mich noch, dass ich überrascht war, als plötzlich ihre Laube zwischen den Bäumen auftauchte. Der Aufruhr in meinem Kopf beruhigte sich ein wenig und ich konnte endlich wieder denken.
Ich ging zum Teich, trank lange und spritzte mir Wasser ins Gesicht, um einen klaren Kopf zu bekommen und die Spuren meiner Tränen abzuwaschen. Dann überlegte ich kurz, stand auf und ging zur Laube. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Schmetterlinge verschwunden waren. Sonst flatterten immer eine Handvoll über die Lichtung, jetzt sah ich hingegen keinen einzigen.
Felurian war da, aber ihr Anblick weckte meine Unruhe aufs Neue. Es war das einzige Mal, dass mir ihre Schönheit nicht vollkommen schien. Erschöpft lag sie auf den Kissen ausgestreckt, als sei ich Tage weggewesen, nicht Stunden, und als hätte sie die ganze Zeit über keinen Bissen zu sich genommen und kein Auge zugetan.
Als sie mich hörte, hob sie müde den Kopf. »er ist fertig«, sagte sie. Dann sah sie mich und riss erstaunt die Augen auf.
Ich blickte an mir hinab. Ich hatte mir die Haut an Dornengestrüpp blutig gerissen, und die linke Hälfte meines Körpers war mit Dreck besudelt und voller Grasflecken. Offenbar war ich auf meiner besinnungslosen Flucht vor dem Cthaeh gestürzt.
Felurian setzte sich auf. »was ist passiert?«
Ich streifte ein wenig getrocknetes Blut von meinem Ellbogen. »Ich könnte dich dasselbe fragen.« Meine Stimme klang belegt und heiser wie vor lauter Schreien. Ich hob den Kopf. Felurian musterte mich besorgt. »Ich bin tagwärts durch den Wald gegangen. Dann habe ich in einem Baum ein Wesen entdeckt, das sich Cthaeh nannte.«
Felurian erstarrte, als ich den Namen aussprach. »Cthaeh? hast du mit ihm gesprochen?«
Ich nickte.
»und fragen gestellt?« Doch noch bevor ich antworten konnte, sprang sie mit einem leisen Schrei auf und eilte zu mir. Mit den Händen fuhr sie über meinen Körper, als suche sie nach Wunden. Anschließend ergriff sie mein Gesicht und blickte mir in die Augen, als fürchte sie, was sie dort finden würde. »geht es dir gut?«
Ich musste ein wenig lächeln, als ich sie so besorgt sah, und versicherte ihr, dass mir nichts fehle. Doch dann fiel mir ein, was der Cthaeh gesagt hatte. Ich dachte an das Feuer und den Mann mit den kohlschwarzen Augen und an Denna, wie sie den Mund voller Blut auf dem Boden lag. Tränen traten mir in die Augen, und der Atem stockte mir. Ich wandte mich ab, schloss fest die Augen und schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen.
Felurian strich mir über den Nacken. »alles ist gut«, sagte sie. »der schmerz wird vergehen. er hat dich nicht gebissen. und dein blick ist klar, deshalb ist alles gut.«
Ich machte mich von ihr los und sah sie an. »Mein Blick?«
»manche menschen zerbrechen innerlich an dem, was der Cthaeh ihnen sagt, aber wenn das bei dir so wäre, würde ich es sehen. du bist noch mein kvothe, mein lieber dichter.« Sie beugte sich merkwürdig zögernd vor und küsste mich sacht auf die Stirn.
»Er treibt die Menschen mit seinen Lügen in den Wahnsinn?«
Felurian schüttelte langsam den Kopf. »der Cthaeh lügt nicht. er hat die gabe zu sehen, sagt aber nur dinge, um andere zu verletzen. nur ein dennerling würde freiwillig mit dem Cthaeh sprechen.« Sie legte mir eine Hand an den Hals, um ihre Worte abzumildern.
Ich nickte, weil ich wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Dann begann ich zu weinen.