Ein einziger, spitzer Pfeil

Widerstrebend fügte ich mich Vashets Rat. Obwohl es mich in den Fingern juckte, holte ich an jenem Abend meine Laute nicht heraus, um ein wenig für mich zu spielen. Ich schob den Kasten sogar unter mein Bett, damit nicht sein bloßer Anblick Gerüchte unter den anderen Schülern auslöste.

Einige Tage lang befasste ich mich ausschließlich mit Lernen unter Vashets Anleitung. Ich aß allein und fing auch keine Gespräche mit anderen an, da mir meine mangelnden Sprachkenntnisse plötzlich peinlich waren. Auch Carceret mied den Kontakt mit mir, doch war sie immer in der Nähe und beobachtete mich mit bösen Schlangenaugen.

Ich nutzte Vashets ausgezeichnetes Aturisch und stellte ihr tausend Fragen, die zu subtil waren, als dass Tempi sie verstanden hätte.

Dagegen wartete ich drei ganze Tage, bis ich ihr die Frage stellte, die mich beschäftigte, seit ich die Ausläufer des Stormwall-Gebirges hinaufgestiegen war. Dass ich sie erst jetzt stellte, war ein überragender Beweis meiner immensen Selbstbeherrschung, wie ich fand.

»Kennst du eigentlich Geschichten über die Chandrian, Vashet?«, fragte ich.

Sie sah mich an, und aus ihrem sonst so ausdrucksvollen Gesicht war auf einmal jede Gefühlsregung verschwunden. »Und was hat das mit der Gebärdensprache zu tun?« Sie führte mit der Hand in rascher Folge einige Variationen der Geste für Missbilligung und Tadel aus.

»Nichts«, antwortete ich.

»Hat es dann mit den Kampftechniken zu tun, die du lernst?«

»Nein, aber …«

»Aber doch bestimmt mit dem Ketan? Oder dem Lethani? Oder vielleicht mit einer Bedeutungsnuance des Ademischen, die du nicht verstehst?«

»Ich frage nur so aus Neugier.«

Vashet seufzte. »Könntest du deine Neugier bitte wieder auf wichtigere Probleme konzentrieren?« Sie machte die Handzeichen für ungeduldig und strenger Tadel.

Ich ließ das Thema sofort wieder fallen. Vashet war nicht nur meine Lehrerin, sondern auch meine einzige Gefährtin. Auf keinen Fall wollte ich sie verärgern oder den Eindruck erwecken, ich würde ihrem Unterricht nur mit halber Aufmerksamkeit folgen.

Von dieser einen, enttäuschenden Ausnahme abgesehen war Vashet eine unerschöpfliche Informationsquelle. Sie beantwortete meine endlosen Fragen schnell und verständlich. Das Ergebnis war, dass sich meine Fähigkeiten im Sprechen und Kämpfen sprunghaft verbesserten.

Vashet war von meinen Fortschritten weniger begeistert und stand auch nicht an, mir das in aller Deutlichkeit und in zwei Sprachen zu sagen.

Vashet und ich hatten uns in dem versteckten Tal, in dem der Schwertbaum stand, etwa eine Stunde lang in verschiedenen Techniken des waffenlosen Kampfes geübt. Nun saßen wir im hohen Gras und ruhten aus.

Oder genauer gesagt, ich ruhte aus. Vashet wirkte kein bisschen außer Atem. Gegen mich zu kämpfen strengte sie nicht an, und sie konnte mich jederzeit an meinen erhobenen Händen vorbei mit einem Backenstreich für meine Fehler tadeln.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stellte ihr eine Frage, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigte. »Darf ich dich etwas fragen, auch wenn es vielleicht überheblich klingt?«

»Ich bevorzuge überhebliche Schüler«, antwortete Vashet. »Ich hatte gehofft, das sei inzwischen klar.«

»Was für einen Zweck hat das alles eigentlich?« Ich zeigte zwischen uns hin und her.

»Der Zweck davon«, sie machte meine Handbewegung nach, »ist es, dich im Kämpfen zu unterrichten, damit du nicht mehr kämpfst wie ein kleiner Junge, der versehentlich Wein getrunken hat.«

Sie hatte sich die blonden Haare an diesem Tag zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr links und rechts auf den Rücken hingen. Die Zöpfe verliehen ihr ein eigenartig mädchenhaftes Aussehen, was meiner Selbstachtung nicht förderlich war, zumal sie mich in den vergangenen Stunden wiederholt zu Boden geworfen und zur Aufgabe gezwungen und mich außerdem mit kräftigen, wenngleich nicht mit voller Kraft ausgeführten Faustschlägen und Tritten traktiert hatte.

Einmal war sie sogar lachend hinter mich geschlüpft und hatte mir einen Klaps auf den Hintern versetzt wie etwa ein Betrunkener, der sich im Wirtshaus an einer Kellnerin mit tief ausgeschnittener Bluse vergreift.

»Aber warum?«, beharrte ich. »Warum unterrichtest du mich? Wenn Tempi das nicht tun durfte, warum machst du jetzt damit weiter?«

Vashet nickte anerkennend. »Ich habe mit dieser Frage gerechnet«, sagte sie. »Du hättest sie eigentlich schon ganz am Anfang stellen müssen.«

»Man hat mir gesagt, ich würde zu viel fragen. Deshalb habe ich mich zurückgehalten.«

Vashet beugte sich vor. »Du weißt Dinge, die du nicht wissen solltest«, sagte sie sachlich. »Was du über Lethani weißt, findet Shehyn im Unterschied zu anderen nicht schlimm. Doch im Hinblick auf unseren Ketan herrscht Einigkeit. Er ist nicht für Barbaren bestimmt. Nur Adem dürfen ihn kennen und von ihnen nur die, die dem Weg des Schwertbaums folgen.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Vashet fort: »Shehyn hat sich nun Folgendes ausgedacht: Wenn du der Schule angehörst, wirst du dadurch zu einem Teil von Ademre. In diesem Fall aber bist du kein Barbar mehr. Und wenn du das nicht mehr bist, ist es auch nicht schlimm, wenn du den Ketan kennst.«

Ihre Argumentation entbehrte nicht einer gewissen verdrehten Logik. »Das hieße dann auch, dass Tempi mich unterrichten durfte.«

Vashet nickte. »Richtig. Statt eines unerwünschten Welpen hätte er ein verlorenes Schaf zur Herde zurückgebracht.«

»Ich bin also notgedrungen entweder ein Schaf oder ein Welpe?« Ich seufzte. »Wie würdelos.«

»Du kämpfst wie ein Welpe«, sagte Vashet. »Tapsig, aber mit großem Eifer.«

»Aber bin ich nicht schon Mitglied der Schule?«, fragte ich. »Du unterrichtest mich doch.«

Vashet schüttelte den Kopf. »Du schläfst in der Schule und isst bei uns, bist aber deshalb noch kein Schüler. Viele Kinder lernen den Ketan und hoffen, dass sie Schüler werden und eines Tages das Rot der Söldner tragen dürfen. Sie leben und lernen mit uns in der Schule, gehören aber noch nicht zur Schule, wenn du mir folgen kannst.«

»Es kommt mir komisch vor, dass hier so viele Söldner werden wollen«, sagte ich so freundlich wie möglich.

»Du scheinst es immerhin auch zu wollen«, erwiderte Vashet mit einem scharfen Unterton.

»Was ich will, ist lernen«, sagte ich, »aber nicht Söldner werden. Sei bitte nicht gekränkt.«

Vashet streckte den Hals, um einen verspannten Muskel zu dehnen. »Deine Sprache ist dir im Weg. Bei den Barbaren stehen die Söldner auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Egal wie blöde oder unnütz jemand ist, er kann immer noch eine Keule schwingen und sich als Karawanenwächter einen Halbpenny verdienen. Stimmt’s?«

Ich nickte. »Das Leben als Karawanenwächter zieht ein rauhes Völkchen an.«

»Bei uns sind Söldner etwas ganz anderes. Zwar werden wir auch bezahlt, aber wir wählen die Arbeit aus, die wir übernehmen wollen.« Vashet machte eine Pause. »Wer für Geld kämpft, ist ein Söldner. Wie heißt der, der für sein Land kämpft?«

»Soldat.«

»Und der für das Gesetz kämpft?«

»Wachtmeister oder Büttel.«

»Und für seinen Ruf?«

Ich musste kurz überlegen. »Vielleicht Duellant?«

»Und für das Wohl anderer?«

»Amyr«, sagte ich, ohne nachzudenken.

Vashet sah mich mit schräggelegtem Kopf an. »Eine interessante Wahl.«

Sie hob den Arm und zeigte stolz ihren roten Ärmel. »Wir Adem verdingen uns als Wächter, Jäger und Beschützer. Wir kämpfen für unser Land, unsere Schule und unseren Ruf. Und wir kämpfen für das Lethani, mit dem Lethani und im Geist des Lethani, alles zugleich. Bei den Adem heißt der, der das rote Kleid des Söldners trägt, Cethan.« Sie sah mich an. »Und er hat allen Grund, stolz darauf zu sein.«

»Der Söldner bekleidet bei den Adem also einen hohen Rang«, sagte ich.

Vashet nickte. »Aber die Barbaren kennen unser Wort dafür nicht und würden es auch gar nicht verstehen. Deshalb muss ›Söldner‹ genügen.«

Sie riss zwei lange Grashalme aus und fing an eine Schnur daraus zu flechten. »Deshalb war die Entscheidung für Shehyn ja so schwer. Sie muss abwägen zwischen dem, was richtig ist, und dem, was für ihre Schule am besten ist, und darf darüber auch das Wohl des ganzen Weges des Schwertbaums nicht vergessen. Statt eine vorschnelle Entscheidung zu treffen, übt sie sich in Geduld. Meiner persönlichen Überzeugung nach hofft sie, dass das Problem sich von selbst erledigt.«

»Wie soll das denn gehen?«, fragte ich.

»Du hättest zum Beispiel weglaufen können. Viele haben das erwartet. Oder wenn ich entschieden hätte, dass du kein würdiger Schüler bist, wären sie das Problem ebenfalls losgewesen. Du könntest auch im Verlauf der Ausbildung sterben oder zum Krüppel werden.«

Ich starrte sie an.

Sie zuckte mit den Schultern. »Es passieren immer wieder Unfälle. Nicht oft, aber manchmal. Wenn Carceret dich unterrichtet hätte …«

Ich verzog das Gesicht. »Wie wird man denn nun offiziell Mitglied der Schule? Gibt es so etwas wie eine Prüfung?«

Vashet schüttelte den Kopf. »Zunächst muss jemand für dich sprechen und sagen, dass du würdig bist, in die Schule aufgenommen zu werden.«

»Tempi?«

»Jemand, dessen Wort etwas gilt.«

»Also du«, sagte ich langsam.

Vashet grinste, klopfte an ihre Höckernase und zeigte auf mich. »Du musstest nur zweimal raten. Solltest du einmal so gut sein, dass ich mich nicht mehr für dich schämen muss, spreche ich für dich und dann kannst du die Prüfung machen.«

Sie flocht die Grashalme weiter mit flinken, geschickten Fingern ineinander. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Adem sich während des Sprechens mit derlei müßigen Spielchen vergnügten. Das konnten sie auch gar nicht, sie brauchten zum Sprechen ja eine freie Hand. »Wenn du die Prüfung bestehst, bist du kein Barbar mehr. Tempi wäre gerechtfertigt und alle wären zufrieden. Natürlich abgesehen von denen, die es nie sind.«

»Und wenn ich sie nicht bestehe? Oder du findest, dass ich dafür zu schlecht bin?«

»Dann wird es kompliziert.« Vashet stand auf. »Komm, Shehyn will mit dir sprechen. Es wäre unhöflich von uns, sie warten zu lassen.«

Vashet führte mich zu der Gruppe niedriger Häuser aus Stein zurück, von denen ich anfangs angenommen hatte, sie wären der ganze Ort. Inzwischen wusste ich, dass es sich um die Schulgebäude handelte. Die Schule ähnelte einer kleinen Universität, allerdings ohne geregelten Tagesablauf, wie ich ihn kannte.

Auch eine vergleichbare Rangordnung gab es nicht. Wer Rot trug, wurde mit Ehrerbietung behandelt, und Shehyn schien die Anführerin zu sein. Davon abgesehen konnte ich ein hierarchisches Gefüge nur in vagen Ansätzen erkennen. Tempi bekleidete offensichtlich einen sehr geringen und wenig geachteten Rang, Vashet einen sehr hohen.

Bei unserem Eintreffen absolvierte Shehyn gerade einen Ketan. Ich sah stumm zu, während sie sich mit der Geschwindigkeit auslaufenden Honigs bewegte. Ein Ketan wird schwieriger, je langsamer man ihn ausführt, doch Shehyn machte nicht den kleinsten Fehler.

Sie brauchte noch eine halbe Stunde, bis sie fertig war, dann öffnete sie das Fenster. Mit dem Wind drangen der Duft des sommerlichen Grases und das Rauschen der Blätter herein.

Shehyn setzte sich. Sie atmete nicht schneller als sonst, auch wenn ein dünner Schweißfilm ihre Haut bedeckte. »Hat Tempi dir von den neunundneunzig Geschichten erzählt?«, fragte sie ohne Umschweife. »Von Aethe und den Anfängen der Adem?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Gut. Dazu ist er auch gar nicht berechtigt, und er könnte sie nicht richtig erzählen.« Shehyn wandte sich an Vashet. »Wie geht es mit der Sprache voran?«

»Einigermaßen schnell«, antwortete Vashet. Jedoch.

»Sehr gut«, sagte Shehyn auf Aturisch. Sie sprach mit einem leichten Akzent. »Dann spreche ich jetzt deine Sprache, damit du mich besser verstehst und weniger nachfragen musst.«

Ich bekundete mit einer Geste meinen aufrichtigen Dank.

»Die Geschichte spielt vor langer Zeit«, begann Shehyn feierlich. »Damals gab es weder diese Schule noch den Weg des Schwertbaums. Und die Adem hatten noch nie von Lethani gehört. Die Geschichte handelt davon, wie diese Dinge entstanden sind. An der ersten Schule der Adem wurde nicht der Schwertkampf unterrichtet, wie man erwarten könnte. Ihr Gründer war ein Mann namens Aethe, der nach vollkommener Beherrschung von Pfeil und Bogen strebte.«

Shehyn sah mich an. »Du musst wissen, dass der Gebrauch des Bogens damals sehr verbreitet war und seine Beherrschung als hoch angesehene Kunst galt«, erklärte sie. »Wir lebten als Schäfer und wurden von unseren Feinden hart bedrängt. Der Bogen war die beste Waffe für unsere Verteidigung.«

Sie lehnte sich zurück und fuhr mit der Geschichte fort. »Aethe wollte ursprünglich gar keine Schule gründen. Damals gab es keine Schulen. Er wollte nur seine Fertigkeit im Bogenschießen verbessern. Er widmete sich dieser Aufgabe mit ganzer Kraft, bis er auf dreißig Schritt Entfernung einen Apfel vom Baum schießen konnte. Dann übte er weiter, bis er den Docht einer brennenden Kerze traf. Bald blieb als einzige Herausforderung noch ein im Wind hin und her flatterndes Seidentuch. Aethe übte weiter, bis er im Voraus spürte, aus welcher Richtung der Wind wehen würde, und ab da traf er auch das Tuch.

Die Kunde seiner großen Kunst verbreitete sich, und schon bald wurde er von anderen aufgesucht. Unter ihnen war eine junge Frau namens Rethe. Erst zweifelte Aethe, ob sie überhaupt stark genug sei, den Bogen zu spannen, doch schon bald galt sie als seine beste Schülerin.

Das alles ereignete sich wie gesagt vor langer Zeit und viele Meilen von hier entfernt. Die Adem ließen sich damals noch nicht vom Geist des Lethani leiten, und es waren rauhe, kriegerische Zeiten. Oft töteten die Adem sich gegenseitig, sei es aus Stolz, im Streit oder als Beweis ihrer Überlegenheit.

Viele forderten Aethe als den größten Bogenschützen heraus. Doch wer ein im Wind wehendes Seidentuch trifft, für den ist der menschliche Körper ein leichtes Ziel. Aethe tötete seine Herausforderer so mühelos, wie man Weizen mäht. Zum Zweikampf erschien er mit einem einzigen Pfeil. Wenn ein einziger Pfeil ihm nicht genüge, meinte er, habe er es verdient, von der Hand des Gegners zu fallen.

Aethe wurde älter und sein Ruhm wuchs unaufhaltsam. Er wurde sesshaft und gründete die erste Schule der Adem. Die Jahre vergingen und er bildete viele Adem zu Schützen aus. Wer Aethes Schülern drei Pfeile und drei Münzen gebe, so hieß es, sei mit einem Schlag seine drei schlimmsten Feinde los.

Die Schule wurde reich und berühmt und war stolz. Und dasselbe galt für Aethe.

Dann kam Rethe zu ihm. Rethe, seine beste Schülerin, die seinem Ohr und seinem Herzen am nächsten stand.

Sie sprach mit ihm, und Aethe widersprach. Die beiden stritten sich und schrien dabei so laut, dass es die ganze Schule selbst durch die dicken Steinmauern hören konnte.

Zuletzt forderte Rethe Aethe zum Zweikampf heraus. Aethe nahm an und es wurde vereinbart, dass der Sieger von diesem Tag an die Schule leiten sollte.

Da Aethe herausgefordert worden war, wählte er seinen Platz zuerst. Er stellte sich zwischen einige junge Bäume, die im Wind schwankten und ihm immer wieder Deckung gaben. Unter anderen Umständen hätte er sich nicht mit einer solchen Vorsichtsmaßnahme abgegeben, doch Rethe war seine beste Schülerin und konnte den Wind genauso gut lesen wie er. Mitgebracht hatte er seinen Bogen aus Horn und einen einzigen, spitzen Pfeil.

Dann nahm Rethe ihren Platz ein. Sie stieg zur Kuppe eines Hügels hinauf, und ihre Silhouette hob sich deutlich vom wolkenlosen Himmel ab. Sie hielt weder einen Bogen noch einen Pfeil in den Händen. Oben angelangt, setzte sie sich ruhig auf den Boden. Das war besonders merkwürdig, denn man wusste, dass Aethe seinen Gegner manchmal lieber ins Bein schoss, statt ihn zu töten.

Als Aethe sah, dass seine Schülerin sich setzte, erfüllte ihn Zorn. Er nahm seinen Pfeil und legte ihn auf. Dann spannte er die Sehne. Rethe hatte sie einst aus ihren langen Haaren für ihn gedreht.«

Shehyn sah mich an. »Wütend schoss Aethe seinen Pfeil ab. Der Pfeil traf Rethe mit voller Wucht. Hier.« Sie zeigte mit zwei Fingern auf die innere Rundung ihrer linken Brust.

»Immer noch sitzend, zog Rethe ein langes, weißes Seidenband unter ihrem Kittel hervor. Der Pfeil ragte aus ihrer Brust. Sie riss eine weiße Feder der Befiederung ab, tauchte den Kiel in ihr Blut und schrieb ein vierzeiliges Gedicht.

Anschließend hielt sie das Band hoch und wartete. Der Wind wehte es zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Zuletzt ließ Rethe es los. Flatternd stieg es auf, hob und senkte sich mit dem Wind, schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und drückte sich zuletzt fest gegen Aethes Brust.

Das Gedicht lautete:

Aethe, meinem Herzen nah.

Ohne Eitelkeit das Band.

Ohne Pflicht der Wind.

Ohne Blut der Sieg.«

Ich hörte ein leises Geräusch und hob den Blick. Vashet weinte leise in sich hinein. Sie hielt den Kopf gesenkt, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften ihr als dunkelrote Flecken auf das Hemd.

»Aethe las das Gedicht«, fuhr Shehyn fort, »und erst jetzt erkannte er die tiefe Weisheit seiner Schülerin. Er eilte zu ihr, wollte sich um ihre Verletzung kümmern, doch die Pfeilspitze war so nah am Herzen eingedrungen, dass es unmöglich war, sie herauszuziehen.

Rethe lebte nur noch drei Tage und Aethe pflegte sie, von Kummer überwältigt. Er gab die Schule in ihre Hände und lauschte auf ihre Worte. Die Pfeilspitze steckte die ganze Zeit unmittelbar neben ihrem Herzen.

In diesen drei Tagen diktierte Rethe neunundneunzig Geschichten und Aethe schrieb sie auf. Diese Geschichten stehen am Anfang unseres Umgangs mit Lethani. Sie bilden die Wurzeln von Ademre.

Am Abend des dritten Tages beendete Rethe die neunundneunzigste Geschichte. Aethe betrachtete sich inzwischen als Schüler seiner Schülerin. Nachdem er fertig geschrieben hatte, sagte Rethe: ›Es gibt noch eine letzte Geschichte, die wichtiger ist als alle anderen. Sie wird euch kundgetan, wenn ich aufwache.‹«

Dann schloss sie die Augen und schlief ein. Und im Schlaf starb sie. Aethe lebte danach noch vierzig Jahre und es heißt, er habe nie wieder getötet. Doch hörte man ihn oft sagen: ›Ich habe den einzigen Zweikampf gewonnen, den ich verloren habe.‹

Er führte die Schule weiter und bildete seine Schüler zu meisterhaften Bogenschützen aus. Doch außerdem unterrichtete er sie in der Weisheit. Er lehrte sie die neunundneunzig Geschichten, und so wurde Lethani in ganz Ademre bekannt. Und wir wurden zu dem, was wir heute sind.«

Es folgte eine lange Pause.

»Ich danke Euch, Shehyn«, sagte ich schließlich und bezeugte ihr, so gut ich konnte, meinen aufrichtigen Dank. »Ich würde diese neunundneunzig Geschichten sehr gerne hören.«

»Sie sind nicht für Barbaren bestimmt.« Doch schien Shehyn über meine Bitte nicht gekränkt, denn sie deutete mit einigen Gesten eine Mischung aus Tadel und Bedauern an. Dann wechselte sie das Thema. »Wie kommst du mit dem Ketan voran?«

»Ich arbeite daran, mich zu verbessern.«

Sie wandte sich an Vashet. »Mit Erfolg?«

»Er bemüht sich jedenfalls«, sagte Vashet, deren Augen noch vom Weinen gerötet waren. Augenzwinkernde Belustigung. »Aber er macht auch wirkliche Fortschritte.«

Shehyn nickte. Kleine Anerkennung. »Einige von uns werden morgen kämpfen. Vielleicht bringst du ihn zum Zuschauen mit.«

Vashet machte einige Gebärden von solcher Eleganz, dass mir wieder einmal klar wurde, wie wenig ich von den Feinheiten dieser Zeichensprache verstand. Verbindlichsten Dank und ergebenste Zustimmung.

»Du kannst stolz sein«, sagte Vashet munter. »Zuerst ein Gespräch mit Shehyn und dann die Einladung, ihr beim Kämpfen zuzusehen.«

Wir waren zu dem Tal unterwegs, in dem wir immer den Ketan und den waffenlosen Kampf übten.

Doch mich beschäftigten in diesem Moment einige andere, unvermeidliche und unangenehme Gedanken. Ich musste daran denken, wie eifersüchtig die Menschen doch ihre Geheimnisse hüten. Was hätte Kilvin getan, wenn ich einen Fremden ins Handwerkszentrum mitgebracht und in die Sygaldrie für Blut, Knochen und Haare eingeführt hätte?

Ich stellte mir vor, wie wütend der Meister des Handwerks gewesen wäre, und erschauerte. Natürlich wusste ich, welche Strafe mich erwartet hätte. Sie war in den Statuten der Universität festgelegt. Aber was hätte Kilvin mit demjenigen getan, dem ich die Geheimnisse verraten hatte?

Vashet schlug mit dem Handrücken an meine Brust, um mich aus meinen Gedanken zu wecken. »Ich sagte, du kannst stolz sein«, wiederholte sie.

»Das bin ich auch.«

Sie ergriff mich an der Schulter und drehte mich zu sich her. »Aber du bist in Gedanken anderswo.«

»Was passiert mit Tempi, falls das hier mit mir ein böses Ende nimmt?«, fragte ich unverblümt.

Vashet wurde ernst. »Er verliert seine Uniform, sein Schwert und seinen Namen und wird vom Latantha abgeschnitten.« Sie atmete langsam ein. »Und wahrscheinlich würde ihn dann auch keine andere Schule mehr aufnehmen. Er müsste Ademre also verlassen und in die Verbannung gehen.«

»Aber in meinem Fall wäre das keine Lösung«, erwiderte ich. »Mich zu verbannen würde das Problem nur verschlimmern, nicht wahr?«

Vashet schwieg.

»Am Anfang hast du mich aufgefordert, zu gehen. Aber hätte man mich überhaupt gehen lassen?«

Ihr langes Schweigen genügte mir als Antwort. Doch dann sagte Vashet trotzdem noch: »Nein.«

Ich war ihr dankbar, dass sie keine Ausflüchte machte. »Wie würde ich also bestraft? Mit Gefängnis?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Es wäre zu umständlich, mich jahrelang hier einzusperren.« Ich sah sie an. »Also wie?«

»Es geht uns nicht um Strafe«, sagte Vashet. »Schließlich bist du ein Barbar und konntest nicht wissen, dass du etwas Falsches tust. Es geht uns darum, zu verhindern, dass du das, was du gestohlen hast, an andere weitergibst oder zu deinem eigenen Vorteil verwendest.«

Sie hatte meine Frage nicht beantwortet und ich sah sie eindringlich an.

»Einige meinen, es wäre am besten, dich zu töten«, sagte sie freimütig. »Aber die meisten meinen, dass es im Widerspruch zum Lethani stünde. Shehyn meint das und ich meine es auch.«

Ich atmete ein wenig auf. Immerhin. »Und ein Versprechen meinerseits würde wahrscheinlich nichts helfen?«

Vashet lächelte mitfühlend. »Dass du Tempi hierher begleitet hast, spricht für dich. Und auch, dass du geblieben bist, als ich dich vertreiben wollte. Doch das Versprechen eines Barbaren zählt in so einer Sache nichts.«

»Was soll dann geschehen?« Ich ahnte, wie die Antwort ausfallen würde, und sie gefiel mir nicht.

Vashet holte tief Luft. »Man könnte verhindern, dass du dein Wissen weitergeben kannst, indem man dir die Zunge oder das Augenlicht nimmt«, sagte sie offen. »An der Ausübung des Ketan könnte man dich hindern, indem man dich zum Krüppel schlägt. Man könnte deine Fersensehne durchtrennen oder das Knie deines bevorzugten Beines zertrümmern.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mit einem lahmen Bein kann man allerdings immer noch kämpfen. Es wäre also sinnvoller, dir den Ringfinger und den kleinen Finger der rechten Hand abzuschneiden. Dann wäre …«

Sie sprach vollkommen ruhig und sachlich. Wahrscheinlich wollte sie mich damit beruhigen und trösten, doch das Gegenteil war der Fall. Ich konnte nur noch daran denken, dass sie mir seelenruhig die Finger abtrennen würde, wie man etwa ein faules Stück von einem Apfel abschneidet. So lebhaft war die Vorstellung, dass die Ränder meines Gesichtsfeldes zu flimmern begannen und mein Magen rumorte. Ich glaubte schon, ich müsste mich übergeben.

Doch Schwindel und Übelkeit vergingen. Ich kam wieder zu Sinnen und merkte, dass Vashet zu Ende gesprochen hatte und mich anstarrte.

Ich wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand. »Ich sehe schon, du bist heute zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich gebe dir den restlichen Abend frei. Ordne deine Gedanken, übe den Ketan oder betrachte den Schwertbaum. Morgen machen wir weiter.«

Ich schlenderte eine Weile ziellos durch die Gegend und versuchte den Gedanken an abgeschnittene Finger zu verdrängen. In einem Wäldchen hinter einer Hügelkuppe stolperte ich fast buchstäblich über ein nacktes Pärchen, das sich dorthin zurückgezogen hatte.

Doch die beiden suchten nicht etwa hastig nach ihren Kleidern, als ich unvermittelt vor ihnen stand, und ich machte erst gar nicht den Versuch, mich in holprigem Ademisch zu entschuldigen, sondern drehte mich nur um und ging. Mein Gesicht brannte vor Scham.

Ich begann den Ketan zu üben, konnte mich aber nicht konzentrieren. Also betrachtete ich den Schwertbaum. Eine Weile beruhigte mich der Anblick der sich anmutig im Wind wiegenden Äste tatsächlich. Doch dann begannen meine Gedanken abzuschweifen, und das Bild Vashets, die mir die Finger abschnitt, trat mir wieder vor Augen.

Der dreimalige Glockenton erklang, und ich kehrte zum Abendessen in die Schule zurück und stellte mich an der Essensschlange an. Die Anstrengung, die es mich kostete, nicht an meine verstümmelte Hand zu denken, machte mich ganz benommen. Plötzlich bemerkte ich, dass meine Nachbarn in der Schlange mich anstarrten. Ein kleines, etwa zehnjähriges Mädchen blickte mit offenem Mund zu mir hoch, und ein Mann im Rot des Söldners sah mich an, als hätte ich mir soeben mit einer Scheibe Brot den Hintern abgewischt und sie anschließend gegessen.

Erst jetzt begriff ich, dass ich vor mich hin summte, nicht laut, aber doch so laut, dass die Umstehenden es hörten. Offenbar summte ich noch nicht lange, denn ich war erst bei der sechsten Zeile von Verlass die Stadt, Kessler angelangt.

Ich verstummte, senkte den Blick, nahm mein Tablett und versuchte zehn Minuten lang zu essen. Ich brachte einige wenige Bissen hinunter, mehr nicht. Schließlich gab ich es auf und ging auf mein Zimmer.

Ich legte mich aufs Bett und überlegte, welche Alternativen ich hatte. Wie weit würde ich es zu Fuß schaffen? Konnte ich mich in der Umgebung von Haert verstecken? Oder ein Pferd stehlen? Aber gab es hier in Haert überhaupt Pferde?

Ich holte meine Laute heraus, griff mit der linken Hand einige stumme Akkorde und ließ meine flinken Finger das lange Griffbrett auf und ab wandern. Zu gern hätte ich mit der rechten Hand die Saiten angeschlagen und erklingen lassen. Nur mit der linken zu greifen war so unbefriedigend wie eine Frau mit nur einer Lippe zu küssen. Ich gab es bald wieder auf.

Schließlich holte ich meinen Schattenmantel aus dem Reisesack und wickelte mich darin ein. Er war warm und weich. Ich zog mir die Kapuze so tief ins Gesicht, wie es ging, und dachte an die Nacht im Reich der Fae, in der Felurian den Schatten gesammelt hatte.

Dann dachte ich an die Universität, an Wil und Sim und an Auri, Devi und Fela. Ich war dort nie besonders beliebt gewesen, und mein Freundeskreis war entsprechend klein. Trotzdem hatte ich vergessen, was es hieß, wirklich ganz allein zu sein.

Ich dachte an meine Eltern, an die Chandrian und an Cinder. An Cinders geschmeidige Bewegungen und an das Schwert, das er wie ein Stück Eis nachlässig in der Hand gehalten hatte. Ich stellte mir vor, wie ich ihn tötete.

Dann dachte ich an Denna und an die Worte des Cthaeh, an Dennas Schirmherrn und an das, was ich im Streit zu Denna gesagt hatte. Ich dachte daran, wie sie auf der Straße ausgerutscht war und ich sie aufgefangen hatte und wie die sanfte Rundung ihrer Hüfte sich unter meiner Hand angefühlt hatte. Ich dachte an die Form ihres Mundes, den Klang ihrer Stimme und den Duft ihres Haars.

Und mit diesen Gedanken trat ich lautlos durch die Pforte des Schlafes.

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