Zwischenspiel: Etwas Köstliches
Kvothe ließ den Chronisten mit einer Handbewegung innehalten. »Geht’s dir nicht gut, Bast?«, fragte er und sah seinen Schüler besorgt an. »Du siehst aus, als hättest du einen Eisenklumpen verschluckt.«
Bast sah tatsächlich angeschlagen aus. Sein Gesicht war beinahe wachsbleich, und seine sonst meist so fröhliche Miene war einem entgeisterten Ausdruck gewichen. »Reshi«, sagte er, mit einer Stimme so trocken wie raschelndes Herbstlaub. »Du hast mir nie erzählt, dass du mit dem Cthaeh gesprochen hast.«
»Ich hab dir vieles nie erzählt, Bast«, erwiderte Kvothe leichthin. »Deshalb findest du die schäbigen Einzelheiten meiner Lebensgeschichte ja so spannend.«
Bast antwortete mit einem matten Lächeln und ließ erleichtert die Schultern hängen. »Dann stimmt das also gar nicht? Dass du mit ihm gesprochen hast, meine ich? Du hast das nur dazuerfunden, um der ganzen Sache ein bisschen mehr Würze zu verleihen?«
»Also bitte, Bast«, sagte Kvothe, offensichtlich gekränkt. »Meine Geschichte hat auch so genug Würze. Da muss ich nichts dazuerfinden.«
»Lüg mich nicht an!«, schrie Bast unvermittelt und erhob sich halb von seinem Stuhl. »Lüg mich nicht an! Wage es nicht!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass sein Krug umkippte und das Tintenfass des Chronisten über die Tischplatte schlitterte.
Blitzschnell riss der Chronist das halb beschriebene Blatt fort, stieß sich mit den Füßen vom Tisch ab und rettete so das Papier vor der plötzlichen Gischt aus Tinte und Bier.
Bast beugte sich vor, das Gesicht hochrot, und fuchtelte in Kvothes Richtung mit dem Zeigefinger. »Es interessiert mich nicht, was für Flachs du sonst hier zu Gold spinnst! Aber in dieser Sache lügst du mich nicht an, Reshi! Nicht mich!«
Kvothe wies auf den Chronisten, der immer noch dort saß und das gerettete Blatt mit beiden Händen emporhielt. »Bast«, sagte er. »Das hier ist meine Chance, meine Lebensgeschichte vollständig und aufrichtig zu erzählen. Alles, was …«
Bast kniff die Augen zu und schlug auf den Tisch, wie ein von einem Trotzanfall gepackter kleiner Junge. »Sei still. Sei still! SEI STILL!«
Er zeigte auf den Chronisten. »Es ist mir scheißegal, was du ihm erzählst, Reshi. Er schreibt sowieso nur, was ich ihm gestatte, sonst fresse ich auf dem Marktplatz sein Herz!« Er richtete den Zeigefinger wieder auf den Wirt und fuchtelte fuchsteufelswild. »Aber mir sagst du die Wahrheit – und zwar jetzt, auf der Stelle!«
Kvothe sah seinen Schüler an, und alle Belustigung war aus seinem Gesicht gewichen. »Bast, wir wissen beide, dass ich mir für kleinere Ausschmückungen hier und da nicht zu schade bin. Aber mit dieser Geschichte ist es etwas anderes. Das hier ist meine Chance, die Wahrheit über all diese Dinge niederschreiben zu lassen. Hier geht es um die Wahrheit hinter all den Geschichten.«
Der junge Mann beugte sich auf seinem Stuhl vor und hielt sich mit einer Hand die Augen zu.
Kvothe sah ihn besorgt an. »Alles in Ordnung mit dir?«
Bast schüttelte den Kopf und hielt sich weiter die Augen zu.
»Bast«, sagte Kvothe in sanftem Ton. »Du blutest an der Hand.« Er wartete einen Moment lang ab und fragte dann: »Bast, was ist denn los?«
»Das ist es ja gerade!«, platzte Bast hervor und riss die Arme auseinander. Er klang geradezu hysterisch. »Ich glaube, ich habe endlich verstanden, was los ist!«
Dann lachte er übertrieben laut, doch das Gelächter endete abrupt mit einem Schluchzer. Mit glänzenden Augen sah er zur Decke des Schankraums empor. Dabei blinzelte er, als hielte er Tränen zurück.
Kvothe beugte sich vor und legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Bast, bitte …«
»Es ist nur … du weißt doch so vieles«, sagte Bast. »Du weißt alle möglichen Dinge, die du eigentlich gar nicht wissen dürftest. Du weißt von der Berentaltha. Du weißt von den weißen Schwestern und dem Weg des Lachens. Wie kann es da angehen, dass du über den Cthaeh nicht Bescheid weißt? Das … das ist ein Ungeheuer.«
Kvothe entspannte sich sichtlich. »Meine Güte, Bast, ist das alles? Du hattest mir schon richtig Angst gemacht. Also, ich bin schon weitaus Schlimmerem entgegengetreten als –«
»Es gibt nichts Schlimmeres als den Cthaeh!«, schrie Bast und schlug mit der Faust auf den Tisch. Diesmal hörte man das Holz splittern. »Reshi, sei still und hör mir zu. Hör mir genau zu.« Bast senkte kurz den Blick und wählte seine Worte mit Bedacht. »Du weißt, wer die Sithe sind?«
Kvothe zuckte die Achseln. »Eine Gruppe innerhalb der Fae. Mächtig, gutmütig –«
Bast winkte ab. »Wenn du sie als ›gutmütig‹ bezeichnest, hast du keine Ahnung von ihnen. Aber wenn sich von irgendwem innerhalb der Fae behaupten lässt, dass er dem Wohle der Allgemeinheit dient, dann von den Sithe. Und ihre älteste und wichtigste Aufgabe besteht darin, zu verhindern, dass der Cthaeh mit irgendjemandem in Kontakt tritt.«
»Ich habe da keine Wachen gesehen«, sagte Kvothe in einem Tonfall, als ginge es ihm darum, ein scheuendes Tier zu beruhigen.
Bast fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, so dass es ihm unordentlich vom Kopf stand. »Ich kann mir um alles in der Welt nicht erklären, wie du an denen vorbeigekommen bist, Reshi. Wenn es jemandem gelingt, mit dem Cthaeh in Kontakt zu treten, wird derjenige von den Sithe getötet. Sie töten ihn aus einer halben Meile Entfernung mit ihren langen Hornbögen. Und dann lassen sie die Leiche an Ort und Stelle liegen und verwesen. Wenn eine Krähe es auch nur wagt, darauf zu landen, töten sie auch die Krähe.«
Der Chronist räusperte sich leise und meldete sich zu Wort. »Wenn das stimmt«, sagte er, »wieso sucht dann überhaupt jemand den Cthaeh auf?«
Einen Moment lang wirkte es, als würde Bast den Chronisten gleich zusammenstauchen, doch stattdessen seufzte er bitter. »Gerechterweise sollte man erwähnen, dass die Meinigen nicht gerade für ihre klugen Entscheidungen berühmt sind«, sagte er. »Bei den Fae weiß zwar jedes Kind über das wahre Wesen des Cthaeh Bescheid, aber dennoch kommt es immer wieder mal vor, dass ihn jemand unbedingt aufsuchen will. Die Leute gehen zu ihm, weil sie sich Antworten erhoffen oder einen Blick in die Zukunft werfen wollen. Oder sie hoffen, dort eine Blume zu bekommen.«
»Eine Blume?«, fragte Kvothe.
Bast sah ihn erneut entgeistert an. »Die Rhinna?«, sagte er, und als sich auf dem Gesicht des Wirts keinerlei Verständnis abzeichnete, schüttelte er konsterniert den Kopf. »Diese Blume ist ein Allheilmittel, Reshi. Sie kuriert jede Krankheit, ist ein universelles Gegengift und heilt jede Verletzung.«
Kvothe hob die Augenbrauen, sagte »Ah« und blickte auf seine Hände hinab, die gefaltet auf dem Tisch lagen. »Dann verstehe ich, dass sich die Leute davon angezogen fühlen, obwohl sie es eigentlich besser wissen.«
Dann blickte er wieder auf. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was so schlimm daran sein soll«, sagte er mit entschuldigender Miene. »Ich habe wahre Ungeheuer gesehen, Bast. Dagegen war der Cthaeh gar nichts.«
»Es war nicht das richtige Wort, das ich da gebraucht habe, Reshi«, räumte Bast ein. »Aber mir will einfach kein besseres dafür einfallen. Wenn es ein Wort für etwas gäbe, das ebenso giftig wie bösartig und verderblich ist, würde ich es gebrauchen.«
Bast atmete tief durch und beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Reshi, der Cthaeh kann in die Zukunft sehen. Und das nicht nur auf vage, orakelhafte Weise. Nein, er sieht die gesamte Zukunft. Klar und deutlich. Alles, was vom gegenwärtigen Moment an passieren könnte, in unendlich vielen Verzweigungen.«
Kvothe hob eine Augenbraue. »Das kann er tatsächlich?«
»Ja, das kann er tatsächlich«, erwiderte Bast in ernstem Ton. »Und er ist abgrundtief böse. Meist ist das kein Problem, denn er kann den Baum nicht verlassen. Wenn aber jemand zu ihm kommt …«
Kvothe nickte gedankenverloren vor sich hin. »Wenn er die Zukunft ganz genau kennt«, sagte er langsam, »weiß er ja auch, wie jemand auf das, was er ihm sagt, reagieren wird.«
Bast nickte. »Und er ist, wie gesagt, bösartig.«
Kvothe fuhr nachdenklich fort: »Das heißt: Jemand, der vom Cthaeh beeinflusst wurde, gleicht einem in die Zukunft abgeschossenen Pfeil.«
»Ein Pfeil trifft nur eine einzelne Person«, sagte Bast, und seine dunklen Augen blickten gequält und hoffnungslos. »Jemand, der vom Cthaeh beeinflusst wurde, gleicht eher einem Seuchenschiff, das auf einen Hafen zuhält.« Bast deutete auf das halb beschriebene Blatt, das der Chronist nun auf dem Schoß hielt. »Wenn die Sithe wüssten, dass so etwas existiert, würden sie keine Mühe scheuen, es zu vernichten. Sie würden uns töten, weil wir erfahren haben, was der Cthaeh gesagt hat.«
»Weil alles, was den Einfluss des Cthaeh von diesem Baum fortträgt …«, sagte Kvothe und sah auf seine Hände. Er saß einen Moment lang schweigend da und nickte nachdenklich vor sich hin. »Ein junger Mann, der sein Glück machen will, geht zu dem Cthaeh und kehrt von dort mit einer Blume wieder. Die Tochter des Königs ist todkrank, und er bringt ihr die Blume und heilt sie damit. Die beiden verlieben sich ineinander, obwohl sie dem Prinzen eines Nachbarlands versprochen ist …«
Bast starrte Kvothe an.
»Die beiden wagen bei Nacht und Nebel einen Fluchtversuch«, fuhr Kvothe fort. »Doch der junge Mann stürzt vom Dach, und die Flucht misslingt. Die Prinzessin wird gegen ihren Willen verheiratet, und in der Hochzeitsnacht ersticht sie den Prinzen des Nachbarlands. Ein Bürgerkrieg bricht aus. Felder werden niedergebrannt und versalzen. Hungersnöte … Seuchen …«
»Das ist die Geschichte des Fastingsway-Kriegs«, sagte Bast leise.
Kvothe nickte. »Es ist eine der Geschichten, die Felurian mir erzählt hat. Das mit der Blume hatte ich bisher nicht verstanden. Sie hat den Cthaeh nie erwähnt.«
»Kein Wunder, Reshi. Das bringt nämlich Unheil.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Unheil ist nicht das richtige Wort. Das wäre, als würde man jemandem Gift ins Ohr speien. Das macht man einfach nicht.«
Der Chronist hatte die Fassung weitgehend wiedergefunden und rutschte mit seinem Stuhl an den Tisch zurück, wobei er das Blatt Papier weiterhin in sicherem Abstand hielt. Er betrachtete stirnrunzelnd die beschädigte Tischplatte, die mit Bier- und Tintenflecken übersät war. »Dieses Wesen scheint ja einen ziemlichen Ruf zu genießen«, sagte er. »Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass es tatsächlich so gefährlich ist …«
Bast sah den Chronisten ungläubig an. »Eisen und Galle«, fluchte er, wobei seine Stimme aber ganz ruhig blieb. »Haltet Ihr mich für ein kleines Kind? Glaubt Ihr, ich könnte eine Lagerfeuergeschichte nicht von der Wahrheit unterscheiden?«
Der Chronist machte eine beschwichtigende Handbewegung. »So habe ich das nicht gemeint …«
Ohne den Blick von dem Chronisten abzuwenden, legte Bast seine blutige Handfläche auf den Tisch. Das Holz ächzte, und die zerbrochenen Leisten schnappten krachend wieder ineinander. Bast hob die Hand und schlug noch einmal auf die Tischplatte, und die dunklen Rinnsale aus Tinte und Bier zuckten und verwandelten sich in eine pechschwarze Krähe, die sich zum Flug erhob und eine Runde durch den Schankraum drehte. Bast fing den Vogel mit beiden Händen, riss ihn scheinbar achtlos entzwei und warf die beiden Hälften in die Luft empor, wo sie in blutrote Flammen aufgingen.
Das alles geschah so schnell wie ein Atemzug. »Alles, was Ihr über die Fae wisst, passt in einen Fingerhut«, sagte Bast in sachlichem Tonfall und sah den Chronisten ausdruckslos an. »Wie könnt Ihr es wagen, an meinen Worten zu zweifeln? Ihr habt doch überhaupt keine Ahnung, wer ich bin.«
Der Chronist saß reglos da, wandte den Blick aber nicht ab.
»Ich schwöre es bei meiner Zunge und meinen Zähnen«, sagte Bast mit Entschiedenheit. »Ich schwöre es bei den steinernen Türen. Ich sage es euch dreitausend Mal: Weder in meiner noch in Eurer Welt gibt es etwas Gefährlicheres als den Cthaeh.«
»Das ist gar nicht nötig, Bast«, sagte Kvothe in sanftem Ton. »Ich glaube dir auch so.«
Bast sah zu Kvothe hinüber und sank jämmerlich auf seinem Stuhl zusammen. »Ich wünschte, du tätest es nicht, Reshi.«
Kvothe lächelte schief. »Wenn jemand also dem Cthaeh begegnet ist, sind alle Entscheidungen, die er anschließend trifft, per se falsch.«
Bast schüttelte den Kopf, sein Gesicht blass und abgespannt. »Nicht falsch, Reshi – katastrophal. Iax hat mit dem Cthaeh gesprochen, bevor er den Mond stahl, und das hat dann den ganzen Schöpfungskrieg ausgelöst. Lanre sprach mit dem Cthaeh, bevor er den Verrat von Myr Tariniel beging. Die Erschaffung der Namenlosen. Die Scaendyne. Das alles lässt sich auf den Cthaeh zurückführen.«
Kvothe blickte ausdruckslos. »Das versetzt mich in interessante Gesellschaft, nicht wahr?«, bemerkte er trocken.
»Mehr als das, Reshi«, sagte Bast. »Wenn bei unseren Theaterstücken der Baum des Cthaeh im Hintergrund zu sehen ist, weiß man, dass es sich um eine schlimme Tragödie handelt. Das macht man, um das Publikum einzustimmen. Dann wissen sie, dass das Stück ein schreckliches Ende nehmen wird.«
Kvothe sah Bast lange an. »Ach, Bast«, sagte er leise zu seinem Schüler, und sein Lächeln war liebevoll und traurig. »Ich weiß doch, was für eine Geschichte ich hier erzähle. Und eine Komödie ist es nicht.«
Bast erwiderte seinen Blick mit leeren, hoffnungslosen Augen. »Aber Reshi …« Sein Mund bewegte sich weiter, er versuchte Worte zu finden, aber es gelang ihm nicht.
Der rothaarige Wirt wies in den leeren Schankraum. »Das hier ist das Ende der Geschichte, Bast. Das ist uns doch allen klar.« Kvothes Stimme klang so sachlich und beiläufig, als spräche er über das gestrige Wetter. »Ich habe ein interessantes Leben geführt, und sich nun in Erinnerungen daran zu ergehen hat etwas Köstliches. Aber …«
Kvothe atmete tief durch. »… aber das hier ist kein kühnes Liebesabenteuer. Es ist kein Märchen, in dem die Toten wiederkehren. Es ist kein mitreißendes Epos, das dazu bestimmt wäre, das Blut in Wallung zu bringen. Nein. Wir wissen doch alle, was für eine Art von Geschichte das hier ist.«
Einen Moment lang schien es, als würde er noch weiter sprechen, doch stattdessen ließ er den Blick ziellos durch den Schankraum schweifen. Sein Gesichtsausdruck war gelassen, ohne eine Spur Bitterkeit oder Wut.
Bast warf dem Chronisten einen Blick zu, doch diesmal loderte kein Feuer darin. Kein Zorn, kein Befehl. Vielmehr blickte Bast verzweifelt, flehend.
»Solange Ihr noch hier seid, ist es noch nicht vorbei«, sagte der Chronist. »Und solange Ihr noch lebt, ist es keine Tragödie.«
Bast nickte eifrig und sah wieder zu Kvothe hinüber.
Der blickte sie beide einen Moment lang an, lächelte dann und lachte leise in sich hinein. »Ach«, sagte er liebevoll. »Ihr seid beide noch so jung.«