Schönheit und Ast

In den Ortschaften, durch die wir kamen, hielten wir nur an, um Proviant und Wasser aufzufüllen. Auch von der Landschaft bekam ich nicht viel mit, so sehr war ich mit Ketan, Lethani und der fremden Sprache beschäftigt.

Wir erreichten die ersten, felsigen Ausläufer des Gebirges, und die Straße wurde schmaler und führte im Zickzack an tiefeingeschnittenen Schluchten, Steilhängen und den Trümmern zerborstener Felsen vorbei. Auch das Klima war hier anders, und es wurde unerwartet kühl für den Sommer.

Wir schafften die Reise in fünfzehn Tagen. In dieser Zeit legten wir meiner Schätzung nach fast dreihundert Meilen zurück.

Haert war das erste Dorf der Adem, das ich kennenlernte, und für mein unerfahrenes Auge sah es überhaupt nicht wie ein Dorf aus. Es gab keine Hauptstraße, die von Häusern und Läden gesäumt gewesen wäre. Die Häuser, die ich sah, lagen weit auseinander, waren seltsam gebaut und so sehr an ihre Umgebung angepasst, als wollten sie sich verbergen.

Ich wusste damals noch nicht, dass hier häufig die heftigen Stürme tobten, von denen das Gebirge seinen Namen hatte. Die plötzlich umschlagenden Böen hätten alle mehrstöckigen, rechteckigen Holzhäuser, wie ich sie aus dem Tiefland kannte, zerstört.

Die Adem bauten ihre Häuser deshalb oft an windgeschützten Bergflanken oder Felswänden, an denen Unwetter ihnen nichts anhaben konnten. Einige befanden sich sogar unter der Erde, andere waren in den Fels gehauen. Manche sah man erst, wenn man direkt davor stand.

Die einzige Ausnahme war eine etwas entfernt von der Straße gelegene Gruppe niedriger Steinbauten.

Vor dem größten hielten wir. Tempi sah mich an und zupfte nervös an den Lederriemen, mit denen sein roter Kittel an den Ärmeln umwickelt war. »Ich muss gehen und Shehyn Bericht erstatten. Das dauert vielleicht einige Zeit.« Sorge und Bedauern. »Du musst hier warten. Vielleicht lange.« Seine Körpersprache erzählte mir mehr als seine Worte. Ich kann dich nicht mit hinein nehmen, weil du ein Barbar bist.

»Ich warte hier«, versicherte ich ihm.

Er nickte und betrat das Gebäude. Bevor er die Tür hinter sich schloss, warf er mir einen letzten Blick zu.

Ich sah mich um. Verschiedene Dorfbewohner gingen stumm ihrer Arbeit nach. Eine Frau trug einen Korb, ein Junge führte eine Ziege an einem Strick. Die Häuser bestanden aus dem gleichen groben Stein wie die felsige Landschaft und verschmolzen mit ihrer Umgebung. Der Himmel war bedeckt und bildete einen weiteren Grauton.

Und überall wehte der Wind, pfiff um die Ecken und drückte Muster ins Gras. Ich überlegte kurz, ob ich meinen Schattenmantel herausholen sollte, tat es dann aber doch nicht. Die Luft war hier oben dünner und kälter, aber es war trotzdem sommerlich warm.

Es war eigenartig friedlich hier, ohne den Lärm und Gestank größerer Ortschaften. Kein Hufgeklapper war zu hören, kein Straßenverkäufer, der lauthals seine Waren feilbot. Ich konnte mir vorstellen, dass jemand wie Tempi, der hier aufgewachsen war, die Stille in sich aufsog, bis er voll davon war, und sie dann mitnahm, wenn er fortging.

Da es sonst kaum etwas zu sehen gab, betrachtete ich das mir nächste Gebäude genauer. Es war aus unregelmäßigen Steinen zusammengesetzt wie ein Puzzle. Zu meiner Verblüffung fehlte dazwischen der Mörtel. Ich klopfte mit dem Knöchel dagegen und überlegte kurz, ob es sich womöglich um einen einzigen Stein handelte, den man so zugehauen hatte, dass er wie viele ineinandergepasste Steine aussah.

»Wie findest du unsere Mauern?«, hörte ich hinter mir eine Stimme auf Ademisch fragen.

Ich drehte mich um. Vor mir stand eine alte Frau mit den typischen hellgrauen Augen der Adem. Ihr Gesicht war unbewegt, es hatte aber einen freundlichen, mütterlichen Ausdruck. Ihr Kopf war mit einer gelben Wollmütze bedeckt, die sie sich über die Ohren gezogen hatte. Durch die groben Maschen sah man ihr blondes, von weißen Strähnen durchzogenes Haar. Nachdem ich so lange mit Tempi zusammen gewesen war, mutete es mich seltsam an, einen Adem zu sehen, der weder das enganliegende, rote Söldnergewand noch ein Schwert trug. Stattdessen war die Frau mit einem losen weißen Hemd und einer Leinenhose bekleidet.

»Unsere Mauern faszinieren dich?«, fuhr sie fort und machte die Gesten für Belustigung und Neugier. »Was hältst du von ihnen?«

»Ich finde sie schön«, antwortete ich auf Ademisch und gab acht, dass ich ihren Blick nur kurz erwiderte.

Sie vollführte eine mir unbekannte Geste. »Schön?«

Ich zuckte ganz leicht mit den Schultern. »Auch einfache, nützliche Dinge können schön sein.«

»Vielleicht verstehst du das Wort falsch«, erwiderte sie mit einer entschuldigenden Handbewegung. »Eine Blume oder eine Frau oder ein Edelstein ist schön. Vielleicht wolltest du ›nützlich‹ sagen. Eine Mauer ist nützlich.«

»Nützlich, aber auch schön.«

»Vielleicht wird etwas schön, weil es genutzt wird.«

»Vielleicht wird etwas entsprechend seiner Schönheit genutzt«, konterte ich. Ob man sich bei den Adem mit solchem Geplauder die Zeit vertrieb? Jedenfalls war es mir lieber als der geistlose Klatsch am Hof des Maer.

»Und meine Mütze?«, fragte sie und fasste mit der Hand danach. »Ist sie auch schön, weil sie nützlich ist?«

Sie war aus einer groben, selbstgesponnenen und leuchtend maisgelb gefärbten Wolle gestrickt. An der einen Seite hing sie etwas tiefer herunter, und die Maschen waren verschieden groß. »Sie sieht sehr warm aus«, sagte ich vorsichtig.

Die Frau machte die Geste für Belustigung, und in ihre Augen trat ein kaum merkliches Funkeln. »Das ist sie. Und für mich ist sie auch schön, weil meine Enkelin sie für mich gestrickt hat.«

»Dann ist sie auch schön.« Zustimmung.

Die Frau lächelte mit der Hand. Sie bewegte sie ein wenig anders als Tempi, und ich beschloss, die Geste als liebevolles, mütterliches Lächeln zu deuten. Ohne eine Miene zu verziehen, machte ich meinerseits die Geste für Lächeln, ein möglichst herzliches und höfliches Lächeln.

»Du sprichst sehr gut für einen Barbaren«, sagte sie und fasste mich freundlich an den Armen. »Wir haben hier nur selten Besuch und schon gar nicht so höflichen. Komm mit und ich zeige dir, was schön ist, und du sagst mir, was für ein Nutzen damit verbunden sein könnte.«

Ich senkte den Blick. Bedauern. »Ich kann nicht mitkommen. Ich warte auf jemanden.«

»Auf jemanden da drinnen?«

Ich nickte.

»Wenn er drinnen ist, wirst du wahrscheinlich einige Zeit warten. Er freut sich bestimmt, wenn du so lange mit mir kommst. Ich bin vielleicht unterhaltsamer als eine Mauer.« Die alte Frau hob den Arm und winkte einen Jungen herbei. Der Junge kam und sah sie nach einem kurzen Blick auf meine Haare erwartungsvoll an.

Sie machte verschiedene Gesten, von denen ich nur die für leise verstand. »Sag denen drinnen, dass ich mit diesem Mann spazieren gehe, damit er nicht allein im Wind stehen muss. Ich bringe ihn bald wieder zurück.«

Sie klopfte auf meinen Lautenkasten und dann auf meinen Reisesack und das Schwert an meiner Hüfte. »Gib das dem Jungen, er bringt es für dich nach drinnen.«

Ohne meine Antwort abzuwarten zog sie mir den Reisesack von der Schulter, und mir fiel nicht ein, wie ich ihr Angebot auf taktvolle Weise hätte ablehnen können, ohne schrecklich unhöflich zu wirken. Jede Kultur ist anders, doch eines gilt immer: Der sicherste Weg, einen Gastgeber zu kränken, ist, seine Gastfreundschaft zurückzuweisen.

Der Junge entfernte sich mit meinem Gepäck, und die Frau nahm mich am Arm und führte mich weg. Ich fügte mich, dankbar für ihre Gesellschaft. Wir gingen stumm, bis sich vor uns überraschend ein tief eingeschnittenes Tal öffnete. Es war grün und windgeschützt, und in seinem Grund floss ein Bach.

»Was sagst du dazu?«, fragte sie und zeigte auf das Tal.

»Es ist ganz ähnlich wie Ademre.«

Sie tätschelte mir liebevoll den Arm. »Du hast die Fähigkeit, etwas zu sagen, ohne es zu sagen. Das ist unter deinesgleichen sehr selten.« Sie schickte sich an, einen schmalen, steinigen Pfad in das Tal hinunterzusteigen, und stützte sich dabei mit einer Hand auf meinen Arm. Der Pfad führte in Serpentinen an der Talflanke entlang. In einiger Entfernung sah ich einen Jungen mit einer Herde Schafe. Er winkte uns zu, blieb aber stumm.

Wir stiegen zum Talgrund hinunter, wo der Bach weiß schäumend durch ein steiniges Bett schoss. An verschiedenen Stellen hatten sich klare Teiche gebildet, in denen man Fische umherflitzen sah.

»Würdest du das schön nennen?«, fragte die Frau, nachdem wir den Bach eine Weile betrachtet hatten.

»Ja.«

»Warum?«

Unsicherheit. »Vielleicht liegt es an der Bewegung.«

»Die Mauer vorhin hat sich nicht bewegt, und du fandest sie trotzdem schön.« Frage.

»Steine bewegen sich eben nicht. Vielleicht heißt Schönheit, sich wesensgemäß zu bewegen.«

Die Frau nickte, als stelle meine Antwort sie zufrieden. Wir betrachteten weiter das Wasser.

»Hast du schon von dem Latantha gehört?«, fragte die Frau.

»Nein.« Bedauern. »Aber vielleicht kenne ich nur das Wort nicht.«

Die Frau wandte sich ab, und wir gingen weiter das Tal hinab, bis wir an eine breitere Stelle kamen, die an einen sorgfältig gepflegten Garten erinnerte. In der Mitte stand ein hoher Baum, wie ich noch nie einen gesehen hatte.

Wir blieben am Rand des Gartens stehen. »Das ist der Schwertbaum«, sagte die Frau und machte eine Geste, die ich nicht kannte. Sie streifte dabei mit den Handrücken an ihrer Wange entlang. »Der Latantha. Findest du ihn schön?«

Ich betrachtete den Baum. Neugier. »Ich würde ihn mir gern aus der Nähe ansehen.«

»Das ist nicht erlaubt.« Nachdruck.

Ich nickte und betrachtete den Baum aus der Ferne, so gut es ging. Er hatte mächtige, knorrige Äste wie eine Eiche, aber breite, flache Blätter, die in seltsamen Kreisen wirbelten, wenn ein Windstoß sie erfasste. »Ja«, sagte ich schließlich.

»Warum musstest du so lange nachdenken?«

»Ich habe überlegt, warum ich ihn schön finde.«

»Und?«

»Vielleicht, weil er sich seinem Wesen nach sowohl bewegt wie nicht bewegt. Obwohl ich nicht glaube, dass das der Grund ist.«

»Was dann?«

Ich betrachtete den Baum wieder längere Zeit. »Ich weiß es nicht. Was meint Ihr?«

»Er ist einfach da«, sagte die Frau. »Das genügt.«

Ich nickte und schämte mich ein wenig für meine komplizierten Antworten.

»Weißt du, was der Ketan ist?«, fragte die Frau zu meiner Überraschung.

Da ich inzwischen wusste, wie wichtig solche Dinge für die Adem sind, zögerte ich mit meiner Antwort. Andererseits wollte ich die Frau auch nicht anlügen. »Vielleicht.« Verzeihung.

Die Alte nickte. »Du bist vorsichtig.«

»Ja. Seid Ihr Shehyn?«

Sie nickte. »Wann kam dir dieser Verdacht?«

»Als Ihr mich nach dem Ketan fragtet. Und wann kam Euch der Verdacht, ich könnte mehr wissen, als ein Barbar wissen darf?«

»Als ich dich gehen sah.«

Eine Pause entstand.

»Warum tragt Ihr nicht Rot wie die anderen Krieger, Shehyn?«

Shehyn machte einige mir unbekannte Gesten. »Hat dein Lehrer dir gesagt, warum die Adem Rot tragen?«

»Ich habe nicht daran gedacht, ihn zu fragen«, antwortete ich. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, Tempi sei ein nachlässiger Lehrer gewesen.

»Dann frage ich dich jetzt.«

Ich überlegte. »Damit ihre Feinde es nicht merken, wenn sie bluten?«

Zustimmung. »Warum trage ich dann Weiß?«

Mir fiel nur eine Antwort ein. Ein Schauer überlief mich. »Weil Ihr nicht blutet.«

Shehyn nickte. »Einerseits. Aber auch, weil ein Gegner, wenn er mir eine Verletzung zufügt, mein Blut als seine gerechte Belohnung sehen soll.«

Ich verbarg meine innere Unruhe und bemühte mich, nach außen gefasst zu wirken wie die Adem. Nach einer angemessenen Pause fragte ich: »Und was wird jetzt aus Tempi?«

»Das ist noch nicht entschieden.« Shehyn machte eine fast gereizte Handbewegung. »Machst du dir um dich keine Sorgen?«

»Weniger als um Tempi.«

Die Blätter des Schwertbaums kreiselten im Wind. Sie zogen den Blick geradezu hypnotisch an.

»Wie weit bist du in deiner Ausbildung fortgeschritten?«, fragte Shehyn.

»Ich beschäftige mich seit einem Monat mit dem Ketan.«

Shehyn stellte sich mir gegenüber und hob die Hände. »Bist du bereit?«

Sie war einen halben Kopf kleiner als ich, dachte ich unwillkürlich, und hätte meine Großmutter sein können. Mit ihrer schiefen gelben Mütze sah sie nicht besonders furchterregend aus. »Vielleicht«, sagte ich und hob ebenfalls die Hände.

Shehyn kam langsam näher und machte die Messerhände. Ich parierte mit einem Regenfänger. Dann machte ich das Klettereisen und den Einwärtsschwung, kam aber nicht an Shehyn heran. Sie reagierte rasch und führte gleichzeitig einen Wendeatem und einen Vorwärtsschlag aus. Den Wendeatem konnte ich mit einem Wasserfächer aufhalten, gegen den Vorwärtsschlag kam ich zu spät. Shehyn berührte mich unterhalb des Brustkorbs und an der Schläfe, nur ganz leicht, wie man etwa jemandem einen Finger an die Lippen legt.

Egal, was ich versuchte, ich kam nicht gegen sie an. Ich vollführte einen Schleuderblitz, doch sie trat nur zur Seite und machte sich nicht einmal die Mühe, etwas darauf zu erwidern. Ein oder zwei Mal kam ich so nah an sie heran, dass ich den Stoff ihres weißen Kittels an meinen Händen spürte, aber mehr nicht. Ich kam mir vor, als versuchte ich, ein herunterhängendes Stück Schnur zu treffen.

Ich biss die Zähne zusammen und griff mit einer nahtlos ineinander übergehenden Schlagfolge von Weizendrescher, Mostpresse und Mutter am Bach an.

Ich war noch nie jemandem begegnet, der sich bewegte wie Shehyn. Es lag nicht daran, dass sie schnell gewesen wäre. Das war sie auch, aber es war nicht entscheidend. Sie bewegte sich mit vollendeter Sicherheit, machte nie zwei Schritte, wo einer ausreichte, nie eine größere Bewegung, wenn eine kleinere genügte. Sie zeigte eine geradezu märchenhafte Anmut und bewegte sich noch geschmeidiger und eleganter, als Felurian getanzt hatte.

In der Hoffnung, sie zu überrumpeln und mein Können zu beweisen, setzte ich alles auf eine Karte, griff sie mit der Tanzenden Jungfrau an, mit dem Spatzenfänger, den Fünfzehn Wölfen …

Shehyn konterte mit einem einzigen, vollkommenen Schritt.

»Warum weinst du?«, fragte sie, während sie einen Fallenden Reiher ausführte. »Schämst du dich? Hast du Angst?«

Ich blinzelte die Tränen aus meinen Augen. Meine Stimme war heiser vor Anstrengung und Erregung. »Ihr seid schön, Shehyn. Ihr vereint den Stein der Mauer, das Wasser des Bachs und die Bewegung des Baumes in Euch.«

Shehyn sah mich verblüfft an, und ich nutzte das Überraschungsmoment und packte sie fest an Schulter und Arm. Ich führte einen Aufwärtsdonner aus, doch statt umzufallen, stand Shehyn nur stocksteif und unbeweglich wie ein Stein da.

Fast abwesend machte sie sich mit einem Löwenbrecher von mir los und vollführte einen Weizendrescher. Ich flog zwei Meter durch die Luft und landete auf dem Boden.

Sofort sprang ich wieder auf, denn ich hatte mir nicht wehgetan. Das weiche Gras hatte meinen Sturz abgefedert. Außerdem hatte Tempi mir gezeigt, wie man fällt, ohne sich zu verletzen. Doch bevor ich erneut angreifen konnte, hob Shehyn die Hand.

»Tempi hat dich unterrichtet und nicht unterrichtet«, sagte sie mit unergründlicher Miene. Ich musste mich zwingen, den Blick von ihr abzuwenden. Es ist schwer, diese tiefverwurzelte Gewohnheit abzustellen. »Was schlecht ist und zugleich gut. Komm.« Sie wandte sich ab und ging in die Richtung des Baumes.

Er war größer, als ich gedacht hatte. Die Zweige schwangen in den heftigen Windböen aufgeregt hin und her.

Shehyn hob ein heruntergefallenes Blatt auf und reichte es mir. Es war breit und flach, so groß wie ein kleiner Teller und erstaunlich schwer. Ich spürte ein Stechen in der Hand und sah ein dünnes Rinnsal Blut an meinem Daumen hinunterlaufen.

Bei näherer Betrachtung des Blatts stellte sich heraus, dass es hart und sein Rand so scharf wie die Kante eines Grashalms war. Daher also der Name Schwertbaum. Ich blickte zu den kreiselnden Blättern hinauf. Wer dem Baum an einem windigen Tag zu nahe kam, wurde von ihm in Stücke geschnitten.

»Wenn du gegen diesen Baum kämpfen wolltest, was würdest du tun?«, fragte Shehyn. »Würdest du auf die Wurzel einhauen? Nein, sie ist zu dick. Auf das Blatt? Aber es bewegt sich zu schnell. Worauf dann?«

»Den Ast.«

»Den Ast.« Zustimmung. Shehyn sah mich an. »Das hat Tempi dir nicht beigebracht. Er hätte es dir auch nicht beibringen dürfen. Aber du hast dafür bezahlt.«

»Das verstehe ich nicht.«

Sie bedeutete mir mit einer Handbewegung, mit dem Ketan anzufangen. Ich nahm automatisch die Haltung des Spatzenfängers ein.

»Halt.« Ich erstarrte. »Wenn ich dich jetzt angreifen wollte, wo würde ich es tun? Hier, an der Wurzel?« Sie drückte gegen mein Bein, doch es bewegte sich nicht. »Hier am Blatt?« Sie drückte gegen meine erhobene Hand und konnte sie zwar bewegen, erreichte aber sonst nichts. »Oder hier am Ast.« Sie drückte sanft gegen meine Schulter, die sofort nachgab. »Und hier.« Sie drückte gegen meine Hüfte, worauf ich mich drehte. »Siehst du? Du musst den richtigen Ansatzpunkt für deine Kraft finden, sonst ist sie verschwendet. Kraft zu verschwenden widerspricht dem Geist des Lethani.«

»Ja, Shehyn.«

Sie hob die Hände und nahm wieder die Haltung des Fallenden Reihers ein, bei dessen Ausführung ich sie zuvor unterbrochen hatte. »Mach den Aufwärtsdonner. Wo ist meine Wurzel?«

Ich zeigte auf ihren fest auf dem Boden stehenden Fuß.

»Und mein Blatt?«

Ich zeigte auf ihre Hände.

»Nein. Das Blatt geht von hier bis da.« Sie zeigte auf ihren ganzen Arm und führte vor, wie sie mit den Händen, Ellbogen oder Schultern zuschlagen konnte. »Wo ist der Ast?«

Ich überlegte lange, dann klopfte ich auf ihr Knie.

Ich spürte ihr Erstaunen, obwohl sie keine Miene verzog. »Und wo noch?«

Ich klopfte auf die gegenüberliegende Achsel und dann die Schulter.

»Zeig es mir.«

Ich trat vor sie hin, stellte ein Bein gegen ihr Knie, vollführte die Bewegungen des Aufwärtsdonners und warf sie zur Seite. Zu meiner Überraschung brauchte ich dazu nur ganz wenig Kraft.

Doch statt durch die Luft zu fliegen und zu fallen hielt Shehyn sich an meinem Unterarm fest. Ein Ruck lief durch meinen Arm, und ich trat stolpernd einen Schritt zur Seite. Statt zu fallen nutzte Shehyn ihren Griff als Hebel und landete mit den Füßen voran. Anschließend machte sie einen einzigen, vollkommenen Schritt und hatte sich wieder gefangen.

Einen langen Augenblick sah sie mich nachdenklich an, dann wandte sie sich zum Gehen und bedeutete mir, ihr zu folgen.

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