Sturm und Fels

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich, was ich zu tun hatte. Meine einzige Alternative war die Schule. Ich musste mich beweisen. Und dazu musste ich so schnell wie möglich alles lernen, was Vashet mir beibringen konnte.

Ich stand also auf, als es draußen noch kaum dämmerte. Als Vashet aus ihrem kleinen Häuschen trat, wartete ich bereits. Ich war nicht gerade putzmunter, weil ich unruhig geschlafen und schlecht geträumt hatte, aber ich war bereit zu lernen.

Mir wird jetzt klar, dass ich Haert vielleicht ungenau beschrieben habe.

Es war natürlich keine Großstadt. Auch eine Stadt konnte man es beim besten Willen nicht nennen, in gewisser Hinsicht war es nicht einmal ein richtiger Ort.

Das ist nicht abschätzig gemeint. Ich bin den größten Teil meiner Kindheit mit einer Schauspieltruppe von einem Ort zum anderen gezogen. Die Hälfte solcher Ortschaften sind Dörfer, die um einen Straßenmarkt oder eine Lehmgrube entstanden sind oder an einem Flussufer, an dem sich ein Mühlrad dreht.

Einige sind wohlhabend und haben fruchtbare Äcker und ein mildes Klima. Oder sie verdienen prächtig an durchziehenden Händlern. Man sieht es ihnen an. Sie haben große, gepflegte Häuser und ihre Bewohner sind freundlich und freigiebig, die Kinder wohlgenährt und glücklich. Man kann dort teure Dinge wie Pfeffer, Zimt und Schokolade kaufen und im Wirtshaus gibt es Kaffee, guten Wein und Musik.

Daneben gibt es aber auch andere Orte mit dünnem, ausgelaugtem Boden, Orte, in denen die Mühle abgebrannt oder die Lehmgrube schon seit Jahren erschöpft ist. Dort sind die Häuser klein und baufällig, die Einwohner mager und misstrauisch, und Wohlstand bemisst sich in kleinen, anschaulichen Begriffen wie einem Klafter Holz, einem zweiten Schwein oder fünf Gläsern Brombeermarmelade.

Auf den ersten Blick schien Haert zu dieser zweiten Kategorie zu gehören. Es bestand nur aus kleinen, aus Bruchsteinen gemauerten Häusern und gelegentlich einem Stall mit einer Ziege.

In den meisten Gegenden des Commonwealth wie überhaupt in der zivilisierten Welt würde eine Familie in einem kleinen, kaum möblierten Häuschen als beklagenswert angesehen und nur einen Schritt von der Armut entfernt.

Bei den Adem dagegen waren die Häuser so geschickt und fest aus Steinen zusammengefügt, wie ich es selten gesehen hatte. Es gab nicht den kleinsten Spalt, durch den der Wind hätte eindringen können. Auch die Dächer waren dicht und das Leder der Türangeln war nicht gesprungen. Als Fenster dienten nicht etwa geölte Schafshäute oder einfach Löcher mit hölzernen Läden, sondern sorgfältig eingepasste Glasscheiben, die so dicht schlossen wie die Fenster einer Bankiersvilla.

Offene Feuerstellen sah ich in Haert überhaupt nicht. Damit ihr mich nicht falsch versteht: Feuerstellen sind natürlich viel besser, als zu Tode zu frieren. Aber die meisten dieser von den Bewohnern selbst gebauten Feuerstellen aus losen Feldsteinen oder Ascheziegeln sind schmutzig und bringen nichts. Sie füllen das Haus mit Ruß und die Lungen seiner Bewohner mit Rauch.

Stattdessen hatte bei den Adem jedes Haus einen eigenen Ofen von der Art, die fünfzig Kilo wiegt, ein eisernes Ungetüm, das man schüren kann, bis das Eisen vor Hitze glüht. Solche Öfen halten hundert Jahre und kosten mehr, als ein Bauer in einem ganzen Jahr mühseliger Arbeit verdient. Einige waren kleiner und dienten zum Heizen und Kochen, die meisten aber waren so groß, dass man mit ihnen auch backen konnte. Einen solchen großen Ofen sah ich einmal sogar in einem kleinen Häuschen mit nur drei Zimmern.

Die Teppiche auf den Böden waren meist einfach, aber aus dicker, weicher Wolle in satten Farben gefertigt. Darunter kam nicht Erde, sondern ein Dielenboden. Statt flackernder Talgkerzen oder Fackeln gab es Kerzen aus Bienenwachs oder Lampen, die ein sauberes, weißes Öl verbrannten. Einmal sah ich durch ein Fenster in der Ferne sogar den stetigen roten Schein einer Sympathielampe.

Bei ihrem Anblick begriff ich vollends, dass ich es hier nicht mit einem Völkchen zu tun hatte, das in der kargen Bergwelt mühsam sein Leben fristete. Diese Menschen lebten nicht von der Hand in den Mund. Sie aßen nicht täglich Kohlsuppe und mussten sich auch nicht vor dem Winter fürchten. Sie lebten in einem behaglichen und zweckmäßigen, wenn auch unauffälligen Wohlstand.

Eigentlich war es noch besser. Zwar gab es in Haert keine prunkvollen Säle mit Statuen, und niemand trug prächtige Kleider oder hatte Diener, doch war jedes Haus für sich ein kleines Herrenhaus.

»Was dachtest du denn?« Vashet sah mich lachend an. »Dass einige von uns, sobald sie das Rot des Söldners tragen, wegziehen und ein Leben in Saus und Braus führen, während ihre Familien ihr eigenes Badewasser trinken müssen und an Skorbut sterben?«

»Ich habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht«, gestand ich und sah mich um. Vashet hatte soeben angefangen, mich im Schwertkampf zu unterrichten. Doch in den vergangenen zwei Stunden hatte sie mir nur die verschiedenen Arten gezeigt, es zu halten. Als sei es ein Säugling und nicht ein Stück Stahl.

Jetzt, wo ich wusste, wonach ich Ausschau halten musste, entdeckte ich Dutzende von Häusern, die geschickt in die Landschaft eingepasst waren. Einige schwere Holztüren waren direkt in den Felsen eingelassen. Andere Häuser sahen aus wie Steinhaufen. Wieder andere hatten mit Gras bewachsene Dächer und man konnte sie nur an den emporragenden Ofenrohren erkennen. Auf einem solchen Dach graste eine dicke Ziege. Jedes Mal, wenn sie den Hals streckte, um ein Maul voll Gras abzurupfen, schwang ihr Euter hin und her.

»Sieh dir die Gegend an.« Vashet drehte sich langsam um sich selbst und betrachtete die Landschaft. »Der Boden ist zu karg für Äcker und zu steinig für Pferde. Die Sommer sind zu nass für Weizen und zu rauh für Obst. In manchen Gebirgen findet man Eisen, Kohle oder Gold, aber nicht hier. Im Winter liegt der Schnee mannshoch, im Frühjahr reißt dich der Wind um.«

Vashet wandte sich mir zu. »Dieses Land gehört uns, weil es sonst niemand will.« Sie zuckte mit den Schultern. »Oder genauer, weil niemand es wollte, haben wir uns hier niedergelassen.«

Sie hängte sich das Schwert über die Schulter und sah mich nachdenklich an. »Setz dich und hör zu. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die sich vor langer Zeit zugetragen hat.«

Ich setzte mich ins Gras und Vashet nahm auf einem Stein Platz. »Vor langer Zeit«, begann sie, »wurden die Adem aus ihrem angestammten Land vertrieben, wir wissen nicht mehr, warum. Jedenfalls nahm uns jemand unser Land weg oder verwüstete es, und wir mussten Hals über Kopf fliehen. Lange zogen wir durch die Lande, ein Volk von Bettlern. Sobald wir uns an einem Ort niederließen und unsere Herden weideten, vertrieben unsere neuen Nachbarn uns wieder.

Wir waren damals ein wildes, kriegerisches Volk, sonst gäbe es uns heute nicht mehr. Doch waren wir unseren Gegnern zahlenmäßig unterlegen und mussten deshalb immer wieder weiterziehen. Endlich gelangten wir in dieses karge, windige Land, das niemand sonst wollte. Hier blieben wir und schlugen Wurzeln.«

Vashet ließ den Blick über die Umgebung schweifen. »Doch konnte das Land uns wenig mehr geben als eine Weide für unsere Herden, Steine und den ewigen Wind. Da wir den Wind nicht verkaufen konnten, verkauften wir unsere kriegerischen Fähigkeiten, und nach und nach wurden wir zu dem, was wir heute sind, zu gefährlichen und stolzen Kriegern, beharrlich wie der Wind und stark wie der Fels.«

Ich wartete, bis ich sicher war, dass Vashet zu Ende gesprochen hatte. »Auch mein Volk zieht von einem Ort zum anderen«, sagte ich dann. »Wir sind unstete Wanderer und unsere Heimat ist überall und nirgendwo.«

Vashet zuckte mit den Schultern und lächelte. »Ich habe dir wohlgemerkt nur eine Geschichte erzählt, eine sehr alte. Mach daraus, was du willst.«

»Ich liebe Geschichten«, sagte ich.

»Eine Geschichte gleicht einer Nuss«, meinte Vashet. »Nur ein Narr schluckt sie im Ganzen und erstickt daran. Nur ein Narr wirft sie weg, weil er sie für wertlos hält.« Sie lächelte. »Die weise Frau dagegen findet heraus, wie man die Schale knacken und den Kern essen kann.«

Ich stand auf, ging zu Vashet und küsste sie auf Hände, Stirn und Mund. »Vashet«, sagte ich, »ich bin froh, dass Shehyn mir dich als Lehrerin gegeben hat.«

»Du dummer Junge.« Vashet schlug den Blick nieder, doch sah ich, dass sie ein wenig errötete. »Komm jetzt, wir müssen gehen. Du willst doch sicher nicht die Gelegenheit verpassen, Shehyn kämpfen zu sehen.«

Sie führte mich zu einer Wiese, deren dichtes Gras von Schafen und Ziegen bis knapp über dem Boden abgeweidet war. Dort warteten bereits andere Adem. Einige hatten kleine Hocker mitgebracht oder sich Baumstämme herangerollt, um darauf wie auf Bänken zu sitzen. Vashet setzte sich einfach auf den Boden und ich folgte ihrem Beispiel.

Nach und nach versammelten sich weitere Zuschauer. Es mochten insgesamt nur etwa dreißig sein, doch hatte ich, vom Speisesaal abgesehen, noch nie so viele Adem an einem Ort erlebt. Sie unterhielten sich in ständig wechselnden Gruppen, meist zu zweit oder dritt, seltener auch für kurze Zeit zu mehreren.

Obwohl also in meiner unmittelbaren Umgebung ein Dutzend Gespräche geführt wurden, hörte ich nur ein Murmeln. Die Sprecher standen so nahe beieinander, dass sie sich berühren konnten, und der Wind im Gras übertönte ihre Stimmen.

Doch konnte ich von meinem Platz aus den Ton der jeweiligen Gespräche beurteilen. Zwei Monate zuvor hätte ich eine solche Versammlung noch als gespenstisch empfunden, als Zusammenkunft ständig zappelnder, leise flüsternder Menschen mit leeren Gesichtern. Jetzt dagegen sah ich etwa, dass es sich bei zwei Frauen um eine Lehrerin und ihre Schülerin handelte. Es ging aus dem Abstand der beiden voneinander hervor und den ehrerbietigen Gebärden der jüngeren Frau. Die drei in Rot gekleideten Männer daneben waren Freunde, die miteinander scherzten und sich dabei mit den Ellbogen anstießen. Ein weiterer Mann und eine Frau stritten sich. Die Frau war wütend, der Mann versuchte etwas zu erklären.

Ich konnte gar nicht mehr verstehen, wie ich diese Menschen je für unruhig und zappelig hatte halten können. Jede Bewegung diente einem Zweck, jede neue Fußstellung zeigte eine andere innere Haltung. Jede Gebärde sprach Bände.

Vashet und ich setzten unser Gespräch leise auf Aturisch fort. Alle Schulen verfügten über Konten bei kealdischen Geldleihern, erklärte Vashet. Ademische Söldner könnten überall, wo die kealdische Währung verwendet wurde, also praktisch in der ganzen zivilisierten Welt, den Schulanteil von ihrem Lohn darauf einzahlen. Das Geld wurde dem entsprechenden Konto gutgeschrieben und die Schule konnte darüber verfügen.

»Wieviel gibt ein Söldner denn an seine Schule ab?«, fragte ich neugierig.

»Achtzig Prozent.«

»Achtzig Prozent?« Ich hielt acht Finger hoch, um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstanden hatte.

Vashet nickte. »So ist es festgelegt, obwohl viele stolz darauf sind, mehr zu geben. Auch du müsstest das abgeben, wenn du je das rote Söldnerkleid tragen würdest, was du allerdings wahrscheinlich nie tun wirst.«

Auf meine erstaunte Miene hin fügte sie hinzu: »Es ist nicht so viel, wenn man es recht bedenkt. Die Schule ernährt und kleidet dich über Jahre und versorgt dich mit einem Platz zum Schlafen. Du bekommst von ihr dein Schwert und deine Ausbildung. Danach unterstützt der Söldner die Schule. Die Schule wiederum unterstützt das Dorf, und das Dorf zieht die Kinder auf, die dann später hoffentlich wieder Söldner werden.« Vashet bildete einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger. »Und so gedeihen alle Adem.«

Sie sah mich ernst an. »Vielleicht kannst du jetzt besser ermessen, was du uns genommen hast: nicht nur ein Geheimnis, sondern das wichtigste Gut, das wir im Ausland verkaufen können. Du hast den Schlüssel zum Überleben dieses Dorfes gestohlen.«

Also deshalb war Carceret so wütend auf mich, dachte ich ernüchtert.

Aus dem Augenwinkel sah ich unter den Zuschauern Shehyns weißes Hemd und ihre gelbe Wollmütze. Das Murmeln erstarb vollends und die Zuschauer bildeten einen großen Kreis.

Offenbar sollte an diesem Tag nicht nur Shehyn kämpfen. Den Anfang machten zwei Jungen, die einige Jahre jünger waren als ich und noch kein Rot trugen. Sie umkreisten einander eine Weile wachsam und fielen dann mit einem Hagel von Schlägen übereinander her.

Sie bewegten sich so schnell, dass ich ihnen nicht mit dem Auge folgen konnte. Ich meinte allerdings ein Dutzend nur halb ausgeführte Elemente des Ketan zu erkennen. Der Kampf war zu Ende, als der eine Junge den anderen mit dem Schlafenden Bären an Handgelenk und Schulter packte. Erst als der Junge seinem Gegner den Arm auf den Rücken drehte und ihn nach unten drückte, erkannte ich, dass Tempi denselben Griff damals bei der Wirtshausschlägerei in Crosson angewandt hatte.

Die Jungen gingen auseinander und zwei Söldner in roten Kitteln, vermutlich ihre Lehrer, traten zu ihnen und redeten auf sie ein.

Vashet beugte sich mit dem Kopf zu mir. »Wie fandest du die beiden?«

»Sie waren sehr schnell«, sagte ich.

Sie sah mich an. »Aber?«

»Aber sie haben auch viele Fehler gemacht.« Ich dämpfte meine Stimme. »Nicht gleich am Anfang, aber dann.« Ich zeigte auf den einen Jungen. »Er hatte die Füße zu nah beieinander. Und der andere beugte sich zu weit vor und stand ebenfalls nicht sicher. Deshalb konnte sein Gegner ihn auch mit dem Schlafenden Bären überwältigen.«

Vashet nickte und schien erfreut. »Sie haben wie junge Hunde gekämpft, denn sie sind selber noch jung und platzen vor Tatendrang. Frauen stellen sich geschickter an. Unter anderem deshalb kämpfen wir besser.«

Ich sah sie erstaunt an. »Frauen kämpfen besser?«, fragte ich vorsichtig, denn ich wollte sie nicht kränken.

»Im Allgemeinen ja«, antwortete sie sachlich. »Es gibt natürlich Ausnahmen, aber insgesamt kämpfen Frauen besser.«

»Aber Männer sind stärker«, erwiderte ich. »Und größer. Sie haben längere Arme.«

Vashet musterte mich belustigt. »Bist du denn stärker und größer als ich?«

Ich lachte. »Nein. Aber du musst zugeben, dass Männer insgesamt größer und stärker sind.«

Vashet zuckte mit den Schultern. »Das fiele ins Gewicht, wenn Kämpfen dasselbe wäre wie Holzhacken oder Heuen. Genauso könntest du sagen, ein Schwert sei besser, je länger und schwerer es ist. Alles Unsinn. Es mag für Raufbolde und Schläger gelten. Für den Söldner ist entscheidend zu wissen, wann er kämpfen muss. Die Männer sind oft so voller Wut, dass sie es nicht spüren. Frauen sind einsichtiger.«

Ich wollte etwas sagen, aber dann dachte ich an Dedan und schwieg.

Ein Schatten fiel über uns und ich blickte auf. In höflicher Entfernung stand ein hochgewachsener Mann im roten Söldnergewand. Er hielt die Hand an den Griff seines Schwertes. Einladung.

Vashet antwortete mit den Gesten für Bedauern und Ablehnung.

Der Mann entfernte sich und ich sah ihm nach. »Was werden die anderen denken, wenn du nicht kämpfen willst?«

Vashet schnaubte verächtlich. »Der wollte nicht wirklich kämpfen. Damit hätte er sich lächerlich gemacht und meine Zeit vergeudet. Nein, er wollte nur zeigen, dass er sich traut, mich zum Kampf aufzufordern.« Sie seufzte und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Wenn die Männer so angeben, entfernen sie sich vom Lethani.«

Als Nächstes kämpften zwei Söldner gegeneinander. Der Unterschied war deutlich. Jede Bewegung war sauber und zielgerichtet. Die beiden Jungen waren wie flatternde Spatzen übereinander hergefallen, die Männer und auch die darauffolgenden Paare kämpften mit geradezu tänzerischer Eleganz.

Die meisten Kämpfe wurden mit den Händen ausgetragen. Sie endeten, wenn einer der Kontrahenten aufgab oder von einem Schlag betäubt zu Boden ging.

In einem Kampf schlug ein Mann seiner Gegnerin die Nase blutig. Der Kampf wurde sofort abgebrochen. Vashet verdrehte die Augen, ohne dass ich wusste ob wegen der Frau, die sich auf die Nase hatte schlagen lassen, oder wegen des Mannes, weil er die Frau verletzt hatte.

Einige Kämpfe wurden auch mit Holzschwertern ausgetragen. Sie waren schnell zu Ende, da bereits eine leichte Berührung des Gegners mit dem Schwert als Sieg galt.

Zwei Frauen schlugen klackend aufeinander ein und berührten einander genau im selben Moment. »Wer hat diesmal gewonnen?«, fragte ich.

»Niemand«, sagte Vashet.

»Warum kämpfen sie nicht noch einmal, wenn der Kampf unentschieden ausgegangen ist?«

Vashet sah mich stirnrunzelnd an. »Er ist nicht unentschieden ausgegangen. Drenn wäre an ihrem Lungendurchstich in wenigen Minuten gestorben, Lasrel erst in einigen Tagen, wenn ihre Bauchwunde zu eitern angefangen hätte.«

»Also hat Lasrel gewonnen?«

Vashet bedachte mich mit einem vernichtenden Blick und wandte sich dem nächsten Kampf zu.

Der hochgewachsene Adem, der Vashet zum Kampf aufgefordert hatte, maß sich mit einer mageren, schmächtigen Frau. Merkwürdigerweise benützte er ein Holzschwert, während sie mit bloßen Händen kämpfte. Er siegte knapp, nachdem er zwei schmerzhafte Fußtritte in die Rippen bekommen hatte.

»Wer hat diesmal gewonnen?«, fragte Vashet mich.

Mir war klar, dass sie nicht die naheliegende Antwort hören wollte. »Es war kein richtiger Sieg«, sagte ich. »Die Frau hatte ja gar kein Schwert.«

»Sie gehört dem dritten Stein an und ist dem Mann im Kämpfen weit überlegen«, erklärte Vashet. »Der Mann war ihr nur mit dem Schwert einigermaßen ebenbürtig. Andernfalls hätte er zu zweit gegen sie kämpfen müssen. Ich frage dich also noch einmal: wer hat gewonnen?«

»Der Mann«, antwortete ich. »Aber er dürfte morgen einige blaue Flecken haben. Und er hat ziemlich rücksichtslos zugeschlagen.«

Vashet sah mich an. »Wer hat also gewonnen?«

Ich überlegte kurz. »Keiner von beiden«, sagte ich schließlich.

Vashet nickte und bekundete mit einer Geste ihre Zustimmung. Formelle Anerkennung. Das freute mich, da alle Zuschauer, die in unsere Richtung blickten, sie sehen konnten.

Dann endlich betrat Shehyn die Wiese. Sie hatte die schiefe gelbe Mütze abgesetzt, und ein Windstoß wirbelte ihre grauen Haare durcheinander. Mir fiel auf, wie klein sie im Vergleich zu den anderen Adem war. Aufgrund ihres selbstsicheren Auftretens hatte ich sie für größer gehalten, als sie war. Dabei reichte sie einigen größeren Adem kaum bis zur Schulter.

Sie hielt ein Holzschwert. Kein Kunstwerk, aber doch deutlich als Schwert mit Heft und Klinge zu erkennen. Viele andere Übungsschwerter, die ich gesehen hatte, waren lediglich geglättete Stöcke. Hose und Kittel, beides in Weiß, hatte Shehyn sich mit dünnen weißen Bändern eng an den Körper gebunden.

Mit ihr kam eine deutlich jüngere Frau. Sie war noch kleiner als Shehyn und hatte eine zartere Statur. Das kleine Gesicht und die schmalen Schultern verliehen ihr geradezu mädchenhafte Züge. Doch war sie mit ihren schwellenden Brüsten und runden Hüften, die sich deutlich unter den engen roten Kleidern abzeichneten, ganz bestimmt kein Kind mehr.

Auch ihr Übungsschwert war aufwendig gearbeitet und im Unterschied zu den meisten anderen Schwertern leicht gekrümmt. Ihre blonden Haare waren zu einem langen, dünnen Zopf geflochten, der ihr weit über die Schultern hing.

Die beiden Frauen hoben ihre Schwerter und begannen einander zu umkreisen.

Die junge Frau verfügte über erstaunliche Fähigkeiten. Sie schlug so schnell zu, dass ich kaum die Bewegung ihrer Hand sehen konnte, von der Klinge ihres Schwertes ganz zu schweigen. Doch Shehyn wehrte den Schlag gelassen mit einem Treibenden Schnee ab und wich zugleich einen halben Schritt zurück. Bevor sie zum Angriff übergehen konnte, sprang die junge Frau zur Seite. Ihr langer Zopf flog durch die Luft.

»Wer ist das?«, fragte ich.

»Penthe«, sagte Vashet bewundernd. »Die ist eine Furie! Wie eine unserer Vorfahren aus längst vergangener Zeit.«

Penthe wandte sich wieder Shehyn zu und täuschte einen Angriff vor. Dann näherte sie sich ihr blitzschnell. Sie duckte sich, und um die Balance zu halten, streckte sie das hintere Bein. Es berührte den Boden nicht. Den Schwertarm hatte sie nach vorn gestreckt, das Knie so tief gebeugt, dass ihr ganzer Körper sich noch tiefer als mein Kopf befand, obwohl ich im Schneidersitz auf dem Boden saß.

Das alles ging schneller als ein Fingerschnippen. Mit der Schwertspitze zielte sie von unten auf Shehyns Knie.

»Was ist das?«, fragte ich leise, ohne eine Antwort zu erwarten. »Das hast du mir nie gezeigt.« Ich musste nur meiner Verblüffung Luft machen. Zu so etwas wäre mein Körper in hundert Jahren nicht imstande.

Doch Shehyn wich dem Angriff aus. Nicht durch einen Satz zur Seite oder eine andere hastige Bewegung. Sie war schnell, aber nicht die Schnelligkeit ihrer Bewegungen war entscheidend, sondern ihre Genauigkeit und Zielstrebigkeit. Bevor Penthe sie berühren konnte, war sie schon weg. Die Spitze von Penthes Schwert hatte sich ihrem Knie auf einen Fingerbreit genähert, und trotzdem war es nicht knapp gewesen. Shehyn hatte sich nur gerade so viel bewegt wie notwendig, nicht mehr.

Diesmal konnte Shehyn einen Gegenangriff ausführen. Sie tat es mit einem »Spatz schlägt Falke« genannten Manöver. Penthe rollte zur Seite ab, berührte kurz das Gras und stieß sich vom Boden ab. Nein, sie sprang nur unter Einsatz der linken Hand förmlich vom Boden auf. Wie eine stählerne Feder schnellte sie durch die Luft, während sie zugleich zweimal mit dem Schwert zuschlug und Shehyn zurücktrieb.

Penthe kämpfte mit Leidenschaft und Inbrunst, Shehyn mit einer ruhigen Beharrlichkeit. Penthe war wie der Sturm, Shehyn wie der Fels. Penthe war ein Tiger, Shehyn ein Vogel, Penthe tanzte und wirbelte, Shehyn vollführte eine Drehung und machte einen einzigen, vollkommenen Schritt.

Wieder schlug Penthe zu, kreiselte und schlug wieder zu, und wieder und wieder …

Und plötzlich hielten beide inne. Penthes Schwertspitze drückte gegen Shehyns weißes Hemd.

Ich atmete vor Schreck hörbar ein, allerdings nur so leise, dass niemand es bemerkte. Erst jetzt merkte ich, dass mein Herz wie verrückt hämmerte. Ich war am ganzen Körper schweißgebadet.

Shehyn senkte ihr Schwert und machte die Gebärden für Ärger, Bewunderung und einige weitere Gefühle, die ich nicht übersetzen konnte. Sie verzog das Gesicht, bleckte die Zähne und rieb sich die Rippen an der Stelle, an der Penthe sie berührt hatte, wie man sich das Schienbein reibt, wenn man es an einem Stuhl angeschlagen hat.

Erschrocken wandte ich mich an Vashet. »Übernimmt sie jetzt die Leitung der Schule?«, fragte ich.

Vashet sah mich verwirrt an.

Ich zeigte auf die Wiese vor uns, auf der die beiden Frauen standen und sich unterhielten. »Diese Penthe hat doch Shehyn besiegt …«

Vashet schwieg einen Moment lang verständnislos, dann lachte sie schallend. »Shehyn ist doch schon alt«, sagte sie. »Sie ist eine Großmutter. Man kann nicht erwarten, dass sie immer gegen junge, geschmeidige Kriegerinnen wie Penthe gewinnt, die vor Energie bersten.«

»Ach so«, sagte ich. »Ich dachte nur …«

Wenigstens lachte Vashet mich aus Taktgefühl nicht schon wieder aus. »Shehyn leitet die Schule nicht, weil sie unbesiegbar wäre. Was für eine absurde Vorstellung. Das Chaos würde ausbrechen, wenn die Schule je nach Kampfglück ständig den Leiter wechseln müsste.«

Sie schüttelte den Kopf. »Shehyn leitet die Schule, weil sie eine wunderbare Lehrerin ist und tiefe Einsichten in den Geist des Lethani hat. Außerdem ist sie sehr welterfahren und versteht sich auf die Lösung schwieriger Probleme.« Sie klopfte mir vielsagend mit zwei Fingern auf die Brust.

Dann machte sie eine versöhnliche Geste. »Natürlich ist sie auch eine hervorragende Kriegerin. Wer nicht kämpfen kann, kann auch keine Schule führen. Ihr Ketan hat nicht seinesgleichen. Aber zum Führen braucht man nicht Muskeln, sondern Verstand.«

Ich hob den Blick und sah gerade noch rechtzeitig, dass Shehyn auf uns zukam. An ihrem Ärmel hatte sich während des Kampfes ein Band gelöst, und der Stoff flatterte im Wind wie ein schlagendes Segel. Shehyn hatte ihre gelbe Mütze wieder aufgesetzt und begrüßte uns mit einer förmlichen Handbewegung.

Anschließend wandte sie sich an mich. »Warum wurde ich am Ende getroffen?«, fragte sie. Neugier.

Ich ließ die letzten Augenblicke des Kampfes noch einmal vor meinem geistigen Auge vorüberziehen und überlegte angestrengt.

Dann versuchte ich, mit einigen komplizierten Gebärden, die ich von Vashet gelernt hatte, Respekt und zugleich Bescheidenheit auszudrücken. »Ihr habt die Ferse ein wenig verdreht aufgesetzt«, sagte ich. »Die linke Ferse.«

Shehyn nickte. »Gut.« Sie machte die Gebärde für Anerkennung und bewegte die Hand dabei so deutlich, dass jeder sie sehen musste, der gerade in unsere Richtung blickte. Und das taten zu diesem Zeitpunkt natürlich alle.

Schwindlig von ihrem Lob, aber auch im Bewusstsein, dass ich beobachtet wurde, verzog ich keine Miene. Shehyn entfernte sich mit Penthe im Schlepptau.

Erst jetzt neigte ich den Kopf zu Vashet. »Die kleine Mütze, die Shehyn trägt, gefällt mir«, sagte ich.

Vashet schüttelte den Kopf und seufzte. »Komm.« Sie stieß mich mit der Schulter an und stand auf. »Wir sollten gehen, bevor du den guten Eindruck verdirbst, den du heute gemacht hast.«

Beim Essen am Abend saß ich an meinem gewohnten Platz am Ende des Tisches, der am weitesten von der Essensausgabe entfernt war. Da die anderen mindestens drei Meter Abstand von mir hielten, setzte ich mich gar nicht erst dorthin, wo sie sitzen wollten.

Ich war immer noch in Hochstimmung und deshalb nicht erstaunt, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie jemand mir gegenüber Platz nahm. Das war bestimmt Carceret. Sie kam ein oder zwei Mal täglich in meine Nähe und flüsterte mir böse Worte zu. An diesem Tag war sie schon überfällig.

Doch als ich aufblickte, sah ich zu meiner Überraschung Vashet. Sie nickte und betrachtete ausdruckslos meine verblüffte Miene. Ich fasste mich und erwiderte das Nicken. Wir aßen in geselligem Schweigen. Anschließend plauderten wir noch eine Weile leise über dies und das.

Danach traten wir aus dem Speisesaal in den Abend hinaus. Ich wechselte wieder zu Aturisch, denn ich wollte ein schwierigeres Thema ansprechen, das mich schon seit einigen Stunden beschäftigte.

»Es wäre eigentlich schön, wenn ich einen Übungspartner hätte, der etwa so gut ist wie ich.«

Vashet lachte und schüttelte den Kopf. »Das wäre ja, als würde man zwei Jungfrauen in ein Bett stecken. Eifer, Leidenschaft und Unkenntnis sind keine gute Verbindung. Es könnte zu Verletzungen kommen.«

»Aber du kannst doch nicht behaupten, dass ich überhaupt keine Ahnung vom Kämpfen habe«, entgegnete ich. »Natürlich bin ich lange nicht so gut wie du, aber du hast selbst gesagt, mein Ketan sei bemerkenswert gut.«

»Ich meinte das im Verhältnis zu der Zeit, die du darauf verwendest hast«, erwiderte Vashet. »Und das waren nicht einmal zwei Monate, was so gut wie nichts ist.«

»Aber es ist so bitter. Wenn ich dich mit dem Schwert oder der Faust treffe, dann nur, weil du es zulässt. Es zählt nichts, ich habe es mir nicht verdient.«

»Jeder Treffer gegen mich ist verdient«, sagte Vashet. »Auch wenn ich ihn dir ermögliche. Aber ich verstehe dich. Ein ehrlicher Wettkampf hat seine Vorteile.«

Ich wollte etwas sagen, doch sie legte mir die Hand auf den Mund. »Ich habe gesagt, ich verstehe dich. Hör auf zu kämpfen, wenn du schon gewonnen hast.« Sie klopfte mit einem Finger der Hand, mit der sie mir den Mund zuhielt, nachdenklich an meine Wange. »Also gut. Übe fleißig weiter, und ich suche dir einen passenden Übungspartner.«

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