Die beste Entscheidung
Am folgenden Morgen wachte ich früh auf. Ich frühstückte schnell und war in mein Zimmer zurückgekehrt, bevor die anderen Schüler aufstanden.
Ich schulterte die Laute und den Reisesack, wickelte mich in meinen Schattenmantel und vergewisserte mich noch einmal, dass alles, was ich brauchte, ordnungsgemäß in den Taschen verstaut war: die rote Schnur, die Wachspuppe, der Eisenspan und das Fläschchen Wasser. Ich stülpte die Kapuze meines shaed über, verließ die Schule und machte mich auf den Weg zu Vashets Haus.
Vashet öffnete mir zwischen dem zweiten und dritten Klopfen. Sie trug kein Hemd und stand mit nackten Brüsten in der Tür. Ausgiebig musterte sie mich, meinen Mantel, meinen Reisesack und meine Laute.
»Heute ist offenbar ein Morgen der Besuche«, sagte sie. »Komm herein. In der Frühe ist der Wind kalt.«
Ich trat ein, übersah allerdings die Schwelle, stolperte und musste mich an Vashets Schulter abstützen, um nicht zu fallen. Dabei blieb ich mit der Hand ungeschickt in ihren Haaren hängen.
Kopfschüttelnd schloss Vashet die Tür hinter mir. Dass sie nackt war, schien sie nicht zu kümmern. Unbefangen hob sie die Hände hinter den Kopf und begann die eine Hälfte ihrer offen herunterhängenden Haare zu einem kurzen, festen Zopf zu flechten.
»Kurz nach Sonnenaufgang klopfte Penthe an meine Tür«, sagte sie im Plauderton. »Sie wusste, dass ich wütend auf dich war, und verteidigte dich, obwohl sie nicht wusste, was du getan hattest.«
Vashet hielt den Zopf mit einer Hand fest, griff nach einer roten Schnur und band ihn fest. »Sie war gerade erst gegangen, da kam Carceret. Sie beglückwünschte mich dazu, dass ich dich endlich so behandelte, wie du es verdienst.«
Sie hob die Hände erneut, um die andere Hälfte ihrer Haare zu einem Zopf zu flechten. »Ich habe mich über beide geärgert. Es stand ihnen nicht zu, mit mir über meinen Schüler zu sprechen.«
Sie band den zweiten Zopf fest. »Ich habe dann überlegt, wessen Meinung mir wohl am wichtigsten ist.« Sie sah mich an und machte daraus eine Frage, die ich beantworten sollte.
»Deine eigene«, sagte ich.
Vashet lachte. »Stimmt genau. Aber Penthe ist auch nicht gerade dumm. Und Carceret kann zornig sein wie ein Mann, wenn es sie ankommt.«
Sie nahm ein langes, dunkles Seidentuch und schlang es sich um Oberkörper, Schultern und nackte Brüste, so dass es diese stützte und fest an ihren Leib band. Das Ende steckte sie so in eine Falte, dass der Stoff straff gespannt blieb. Ich hatte sie das schon einige Male tun sehen, aber wie das Tuch an ihr hielt, verstand ich immer noch nicht.
»Und zu welchem Entschluss bist du gelangt?«, fragte ich.
Sie zog ihr blutrotes Hemd über den Kopf. »Du bist mir nach wie vor ein Rätsel«, sagte sie. »Zur gleichen Zeit sanftmütig und verstörend, klug und närrisch.« Ihr Kopf tauchte aus dem Hemd auf und sie sah mich ernst an. »Aber wer ein Rätsel zerstört, weil er es nicht lösen kann, handelt nicht im Geist des Lethani. Ich werde das nicht tun.«
»Das freut mich«, sagte ich. »Ich hätte Haert ungern verlassen.«
Vashet hob die Augenbrauen. »Das will ich doch meinen.« Sie zeigte auf den Lautenkasten an meiner Schulter. »Lass den hier, sonst reden die Leute. Lass auch die Tasche hier. Du kannst beides später in dein Zimmer zurückbringen.«
Sie musterte mich abwägend. »Aber den Mantel nimm mit. Ich werde dir zeigen, wie du kämpfen kannst, während du ihn trägst. Ein solcher Mantel kann nützlich sein, aber nur, wenn man nicht über ihn stolpert.«
Ich nahm meine Übungen wieder auf, fast so, als sei nichts geschehen. Vashet zeigte mir, wie ich es beim Kämpfen vermied, über meinen Mantel zu stolpern, und wie ich den Mantel dazu benutzen konnte, eine Waffe unschädlich zu machen oder einen unachtsamen Gegner zu entwaffnen. Sie lobte den feinen, starken und dauerhaften Stoff, schien aber nichts Ungewöhnliches daran zu finden.
Die Tage vergingen. Ich übte weiter mit Celean und lernte schließlich, meine kostbare Männlichkeit gegen alle möglichen groben Angriffe zu schützen. Nach und nach verbesserte ich meine Fähigkeiten, bis wir einander nahezu ebenbürtig waren und abwechselnd einer den anderen besiegte.
Dazu kamen noch einige Gespräche mit Penthe zur Essenszeit. Ich war froh, dass wenigstens eine Person hin und wieder in meine Richtung lächelte.
Doch fühlte ich mich in Haert nicht mehr wohl. Zu nahe war ich dem Abgrund gekommen. Wenn ich mich mit Vashet unterhielt, überlegte ich mir jedes Wort zweimal, manchmal sogar dreimal.
Zwar schien sie mit ihrem ironischen Lächeln wieder ganz die alte, doch hin und wieder bemerkte ich, wie sie mich mit einem düsteren, bohrenden Blick musterte.
Mit der Zeit ließ die Spannung zwischen uns etwas nach und verging wie die Blutergüsse in meinem Gesicht. Ich stelle mir gern vor, dass sie zuletzt ganz verschwunden wäre, aber die Zeit dafür war uns nicht mehr gegeben.
Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Vashet machte mir auf mein Klopfen hin auf. Doch statt nach draußen zu kommen, blieb sie in der Tür stehen. »Morgen ist deine Prüfung«, sagte sie.
Im ersten Augenblick verstand ich gar nicht, wovon sie sprach. Ich war so sehr ich mit meinen Schwertübungen, den Kämpfen mit Celean, der Sprache und dem Lethani beschäftigt gewesen, dass ich den Zweck des Ganzen schon fast vergessen hatte.
Dann wurde mir heiß vor Aufregung, und ich spürte einen eisigen Knoten im Magen. »Morgen?«, fragte ich wie gelähmt.
Vashet nickte und lächelte über meinen Gesichtsausdruck, allerdings nur kurz.
Ihre gedämpfte Reaktion trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. »So früh schon?«
»Shehyn hält es für das Beste. Wenn wir noch einen Monat warten, fällt womöglich schon der erste Schnee, und du kämst nicht mehr von hier fort.«
Ich zögerte. »Du sagst mir nicht die ganze Wahrheit, Vashet.«
Sie lächelte wieder kurz und zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Stimmt, aber Shehyn hält es tatsächlich für unklug, noch länger zu warten. Du bist auf deine tapsige, barbarische Weise reizend. Je länger du bleibst, desto mehr Leute werden Freundschaft für dich empfinden …«
Die Kälte in meinem Bauch breitete sich aus. »Und wenn ich zum Krüppel geschlagen werden soll«, sagte ich harsch, wenn auch nicht so harsch, wie ich wollte, »dann am besten, bevor sie merken, dass ich ein Mensch wie sie bin und kein gesichtsloser Barbar.«
Vashet schlug die Augen nieder und nickte. »Du hast es wahrscheinlich nicht mitbekommen, aber Penthe hat vorgestern mit Carceret über dich gestritten und ihr dabei ein blaues Auge verpasst. Auch Celean hat dich liebgewonnen und spricht mit den anderen Kindern über dich. Sie sehen dir aus den Bäumen beim Üben zu.« Sie schwieg einen Moment. »Und es gibt noch andere.«
Ich kannte Vashet inzwischen gut genug, um ihr kurzes Schweigen richtig zu deuten. Plötzlich verstand ich ihre gedämpfte Stimmung und ihre Wortkargheit viel besser.
»Shehyn muss im Interesse der Schule handeln«, fuhr Vashet fort. »Sie muss einerseits entscheiden, was in diesem Sinn richtig ist, und darf sich nicht dadurch beeinflussen lassen, dass einige wenige dich mögen. Wenn sie andererseits eine richtige Entscheidung trifft, aber viele von uns sie ablehnen, ist das auch nicht gut.« Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Deshalb.«
»Und bin ich bereit?«
Vashet schwieg lange. »Schwer zu sagen«, meinte sie schließlich. »Die Aufnahme in die Schule hängt nicht nur von bestimmten Fähigkeiten ab. Der Betreffende muss auch hineinpassen. Und wenn einer von uns durchfällt, kann er die Prüfung wiederholen. Tempi musste sie viermal machen, bis er sie bestand. Du dagegen bekommst nur eine Chance.« Sie blickte zu mir auf. »Und ob du nun bereit bist oder nicht, du musst sie jetzt machen.«