Wein und Wasser
Mich von Haert zu verabschieden dauerte einen ganzen Tag. Ich aß mit Vashet und Tempi und bekam mehr Ratschläge zu hören, als ich brauchte oder wollte. Celean weinte ein bisschen und sagte, sie würde mich besuchen, sobald sie Söldnerin sei. Wir kämpften ein letztes Mal und ich habe den Verdacht, dass sie mich gewinnen ließ.
Schließlich verbrachte ich noch einen vergnüglichen späten Nachmittag mit Penthe, der in einen vergnüglichen Abend und dann in eine vergnügliche Nacht überging. Am frühen Morgen konnte ich noch einige Stunden schlafen, bevor es dämmerte.
Ich bin bei den Ruh aufgewachsen und staune deshalb immer wieder, wie schnell man an einem Ort Wurzeln schlagen kann. Obwohl ich nicht einmal zwei Monate in Haert gewesen war, fiel mir der Abschied schwer.
Trotzdem war es ein gutes Gefühl, wieder unterwegs zu sein, unterwegs zu Alveron und Denna. Es war Zeit, die Belohnung für den erfolgreich ausgeführten Auftrag einzusammeln und mich in aller Form, wenn auch sehr verspätet, zu entschuldigen.
Fünf Tage später marschierte ich einen einsamen Weg entlang, wie man ihn nur in den Hügeln des östlichen Vintas findet. Ich befand mich, wie mein Vater zu sagen pflegte, am Rand der Landkarte.
An diesem Tag war ich erst ein, zwei anderen Reisenden begegnet und an keinem einzigen Wirtshaus vorbeigekommen. Der Gedanke an eine Übernachtung im Freien schreckte mich nicht, aber ich hatte bereits seit zwei Tagen nur von meinem Proviant gegessen und sehnte mich nach einer warmen Mahlzeit.
Es war schon fast dunkel und ich hatte die Hoffnung auf eine anständige Mahlzeit aufgegeben, als ich vor mir einen weißen Rauchfaden zum dämmrigen Himmel aufsteigen sah. Ich vermutete zuerst, dass er von einem Bauernhaus käme. Dann hörte ich leise Musik, und schlagartig belebte sich meine Hoffnung auf ein Bett und etwas Warmes zu essen.
Doch als ich um eine Kurve bog, sah ich am Waldrand zu meiner Überraschung noch etwas viel Besseres als ein Wirtshaus, nämlich ein großes Lagerfeuer zwischen zwei schmerzlich vertrauten Wagen. Um das Feuer saßen Männer und Frauen und unterhielten sich. Einer spielte auf einer Laute, ein anderer schlug mit einer kleinen Handtrommel nachlässig gegen sein Bein. Andere errichteten zwischen zwei Bäumen ein Zelt, eine ältere Frau stellte einen Dreifuß über das Feuer.
Fahrende Schauspieler. Und es kam noch besser. An der Seite des einen Wagens bemerkte ich einige vertraute Markierungen, die mir noch mehr ins Auge stachen als das Feuer. Denn sie bedeuteten, dass es sich um echte Wanderschauspieler handelte, um meine Familie, die Edema Ruh.
Ich trat aus dem Wald. Einer der Männer stieß einen Schrei aus, und noch ehe ich Luft holen konnte, um etwas zu sagen, zeigten schon drei Schwerter auf mich. Musik und Stimmen waren einem unbehaglichen Schweigen gewichen.
Ein gutaussehender Mann mit einem schwarzen Bart und einem silbernen Ohrring kam langsam einen Schritt auf mich zu, jedoch ohne sein Schwert, das auf mein Auge zeigte, zu senken. »Otto!«, rief er in den Wald hinter mir. »Wenn du schläfst, schlitze ich dir den Bauch auf, das schwöre ich bei der Milch meiner Mutter. Wer zum Teufel bist du?«
Die Frage galt mir. Bevor ich antworten konnte, rief eine Stimme aus dem Wald: »Ich bin hier, Alleg, wie … Wer ist das? Wie in Gottes Namen ist er an mir vorbeigekommen?«
Ich hatte die Hände gehoben, wie es nahe liegt, wenn jemand mit etwas Scharfem auf einen zeigt. Trotzdem lächelte ich. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, Alleg.«
»Spar dir das Gerede«, erwiderte Alleg barsch. »Sag mir lieber, warum du um unser Lager herumschleichst.«
Statt etwas zu sagen, drehte ich mich nur um, so dass alle am Feuer den auf meinem Rücken hängenden Lautenkasten sehen konnten.
Schlagartig war Alleg wie ausgewechselt. Die Anspannung fiel von ihm ab, und er steckte sein Schwert ein. Die anderen folgten seinem Beispiel. Lächelnd trat er näher.
Auch ich lächelte. »Wir sind eine Familie.«
»Eine Familie.« Er schüttelte meine Hand und drehte sich zum Feuer um. »Strengt euch heute Abend an!«, rief er. »Wir haben einen Gast!« Einige erfreute Rufe waren zu hören, dann wandten sich alle wieder ihren Beschäftigungen zu.
Ein vierschrötiger Mann, der ein Schwert trug, trat aus dem Wald. »Der kann unmöglich an mir vorbeigekommen sein, Alleg. Wahrscheinlich kommt er …«
»Er gehört zur Familie«, fiel Alleg ihm ins Wort.
»Oh«, sagte Otto verdattert. Sein Blick fiel auf meine Laute. »Dann also willkommen.«
»Ich bin nicht an dir vorbeigegangen«, log ich. Im Dunkeln bin ich mit meinem Schattenmantel nur sehr schwer zu erkennen. Aber das war nicht seine Schuld, und ich wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. »Ich hörte die Musik und machte einen Bogen, um näher zu kommen. Ich dachte, dass ihr vielleicht zu einer anderen Truppe gehört, und wollte euch überraschen.«
Otto sah Alleg triumphierend an, dann machte er kehrt und verschwand wieder im Wald.
Alleg legte mir den Arm um die Schultern. »Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Einen Schluck Wasser, wenn ihr einen übrig habt.«
»An unserem Feuer trinkt kein Gast Wasser«, protestierte er. »Du bekommst unseren besten Wein vorgesetzt.«
»Das Wasser der Edema schmeckt dem Reisenden besser als jeder Wein.« Ich lächelte.
»Dann trinke Wasser und Wein, wie du willst.« Er führte mich zu einem der beiden Wagen, auf dem ein Wasserfass lag.
Einem uralten Brauch folgend trank ich zuerst eine Schöpfkelle Wasser und wusch mir dann mit einer zweiten Kelle Hände und Gesicht. Anschließend trocknete ich mir das Gesicht am Ärmel ab, hob den Kopf und sah Alleg lächelnd an. »Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.«
Er schlug mir auf den Rücken. »Komm, ich stelle dich dem Rest deiner Familie vor.«
Zuerst führte er mich zu zwei Männern mit struppigen Bärten, beide waren um die zwanzig. »Fren und Josh sind unsere beiden besten Sänger, mich natürlich ausgenommen.« Ich gab ihnen die Hand.
Als Nächstes gingen wir zu den beiden Männern, die am Feuer Musik machten. »Gaskin spielt Laute, Laren Dudelsack und Trommel.« Die beiden begrüßten mich lächelnd. Laren schlug mit dem Daumen auf die Trommel und ein weiches Bum! ertönte.
»Das ist Tim.« Alleg zeigte auf die andere Seite des Feuers, auf der ein großgewachsener, unwirsch dreinblickender Mann gerade ein Schwert einölte.
»Und das ist Anne.« Er zeigte auf eine ältere Frau mit einem verkniffenen Gesicht und grauem, zu einem straffen Knoten geflochtenen Haar. »Sie kocht für uns und spielt die Mutter für alle.« Anne schnitt weiter Karotten, ohne uns zu beachten.
»Und dann gibt es natürlich noch unsere liebe Kete, die den Schlüssel zu unser aller Herzen hält.« Kete hatte harte Augen und ihr Mund war ein dünner Strich, doch als ich ihr die Hand küsste, wurde ihre Miene ein wenig weicher.
»Das wären auch schon alle«, sagte Alleg mit einer kleinen Verbeugung. »Und wie heißt du?«
»Kvothe.«
»Willkommen, Kvothe. Mach es dir bequem und ruh dich aus. Hast du noch einen Wunsch?«
»Einen Schluck von dem Wein, von dem du vorhin gesprochen hast?« Ich lächelte.
Alleg tippte sich mit der Hand an die Stirn. »Natürlich! Oder trinkst du lieber Bier?«
Ich nickte, und er holte mir einen Krug.
»Ausgezeichnet«, sagte ich, nachdem ich mich auf einen Baumstumpf gesetzt und das Bier gekostet hatte.
Alleg lüpfte einen imaginären Hut. »Danke. Wir hatten vor ein paar Tagen auf dem Weg durch Levinshir Gelegenheit, es mitgehen zu lassen. Und wie ist es dir in letzter Zeit unterwegs ergangen?«
Ich streckte die Beine aus und seufzte. »Nicht schlecht für einen allein reisenden Musikanten.« Ich zuckte die Schultern. »Ich nutze die Gelegenheiten, die sich bieten. Da ich allein bin, muss ich aufpassen.«
Alleg nickte weise. »Unsere einzige Sicherheit besteht darin, dass wir zu mehreren sind.« Er wies mit einem Kopfnicken auf meine Laute. »Willst du uns nicht die Zeit, bis Anne mit dem Essen fertig ist, mit einem Lied versüßen?«
»Gewiss.« Ich stellte meinen Becher hin. »Was wollt ihr hören?«
»Kannst du Verlass die Stadt, Kessler?«
»Ob ich es kann? Das müsst ihr beurteilen.« Ich nahm meine Laute aus dem Kasten und begann zu spielen. Als ich beim Refrain angelangt war, hatten die anderen mit dem, was sie gerade taten, aufgehört und hörten mir zu. Ich sah sogar Otto am Waldrand stehen. Er hatte seinen Posten verlassen und spähte in Richtung des Lagerfeuers.
Als ich fertig war, klatschten alle begeistert. »Du kannst es spielen«, lachte Alleg. Er wurde wieder ernst und klopfte sich mit dem Finger an die Lippen. »Was hältst du davon, uns eine Weile zu begleiten?«, fragte er dann. »Wir könnten einen Mitspieler gebrauchen.«
Ich überlegte einen Moment. »In welche Richtung seid ihr unterwegs?«
»Nach Osten.«
»Ich muss nach Severen.«
Alleg zuckte mit den Schultern. »Da könnten wir auch hin«, sagte er. »Solange du nichts gegen einen Umweg hast.«
»Ich war lange nicht mehr mit der Familie zusammen«, gestand ich und ließ den Blick über den vertrauten Anblick des Lagers wandern.
»Und als Edema allein unterwegs zu sein ist auch nicht so gut«, fügte Alleg hinzu, um mich vollends zu überreden. Er fuhr mit dem Finger am Rand seines schwarzen Barts entlang.
Ich seufzte. »Frag mich morgen früh noch mal.«
Er schlug mir grinsend aufs Knie. »Gut! Das heißt, uns bleibt noch die ganze Nacht, um dich zu überzeugen.«
Ich verstaute meine Laute wieder im Kasten und entschuldigte mich wegen eines natürlichen Bedürfnisses. Danach kniete ich mich neben Anne, die am Feuer saß. »Was kochst du für uns, Mutter?«, fragte ich.
»Eintopf«, antwortete sie kurz angebunden.
Ich lächelte. »Und was ist drin?«
Anne warf mir einen misstrauischen Blick zu. »Lamm«, sagte sie, als sollte ich es bloß nicht wagen, ihr zu widersprechen.
»Ich habe schon so lange kein Lamm mehr gegessen, Mutter. Darf ich probieren?«
»Du wartest wie alle anderen auch«, erwiderte sie scharf.
»Nicht einmal einen kleinen Bissen?«, bettelte ich und setzte mein schmeichelndstes Lächeln auf.
Die Alte schnaubte und zuckte dann mit den Schultern. »Also gut«, sagte sie. »Aber ich bin nicht schuld, wenn du Bauchweh bekommst.«
Ich lachte. »Nein, Mutter, das bist du nicht.« Ich griff nach dem hölzernen Schöpflöffel, zog ihn heraus, blies darauf und nahm einen Bissen. »Mutter!«, rief ich, »etwas so Gutes habe ich seit einem Jahr nicht mehr zu essen bekommen.«
»Hm«, brummte sie und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen.
»Das ist die reine Wahrheit, Mutter«, sagte ich ernst. »Wem dieser Eintopf nicht schmeckt, der ist meiner Meinung nach kein richtiger Ruh.«
Anne wandte sich wieder dem Kessel zu, begann zu rühren und scheuchte mich weg, aber ihre Miene war nicht mehr ganz so abweisend wie zuvor.
Ich füllte meinen Krug an dem kleinen Fass auf und kehrte an meinen Platz zurück. Gaskin beugte sich vor. »Du hast uns ein Lied gespielt. Können wir auch etwas für dich spielen?«
»Wie wäre es mit Dudelsackspieler Schlau?«, schlug ich vor.
Gaskin runzelte die Stirn. »Das kenne ich nicht.«
»Es handelt davon, wie ein gewitzter Ruh einen Bauern überlistet.«
Gaskin schüttelte den Kopf. »Leider nein.«
Ich bückte mich nach meiner Laute. »Dann hör es dir an. Dieses Lied sollte jeder Ruh kennen.«
»Wünsch dir doch etwas anderes«, protestierte Laren. »Ich spiele etwas auf dem Dudelsack für dich. Du hast heute Abend schon für uns gespielt.«
Ich sah ihn lächelnd an. »Ich habe ganz vergessen, dass du Dudelsack spielst. Das Lied gefällt dir bestimmt. Der Dudelsackspieler ist der Held. Und ich versorge euch heute mit Musik, ihr versorgt mich ja dafür mit Essen.« Bevor sie weitere Einwände erheben konnten, begann ich schon, mit flinken, leichten Fingern zu spielen.
Die anderen lachten die ganze Zeit, vom Anfang, wenn der Dudelsackspieler den Bauern umbringt, bis zum Ende, wenn er Frau und Tochter des Toten verführt. Die letzten beiden Strophen, in denen er von den Dorfbewohnern umgebracht wird, ließ ich weg.
Als ich fertig war, wischte Laren sich die Augen trocken. »Du hattest wirklich recht, Kvothe, dieses Lied muss man kennen. Außerdem …«, er warf Kete einen Blick zu, die auf der anderen Seite des Feuers saß, »stimmt es wirklich. Frauen können die Finger nicht von Dudelsackspielern lassen.«
Kete schnaubte verächtlich und verdrehte die Augen.
Wir plauderten über allerlei Belanglosigkeiten, bis Anne uns zum Essen rief. Wir machten uns mit Appetit darüber her und Schweigen kehrte ein, nur gelegentlich unterbrochen durch ein Lob für Annes Kochkunst.
»Jetzt mal ehrlich, Anne«, sagte Alleg, nachdem er den zweiten Teller geleert hatte. »Hast du in Levinshir ein wenig Pfeffer mitgehen lassen?«
Anne sah ihn selbstzufrieden an. »Wir haben alle unsere Geheimnisse, mein Lieber. Eine Dame so etwas zu fragen gehört sich nicht.«
Ich wandte mich an Alleg. »Wie ist es dir und den Deinen in der letzten Zeit ergangen?«
»Oh gut«, antwortete Alleg zwischen zwei Mundvoll. »Vor allem vor drei Tagen in Levinshir.« Er zwinkerte. »Das wirst du später noch sehen.«
»Freut mich zu hören.«
»Doch, wirklich.« Er beugte sich verschwörerisch vor. »Sogar so gut, dass ich sehr spendabel aufgelegt bin. Ich will dir deshalb etwas schenken, und zwar was du willst, du hast die freie Auswahl. Wähle aus, und es gehört dir.« Er beugte sich noch näher und sagte mit einem Bühnenflüstern: »Ich will dich mit allen Mitteln bestechen, damit du uns begleitest. Mit deiner schönen Stimme könnten wir gutes Geld machen.«
»Von den Liedern, die er uns beibringen kann, ganz zu schweigen«, fügte Gaskin hinzu.
Alleg schnaubte in gespieltem Unwillen. »Hilf ihm nicht, den Preis in die Höhe zu treiben, Junge. Ich habe das Gefühl, es wird sowieso schon schwer genug, ihn zu überreden.«
Ich überlegte kurz. »Vermutlich könnte ich bleiben …« Ich verstummte wie verunsichert.
Alleg lächelte wissend. »Aber …«
»Aber dann hätte ich drei Wünsche.«
»Hm, drei Wünsche.« Er musterte mich von Kopf bis Fuß. »Wie im Märchen.«
»Es erscheint mir angemessen«, beharrte ich.
Er nickte zögernd. »Wahrscheinlich. Und wie lange würdest du bei uns bleiben?«
»Bis keiner etwas dagegen hat, dass ich gehe.«
»Irgendwelche Einwände?« Alleg sah sich um.
»Wenn er einen Wagen haben will?«, fragte Tim. Ich fuhr zusammen, als ich seine Stimme hörte. Sie klang rauh und kratzend, als rieben zwei Ziegelsteine knirschend aneinander.
Alleg überlegte. »Das ist egal, er kommt ja mit uns mit. Die Wagen gehören sowieso uns allen. Und da er uns nicht verlassen kann, solange wir nicht zustimmen …«
Es gab keine weiteren Einwände. Alleg und ich gaben uns die Hand und die anderen klatschten.
Kete hob ihren Krug. »Auf Kvothe und seine Lieder!«, rief sie. »Ich bin überzeugt, er ist das wert, was er uns kostet.«
Alle tranken, dann erhob ich den Becher. »Ich schwöre bei der Milch meiner Mutter, dass keiner von euch je ein besseres Geschäft machen wird als das mit mir heute Abend.« Darauf folgte noch heftigerer Applaus und wieder tranken alle.
Alleg wischte sich den Mund ab und sah mich an. »Was ist also dein erster Wunsch?«
Ich senkte den Blick. »Im Grunde nur eine Kleinigkeit. Ich besitze kein eigenes Zelt. Wenn ich aber mit meiner Familie unterwegs bin …«
»Schon verstanden!« Alleg schwenkte seinen hölzernen Krug wie ein König, der eine Gunst gewährt. »Du bekommst mein Zelt mitsamt allen Fellen und Decken!« Er gab Fren und Josh, die auf der anderen Seite des Feuers saßen, einen Wink. »Los, baut es für ihn auf.«
»Das geht schon«, protestierte ich. »Ich kann es gut selber machen.«
»Pst, das tut denen nur gut. Dann fühlen sie sich nützlich. Apropos nützlich …« Er zeigte auf Tim. »Hol die beiden.«
Tim stand auf und hielt sich die Hand an den Magen. »Gleich, ich bin gleich wieder da.« Er wandte sich ab und verschwand im Wald. »Mir ist schlecht.«
»Das kommt davon, wenn man isst wie ein Scheunendrescher!«, rief Otto ihm nach. Er wandte sich an uns. »Eines Tages wird er begreifen, dass ihm schlecht wird, wenn er mehr isst als ich.«
»Da Tim vorerst beschäftigt ist, hole ich die beiden«, sagte Laren mit nur mühsam unterdrücktem Eifer.
»Aber ich habe heute Abend Wache«, fiel Otto ein, »ich kann das tun.«
»Nein, ich«, rief Kete unwirsch. Sie starrte die beiden Männer an, bis sie sich wieder setzten, und verschwand hinter dem Wagen links von mir.
Aus dem anderen Wagen kamen in diesem Augenblick Josh und Fren mit einer Zeltplane, Schnüren und Holzpflöcken. »Wo willst du es haben?«, fragte Josh.
»Solche Fragen stellst du Männern sonst nicht, oder, Josh?«, witzelte Fren und stieß seinen Freund mit dem Ellbogen in die Seite.
»Ich schnarche«, sagte ich warnend. »Stellt es also lieber ein wenig abseits auf.« Ich streckte den Arm aus. »Zwischen den beiden Bäumen da drüben wäre eine gute Stelle.«
»Ich meine, bei einem Mann weiß man doch meist, wo er es will, was, Josh?«, fuhr Fren fort. Die beiden gingen, um das Zelt aufzustellen.
Im nächsten Augenblick kehrte Kete mit zwei hübschen Mädchen zurück. Die eine war mager und hatte glatte, schwarze Haare, die wie bei einem Jungen kurz geschnitten waren. Die andere hatte fülligere Formen und einen Schopf goldener Locken. Beide machten hoffnungslose Gesichter und schienen etwa sechzehn Jahre alt zu sein.
»Darf ich vorstellen«, sagte Kete mit einer Handbewegung. »Krin und Ellie.«
Alleg lächelte. »Zwei Mitbringsel aus Levinshir. Heute Nacht wird dich eine von ihnen warm halten. Sie ist mein Geschenk an dich als neues Mitglied der Familie.« Er tat, als betrachte er die beiden eingehend. »Welche hättest du gern?«
Ich sah die beiden ebenfalls an. »Eine schwere Wahl. Ich muss noch kurz überlegen.«
Kete hieß die beiden sich ans Feuer setzen und drückte ihnen je einen Teller Eintopf in die Hand. Das Mädchen mit den goldenen Locken, Ellie, aß mit starrem Blick einige Bissen, wurde immer langsamer und bewegte sich zuletzt gar nicht mehr – wie eine Aufziehpuppe, deren Mechanismus abgelaufen ist. Abwesend starrte sie vor sich hin, als sehe sie etwas, das wir nicht sehen konnten. Krin saß mit ihrem Teller im Schoß bewegungslos da und starrte trotzig ins Feuer.
»Na los«, schimpfte Alleg, »ihr wisst doch, dass es besser wird, wenn ihr mitmacht.« Ellie nahm langsam einen Bissen und erstarrte wieder. Krin saß nur mit steifem Rücken da und blickte unverwandt ins Feuer.
Anne stieß die beiden von ihrem Platz aus mit dem Holzlöffel an. »Esst!« Sie bekam dieselbe Antwort wie zuvor. Ein langsamer Bissen und eine trotzige Miene. Ungeduldig beugte sie sich vor, fasste das schwarzhaarige Mädchen fest am Kinn und griff mit der anderen Hand nach dem Teller Eintopf.
»Nein«, sagte ich rasch, »die essen schon, wenn der Hunger groß genug wird.« Alleg musterte mich neugierig. »Ich weiß, wovon ich rede. Gebt ihnen lieber etwas zu trinken.«
Die Alte musterte mich skeptisch, dann zuckte sie die Schultern und ließ Krin los. »Schön. Ich bin es sowieso leid, die hier mit Gewalt zu füttern. Sie macht uns nur Scherereien.«
Kete schnaubte zustimmend. »Die kleine Schlampe hat sich auf mich gestürzt, als ich sie zum Baden losband.« Sie schob die Haare zur Seite und einige Schrammen kamen zum Vorschein. »Sie hätte mir fast die Augen ausgekratzt.«
»Und wegrennen wollte sie auch«, ergänzte Anne entrüstet. »Ich musste ihr nachts ein Schlafmittel geben.« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Soll sie doch verhungern, wenn sie will.«
Laren kehrte mit zwei Krügen zum Feuer zurück und drückte sie den beiden Mädchen in die willenlosen Hände.
»Wasser?«, fragte ich.
»Bier«, erwiderte er. »Das ist besser für sie, wenn sie nichts essen.«
Ich unterdrückte meinen Protest. Ellie trank mit demselben abwesenden Gesicht, das sie schon beim Essen gemacht hatte. Krin hob den Blick vom Feuer zu ihrem Becher und dann zu mir. Ich bekam einen richtigen Schreck, so groß war die Ähnlichkeit mit Denna. Sie trank, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ihr kalter Blick verriet nicht, was in ihr vorging.
»Sie sollen neben mir sitzen«, sagte ich. »Vielleicht hilft mir das bei meiner Entscheidung.«
Kete brachte die beiden zu mir. Ellie setzte sich willig, Krin sträubte sich.
»Bei der musst du aufpassen«, sagte Kete mit einem Nicken auf das schwarzhaarige Mädchen. »Die kratzt.«
Tim kehrte bleich im Gesicht zu uns zurück und setzte sich ans Feuer. Otto stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. »Noch etwas Eintopf?«, fragte er boshaft.
»Lass mich in Ruhe, du Mistkerl«, ächzte Tim.
»Trink einen Schluck Bier, das beruhigt den Magen«, riet ich.
Er nickte, offenbar dankbar für jede Hilfe. Kete füllte seinen Krug.
Die beiden Mädchen saßen inzwischen rechts und links von mir, mit den Gesichtern zum Feuer. Von nahem sah ich Dinge, die mir zuvor entgangen waren. Krin hatte im Nacken einen schweren Bluterguss. Die Handgelenke des blonden Mädchens waren dort, wo sie gefesselt gewesen waren, gerötet, die von Krin dagegen waren wund gescheuert und mit Schorf verkrustet. Trotzdem rochen sie sauber. Ihre Haare waren gekämmt und ihre Kleider erst vor kurzem gewaschen. Offenbar hatte sich Kete darum gekümmert.
Außerdem sahen sie aus der Nähe noch viel hübscher aus. Ich legte ihnen die Hand auf die Schultern. Krin zuckte zusammen und versteifte sich, Ellie reagierte überhaupt nicht.
Fren rief vom Waldrand herüber: »Fertig. Sollen wir eine Lampe für dich anzünden?«
»Ja, bitte«, rief ich zurück. Ich sah von einem Mädchen zum andern und dann zu Alleg. »Ich kann mich nicht entscheiden«, sagte ich ehrlich. »Ich nehme beide.«
Alleg lachte ungläubig. Dann merkte er, dass ich es ernst meinte. »Nein«, protestierte er, »das wäre uns anderen gegenüber ungerecht. Außerdem kannst du unmöglich …«
Ich starrte ihn unverwandt an.
»Na ja«, fuhr er verunsichert fort, »selbst wenn du könntest …«
»Es ist mein zweiter Wunsch«, sagte ich förmlich. »Beide.«
Otto protestierte laut, und auch auf den Gesichtern von Gaskin und Laren malte sich Protest.
Ich lächelte sie beruhigend an. »Nur für heute Nacht.«
Fren und Josh, die mein Zelt aufgebaut hatten, kehrten zurück. »Sei froh, dass er nicht dich will, Otto«, sagte Fren zu dem Hünen. »Das hätte Josh gewollt, nicht wahr, Josh?«
»Halt’s Maul, Fren«, rief Otto erbost. »Jetzt ist mir schlecht.«
Ich stand auf, hängte mir die Laute über die Schulter und ging mit den beiden hübschen Mädchen, dem mit goldenem und dem mit schwarzem Haar, zu meinem Zelt.