Ein Lügner und Dieb
Wir kehrten zu der Gruppe steinerner Bauten zurück. Dort sahen wir Tempi vor der Tür. Er trat nervös von einem Bein auf das andere, was meine Vermutung bestätigte. Nicht er hatte Shehyn geschickt, um mich zu prüfen. Sie hatte mich selbst gefunden.
Als wir vor ihm standen, hielt er Shehyn mit der rechten Hand sein Schwert hin. Die Spitze zeigte nach unten. Mit der linken Hand machte er die Bewegung für tiefsten Respekt. »Shehyn«, begann er, »ich …«
Shehyn bedeutete ihm, ihr in das niedrige Steinhaus zu folgen. Zugleich winkte sie einem kleinen Jungen. »Hol Carceret.« Der Junge rannte los.
Neugier, ließ ich Tempi mit einer Handbewegung wissen.
Er sah mich nicht an. Sehr ernst. Aufpassen. Die Gesten trugen nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Tempi hatte sie auch damals auf dem Weg nach Crosson gemacht, als wir einen Hinterhalt befürchtet hatten. Mir fiel auf, dass seine Hände ein wenig zitterten.
Shehyn führte uns zu einer offenen Tür, an der eine in kriegerisches Rot gekleidete Frau zu uns kam. Ich erkannte sie an den dünnen Narben an ihrer Augenbraue und ihrem Kinn. Es war dieselbe Frau, der wir auf dem Weg nach Severen begegnet waren und die mich mit der Hand zurückgestoßen hatte. Offenbar hieß sie Carceret.
Shehyn winkte Tempi und die Frau nach drinnen, mir dagegen gebot sie mit erhobener Hand, draußen zu bleiben. »Warte hier. Was Tempi getan hat, ist nicht gut. Ich werde ihn anhören. Dann werde ich entscheiden, was mit euch geschehen soll.«
Ich nickte, und Shehyn schloss die Tür hinter sich.
Ich wartete eine Stunde, dann zwei. So angestrengt ich auch lauschte, durch die Tür drang kein Geräusch. Auf dem Flur gingen einige Leute an mir vorbei, zwei davon in Rot, ein dritter in einem schlichten, grauen Kittel. Sie alle sahen unwillkürlich meine Haare an, wandten den Blick aber sofort wieder ab.
Statt zu lächeln und zu nickten, wie es unter Barbaren üblich gewesen wäre, verzog ich keine Miene, erwiderte die kleinen Gesten, mit denen sie mich grüßten, und mied ihren Blick.
Nach über drei Stunden ging die Tür plötzlich auf, und Shehyn winkte mich herein.
Das Zimmer hatte Wände aus glatt behauenen Steinen und war hell erleuchtet. Es war so groß wie ein geräumiges Schlafzimmer in einer Herberge, wirkte aber größer, weil nur wenig Möbel darin standen. Ein kleiner eiserner Ofen an der Wand strahlte eine sanfte Wärme aus, in der Mitte standen vier Stühle im Rund. Auf dreien saßen Tempi, Shehyn und Carceret. Auf eine Handbewegung von Shehyn hin setzte ich mich auf den vierten.
»Wie viele Menschen hast du getötet?«, fragte Shehyn. Sie klang anders als zuvor, gebieterisch. Genauso hatte Tempi in unseren Gesprächen über Lethani gesprochen.
»Viele«, antwortete ich, ohne zu zögern. Ich bin vielleicht manchmal etwas schwer von Begriff, aber wenn ich geprüft werden soll, spüre ich das sofort.
»Was heißt viele?« Es war eine neue Frage, nicht die Aufforderung, meine Antwort zu verdeutlichen.
»Wenn man tötet, ist einer viele.«
Shehyn nickte kaum merklich. »Hast du dabei im Geist des Lethani gehandelt?«
»Vielleicht.«
»Warum antwortest du nicht mit Ja oder Nein?«
»Weil ich nicht immer weiß, was Lethani ist.«
»Und warum nicht?«
»Weil es mir nicht immer klar ist.«
»Und was macht Lethani klar?«
Ich zögerte, obwohl ich wusste, dass ich das eigentlich nicht durfte. »Die Worte eines Lehrers.«
»Kann man Lethani lehren?«
Ich wollte die Geste für unsicher machen, doch dann fiel mir ein, dass Gebärdensprache in dieser Situation unangemessen war. »Vielleicht«, sagte ich. »Ich kann es nicht.«
Tempi bewegte sich auf seinem Stuhl. Die Befragung nahm keinen guten Anfang. Weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen, holte ich tief Luft, versuchte mich zu entspannen und versenkte mich in das Kreiselnde Blatt.
»Wer kennt den Geist des Lethani?«, fragte Shehyn.
»Das Blatt, das sich im Wind bewegt«, antwortete ich, ohne zu wissen, was ich damit meinte.
»Woher kommt das Lethani?«
»Vom selben Ort wie das Lachen.«
Shehyn zögerte kurz. »Wie folgt man ihm?«
»Wie folgt man dem Mond?«
In den Gesprächen mit Tempi hatte ich gelernt, auf die verschiedenen Pausen einer Unterhaltung zu achten. Im Ademischen kann man mit Schweigen genauso viel sagen wie mit Worten. Es gibt bedeutungsvolle Pausen, Höflichkeitspausen, verwirrte Pausen, vielsagende Pausen, entschuldigende Pausen, Pausen, die etwas betonen …
Die Pause, die auf meine Worte folgte, war wie eine plötzliche Lücke im Gespräch, wie der leere Raum der eingeatmeten Luft. Ich spürte, dass ich entweder etwas sehr Kluges oder etwas sehr Dummes gesagt hatte.
Shehyn setzte sich ein wenig anders hin, und die förmliche Atmosphäre war auf einmal verschwunden. Ich hatte das Gefühl, dass wir jetzt vorankamen, und tauchte wieder aus dem Kreiselnden Blatt auf.
Shehyn sah Carceret an. »Was meinst du?«
Carceret hatte bisher so ausdrucks- und bewegungslos dagesessen wie eine Statue. »Ich wiederhole, was ich schon gesagt habe. Tempi hat unser Vertrauen missbraucht. Er sollte abgeschnitten werden. Dafür haben wir unsere Gesetze. Ein Gesetz zu missachten hieße, es zu beseitigen.«
»Dem Gesetz blind zu folgen hieße, ein Sklave zu sein«, warf Tempi rasch ein.
Shehyn machte die Geste für scharfen Tadel, und Tempi wurde vor Verlegenheit rot.
»Und was den angeht …« Carceret zeigte auf mich. Wegschicken. »Er stammt nicht von hier. Im besten Fall ist er ein Dummkopf, im schlimmsten ein Lügner und Dieb.«
»Und was er heute gesagt hat?«, fragte Shehyn.
»Ein Hund kann drei Mal bellen, ohne zu zählen.«
Shehyn wandte sich an Tempi. »Wer zur unrechten Zeit spricht, weigert sich, zur rechten Zeit zu sprechen.« Tempi wurde wieder rot. Bemüht, die Fassung zu wahren, presste er die Lippen zusammen, bis sie weiß wurden.
Shehyn holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. »Ketan und Lethani machen uns zu Ademre«, sagte sie dann. »Ein Barbar kann unmöglich vom Ketan wissen.« Sowohl Tempi als auch Carceret wollten etwas sagen, doch Shehyn hob die Hand. »Zugleich wäre es falsch, jemanden zu vernichten, der Lethani versteht. Das Lethani vernichtet sich nicht selbst.«
Sie sagte es ganz beiläufig, und ich hoffte, dass ich das ademische Wort für »vernichten« vielleicht nicht richtig verstand.
»Einige sagen vielleicht: ›Der hat genug‹«, fuhr Shehyn fort. »›Er soll nicht auch noch das Lethani lernen, denn wer Lethani kennt, überwindet alle Hindernisse.‹«
Sie sah Carceret streng an. »Aber ich teile diese Meinung nicht. Ich glaube, die Welt wäre besser dran, wenn mehr Menschen im Geist des Lethani handelten. Denn Lethani verleiht zwar Macht, lehrt zugleich jedoch auch den weisen Umgang mit ihr.«
Es folgte eine lange Pause. Ich spürte einen Knoten im Magen, versuchte aber nach außen Ruhe zu bewahren.
»Ich halte es für möglich«, sagte Shehyn schließlich, »dass Tempi keinen Fehler gemacht hat.«
Das klang zwar noch keineswegs nach freudiger Zustimmung, aber daran, wie Carceret sich plötzlich versteifte und Tempi erleichtert ausatmete, merkte ich, dass das Gespräch sich zu unseren Gunsten entwickelte.
»Ich werde ihn Vashet übergeben«, sagte Shehyn.
Tempi erstarrte, Carceret bekundete mit einer Handbewegung ähnlich dem Lächeln eines Irren ihre vollkommene Zustimmung.
»Ihr wollt ihn dem Hammer übergeben?« Tempis Stimme klang gepresst, und er bewegte hastig die Hand hin und her. Achtung. Ablehnung. Achtung.
Shehyn stand auf und erklärte das Gespräch mit einer Geste für beendet. »Wer wäre dazu besser geeignet? Der Hammer wird zeigen, ob dein Schüler Eisen ist, das es verdient, geschmiedet zu werden.«
Shehyn nahm Tempi zur Seite und sprach kurz mit ihm. Sie strich dabei leicht mit den Händen über seine Arme. Leider war ihre Stimme selbst für meine im Lauschen so geübten Ohren zu leise.
Ich blieb höflich neben meinem Stuhl stehen. Tempi wehrte sich nun überhaupt nicht mehr, und seine Gesten wechselten nur noch zwischen Zustimmung und Respekt.
Carceret stand wie ich etwas entfernt von den beiden und starrte mich an. Ihre Miene war gefasst, doch ihre Augen funkelten zornig. Mit der Hand machte sie seitlich, so dass die anderen sie nicht sehen konnten, einige kleine Bewegungen. Ich kannte nur die Bewegung für Abscheu, konnte mir die Bedeutung der anderen aber zusammenreimen.
Ich antwortete mit einer Geste, die nicht ademisch war. Carceret kniff die Augen zusammen. Sie schien verstanden zu haben, was ich damit sagen wollte.
Eine helle Glocke schlug dreimal. Im nächsten Moment küsste Tempi Shehyn auf Hände, Stirn und Mund. Dann bedeutete er mir, ihm zu folgen, und wandte sich zum Gehen.
Wir betraten einen großen Raum mit niedriger Decke, in dem es nach Essen roch. Außer uns waren noch viele andere anwesend. Es handelte sich um einen Speisesaal mit langen Tischen und dunklen Bänken, deren Sitzflächen schon ganz glatt poliert waren.
Ich folgte Tempis Beispiel und tat mir verschiedene Speisen auf einen großen Holzteller. Erst jetzt merkte ich, was für einen Hunger ich hatte.
Dieser Speisesaal war wider Erwarten ganz anders als die Mensa der Universität. Er war zum einen viel ruhiger, und das Essen schmeckte weitaus besser. Es gab frische Milch und mageres, zartes Fleisch, vermutlich Zicklein, des weiteren harten, scharfen Käse und weichen, cremigen, zwei Sorten Brot, beide noch ofenwarm, und Äpfel und Erdbeeren so viel man wollte. Auf allen Tischen standen Salzfässchen, aus denen man sich ebenfalls nach Belieben bedienen konnte.
Es war ein seltsames Gefühl, in einem Raum zu sitzen, in dem nur Ademisch gesprochen wurde. Die anderen sprachen so leise, dass ich kein Wort verstand, aber ihre Hände waren in ständiger Bewegung. Von zehn Gesten erkannte ich nur eine, aber es war trotzdem seltsam, dem Hin und Her von Gefühlen gleichsam zusehen zu können. Die Hände drückten Belustigung, Ärger, Verlegenheit, Ablehnung und Widerwillen aus. Ich hätte gern gewusst, wie viele dieser Gefühle mir galten, dem Barbaren unter ihnen.
Auch unerwartet viele Frauen und Kinder waren da. Einige wenige trugen die mir vertraute blutrote Uniform des Kriegers, weitaus mehr allerdings das schlichte Grau, dem ich auf meinem Spaziergang mit Shehyn schon begegnet war. Auch ein weißes Hemd sah ich. Es gehörte zu meiner Überraschung Shehyn selbst, die Seite an Seite mit uns anderen aß.
Niemand starrte mich an, aber ich spürte die Blicke der anderen auf mir. Die meiste Aufmerksamkeit galt natürlich meinem Haar. Etwa fünfzig der Anwesenden waren blond, einige dunkler und einige heller oder grau. Ich leuchtete aus ihnen heraus wie eine brennende Kerze.
Ich versuchte Tempi in ein Gespräch zu verwickeln, doch er wollte nicht und konzentrierte sich stattdessen auf das Essen. Er hatte viel weniger genommen als ich und aß davon auch nur einen kleinen Teil.
Ohne ein Gespräch als Ablenkung war ich schnell fertig. Sobald mein Teller leer war, hörte Tempi auf so zu tun, als esse er, und führte mich hinaus. Beim Gehen spürte ich dutzende Blicke im Rücken.
Tempi führte mich einige Gänge entlang. Vor einer Tür blieben wir stehen. Tempi öffnete sie, und dahinter lag ein kleines Zimmer mit einem Fenster und einem Bett. An der Wand lehnten meine Laute und mein Reisesack. Mein Schwert war nicht da.
»Du sollst einen anderen Lehrer bekommen«, sagte Tempi endlich. »Streng dich an und sei höflich. Von deinem Lehrer hängt viel ab.« Bedauern. »Mich wirst du in der nächsten Zeit nicht sehen.«
Er wirkte bedrückt, doch fiel mir nicht ein, was ich Tröstendes hätte sagen können. Stattdessen umarmte ich ihn, worüber er dankbar zu sein schien. Dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort.
Ich machte die Tür hinter ihm zu, zog mich aus und legte mich auf das Bett. Wahrscheinlich sollte ich jetzt sagen, ich hätte mich unruhig hin und her gewälzt und aus Angst vor dem, was mich erwartete, nicht schlafen können. Die Wahrheit aber ist, dass ich hundemüde war und wie ein zufriedener Säugling an der Brust seiner Mutter schlief, tief und fest.