Temperament

Lange nach Sonnenuntergang traf ich beim Wirthaus ZUM GÜLDENEN PENNY ein. Aus den großen Fenstern fiel Licht, und vor dem Eingang waren ein Dutzend Pferde angepflockt. Ihre Köpfe steckten in Futtersäcken.

Doch etwas stimmte nicht. Es fehlte das ausgelassene Lärmen der Zecher, das sonst um diese Zeit so lieblich aus einem gut besuchten Wirtshaus tönt. Kein Wort war zu hören, kein Laut.

Beunruhigt trat ich näher. Alle möglichen Märchen gingen mir durch den Kopf. War ich etwa Jahre weggewesen? Jahrzehnte?

Oder hatte die Stille einen handfesteren Grund? Waren die Banditen zahlreicher gewesen, als wir geglaubt hatten? Waren sie, als sie das Lager bei ihrer Rückkehr zerstört vorgefunden hatten, hierhergekommen, um sich zu rächen?

Ich trat an ein Fenster und spähte hinein.

Im Schankraum saßen, an den Tischen und am Tresen, vierzig bis fünfzig Gäste. Ihre Blicke waren auf den Kamin gerichtet.

Davor saß Marten. Er trank gerade einen tiefen Schluck. »Ich konnte den Blick nicht abwenden«, fuhr er dann fort, »und ich wollte es auch gar nicht. Doch dann trat Kvothe vor mich und versperrte mir die Sicht. Für einen kurzen Augenblick war ich von ihrem Zauber befreit. Kalter Schweiß bedeckte mich über und über, als hätte jemand einen Eimer Wasser über mir ausgekippt. Ich wollte Kvothe zurückhalten, aber er machte sich von mir los und eilte auf sie zu.« Martens Gesicht zeigte tiefes Bedauern.

»Warum hat sie sich nicht auch noch den Adem und den Hünen geholt?«, fragte ein falkengesichtiger Mann, der neben ihm am Kamin saß, und trommelte mit den Fingern auf einen verschrammten Fiedelkasten. »Wenn ihr sie wirklich gesehen hättet, wärt ihr ihr doch alle nachgerannt.«

Im Schankraum wurde zustimmendes Gemurmel laut.

Da meldete sich Tempi zu Wort, der an einem benachbarten Tisch saß und in seinem blutroten Hemd leicht auszumachen war. »Als Kind musste ich lernen, alles zu ertragen.« Er hob die Hand und ballte die Faust. »Schmerzen. Hunger. Durst. Müdigkeit.« Nach jedem Wort schüttelte er die Faust zum Zeichen seines Sieges über die betreffende Anfechtung. »Frauen.« Er lächelte kaum merklich und schüttelte wieder die Faust, freilich weniger heftig. Einige Zuhörer lachten leise. »Trotzdem. Wenn Kvothe ihr nicht gefolgt wäre, hätte ich es vielleicht getan.«

Marten nickte. »Und was unseren anderen Gefährten angeht …« Er räusperte sich und zeigte durch den Raum. »Hespe konnte ihn zum Bleiben überreden.« Die Zuhörer lachten wieder. Ich musste kurz suchen, bis ich Dedan und Hespe fand. Dedan war tiefrot angelaufen, was ihm sichtlich unangenehm war. Hespe hatte besitzergreifend eine Hand auf sein Bein gelegt und lächelte zufrieden in sich hinein.

»Am nächsten Tag haben wir ihn gesucht«, fuhr Marten fort, und die Blicke wandten sich wieder ihm zu. »Wir folgten seiner Spur durch den Wald. Eine halbe Meile vom Teich entfernt fanden wir sein Schwert. Er hat es offenbar verloren, als er hinter ihr herrannte. Unweit davon hing an einem Ast sein Mantel.«

Marten hielt den fadenscheinigen Umhang hoch, den ich von dem Kessler gekauft hatte. Der Umhang sah aus, als hätte ihn ein Hund in die Fänge bekommen. »Er blieb an dem Ast hängen, und Kvothe muss sich losgerissen haben, um die Fee nicht aus den Augen zu verlieren.« Marten strich über den zerrissenen Stoff. »Wenn das Tuch stärker gewesen wäre, säße Kvothe heute Abend vielleicht hier bei uns.«

Ich erkenne mein Stichwort, wenn ich es höre, und trat in diesem Moment durch die Tür. Alle Blicke richteten sich auf mich. »Ich habe inzwischen einen besseren Mantel gefunden«, sagte ich. »Felurian hat ihn mit eigener Hand gefertigt. Und ich habe euch eine Geschichte mitgebracht, eine Geschichte, die ihr noch euren Enkeln erzählen werdet.« Ich lächelte.

Einen Augenblick herrschte Stille, dann brach ohrenbetäubender Lärm los. Alle redeten durcheinander.

Meine Gefährten starrten mich entgeistert und ungläubig an. Dedan fasste sich als Erster. Er trat auf mich zu und nahm mich zu meiner Überraschung ein wenig unbeholfen in einen Arm. Erst jetzt sah ich, dass sein anderer Arm komplett geschient war.

Ich sah ihn fragend an. »Bist du in eine Rauferei geraten?«, fragte ich. Vielstimmiger Lärm hüllte uns ein.

Dedan schüttelte den Kopf. »Das war Hespe«, sagte er nur. »Dass ich der Fee nachrennen wollte gefiel ihr überhaupt nicht. Also hat sie mich … davon überzeugt, dass ich besser bleibe.«

»Sie hat dir den Arm gebrochen?« Mir fiel ein, dass ich mit meinem letzten Blick noch gesehen hatte, wie Hespe ihn zu Boden drückte.

Der Hüne senkte den Blick auf seine Füße. »Sozusagen. Sie hielt ihn fest, während ich mich von ihr losmachen wollte.« Er lächelte kleinlaut. »Man könnte wahrscheinlich sagen, dass wir ihn gemeinsam gebrochen haben.«

Ich schlug ihm auf die unverletzte Schulter und lachte. »Das gefällt mir. Wirklich eine rührende Geschichte.« Ich hätte noch weitergeredet, doch im Raum war wieder Ruhe eingekehrt, und alle sahen uns oder besser mich an.

Ich ließ den Blick umherschweifen und hatte plötzlich das Gefühl, fremd zu sein. Wie soll ich das erklären?

Ich habe ja schon gesagt, dass ich nicht wusste, wie lange ich im Reich der Fae gewesen war. Jedenfalls eine sehr lange Zeit. Ich war so lange dort gewesen, dass es mir nicht mehr sonderbar vorkam. Ich hatte mich gleichsam eingelebt.

Jetzt war ich in die Welt der Sterblichen zurückgekehrt, und der volle Schankraum berührte mich seltsam. Wie seltsam, sich in einem Zimmer aufzuhalten statt draußen unter freiem Himmel. Die aus dicken Brettern zusammengenagelten Tische und Bänke kamen mir primitiv und grob vor, und das unnatürlich helle Lampenlicht tat mir in den Augen weh.

Ich hatte eine Ewigkeit nur in Gesellschaft Felurians verbracht, und im Vergleich dazu kamen mir die Menschen rings um mich her seltsam vor. Das Weiß ihrer Augen erschreckte mich. Sie rochen nach Schweiß, Pferden und Eisen, ihre Stimmen klangen hart und scharf und ihre Bewegungen waren steif und schwerfällig.

Doch waren das nur oberflächliche Unterschiede. Ich fühlte mich in meinem eigenen Körper fremd. Wieder Kleider zu tragen verstörte mich geradezu, und ich hätte mich am liebsten wieder nackt ausgezogen. Meine Stiefel erschienen mir wie ein Gefängnis. Auf dem langen Weg zum Wirtshaus hatte ich ständig gegen das Verlangen ankämpfen müssen, sie auszuziehen.

Unter den Gesichtern im Raum sah ich auch das einer kaum zwanzigjährigen jungen Frau. Sie hatte ein liebliches Antlitz, klare, blaue Augen und einen wie zum Küssen geschaffenen Mund. Unwillkürlich trat ich einen halben Schritt auf sie zu. Ich wollte sie allen Ernstes in die Arme schließen und …

Ich hatte schon die Hand ausgestreckt, um ihr über den Hals zu streichen, da hielt ich abrupt inne. Ein Schwindel erfasste mich. Hier war doch alles anders. Bei dem Mann neben der Frau handelte es sich offensichtlich um ihren Gatten. Das war doch wichtig, nicht wahr? Zugleich kam es mir ganz belanglos vor. Warum küsste ich die Frau nicht längst? Warum war ich nicht nackt, aß Veilchen und spielte unter freiem Himmel Laute?

Wieder sah ich mich im Raum um. Alles erschien mir auf einmal furchtbar lächerlich. All die Menschen, die auf Bänken saßen, mehrere Schichten von Kleidern trugen und mit Messer und Gabel aßen. Es wirkte so sinnlos und künstlich und zugleich so unglaublich komisch. Als spielten sie, ohne es zu wissen, ein Spiel. Es kam mir wie ein Witz vor, den ich bisher nicht verstanden hatte.

Deshalb lachte ich. Ich lachte nicht laut und auch nicht besonders lange, doch klang es schrill und ausgelassen, erfüllt von einem seltsamen Entzücken. Es war kein menschliches Lachen, und es zog über die Anwesenden hin wie der Wind über ein Weizenfeld. Die es hörten, rutschten auf ihren Plätzen hin und her und sahen mich neugierig, einige auch ängstlich an. Einige erschauerten und wichen meinem Blick aus.

Ich merkte es, erschrak und versuchte mich mühsam zu beherrschen. Ich holte tief Luft und schloss die Augen. Der merkwürdige Schwindel verging, doch die Stiefel hingen noch immer schwer und hart an meinen Füßen.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich Hespes Blick auf mich gerichtet. »Kvothe«, begann sie zögernd, »es ist dir also … nichts passiert.«

Ich lächelte freundlich. »Nein.«

»Wir dachten, du … hättest dich verirrt.«

»Ihr dachtet, dass ihr mich nie wieder sehen würdet«, verbesserte ich sie sanft und ging zum Kamin, vor dem Marten stand. »Dass ich tot in Felurians Armen liegen oder wahnsinnig vor Begierde durch den Wald irren würde.« Ich sah meine Gefährten nacheinander an. »Stimmt doch, oder?«

Wieder waren alle Blicke auf mich gerichtet, und ich beschloss, das Beste daraus zu machen. »Aber ich bin Kvothe, ein Edema Ruh. Ich habe an der Universität studiert und kann Blitze vom Himmel holen wie Taborlin der Große. Habt ihr wirklich geglaubt, Felurian wäre mein Tod?«

»Sie wäre es«, sagte eine rauhe Stimme hinter mir. »Wenn du auch nur ihren Schatten gesehen hättest.«

Ich drehte mich um und sah das Falkengesicht des Fiedlers vor mir. »Was sagst du da?«

»Du solltest dich bei den anderen Gästen entschuldigen«, sagte er. Seine Stimme troff vor Verachtung. »Ich weiß nicht, was du dir von diesem Theater versprichst, aber ich habe keinen Moment geglaubt, dass einer von euch Felurian begegnet ist.«

Ich hielt seinem Blick stand. »Ich habe sie nicht nur gesehen, mein Freund.«

»Wenn das stimmte, wärst du jetzt entweder verrückt oder tot. Verrückt magst du ja sein, aber nicht, weil eine Fee dich verzaubert hätte.« Einige Gäste kicherten. »Seit zwanzig Jahren hat niemand mehr Felurian gesehen. Die Feen haben diese Gegend verlassen, und du bist kein Taborlin, egal was deine Freunde behaupten. Wahrscheinlich bist du nur ein geschickter Geschichtenerzähler, der sich einen Namen machen will.«

Er klang sehr überzeugend, und ich sah, wie einige Gäste mich misstrauisch musterten.

Bevor ich etwas antworten konnte, mischte Dedan sich ein, der sich wieder gesetzt hatte. »Woher kommt dann Kvothes Bart? Als er vor drei Tagen verschwand, war sein Gesicht so glatt wie ein Kinderpopo.«

»Das behauptest du«, erwiderte der Fiedler. »Ich wollte eigentlich nichts sagen, obwohl ich nicht die Hälfte von dem geglaubt habe, was du uns von den Banditen erzählt hast oder davon, wie dieser Kvothe den Blitz gerufen hat. Aber im Stillen dachte ich mir: ›Ihr Gefährte ist wahrscheinlich tot, und sie wollen nur, dass er mit ein, zwei schönen Geschichten in Erinnerung bleibt.‹«

Er sah an seiner Hakennase entlang auf Dedan hinab. »Aber jetzt geht ihr wirklich zu weit. Es ist dumm, Lügen über die Feen zu verbreiten. Ich mag es nicht, wenn Fremde hier auftauchen und meinen Freunden Unsinn erzählen, bis sie nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Haltet doch den Mund, ihr alle. Für heute Abend haben wir genug von euch gehört.«

Nachdem der Fiedler seinem Ärger Luft gemacht hatte, öffnete er den zerschrammten Kasten, der neben ihm lag, und holte sein Instrument heraus. Aus dem Schankraum schlug mir eine fast schon feindselige Stimmung entgegen, und so mancher ablehnende Blick traf mich.

»Jetzt hör aber mal zu«, legte Dedan wütend los. Hespe sagte etwas und wollte ihn wieder auf die Bank ziehen, doch er schüttelte sie ab. »Nein, ich lasse mich nicht einen Lügner schimpfen. Alveron persönlich hat uns wegen der Banditen hergeschickt. Und wir haben seinen Auftrag ausgeführt. Wir erwarten keinen großen Dank, aber einen Lügner lasse ich mich von dir verdammt noch mal nicht nennen. Wir haben diese Halunken getötet. Und danach haben wir Felurian gesehen. Und Kvothe ist ihr nachgelaufen und verschwunden.«

Er sah sich streitlustig um, und sein Blick kehrte immer wieder zu dem Fiedler zurück. »Das ist die Wahrheit, ich schwöre es bei meiner gesunden rechten Hand. Wenn jemand mich Lügner nennt, will ich das jetzt gleich klären.«

Der Fiedler hob seinen Bogen, erwiderte Dedans Blick und zog den Bogen quietschend über die Saiten. »Lügner.«

Dedan machte einen Satz durch den Raum, und die anderen Gäste rückten hastig mit ihren Bänken zurück, um Platz für den Kampf zu schaffen. Der Fiedler stand langsam auf. Er war größer als vermutet, hatte kurze graue Haare und vernarbte Fingerknöchel, die zeigten, dass er nicht zum ersten Mal mit den Fäusten kämpfte.

Ich trat rasch vor Dedan und drängte ihn zurück. »Willst du wirklich mit einem gebrochenen Arm eine Schlägerei anfangen?«, fragte ich leise. »Wenn der Fiedler dich daran zu fassen kriegt, wirst du nur noch schreien und dir in die Hose machen, und das alles vor Hespe.« Ich spürte, wie Dedan nachgab, und gab ihm einen kleinen Schubs. Er kehrte an seinen Platz zurück, allerdings nur unwillig.

»… nicht hier drinnen«, hörte ich hinter mir eine Frau sagen. »Wenn du dich mit jemandem prügeln willst, geh nach draußen. Und du brauchst dann gar nicht mehr hereinzukommen. Ich bezahle dich nicht dafür, dass du mit den Gästen Streit anfängst, hast du gehört?«

»Aber Penny«, versuchte der Fiedler sie zu besänftigen, »ich habe ihm doch nur meine Meinung gesagt. Er war ja gleich beleidigt. Du kannst mir doch nicht vorwerfen, dass ich mich über die Geschichten lustig mache, die er hier erzählt.«

Ich drehte mich um und sah, wie der Fiedler auf eine wütende Frau mittleren Alters einredete. Die Frau war einen Kopf kleiner als er und musste die Hand heben, um ihm mit dem Finger auf die Brust zu pochen.

Im selben Augenblick rief eine Stimme neben mir: »Mutter Gottes, Seb, siehst du das? Sieh doch! Er bewegt sich von selbst.«

»Du bist doch nur besoffen. Das ist bloß der Wind.«

»Hier weht kein Wind. Er bewegt sich von selbst. Sieh doch!«

Die Rede war natürlich von meinem Shaed. Inzwischen hatten mehrere Gäste bemerkt, dass er in einer sanften Brise hin und her schwang, die gar nicht vorhanden war. Ich fand es richtig schön, doch konnte ich an den aufgerissenen Augen der anderen Gäste ablesen, dass sie darüber erschrocken waren. Der eine oder andere rückte vorsorglich mit seinem Stuhl ein wenig von mir ab.

Penny betrachtete den Mantel ebenfalls und trat vor mich. »Was ist das?«, fragte sie. Sogar sie klang ein wenig beunruhigt.

»Nichts Schlimmes«, sagte ich munter und hielt ihr eine Mantelfalte hin. »Nur mein Schattenmantel. Felurian hat ihn für mich genäht.«

Der Fiedler schnaubte angewidert.

Penny warf ihm einen scharfen Blick zu und strich zögernd mit der Hand über den Mantel. »Wie weich er ist«, murmelte sie und blickte zu mir auf. Unsere Blicke begegneten sich und sie sah mich überrascht an und rief: »Aber du bist doch Losis Kleiner!«

Bevor ich fragen konnte, wen sie damit meinte, hörte ich eine andere Frauenstimme sagen: »Wie?« Ich drehte mich um. Ein rothaariges Serviermädchen kam auf uns zu – dasselbe, das mich bei meinem ersten Besuch so schlimm in Verlegenheit gebracht hatte.

Penny wies mit einem Nicken auf mich. »Das ist dein feuriger Jüngling von vor drei Spannen! Weißt du noch, wie du ihn mir gezeigt hast? Ich habe ihn mit dem Bart gar nicht erkannt.«

Losi trat vor mich. Ihre leuchtend roten Locken fielen in Kaskaden auf die nackte, helle Haut ihrer Schultern, und ihre gefährlichen grünen Augen wanderten über meinen Mantel und von dort langsam zu meinem Gesicht hinauf. »Er ist es tatsächlich«, sagte sie zu Penny. »Bart hin oder her.«

Sie trat noch einen Schritt näher, sodass sie mich fast berührte. »Die Jungen tragen immer Bärte und hoffen, dass sie das zu Männern macht.« Sie schaute mir mit ihren smaragdgrünen Augen dreist ins Gesicht, als erwarte sie, dass ich wie beim letzten Mal rot würde und nervös herumdruckste.

Ich dachte an das, was ich bei Felurian gelernt hatte, und wieder stieg das seltsam wilde Gelächter in mir auf. Ich unterdrückte es, so gut es ging, doch als ich Losis Blick erwiderte, rumorte es weiter in mir.

Losi wich erschrocken einen Schritt zurück, und ihre helle Haut lief tiefrot an. Fast wäre sie gestolpert.

Penny streckte rasch die Hand aus, um sie aufzufangen. »Du meine Güte, Losi, was hast du?«

Das Mädchen wandte den Blick von mir ab. »Sieh ihn dir doch an, Penny, sieh ihn dir an. Er hat etwas von den Fae. Sieh doch nur seine Augen.«

Penny musterte neugierig mein Gesicht, errötete dann selbst ein wenig und verschränkte die Arme vor der Brust, als hätte ich sie nackt gesehen. »Gütiger Gott«, rief sie atemlos, »dann stimmt alles?«

»Jedes Wort«, bestätigte ich.

»Aber wie konntest du ihr entkommen?«, fragte Penny.

»Also, Penny!«, rief der Fiedler ungläubig. »Du wirst doch diesem Jungspund nicht auf den Leim gehen!«

Losi drehte sich hitzig zu ihm um. »Man sieht es Männern an, wenn sie Erfahrung mit Frauen haben, Ben Crayton. Nicht dass du welche hättest. Als dieser Junge vor einigen Spannen hier auftauchte, gefiel mir sein Gesicht, und ich wollte mit ihm ins Heu. Aber als ich ihn rumkriegen wollte …« Sie suchte nach Worten und verstummte.

»Ich erinnere mich daran«, rief ein Mann vom Tresen. »Selten so gelacht wie damals. Ich fürchtete schon, er würde sich gleich in die Hose machen. Kein Wort brachte er heraus.«

Der Fiedler zuckte mit den Schultern. »Dann hat er sich eben inzwischen irgendein Mädchen angelacht. Das heißt noch nicht …«

»Still, Ben«, sagte Penny ruhig und bestimmt. »Die paar Barthaare sind lange nicht die einzige Veränderung an dem Jungen.« Sie musterte mich prüfend. »Mein Gott, du hast recht, Losi, sein Blick hat etwas von einem Fae.« Der Fiedler setzte erneut zu etwas an, doch Penny brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. »Du bist still, oder du musst raus. Ich will hier drinnen heute keinen Streit mehr.«

Der Fiedler sah sich um und merkte, dass die Stimmung sich gegen ihn gewandt hatte. Hochrot im Gesicht und mit finsterer Miene nahm er seine Fiedel und stampfte hinaus.

Losi trat wieder vor mich und strich sich die Haare aus der Stirn. »War sie wirklich so schön wie es heißt?« Sie hob selbstbewusst das Kinn. »Schöner als ich?«

Ich zögerte. »Sie war Felurian«, antwortete ich leise, »die schönste aller Frauen.« Ich streckte die Hand aus, strich Losis rote Locken sanft von Hals und Schläfe zurück, beugte mich vor und flüsterte ihr sieben Worte ins Ohr: »Aber sie hatte trotzdem nicht dein Feuer.« Und Losi liebte mich für diese sieben Worte, und ihr Stolz war wiederhergestellt.

»Wie hast du es geschafft, von ihr loszukommen?«, fragte Penny.

Ich sah mich um und fühlte, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. Wieder rumorte das ausgelassene Feenlachen in mir. Ich lächelte träge, und mein Mantel blähte sich hinter mir.

Dann ging ich nach vorn, setzte mich vor den Kamin und erzählte, was ich erlebt hatte.

Oder etwas Ähnliches. Meine Zuhörer hätten mir nicht geglaubt, wenn ich ihnen die ganze Wahrheit zugemutet hätte. Dass Felurian mich hatte gehen lassen, weil ich sie mit einem Lied erpresste, passte nicht zum klassischen Märchen.

Also erzählte ich etwas, das mehr ihren Erwartungen entsprach. In dieser Geschichte folgte ich Felurian in das Reich der Fae. Auf ihrer dämmrigen Lichtung umschlangen und liebten wir uns. Später, beim Ausruhen, spielte ich für sie: fröhliche Lieder, die sie zum Lachen brachten, geheimnisvolle Lieder, die ihr den Atem raubten, und süße Lieder, bei denen ihr Tränen in die Augen traten.

Doch als ich mich anschickte, das Reich der Fae zu verlassen, wollte sie mich nicht ziehen lassen. Zu sehr waren ihr meine … Künste ans Herz gewachsen.

Ich will ganz offen sprechen: Ich ließ meine Hörer deutlich wissen, dass Felurian große Stücke auf mich als Liebhaber hielt. Ich entschuldige mich nicht dafür. Es genüge zu sagen, dass ich ein Jüngling von sechzehn Jahren war, der sich nicht wenig auf seine neuerworbenen Fähigkeiten einbildete und auch gerne ein wenig angab.

Ich erzählte, wie Felurian mich in ihrem Reich einsperren wollte und wie wir mit den Mitteln der Magie gegeneinander kämpften. Dafür machte ich einige kleine Anleihen bei Taborlin. Jedenfalls blitzte und donnerte es in meiner Geschichte.

Zuletzt besiegte ich Felurian, ließ sie aber am Leben. Zum Dank wob sie mir einen Feenmantel, weihte mich in ihre geheimen Zauberkünste ein und schenkte mir zum Andenken an ihre Gunst ein silbernes Blatt. Das Blatt war natürlich frei erfunden, aber für eine richtige Geschichte mussten es drei Geschenke sein.

Insgesamt war es eine gute Geschichte. Und auch wenn nicht alles stimmte, so enthielt sie doch einen wahren Kern. Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass ich die Wahrheit auch ganz weglassen und eine noch viel bessere Geschichte hätte erzählen können. Lügen sind einfacher und klingen oft auch einleuchtender.

Losi sah mich die ganze Zeit über an. Sie schien meinen Bericht als Herausforderung an die Fähigkeit sterblicher Frauen zu betrachten. Sobald ich fertig war, nahm sie mich in Beschlag und führte mich in ihre kleine Kammer im obersten Stock des GÜLDENEN PENNY.

Ich bekam in jener Nacht nur sehr wenig Schlaf, und Losi brachte mich näher an den Rand der Erschöpfung, als Felurian es je getan hatte. Doch war sie eine wunderbare Gespielin und stand Felurian in nichts nach.

Wie war das möglich?, höre ich euch fragen. Wie konnte eine sterbliche Frau es Felurian gleichtun?

Man versteht das leichter, wenn man es sich in musikalischen Begriffen vergegenwärtigt. Manchmal freut man sich an einer Symphonie, manchmal bevorzugt man einen lustigen Tanz. Dasselbe gilt für die Liebe. Die eine passt zu den weichen Kissen einer dämmrigen Waldlichtung, die andere zu den zerwühlten Laken eines schmalen Betts in der Dachkammer eines Wirtshauses. Jede Frau ist ein Instrument, das erlernt, geliebt und kundig gespielt werden will, so dass zuletzt ihre eigene Musik erklingt.

Einige mögen an dieser Ansicht Anstoß nehmen. Sie verstehen vielleicht nicht, was die Musik einem fahrenden Schauspieler bedeutet. Sie mögen glauben, ich schätze Frauen gering, und halten mich am Ende gar für gefühllos, flegelhaft und roh.

Diese Leute verstehen nichts von Liebe, Musik und mir.

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