Geschichten

Ambrose blieb glücklicherweise das Wintertrimester über fort, doch als der Frühling kam, kehrte er wieder, wie ein abscheulicher Zugvogel. Am Tag nach seiner Rückkehr schwänzte ich alle meine Seminare und baute mir ein neues Gram.

Sobald der Schnee fortgetaut war und der Boden trocknete, nahm ich wieder meine Ketan-Übungen auf. Da ich noch wusste, wie seltsam es gewirkt hatte, als ich es selbst zum ersten Mal gesehen hatte, zog ich mich dazu in den Wald nördlich der Universität zurück.

Dann kamen die Zulassungsprüfungen fürs Frühjahrstrimester. Ich erschien dort schwer verkatert und vertat mich bei einigen Fragen. Meine Studiengebühren wurden auf achtzehn Talente, fünf Jots festgesetzt, was mir beim Quästor vier Talente und ein paar Zerquetschte eintrug.

Der »Blutlose« hatte sich über den Winter nur schleppend verkauft, weil in dieser Zeit nicht so viele Kaufleute die Universität besuchten. Doch als der Schnee getaut und die Straßen wieder gut befahrbar waren, ging das halbe Dutzend, das sich im Lager des Handwerkszentrums zwischenzeitlich angesammelt hatte, auf einen Schlag weg, und das brachte mir weitere sechs Talente ein.

Ich war es nicht gewöhnt, so viel Geld zur Verfügung zu haben, und ich gebe zu, dass ich manchmal nicht ganz vernünftig damit umging. Ich besaß nun sechs komplette, maßgefertigte Kleidergarnituren und so viel Papier, wie ich nur brauchen konnte. Ich kaufte mir auch feine, dunkle Tinte aus Arueh und eigenes Gravurwerkzeug. Außerdem hatte ich nun zwei Paar Schuhe. Zwei.

In einem Antiquariat in Imre stieß ich auf ein altes, zerfleddertes Yllisch-Lehrbuch. Da es zahlreiche Zeichnungen von Knoten enthielt, hielt es der Antiquar für ein Seemannstagebuch und verkaufte es mir für läppische anderthalb Talente. Bald darauf erwarb ich auch eine Ausgabe der Heroborica und dann auch noch ein Exemplar der Termigus Techina, das ich als Nachschlagewerk gut gebrauchen konnte, wenn ich auf meinem Zimmer an neuen Erfindungen brütete.

Ich lud meine Freunde zum Abendessen ein. Auri schenkte ich neue Kleider und bunte Haarbänder. Und immer noch hatte ich Geld im Beutel. Wie seltsam. Wie wunderbar.

Gegen Mitte des Trimesters hörte ich mehr und mehr Geschichten, die mir bekannt vorkamen. Geschichten über einen gewissen rothaarigen Abenteurer, der eine Nacht mit Felurian verbracht hatte. Geschichten über einen wagemutigen jungen Arkanisten, der über die gleichen Kräfte wie Taborlin der Große gebot. Es hatte ein paar Monate gedauert, aber schließlich hatten sich meine Heldentaten in Vintas bis zur Universität herumgesprochen.

Es mag schon sein, dass ich, als ich von diesen Geschichten erfuhr, meinen Shaed ein bisschen länger und öfter trug als zuvor. Es mag auch sein, dass ich in den nun folgenden Spannen peinlich viel Zeit in irgendwelchen Kaschemmen verbrachte, darauf erpicht, Geschichten mit anzuhören. Es mag sogar sein, dass ich so weit ging, selbst die eine oder andere Andeutung fallen zu lassen.

Schließlich war ich jung, und es war nur natürlich, dass ich mich meiner Berühmtheit erfreute. Ich dachte, das würde schnell wieder vergehen. Warum sollte ich die Seitenblicke meiner Kommilitonen nicht genießen? Warum sollte ich mich nicht daran erfreuen, so lange es währte?

Viele der Geschichten drehten sich darum, dass ich Banditen jagte und Jungfrauen rettete. Keine aber kam der Wahrheit allzu nah. Geschichten, die tausend Meilen weit von Mund zu Mund weitergetragen werden, machen zwangsläufig Verwandlungen durch.

Zwar unterschieden sich die Einzelheiten, doch das grundlegende Muster blieb meist gleich: Es galt, junge Frauen zu retten. Manchmal heuerte mich ein Adliger dazu an, in anderen Fällen ein verzweifelter Vater oder ein besorgter Bürgermeister.

Meistens rettete ich zwei Mädchen. Manchmal auch nur eins, manchmal sogar drei. Sie waren Freundinnen. Oder Mutter und Tochter. In einer Geschichte, die ich hörte, waren es sogar sieben – sieben Schwestern, die alle wunderschöne Prinzessinnen und Jungfrauen waren.

Vor wem ich die Mädchen rettete – darüber gingen die Meinungen weit auseinander. Oft waren es Banditen, aber man sprach auch von bösen Onkeln, Stiefmüttern und Butzemännern. In einer Geschichte rettete ich sie kurioserweise ausgerechnet vor Adem-Söldnern. Ein oder zwei Mal war sogar von einem Oger die Rede.

Zwar befreite ich die Mädchen hin und wieder aus der Gewalt einer fahrenden Theatertruppe, aber voller Stolz kann ich vermelden, dass ich nie eine Geschichte hörte, in der sie von Edema Ruh entführt worden wären.

Für das Ende der Geschichte gab es im Allgemeinen zwei Varianten. In der ersten stürmte ich wie ein edler Ritter mit meinem Schwert in die Schlacht und focht, bis entweder alle tot oder geflohen waren oder auf angemessene Weise ihre Reue bekundeten. Die zweite Variante war beliebter. In dieser rief ich Feuer und Blitz vom Himmel herab, wie Taborlin der Große.

In der mir liebsten Version der Geschichte begegnete ich unterwegs auf der Straße einem hilfsbereiten Kessler. Ich teilte mein Abendessen mit ihm, und er erzählte mir von zwei Kindern, die von einem nahen Bauernhof entführt worden seien. Bevor ich wieder aufbrach, verkaufte er mir ein Ei, drei Eisennägel und einen schäbigen Umhang, der mich unsichtbar machen konnte. All diese Gegenstände nutzte ich sodann auf äußerst einfallsreiche Weise dazu, die Kinder aus den Fängen eines verschlagenen, hungrigen Trolls zu retten.

Viel populärer aber als diese Geschichte in all ihren Versionen war die Geschichte rund um Felurian. Das Lied, das ich geschrieben hatte, hatte ebenfalls die weite Reise gen Westen zurückgelegt. Und da sich Lieder besser überliefern lassen als Geschichten, entsprachen die Einzelheiten meiner Begegnung mit ihr wenigstens ansatzweise der Wahrheit.

Als Wil und Sim mich bedrängten und unbedingt mehr darüber erfahren wollten, erzählte ich ihnen die ganze Geschichte. Ich brauchte eine Weile, bis ich sie davon überzeugt hatte, dass sie der Wahrheit entsprach. Besser gesagt, brauchte ich bei Sim dazu eine ganze Weile. Wil war aus irgendeinem Grund sofort bereit, die Existenz der Fae zu akzeptieren.

Ich konnte es Sim nicht verübeln. Bevor ich sie mit eigenen Augen sah, hätte ich viel Geld darauf gewettet, dass es Felurian nicht gab. Sich an einer Geschichte zu erfreuen, ist das eine, anzuerkennen, dass es sich dabei um die Wahrheit handelt, etwas ganz anderes.

»Die eigentliche Frage ist doch«, sagte Sim nachdenklich, »wie alt du in Wirklichkeit bist.«

»Das weiß ich«, sagte Wilem mit dem Eifer eines Mannes, der unbedingt beweisen will, dass er überhaupt nicht betrunken ist. »Siebzehn.«

»Ahhhh …« Sim reckte dramatisch einen Zeigefinger in die Höhe. »Sollte man meinen, nicht wahr?«

»Worüber redest du überhaupt?«, fragte ich.

Sim beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Du bist ins Reich der Fae gereist und hast dort einige Zeit verbracht, und als du wiederkamst, hast du festgestellt, dass inzwischen nur drei Tage vergangen waren«, sagte er. »Bedeutet das nun, dass du währenddessen nur drei Tage älter geworden bist? Oder bist du weiter gealtert, während du dort warst?«

Ich schwieg einen Moment lang. »Das hatte ich noch gar nicht bedacht«, gestand ich.

»In den Geschichten«, sagte Wilem, »kehren die Jungen, die ins Reich der Fae gehen, als Männer wieder zurück. Das bedeutet also, dass man dort altert.«

»Wenn man sich denn nach den Geschichten richten wollte«, sagte Sim.

»Wonach denn sonst?«, fragte Wil. »Willst du das etwa in Marlocks Großem Kompendium der Fae-Phänomene nachschlagen? Wenn du so ein Buch findest, nehme ich es gern in unseren Bestand auf.«

Sim zuckte die Achseln.

»Also«, sagte Wil und wandte sich an mich. »Wie lange warst du dort?«

»Das ist schwer zu sagen«, erwiderte ich. »Es gab da keinen Tag und keine Nacht. Und an einiges erinnere ich mich nur verschwommen.« Ich dachte eine ganze Weile darüber nach. »Wir haben uns unterhalten, sind geschwommen, haben etwas gegessen, und das alles Aberdutzende Male. Und dann haben wir auch noch … na ja …« Ich räusperte mich vielsagend.

»Rumgemacht«, schlug Wilem vor.

»Danke. Und dann haben wir auch noch ziemlich oft rumgemacht.« Ich zählte in Gedanken all die Fertigkeiten, die Felurian mir beigebracht hatte, und schätzte, dass es pro Tag nicht mehr als zwei oder drei gewesen sein konnten …

»Es waren mindestens einige Monate«, sagte ich. »Ich habe mich einmal rasiert – oder zweimal? Es war genug Zeit, dass mir ein Bart wachsen konnte.«

Wil verdrehte die Augen und strich sich über seine dunkle, kealdische Gesichtsbehaarung.

»Nicht so ein Rauschebart wie deiner«, sagte ich. »Aber dennoch: Zwei oder drei Mal ist mir ein Bart gewachsen.«

»Also mindestens zwei Monate«, sagte Sim. »Aber wie lange könnte es maximal gewesen sein?«

»Drei Monate?« Wie viele Geschichten hatten wir einander erzählt? »Vier oder fünf Monate?« Ich dachte daran, wie langsam wir meinen Shaed vom Sternen- ins Mondlicht und in den Feuerschein hatten bewegen müssen. »Ein Jahr?« Ich dachte an die scheußliche Zeit, die ich damit verbracht hatte, mich von meiner Begegnung mit dem Cthaeh zu erholen. »Aber mehr als ein Jahr kann es nicht gewesen sein, da bin ich mir sicher …« Das klang allerdings längst nicht so überzeugend, wie es hätte klingen sollen.

Wilem hob eine Augenbraue. »Na dann: Alles Gute zum Geburtstag!«, sagte er, sah mich an und hob sein Glas. »Oder den Geburtstagen, je nachdem.«

Загрузка...