IX

Kälte sprang sie an wie ein unsichtbares Raubtier, das die ganze Nacht über geduldig auf sie gewartet hatte, als sie das Haus verließen. Pias Atem schien nicht zu Dunst zu werden, sondern in winzige Eissplitter zu zerfallen, und die Luft war so kalt, dass sie sich wie vereistes Glas anfühlte, das gegen ihr Gesicht gepresst wurde. Hastig zog sie den Mantel enger um die Schultern und registrierte, dass Alica dasselbe tat. Einzig Brack schien die Kälte nichts auszumachen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Mantel zu schließen.

Pia blieb etliche Sekunden lang stehen und sah sich aufmerksam um. Von der Gestalt, die das Haus beobachtet hatte, war nichts zu sehen (was rein gar nichts bedeutete, wie sie sich schmerzlich eingestand), und von hier unten aus betrachtet und ohne das störende Papier bot die Straße einen weit fantastischeren Anblick als vorhin vom Fenster ihres Zimmers aus. Sie sah hundertmal mehr Details, und kein einziges davon gefiel ihr.

Obwohl … eigentlich stimmte das nicht. So bizarr und unpassend es ihr auch selbst in diesem Moment noch vorkommen mochte, alles erschien ihr zugleich auf eine fast unheimliche Weise vertraut; ein Gefühl, als wäre sie in eine Heimat zurückgekehrt, die sie nie gekannt hatte.

»Wollen wir hier rumstehen, bis wir festgefroren sind?«, fragte Alica.

Pia blinzelte irritiert. Alicas Gesicht war bereits vor Kälte gerötet, und sie zitterte im eisigen Wind. »Wie?«

»Du stehst seit fünf Minuten da und starrst Löcher in die Luft«, behauptete Alica.

»Fünf Minuten?«

»Zehn. Sag ich doch. Mindestens.« Alica machte eine ebenso ungeduldige wie auffordernde Geste. »Können wir?«

Statt zu antworten, warf Pia Brack ein entsprechendes Nicken zu, und der dicke Wirt setzte sich gehorsam in Bewegung. Alica und sie folgten ihm nicht nur, sondern schlugen auch instinktiv die Kapuzen ihrer Umhänge hoch und senkten die Köpfe, um dem eisigen Wind zu entgehen, der ihnen wie mit unsichtbaren Messerklingen die Haut von den Gesichtern zu schneiden versuchte. Sie bewegten sich schnell durch die schlammigen Straßen, weit schneller als die meisten hier, die eher zu flanieren schienen, und sogar schneller als Brack, der immer wieder zurückfiel und einen kurzen Zwischenspurt einlegen musste, um zu ihnen aufzuholen; was er regelmäßig mit missbilligenden Blicken quittierte. Pia beschleunigte ihre Schritte dennoch fast instinktiv immer mehr. Sie wollte aus dieser verdammten Kälte raus. Und sie mussten aus dieser Stadt verschwinden, bevor ihr Verfolger sie einholte. Auf dem letzten Stück fegten sie regelrecht durch die schmalen Straßen, was ihnen den einen oder anderen verwunderten Blick einbrachte.

Schließlich erreichten sie die Stadtmauer und das Tor, und Brack bedeutete ihnen mit einem kurzatmigen Schnauben, stehen zu bleiben. Anscheinend war es hier nicht üblich, sich zu beeilen, und vermutlich fielen sie allein deshalb schon auf.

Aber längst nicht nur aus diesem Grund.

Was Pia schon gestern Abend bei Brack und vorhin bei Brasil aufgefallen war, das schien hier eher die Regel zu sein: Nahezu jeder, dem sie begegneten, gleich ob Mann oder Frau, war deutlich kleiner als sie. Selbst Alica, die ihr kaum bis zur Nasenspitze reichte, musste als groß gelten.

»Wartet hier«, sagte Brack japsend. »Ich bin gleich zurück.«

Er watschelte davon und näherte sich einem Mann in einer bunten Operettenuniform – Harnisch, Helm und Mantel –, der neben dem Tor an der Wand lehnte und sich halb gegen die Mauer, halb auf einen langen Speer stützte und ganz so aussah, als würde er im nächsten Moment im Stehen einschlafen. Daran änderte sich auch nichts, als Brack heftig zu gestikulieren begann und in ihre Richtung deutete.

»Ein freies Land, in dem jeder hingehen kann, wo er will, wie?«, schnaubte Alica.

Pia konnte ihr nur zustimmen, beschränkte sich aber auf ein wortloses Nicken. Noch aufmerksamer sah sie sich um und schlug schließlich sogar die Kapuze zurück, um mehr erkennen zu können.

Der Eindruck, sich in einer sorgsam restaurierten mittelalterlichen Stadt zu befinden, verstärkte sich … auch wenn in diesem Teil der Stadt das Wort Festung eher angebracht gewesen wäre. Direkt vor ihnen strebte eine mindestens sieben oder acht Meter hohe, aus grobem Naturstein erbaute Mauer empor, die von einem zinnengesäumten offenen Wehrgang gekrönt wurde, auf dem Männer in schweren Rüstungen und mit noch schwereren Mänteln patrouillierten. Pia fiel auf, dass sie nicht nur das Gelände außerhalb der Stadt im Auge behielten, sondern sich in regelmäßigen Abständen auch umdrehten und ihre Blicke misstrauisch über die Straßen wandern ließen. Und sie spürte regelrecht, wie gerade sie sehr aufmerksam und misstrauisch beäugt wurde. Vielleicht war es ihr helles Haar, das die Neugier der Männer erweckte. Niemand hier war barhäuptig und alle schienen dunkelhaarig zu sein. Vielleicht fiel auch nur ihre Größe auf. Oder alles zusammen.

Pia verscheuchte den Gedanken und setzte ihre Beobachtung fort. Rechts und links des erstaunlich niedrigen Tores erhoben sich zwei wuchtige Türme, gut doppelt so hoch wie die Mauer und mit gedrungenen Schieferdächern, und als sie sich langsam herumdrehte, gewahrte sie über den Dächern hinter sich das passende Gegenstück: ein düsteres Bauwerk im Zentrum der Stadt, das aussah, als hätte man es aus einem Dutzend unterschiedlich hoher und breiter Türme wahllos zusammengefügt; wahrscheinlich die zentrale Festung dieser ach so freien Stadt. Vielleicht hätte sie sich mit Brack etwas ausführlicher über die genaue Bedeutung des Wortes Freiheit unterhalten sollen …

Ein Vogel schrie. Pia sah ganz automatisch auf, blinzelte in eine weiße, unerwartet helle Sonne, die aus einem vollkommen wolkenlosen Himmel von schon beinahe unanständig kräftig blauer Färbung strahlte, und sah im ersten Moment eigentlich gar nichts. Dann gewahrte sie einen verschwommenen, dreieckigen Schatten, der hoch über der Stadt kreiste und in kleiner werdenden Spiralen tiefer zu steigen schien. Etwas an dem Anblick beunruhigte sie, doch sie konnte nicht sagen, was es war.

Brack kam zurück, mit rot gefrorenem Gesicht, aber anscheinend sehr zufrieden. »Ihr könnt gehen«, sagte er. »Ich habe meine Beziehungen spielen lassen und mit der Wache gesprochen.«

»Und wozu?« Pia sagte sich selbst, dass es sinnlos war, aber sie konnte sich diese Frage auch nicht verkneifen. »Ich meine: Wozu Beziehungen spielen lassen, wenn doch hier jeder hingehen kann, wo er will?«

»Übertreib es nicht, Mädchen«, sagte Brack ernst. »Immerhin riskiere ich Kopf und Kragen für euch.«

»Ich frage ja schon gar nicht mehr, was er gesagt hat«, sagte Alica.

»Gut«, antwortete Pia.

»Kommt, ich begleite euch noch bis durch das Tor«, sagte Brack, fuhr dann leicht zusammen und legte den Kopf mit einem Ruck in den Nacken. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich schlagartig. Pia sah ebenfalls auf und bemerkte zweierlei: Der Vogel war näher gekommen und schwebte auf ausgebreiteten Flügeln nahezu reglos in der Luft über ihnen. Und jetzt erkannte sie ihn auch. Es war ein riesenhafter schwarzer Rabe.

»Verdammter Spion«, murmelte Brack.

»Wie meinst du das?«, fragte Pia alarmiert.

»Nichts.« Brack grinste plötzlich wieder und machte dann eine fast befehlende Geste. »Bedecke dein Haar, Mädchen. Draußen ist es kalt.«

Was glaubt er denn, was es hier ist?, dachte Pia verblüfft, zog aber trotzdem gehorsam die Kapuze hoch, schon um dem Wind etwas von seinem eisigen Biss zu nehmen. Nicht dass es irgendetwas half.

Das Tor war zwar so niedrig, dass jeder, der es zu Pferde durchschreiten wollte, absitzen musste, dafür aber sehr breit und so lang, dass es fast wie ein kleiner Tunnel wirkte. Ihre Schritte erzeugten lang nachhallende, beinahe schon unheimlich klingende Echos in dem steinernen Gewölbe, und Pias Unbehagen stieg noch mehr, als sie einen Blick nach oben warf und die in regelmäßigen Abständen angebrachten Löcher in der Decke sah, durch die man im Falle eines Angriffs kochendes Pech oder Öl auf mögliche Eindringlinge schütten konnte. Am anderen Ende des Tunnels wartete nicht nur ein äußerst massives, zweiflügeliges Tor, sondern auch ein aus fast handgelenkstarken eisernen Stäben gefertigtes Fallgatter. Wenn diese Stadt so friedlich war, fragte sie sich, warum war sie dann so hervorragend auf einen Angriff vorbereitet?

Und woher wusste sie eigentlich all diese Details?

Brack eilte auf dem letzten Stück wieder voraus, wechselte einige offensichtlich sehr erregte Worte mit einer zweiten Wache am anderen Ende des gemauerten Tunnels und gestikulierte ihnen dann zu, sich zu beeilen. Eingedenk dessen, was er gerade zu ihr gesagt hatte, zog Pia nicht nur die Kapuze weiter ins Gesicht, sondern senkte auch den Blick, als sie an der Wache vorbeigingen. Trotzdem konnte sie die Neugier und das Misstrauen des Mannes so deutlich spüren wie knisternde elektrische Spannung, die in der Luft lag.

»So, weiter kann ich euch nicht begleiten«, sagte Brack, nachdem sie aus dem Tor heraus und ein paar Schritte weit gegangen waren; vermutlich nicht durch Zufall gerade weit genug, um aus der Hörweite der Wache zu sein. »Ich muss schließlich ein Geschäft führen. Wenn ich diese beiden Halunken allein lasse, dann stehlen sie mir wahrscheinlich noch das letzte Hemd.«

Pia vermutete, dass Brack sein letztes und zugleich einziges Hemd auf dem Leib trug, und das seit mindestens zehn Jahren und ununterbrochen. »Das reicht auch«, sagte sie. »In welche Richtung müssen wir gehen, um …« Ja, wohin eigentlich zu kommen?

Alicas zornsprühender Blick formulierte ganz genau dieselbe Frage, und das Bild, das sich ihnen außerhalb der Stadtmauer bot, verlieh ihr noch dazu eine ganz besonders perfide Note. Pia konnte selbst nicht sagen, was sie erwartet hatte – eigentlich nichts –, aber der Anblick war durch und durch deprimierend.

Die Stadt erhob sich auf einer sanften Anhöhe, und das Gelände fiel in alle Richtungen leicht ab. Vielleicht einen oder anderthalb Kilometer entfernt begann ein Wald, dessen Bäume selbst aus der Entfernung betrachtet sonderbar gedrungen wirkten, fast verkrüppelt. Auf dem Weg dorthin wuchsen nur vereinzelte dürre Büsche, und es gab keinen Stein, der größer als ein Fußball gewesen wäre. Anscheinend hatte man das Gelände sorgsam gerodet, um in alle Richtungen freie Sicht zu haben.

»Verrätst du mir jetzt vielleicht, wohin wir eigentlich gehen?«, sagte Alica. »Und warum wir überhaupt gehen?«

»Ich dachte, du willst nach Hause?«, fragte Pia.

»Aber doch nicht zu Fuß!«, jammerte Alica.

»Und du weißt nicht genau, wie ihr dorthin kommt«, vermutete Brack.

Pia hob die Schultern. Die Vorstellung, allein und noch dazu bei diesen Temperaturen loszumarschieren – und tatsächlich ohne die geringste Ahnung, wohin überhaupt –, jagte ihr zwar einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken, aber welche Wahl hatten sie schon? In der Stadt konnten sie nicht bleiben. Nicht, solange dieser Bursche hinter ihnen her war. Vielleicht hätte sie ihn doch erschießen sollen. Sie hob unglücklich die Schultern.

»Dann überlass es einfach deinen Schuhen«, sagte Brack lächelnd. »Die wissen den Weg schon.«

»Ja, sehr komisch«, murmelte Pia, vorsichtshalber aber so leise, dass nicht einmal Brack die Worte verstand. Er sah sie noch einen Herzschlag lang an, als sei er nicht nur ganz sicher, dass sie noch etwas sagen wollte, sondern auch was, hob dann aber nur die Schultern und ging ohne ein weiteres Wort. Pia sah ihm nach, bis er in den Schatten des Torbogens verschwand, doch sie sah auch die zweite, hochgewachsene Gestalt, die sich ihm aus der Stadt heraus näherte, und schrak so heftig zusammen, dass es Alica nicht entging.

»Was hast du?«, fragte sie alarmiert.

Pia hob hastig die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und sah der Gestalt mit klopfendem Herzen entgegen. Sie kam rasch näher, blieb dann jedoch stehen und begann mit dem Posten zu sprechen, und Pia erkannte ihren Irrtum. Es war nicht ihr hartnäckiger Verfolger. Erleichtert wandte sie sich zu Alica um und blickte in ein sehr, wirklich sehr zorniges Gesicht.

»Meinst du nicht, dass du mir allmählich verraten könntest, was zum Teufel hier eigentlich los ist?«, fauchte sie.

Ja, wahrscheinlich hatte sie recht. »Sie sind hier«, sagte Pia.

Alica riss die Augen auf. »Wer? Die Peraltas?«

»Die Männer, die hinter uns her waren«, antwortete Pia. »Ich habe einen von ihnen gesehen, heute Morgen, vor Bracks Haus.«

»Bist du sicher?«, fragte Alica. »Vielleicht hast du dich ja geirrt. Diese Kerle hier sehen doch alle total schräg aus.«

»Nicht so schräg«, erwiderte Pia. »Ich habe ihn erkannt. Und er mich.«

»Er … dich?«, wiederholte Alica stockend. »Du meinst, er … sie wissen, dass wir hier sind?«

»Der eine, den ich vorhin gesehen habe, ganz bestimmt«, antwortete Pia. »Oder glaubst du wirklich, dass er ganz zufällig vor dem Haus gestanden und noch zufälliger genau zu unserem Fenster hochgesehen hat?«

»Aber das ist vollkommen unmöglich«, beharrte Alica stur.

»Ich weiß«, antwortete Pia. »Genauso unmöglich wie das alles hier, nicht wahr? Aber wir sind nun einmal hier.«

»Ja, und wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie wir zurückkommen sollen«, fügte Alica finster hinzu. »Verdammt, Pia, du hast uns hierhergebracht, also bring uns gefälligst auch wieder zurück! Mach irgendwas! Mach noch mal dieses Schattending, was immer es auch war, oder sonst was, aber tu irgendetwas!«

Das klang ebenso kindisch wie absurd, aber vielleicht hatte Alica ja den Nagel auf den Kopf getroffen, ohne es zu wissen. Irgendetwas hatte sie getan, um in diese sonderbare Welt zu gelangen, zweimal sogar, und vielleicht konnte sie es ja auch noch ein drittes Mal.

Was verlor sie schon, wenn sie es versuchte?

Pia schloss die Augen, konzentrierte sich und versuchte, das Bild der Favelas vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören, die typischen schmalen Straßen und Gässchen, die einfachen Häuser und einfach gekleideten Bewohner, die typischen Geräusche und Gerüche, die tausend unterschiedlichen Sinneseindrücke und Einzelheiten, die zu der Welt gehörten, in der sie geboren und aufgewachsen war. Sie verwandte ihre ganze Kraft auf diese Erinnerung, und nach einer Weile glaubte sie tatsächlich etwas … Vertrautes zu spüren. Sie konzentrierte sich noch mehr, lauschte in sich hinein und in die Welt hinaus, und sie glaubte sogar das Sonnenlicht auf dem Gesicht zu fühlen, die erstickende Hitze, die schon am Morgen über den Favelas lag und bis zum Mittag unerträglich werden würde, und den typischen Geruch zu spüren. Sie schaffte es. Sie schaffte es. Und öffnete die Augen.

»Ja. Ganz toll«, sagte Alica. Hinter ihr erstreckte sich eine öde, gerodete Ebene, die nach etwas mehr als einem Kilometer in einen halb erfrorenen Wald aus verkrüppelten Bäumen überging.

»Ich habe es versucht«, sagte Pia niedergeschlagen. Seltsam – sie hatten sich nicht von der Stelle gerührt, aber das Gefühl des Vertrauten war immer noch da.

»Tja, scheint nicht geklappt zu haben«, sagte Alica leichthin. »Und was jetzt? Du willst nicht im Ernst einfach losmarschieren? Wir wissen ja nicht einmal, wo wir sind! Lass uns in die Stadt zurückgehen! Ich weiß, dieser Kerl ist noch da, aber vielleicht finden wir jemanden, der uns hilft. Und du hast immer noch deine Pistole!«

Pia dachte einen Moment lang ernsthaft über diesen Vorschlag nach, doch dann schüttelte sie nur umso entschiedener den Kopf. »Es ist viel zu gefährlich«, sagte sie. »Die Kerle kennen sich hier aus, wir nicht. Und niemand wird uns helfen. Ich traue diesem Brack nicht.«

»Aber hier draußen ist es sicherer, wie?«

Pia entschied, das sinnlose Gespräch zu beenden, hob nur die Schultern und marschierte einfach los. Hinter ihr gab Alica einen empörten Laut von sich, doch nach ein paar Sekunden schloss sie zu ihr auf und marschierte in beleidigtem Schweigen neben ihr her.

Mit jedem Schritt, den sie sich von der Stadt entfernten, schien es kälter zu werden. Der Wind heulte wie eine Bande losgelassener Dämonen, und der Boden unter ihren Füßen war so steinhart gefroren, dass das Gehen mit jedem Schritt ein bisschen mühsamer zu werden schien; zumindest für Alica, die bald mehr neben ihr herstolperte, als dass sie ging. Pia hingegen kam überraschend gut voran. Die Stiefel, die sie trug, mochten ja nicht wirklich verzaubert sein (was für ein Unsinn), aber sie waren ungemein bequem.

Dennoch war auch sie vollkommen außer Atem, als sie die ersten Bäume erreichten. Pia ging noch ein paar Schritte weiter, bis sie im Sichtschutz der Bäume waren, dann lehnte sie sich erschöpft gegen einen vereisten Stamm und schloss für einen Moment die Augen. Das einzige Geräusch, das sie hörte, waren Alicas keuchende Atemzüge, und zwischen den Baumstämmen schien es kälter zu sein als draußen auf der Ebene. Aber wenigstens waren sie aus dem Wind heraus.

Nach einer Weile zwang sie sich, die Augen zu öffnen und zur Stadt zurückzusehen. Ihr Mut sank. Sie hatten kaum einen Kilometer zurückgelegt – bergab! –, und Pia war jetzt schon vollkommen erschöpft und halb erfroren. Wie sich Alica fühlte, das wagte sie erst gar nicht zu fragen.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte Alica in weinerlichem Ton: »Und du bist wirklich sicher, dass das eine gute Idee war?«

Nein, ganz und gar nicht. Pia antwortete nicht, sondern ging die wenigen Schritte zum Waldrand zurück und wurde mit dem Anblick einer hochgewachsenen, in einen dunklen Kapuzenmantel gehüllten Gestalt belohnt, die ganz genau in diesem Augenblick aus dem Tor trat. So viel zu ihrer Idee, den Kerl abschütteln zu können, indem sie die Stadt verließen.

»O verdammt«, murmelte Alica neben ihr. Pia hatte nicht einmal gemerkt, dass sie ihr gefolgt war. »Du hast recht. Das ist der Kerl!«

Und nicht nur das, dachte Pia. Es war nicht nur der Kerl, er wusste auch ganz genau, wo sie waren. Sie befand sich viel zu weit entfernt, um mehr als Schatten unter seiner Kapuze zu erkennen, aber sie spürte seinen Blick wie die Berührung einer unangenehm warmen, trockenen Hand. Da war etwas Gieriges. Die absolute Entschlossenheit, sie einzuholen.

»Los!«, sagte sie. »Weiter!«

Kälte und Müdigkeit waren vergessen. Pia fuhr herum und stürmte los, so schnell es zwischen den dicht stehenden Bäumen überhaupt möglich war, und etwas sehr Seltsames geschah: Auf den ersten Schritten kostete es sie fast all ihre Kraft, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, tiefer in diesen finsteren Wald hineinzugehen, auch wenn sie noch so sicher war, dass auf der anderen Seite der Tod auf sie wartete.

Irgendwie gelang es ihr, diesen irrationalen Gedanken abzuschütteln und sich wieder ganz darauf zu konzentrieren, einen Weg zwischen den eng beieinanderstehenden Baumstämmen hindurch zu finden; was sich als gar nicht so einfach erwies. Es gab so gut wie kein Unterholz, und der Boden war hier weitaus ebener als draußen auf dem Hang, aber die Bäume traten immer dichter zusammen, und auch die Äste hingen bald so tief, dass sie sich immer öfter unter ihnen hindurchducken mussten. Trotzdem rannten sie eine geraume Weile, ohne langsamer zu werden, und Pia hätte vermutlich noch lange nicht angehalten, wäre Alica nicht irgendwann stehen geblieben und hätte sich erschöpft gegen einen eisverkrusteten Baumstamm gelehnt. Ihr Atem ging so schnell, dass sie nur noch japsen konnte. An ihrer Schläfe pochte eine Ader.

»Ich … kann nicht … mehr«, würgte sie hervor.

Etwas sagte Pia, dass sie es sich nicht leisten konnten, anzuhalten. Ihr Verfolger würde ganz bestimmt keine Pause machen. Sie spürte eine Unruhe, die es ihr fast unmöglich machte, stillzustehen. Aber sie konnten auch nicht weiter. Alica war am Ende.

»Also gut«, sagte sie. »Eine Minute. Aber nicht länger.«

Alica nickte dankbar, und Pia drehte sich voller Unbehagen einmal im Kreis und versuchte, mehr Einzelheiten von ihrer Umgebung auszumachen. Dieser Wald war wirklich beklemmend. Es war deutlich kälter, als es hier drinnen sein sollte, und die Schatten erschienen ihr unnatürlich tief. Außerdem war es zu still. Alles, was sie hörte, waren die gedämpften Laute, die Alica und sie verursachten, und ansonsten rein gar nichts.

Und dann waren da noch die Bäume.

Schon von Weitem hatten sie seltsam ausgesehen, aber aus der Nähe betrachtet waren sie schlichtweg unheimlich, und vielleicht nicht einmal mehr richtige Bäume. Sie waren zu klein und die Stämme zu dick. Bisher hatte sie ganz instinktiv vorausgesetzt, dass der weiße Schimmer darauf Eis sei, aber es war etwas anderes, von dem sie nicht einmal wusste, was es war. Aber es sah … ungesund aus.

Das Schlimmste waren die Äste. Mehr als alles andere erinnerten sie Pia an dünne, knochig-weiße Hände mit viel zu vielen Fingern und noch mehr Gelenken, die sich direkt nach ihnen auszustrecken schienen, und das aus allen Richtungen, ganz egal, wohin sie auch blicken mochte.

»Geht es wieder?«, wandte sie sich an Alica.

»Nein. Aber ich nehme an, das ist dir egal, oder?«

»Wenn du noch ein bisschen hier bleiben willst …«, antwortete Pia und hob die Schultern. »Ist doch ganz kuschelig, oder?«

Alica schenkte ihr einen giftigen Blick und stieß sich von dem Baumstamm ab – oder wollte es wenigstens. Ihr Umhang hatte sich in einem der knorrigen Äste verfangen, und als sie sich loszureißen versuchte, zerrte sie sich ganz versehentlich die Kapuze vom Kopf, und prompt verhedderte sich auch ihr Haar in dem dürren weißen Gespinst des tief hängenden Astes, unter dem sie angehalten hatte. Erst als Pia rasch hinzutrat und ihr half, gelang es ihr überhaupt, sich zu befreien.

»So ein Mist!«, schimpfte sie. »Wirklich, eine ganz grandiose Idee, hierherzukommen!«

Pia sagte vorsichtshalber nichts dazu, sondern zupfte Alica ein paar abgebrochene Äste aus dem Haar und beäugte den Zweig, in dem sie sich verfangen hatte, misstrauisch. Seltsam …sie hätte schwören können, dass der Ast vorher höher gehangen hatte, als Alica sich an den Baum lehnte.

»Lass uns weitergehen«, sagte sie nur. »Hier gefällt es mir nicht. Und pass auf, wo du hintrittst.«

»Sicher doch«, giftete Alica. »Insbesondere nicht in den falschen Wald.«

Aber das waren sie längst, dachte Pia schaudernd. Sie hätte auf Alica und ihre eigene innere Stimme hören sollen. Mit diesem Wald stimmte etwas nicht. Er war nicht nur unheimlich; er war gefährlich.

Sie hatten noch kein weiteres Dutzend Schritte gemacht, als sie erlebten, wie gefährlich.

Alica ging voraus, ganz einfach weil Pia instinktiv spürte, dass es besser war, sie im Auge zu behalten, und obwohl sie sich Mühe gab, den Bäumen nicht einmal nahe zu kommen, verfing sich ihr Umhang schon wieder in einem tief hängenden Ast. Fluchend versuchte sie sich loszureißen, verhedderte sich nur noch mehr und klang plötzlich eher erschrocken als zornig. Irgendetwas schien sich hinter und über ihr zu bewegen, aber zu schattenhaft und zu schnell, um es eindeutig zu erkennen.

Pia trat rasch hinzu, hielt Alicas wild fuhrwerkenden Arm fest und zog dann überrascht die Augenbrauen zusammen, als sie sah, wie hoffnungslos Alica sich in den wenigen Augenblicken verstrickt hatte. Einige der wie versteinertes totes Gedärm wirkenden Ranken hatten sich wie Schlangen um ihre Arme und Beine gewickelt und machten es ihr immer schwerer, sich überhaupt noch zu bewegen.

»Halt still!«, sagte Pia, wärend sie sich auf die Knie sinken ließ und zuerst zögerlich, dann immer fester zugriff, um die Ranken zu zerreißen. Es ging, kostete sie aber enorme Anstrengung. Ihre Hände waren zerschrammt und blutig, als sie Alica endlich aus dem Gewirr befreit hatte.

»Das ist doch nicht normal!«, beschwerte sich Alica. »Was zum Teufel ist denn das für ein Zeug?« Sie versuchte wütend zu klingen, doch es gelang ihr nicht, ihre Furcht zu überspielen.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Pia nervös. »Weiter. Lauf!«

Unglückseligerweise reichte das nicht. Alica verfing sich noch mehrere Male in tief hängenden Ästen, die oft genug wie aus dem Nichts aufzutauchen schienen. Manchmal kam es Pia beinahe so vor, als würde das knorrige Geäst regelrecht nach Alica greifen, aber diesen Gedanken wollte sie gar nicht zu Ende denken.

Nach einer schieren Ewigkeit – jedenfalls kam es ihr so vor – schimmerte es vor ihnen wieder hell durch die Bäume, und allein dieser Anblick verlieh ihnen die Kraft, dieses Stück schneller zurückzulegen; auch wenn Alica auf den letzten Metern noch einmal im Geäst hängen blieb und einen großen Fetzen ihres Umhanges und ein paar Haarsträhnen bei dem Versuch einbüßte, sich mit Pias Hilfe loszureißen. Endlich stolperten sie nebeneinander aus dem Wald. Pia erkannte die Gefahr und prallte mit einer erschrockenen Bewegung zurück, aber es war natürlich zu spät. Wie aus dem Nichts erschienen zwei, drei, schließlich vier Gestalten rings um sie herum, und noch bevor Pia auch nur richtig begriff, was geschah, hatten zwei von ihnen Alica bereits gepackt und zu Boden gerungen. Pia selbst entging den zupackenden Händen der anderen durch eine gedankenschnelle Bewegung und einen hastigen Schritt, mit dem sie wieder halb zwischen die vereisten Bäume zurückwich. Erstaunlicherweise verzichteten die beiden Männer darauf, ihr sofort nachzusetzen. Aber das änderte nicht viel. Einer der beiden Burschen, die Alica niedergerungen hatten, drehte ihr brutal den Arm auf den Rücken und hielt sie mit eiserner Kraft fest, während der andere in die Höhe sprang und sich zu seinen beiden Kumpanen gesellte. Alles ging unglaublich schnell, so schnell, dass Pia Mühe hatte, überhaupt zu begreifen, was hier eigentlich los war.

Dafür erlebte sie eine weitere Überraschung, als einer der drei Männer vor ihr seine Kapuze zurückschlug und sie sein Gesicht erkennen konnte. Sie war überzeugt gewesen, gleich in ein tätowiertes Antlitz zu blicken, das von einem verfilzten Bart eingerahmt wurde, aber das Gesicht, das unter der Kapuze zum Vorschein kam, war glatt rasiert und hatte nicht eine einzige Tätowierung. Trotzdem kannte sie es.

»Na, wenn das keine Überraschung ist«, sagte Brasil. »So schnell sieht man sich wieder. Obwohl ich es kaum noch zu hoffen gewagt hätte, als ich gesehen habe, welchen Weg ihr einschlagt.« Er schüttelte den Kopf. »Ihr müsst wirklich von weit her kommen … oder völlig verrückt sein, durch den Schlingwald zu gehen.«

Pia versuchte nicht einmal zu verstehen, wovon er sprach, und Brasil schien auch keine Antwort erwartet zu haben, denn er wandte sich mit einem fragenden Blick an den Mann, der Alica gepackt hielt; oder es wenigstens versuchte. Sie wehrte sich mit so verzweifelter Kraft, dass er alle Mühe hatte, sie festzuhalten, obwohl er deutlich größer war als sie und ganz bestimmt sehr viel stärker. »Hast du es?«

Der Bursche hielt Alica jetzt nur noch mit einer Hand fest, griff mit der anderen unter ihren Mantel und begann wild herumzugrapschen. Alica warf blitzartig den Kopf in den Nacken und schlug ihm auf diese Weise die Nase blutig. Brasil machte eine zornige Handbewegung, woraufhin ein zweiter Mann dem Kerl zu Hilfe kam und Alica durchsuchte, während er sie nunmehr mit beiden Händen festhielt. Nach einem Moment richtete er sich wieder auf und gab Brasil Alicas Zippo.

»Ist es das?«

Brasil nahm das Feuerzeug mit einer fast schon ehrfürchtig wirkenden Bewegung entgegen und bestaunte es von allen Seiten. Pia hatte immer mehr Mühe zu glauben, was sie da sah.

»Moment mal«, murmelte sie. »Ihr macht das alles hier nur wegen eines Feuerzeugs?«

»Mitnichten, Gaylen«, antwortete Brasil, wobei er den Namen auf eine seltsame Weise betonte. »Auch wenn es sich schon für dieses Wunderding allein gelohnt hätte … aber du hast natürlich recht. Es gibt da noch einen … nun ja … ungeklärten Punkt zwischen uns.«

Pia seufzte. Unter dem Mantel kroch ihre Hand zum Pistolengriff und tastete nach dem Sicherungsbügel. Sie wollte Brasil nicht erschießen. Aber vielleicht würde sie es müssen. Sie hatte den Burschen richtig eingeschätzt. Er war ein Feigling. Einer von der ganz besonders gefährlichen Sorte.

»He, das war doch nur ein Missverständnis«, sagte sie. »Ich bin sicher, wir finden einen Weg, wie wir unseren Streit beilegen können.«

»Ja, da bin ich auch sicher«, antwortete Brasil. Er winkte knapp, und der Mann links von ihm setzte sich in Bewegung und kam mit wiegenden Schritten auf sie zu. Für einen Einwohner von WeißWald war er sehr groß, was bedeutete, dass er ungefähr zwei Fingerbreit kleiner war als Pia, wenn auch ein gutes Stück kräftiger. Sie wartete, bis er fast heran war, dann zog sie die Pistole unter dem Umhang hervor, schlug ihm den Lauf quer über das Gesicht und packte den Burschen mit der anderen Hand am Schlafittchen, als er mit einem überraschten Ächzen zurückwankte. Den Schwung seiner eigenen Bewegung ausnutzend, schleuderte sie ihn einfach an sich vorbei und zwischen die Bäume, packte die Waffe dann mit beiden Händen und legte auf Brasil an.

»Ich habe hier noch ein Wunderding aus unserer Heimat«, sagte sie. »Möchtest du es auch haben?«

»Du verdammte …«, keuchte Brasil, senkte mit einem fast tierisch klingenden Knurren die Schultern und stürmte wie ein wütender Stier auf sie los.

Aus dieser Entfernung konnte Pia gar nicht danebenschießen.

Die Kugel traf seinen linken Oberarm, stanzte ein sauberes Loch in seinen Bizeps und riss ihn herum. Pia steppte einen halben Schritt zur Seite, um nicht umgeworfen zu werden, als er fiel, und richtete die Waffe auf den zweiten Mann. Der Bursche hatte wahrscheinlich noch nie im Leben eine Feuerwaffe gesehen, aber dafür umso besser, was Brasil zugestoßen war, und er war nicht dumm. Ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern, wirbelte er auf dem Absatz herum und rannte davon. Pia trat rasch zu Alica hin und verpasste dem Kerl, der ihr den Arm auf den Rücken bog, einen Fußtritt auf die Nase, die ohnehin schon heftig blutete. Der Kerl heulte auf und ließ Alicas Arm los, und Alica stieß den Ellbogen mit aller Gewalt nach hinten. Zielsicher traf sie seine Nase, und jetzt gab er endgültig auf und fiel bewusstlos hintenüber.

Noch bevor er im Schnee aufschlug, fuhr Pia schon wieder herum und richtete die Pistole auf Brasil. Der krümmte sich winselnd am Boden, presste die Hand gegen den blutenden Arm und stellte keine Gefahr mehr dar. Von dem Burschen, der sie zu packen versucht hatte, war überhaupt nichts mehr zu sehen. Vermutlich hatte auch er seine Chance genutzt und war weggelaufen, solange er es noch konnte.

»Pass auf den Kerl auf«, sagte sie, während sie sich ganz zu Brasil drehte.

»Worauf du dich verlassen kannst!«, versprach Alica grimmig. Dann erscholl ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem halblauten Stöhnen.

»So, und jetzt zu uns.« Pia ließ sich neben Brasil in die Hocke sinken, hielt ihn mit der Pistole in der rechten Hand in Schach und griff mit der anderen in seine Tasche, um ihm das Feuerzeug wieder wegzunehmen. Sie fand es, zusammen mit einem kleinen Lederbeutel, in dem es hörbar klimperte und den sie vorsichtshalber ebenfalls an sich nahm. Hinter ihr wiederholte sich das Ächzen; lauter.

»Du bist also der Meinung, zwischen uns gäbe es noch etwas zu klären?«

»Nein, gar nichts«, stieß Brasil zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Schulter blutete wirklich heftig. Pia war ein bisschen erstaunt, wie viel Schaden ein so kleines Kaliber doch anrichten konnte, wenn man sich nur genug Mühe gab. »Wirklich, wir sind jetzt … quitt.«

»Nicht ganz«, sagte Pia. Hinter ihr erscholl ein noch lauteres Stöhnen, und sie sah zumindest so lange hinter sich, um zu erkennen, wie Alica dem halb bewusstlosen Burschen zum dritten Mal mit aller Kraft in den Leib trat.

»Lass ihn leben, Alica«, sagte sie.

»Muss ich?«, fragte Alica, während sie erneut und mit aller Gewalt zutrat. Pia konnte hören, wie eine seiner Rippen brach. Mindestens eine.

»Es wäre besser«, erwiderte Pia und sah, wie Brasil sich aufzurichten versuchte; vermutlich, um irgendetwas ziemlich Dummes zu tun. Sie brachte ihn auf andere Ideen, indem sie seinem durchschossenen Bizeps einen freundschaftlichen Klaps mit dem Pistolenlauf versetzte.

»Ich denke, wir werden uns einig«, sagte sie, nachdem Brasil aufgehört hatte zu schreien. »Du beantwortest mir ein paar Fragen, und wenn ich mit deinen Antworten zufrieden bin, dann lasse ich dich am Leben. Was hältst du davon?«

»Ein … gerechter Vorschlag«, sagte Brasil gepresst. »Was …willst du … wissen?«

Pia tätschelte seinen Oberarm noch einmal mit dem Pistolenlauf, nur um ihn hinlänglich zu motivieren.

»He, das ist unfair!«, beschwerte sich Alica. »Wieso darfst du, und ich nicht?«

»Also gut, ein Mal«, seufzte Pia. »Aber nicht mehr.«

Sie wartete, bis das erstickte Ächzen hinter ihr verklungen war, dann wandte sie sich wieder an Brasil. »Wer hat euch geschickt?«, fragte sie. »Brack?«

»Nein!«, versicherte Brasil hastig. »Er hat nichts damit zu tun. Wirklich!«

Pia glaubte ihm. Sie traute Brack zwar immer noch nicht vollständig – wie denn, sie kannte ihn ja kaum –, aber sie konnte sich eigentlich auch nicht vorstellen, dass er etwas mit diesem hinterhältigen Überfall zu tun hatte. So dumm war er nicht.

»Dann wart ihr nur wegen des Feuerzeugs hinter uns her?«, vergewisserte sie sich.

»Ja«, antwortete Brasil hastig. »Und wegen …«

»Ich kann es mir denken«, sagte Pia, als Brasil nicht weitersprach, sondern sie nur aus großen Augen anstarrte, die voller Furcht waren.

»Noch eine letzte Frage«, sagte sie. »Was weißt du über uns? Über Alica und mich?«

»Über euch? Nichts! Ich habe euch heute Morgen zum ersten Mal gesehen! Das ist die Wahrheit!«

»Schieß ihm auch noch in den anderen Arm«, sagte Alica. »Vielleicht wird er dann redseliger.« Pia konnte hören, wie sie abermals zutrat, und nahm sich vor, bei passender Gelegenheit einmal mit Alica über den Unterschied zwischen Notwehr und exzessiver Gewalt zu sprechen. Aber nicht jetzt.

»Hat sich irgendjemand in der Stadt nach uns erkundigt?«, fragte sie weiter. »Fragen gestellt oder sich komisch benommen?«

»Aber niemand kennt euch in der Stadt! Wer sollte denn nach euch fragen?«

Pia machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, aber sie glaubte auch zu spüren, dass Brasil jetzt die Wahrheit sagte. Mit einem bedauernden Achselzucken hob sie die Waffe, schmetterte ihm den Lauf gegen die Schläfe und stand auf, während er die Augen verdrehte und bewusstlos in den Schnee sank.

»Und? Was hat er gesagt?«, fragte Alica.

Pia überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass Alicas lebender Punching-Ball noch atmete, und machte dann eine Geste in den Wald zurück. »Wir sollten weitergehen. Der andere Kerl ist bestimmt noch hinter uns her.« Und irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass er es ihnen so leicht machen würde. Brasil und seine Spießgesellen waren nichts als Amateure, aber der Kerl, den sie in der Stadt gesehen hatte, war ein Profi. »Nichts«, beantwortete sie dann und mit einiger Verspätung Alicas Frage. »Jedenfalls hat Brack nichts damit zu tun.«

»Sagt er.«

»Ich glaube ihm.«

Alica machte ein zweifelndes Gesicht, griff unter ihren Mantel und zog die Zigarettenpackung heraus. Gleichzeitig streckte sie die andere Hand aus und machte eine Kopfbewegung auf das Zippo, das Pia immer noch in der Linken hielt. Sie reichte es ihr, schüttelte aber auch den Kopf.

»Du solltest dir die Dinger gut einteilen«, sagte sie mit einer Geste auf die Zigarettenschachtel. »Könnte sein, dass es bis zum nächsten Automaten ziemlich weit ist.«

Alica machte ein betroffenes Gesicht, hob aber dann die Schultern, setzte ihre Zigarette in Brand und nahm einen tiefen Zug. »Du hast ja recht, aber jetzt brauche ich eine.«

Pia hob nur die Schultern und sah sich unschlüssig um. Die kahle Ebene, die sie nach dem Verlassen der Stadt erwartet hatte, setzte sich auch auf dieser Seite jenseits des Waldstücks fort. Hier und da erhoben sich Bäume – einzeln oder in kleinen Gruppen, allesamt verschneit, aber sie sahen wenigstens allesamt normal aus, nicht so gespenstisch wie die, die hinter ihnen lagen. Weit entfernt, gerade noch sichtbar, schimmerte ein dünnes silbernes Band, wie ein Feenhaar, das jemand achtlos fallen gelassen hatte; vielleicht ein zugefrorener Fluss. Die Spuren des Burschen, den sie hatten davonlaufen sehen, führten in gerader Linie von ihnen weg und verschwanden nach ein paar Dutzend Schritten im Schnee, und Pia war ziemlich sicher, dass er nicht zurückkommen würde. Das Entsetzen in seinen Augen war zu echt gewesen.

Doch da war noch immer der vierte Mann. Wahrscheinlich hatte sie ihm die Nase gebrochen, und er war erst einmal verschwunden, um seine Wunden zu lecken und den ersten Schrecken zu überwinden. Aber Pia hatte in seine Augen geblickt. Sie erkannte nicht nur einen Feigling, wenn sie ihn sah, sondern auch einen professionellen Schläger. Die Chancen, dass er zurückkam, standen gar nicht so schlecht. Vielleicht war es besser, sie fand ihn, bevor er sie fand.

Sie schob die Pistole wieder unter den Hosenbund zurück, blieb aber dennoch auf der Hut, während sie sich dem Waldrand näherte und die schwarzen Schatten zwischen den Bäumen aufmerksam mit Blicken absuchte. Nichts rührte sich, und sie war auch ziemlich sicher, dass der Bursche nicht in der Nähe war. Sie hätte es gespürt. Trotzdem machte sie einen weiteren Schritt und versuchte noch angestrengter, irgendetwas in der Dunkelheit vor sich zu erkennen. Vergeblich.

»Was tust du da?«, fragte Alica. Sie klang beunruhigt.

»Ich frage mich, wo er geblieben ist«, antwortete Pia.

»Du willst doch nicht etwa wieder da rein?«, flüsterte Alica. Jetzt klang sie eindeutig entsetzt.

Von wollen konnte gar keine Rede sein. Aber nicht nur einen, sondern gleich zwei unberechenbare Verfolger hinter sich zu wissen, das wollte sie noch sehr viel weniger.

Sie bedeutete Alica, zurückzubleiben, legte vorsichtshalber die rechte Hand auf den Pistolengriff und trat mit zögernden kleinen Schritten zwischen die Bäume.

Brasils Mietschläger war nicht einmal fünf Meter weit gekommen. Er lag auf dem Boden, verkrümmt und in einer Haltung, die eigentlich kein Mensch aushalten konnte, und das hatte er offensichtlich auch nicht. Man musste kein Pathologe aus einer Fernsehserie sein, um zu erkennen, dass so ziemlich jeder einzelne Knochen in seinem Leib gebrochen war. Unzählige weiße Ranken hatten seinen Körper umschlungen, seine Haut aufgerissen und seine Glieder in Positionen und Winkel gezwungen, für die sie von der Natur nicht vorgesehen waren.

Hinter ihr keuchte Alica entsetzt. Natürlich war sie ihr gefolgt, und als Pia sich zu ihr umwandte, glaubte sie für den Bruchteil einer Sekunde, eine Bewegung zu sehen, nicht hinter oder über oder neben ihr, sondern irgendwie … überall und zugleich nirgends.

»Großer Gott, was ist denn hier passiert?«, ächzte Alica. Sie starrte den Toten an, und Pia konnte das blanke Entsetzen sehr gut nachvollziehen, das sie in ihren weit aufgerissenen Augen las. Es war dasselbe Gefühl, das auch sie empfand. Der Mann war nicht einfach nur tot. Er sah aus wie das Opfer eines schrecklich schiefgegangenen Bondage-Experiments.

»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Aber ich möchte eigentlich nicht hierbleiben und es herausfinden.« Wie hatte Brasil diesen Ort genannt? Schlingwald? »Du?«

Sie bekam keine Antwort. Alica war einfach zur Salzsäule erstarrt und blickte aus aufgerissenen Augen an ihr vorbei. Mit klopfendem Herzen drehte sich Pia herum.

Es gab tatsächlich zwei Verfolger. Der eine lag hinter ihr, der andere war der Neandertaler, dem sie ins Bein geschossen hatte, aber das war im Moment wahrscheinlich sein geringstes Problem.

Er stand keine fünf Meter von ihnen entfernt, das rechte Bein noch wie zu einem Schritt erhoben, mit ausgebreiteten Armen und eher erstauntem als wirklich entsetztem Gesichtsausdruck, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte. Die Äste hatten ihn nicht eingewickelt und zu Tode gequetscht wie Brasils glücklosen Gehilfen, sondern sich zu etwas zusammengefügt, das schon fast unheimliche Ähnlichkeit mit einem riesigen Spinnennetz hatte. Der Mann hing mit ausgestreckten Armen im Zentrum des grässlichen Gebildes, und seine Glieder, sein Körper, sein Hals und selbst sein Gesicht waren von Dutzenden spitzen Ästen durchbohrt worden.

»Hast du vielleicht etwas dagegen, wenn wir verschwinden?«, fragte Alica mit bebender Stimme.

Statt zu antworten, ergriff Pia ihre Hand und floh regelrecht mit ihr aus dem Wald. Es waren nur wenige Schritte, aber sie waren durch und durch entsetzlich, und das Gespenstischste, das sie bis zu diesem Moment überhaupt erlebt hatte. Plötzlich war es rings um sie herum nicht mehr still. Überall raschelte und knisterte es, und da waren schattenhafte Bewegungen, wie unzählige Knochenfinger, die nach ihnen zu greifen versuchten, ihnen den Weg verwehrten und gefährliche Fallstricke und Hindernisse bildeten, aber jedes Mal im letzten Moment wieder zurückschnellten. Keine der unheimlichen Schlingen und Schemen berührte sie auch nur.

Trotzdem stürmten sie nicht nur aus dem Wald, sondern noch ein gutes Stück weiter, bevor sie es endlich wagten, anzuhalten und zurückzusehen.

Hinter ihnen rührte sich nichts. Der Waldrand lag so still und regungslos da wie eh und je.

Aber das war vielleicht das Unheimlichste überhaupt.

»Was war das, Pia?«, krächzte Alica. Sie hatte ihre Zigarette fallen gelassen und warf einen fast sehnsüchtigen Blick darauf, wagte es aber nicht, auch nur die zwei Schritte in Richtung Waldrand zurückzugehen, um sie aufzuheben. Ihr Gesicht war fast genauso weiß wie der Schnee, auf dem sie standen.

»Das will ich gar nicht wissen«, antwortete Pia ehrlich.

»Ich glaube, ich auch nicht«, sagte Alica nach einer Weile. Nach einer weiteren – sehr viel längeren – Weile fügte sie hinzu: »Und wohin gehen wir jetzt?«

»Ich glaube, ich überlasse meinen Schuhen nun die Entscheidung«, erwiderte Pia. Alica starrte sie nicht nur an, als zweifle sie in diesem Moment an ihrem Verstand, sondern tat es ganz bestimmt auch.

Aber wenigstens Brack lächelte, als sie eine halbe Stunde später und bis auf die Knochen durchgefroren wieder in den Weißen Eber traten.

»Das hat jetzt aber länger gedauert, als ich erwartet hätte«, sagte er.

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