XVIII

Wenn es irgendetwas gab, was Pia noch mehr überraschte als der Anblick eines Pferdes, das mit den Flügeln schlug und über die Stadtmauer flog, dann war es vielleicht der Umstand, dass niemand den Zwischenfall erwähnte; weder an diesem noch an einem der darauffolgenden Tage. Natürlich traf Alica beinahe der Schlag, als sie mit blutigen Händen und Kleidern zu ihr zurückkam, aber nachdem sie sich erst einmal davon überzeugt hatte, dass es nicht ihr Blut war, und Pia ihr erzählt hatte, was gerade passiert war, schien sie sich eher Sorgen um ihren Geisteszustand zu machen.

Pia rechnete damit, spätestens eine halbe Stunde nach ihrer Rückkehr in den Weißen Eber wieder das Vergnügen einer ernsten Unterhaltung mit Istvan zu haben. Aber er kam weder nach einer halben noch nach einer ganzen Stunde und auch nicht nach zwei oder drei. Niemand kam, und auch Brack schien nichts erfahren zu haben … entweder war er ein begnadeter Schauspieler, oder Vorfälle wie diese standen in WeißWald auf der Tagesordnung und waren es deshalb nicht einmal wert, um darüber zu reden. Später an diesem Tag kamen die ersten Gäste, und auch sie erwähnten Flammenhufs spektakuläre Flucht nicht mit einem einzigen Wort. Dasselbe galt für den Tag danach und für den danach und den darauffolgenden, bis Pia den bizarren Zwischenfall schon beinahe zu vergessen begann – und sich fragte, ob das alles tatsächlich passiert war oder sie vielleicht schon wieder einer Illusion aufsaß, mit der ihre durchgeknallte Fantasie sie zum Narren hielt.

Das mit Abstand Dramatischste, was in den nächsten acht Tagen geschah, war ein weiterer Besuch Aressas, die jene Kleider brachte, die sie nach Alicas Entwürfen angefertigt hatte. Die Kleider – und vor allem Alicas Kopftuch, dessen Zauberknoten Pia nach anfänglichem Zögern nun jeden Abend ein- oder zweimal benutzte – taten ihren Dienst, so altmodisch sie auch aussehen mochten. Der Weiße Eber war stets bis auf den letzten Platz besetzt, und die Anzahl der Gäste, die Brack abweisen musste, stieg täglich. Istvan ließ sich nur ein einziges Mal blicken, und das nicht zu einer Inspektion oder um sie wieder einmal ein bisschen zu bedrohen und unter Druck zu setzen, sondern als ganz normaler Gast, der aß und eine Menge Bier trank und lange nach Mitternacht leicht angetrunken nach Hause wankte.

Nach und nach begann sich Pia an das Leben im Weißen Eber zu gewöhnen. Sie fand es weder besonders angenehm, noch erlaubte sie sich gar, es zu akzeptieren, aber sie verfiel doch – ob sie es wollte oder nicht – in eine schleichende Routine, von der sie spürte, wie gefährlich sie war. Und um wie viel gefährlicher sie noch werden würde, wenn sie zu lange hierblieb.

Bis zu dem Tag, an dem Valorens Vertrauensmann zu ihnen kommen sollte (Pia musste sich eingestehen, dass sie seinen Namen völlig vergessen hatte), würden noch drei Nächte vergehen, und Pia wusste, dass sie spätestens dann eine Entscheidung fällen musste, selbst wenn diese nur darin bestand, ob sie zu diesem Treffen ging oder nicht.

Es wurde ein sehr langer Tag; und eine sehr kurze Nacht. Schon lange bevor die kurze Dämmerung hereinbrach und das geschäftige Leben und Treiben in den Straßen von WeißWald einem umso stilleren Feierabend wich, war der Weiße Eber bis auf den letzten Platz gefüllt. Brack, der aus dem Grinsen gar nicht mehr herauskam, musste nicht nur bald wieder die ersten Gäste wegschicken, sondern erhöhte gleich noch einmal die Bierpreise, was zwar zu einem allgemeinen Murren und Protestieren führte, aber nicht dazu, dass auch nur ein einziger Gast das Lokal verließ.

Genau wie an den Tagen zuvor waren die Gäste wohl weniger von Bracks überteuertem Bier oder reichhaltigem Essen angelockt worden – so vorzüglich es zugegebenermaßen auch sein mochte –, sondern sie wollten Alica und sie (und vor allem sie) sehen. Besser gesagt, sie zu begaffen wie ein seltenes Tier im Zoo oder eine besonders skurrile Attraktion in einer Freak-Show. Der Gedanke ärgerte Pia über die Maßen, doch irgendwann stellte sie fest, dass er zwar ohne Zweifel frustrierend, erniedrigend und ganz eindeutig demütigend war, aber auch in keinster Weise hilfreich. Dazu kam, dass ihr kaum noch Energie blieb, an irgendetwas anderes zu denken, auch wenn Alica und Lasar ohnehin das allermeiste erledigten und die Gäste bedienten, Bestellungen aufnahmen, Geld einstrichen oder hastig sauber machten, wenn einer der Gäste seinen Platz für Nachrückende räumte. Schließlich hörte sie auf, abwechselnd mit dem Schicksal zu hadern und sich selbst leidzutun, und konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Arbeit.

Die sie voll und ganz in Anspruch nahm, wie sich zeigte. Brack verkaufte sein Bier beinahe schneller, als sie es in Krüge füllen konnte, und ein- oder zweimal eindeutig schneller, als Lasar in der Lage war, ein neues Fass hereinzurollen und anzustechen.

Erst eine Stunde vor Mitternacht begann es ein wenig ruhiger zu werden. Der Schankraum war noch immer bis auf den letzten Platz besetzt, aber Brack musste immerhin nicht mehr Gäste wegschicken, als er einließ, und Alica fand zum ersten Mal an diesem Abend Zeit, zu ihr hinter die Theke zu kommen und sich erschöpft gegen die schlampig gezimmerte Konstruktion zu lehnen.

»Allmählich frage ich mich, ob du nicht recht gehabt hast«, seufzte sie.

Pia füllte erst pedantisch den Bierkrug voll und stellte ihn auf die Theke, bevor sie sich zu ihr herumdrehte. »Womit?«

»Dass es eine Schnapsidee war, hier als Kellnerin anzuheuern«, sagte sie. »Noch so ein Tag und ich kippe aus den Latschen. Meine Füße bringen mich ja jetzt schon um.«

»Es war deine Idee.«

Alica bedankte sich mit einem ärgerlichen Blick, seufzte aber nur und kramte ihre zerknautschte Zigarettenschachtel unter dem Umhang hervor, ließ ihr Feuerzeug aufschnappen und schloss genießerisch die Augen, während sie einen ersten, tiefen Zug nahm. Pia registrierte beiläufig, dass für einen Moment alle Gespräche im Raum verstummten – und nicht alle Blicke, die Alica (und vor allem ihr Zippo) trafen, waren nur erstaunt oder erschrocken.

»Ah«, seufzte Alica noch einmal. »Das habe ich jetzt gebraucht.«

Pia linste in ihre Packung und runzelte dann die Stirn. In den vergangenen Tagen hatte Alica in puncto Rauchen eine schier unglaubliche Disziplin an den Tag gelegt, dennoch neigten sich ihre Vorräte nun erbarmungslos dem Ende zu. »Noch zwei Stück«, sagte Pia. »Sieht so aus, als müsstest du dir eines deiner kleinen Laster in allernächster Zukunft abgewöhnen.«

»Und das freut dich, wie?«, grollte Alica.

»Keineswegs. Aber Zigaretten werden bald nicht das Einzige sein, was uns fehlt.«

Alica wirkte ein bisschen erschrocken, doch nach einer Sekunde hob sie nur die Schultern, schnippte ihre Zigarettenasche auf den Boden und nahm einen weiteren und noch tieferen Zug. »Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte sie. »Hast du zufällig auch eine geniale Idee, was wir daran ändern könnten?«

»Das Rauchen aufgeben?«, schlug Pia vor.

»Abgelehnt«, sagte Alica »Vielleicht finde ich ja einen Ersatz. Ich habe auf dem Markt ein paar Pflanzen entdeckt, die fast wie Tabak aussehen. Ich werde mir gleich morgen etwas davon besorgen und ein bisschen herumexperimentieren.«

»Ja, eine hervorragende Idee«, antwortete Pia. »Ich meine: Wir sind zwar nicht freiwillig hier, aber wir sind trotzdem so etwas wie Botschafterinnen aus einer anderen Welt, oder? Und was ist das Erste, was wir ihnen bringen? Lungenkrebs und Herzinfarkt.«

»Genauso haben sich die Ureinwohner Nordamerikas auch an denen gerächt, die ihnen ihr Land gestohlen haben, wenn ich mich richtig erinnere«, antwortete Alica ungerührt. »Hat doch funktioniert. Ich schätze, wenn man die Zahl der Nikotintoten gegen die der abgeschlachteten Indianer aufrechnet, machen die Apachen einen guten Schnitt.«

Pia wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment ging die Tür auf, und der Anblick des Trios, das hereinkam, ließ sie die alberne Diskussion auf der Stelle vergessen.

Alle drei waren Männer, aber das war auch schon fast alles, was Pia über sie sagen konnte, und im Grunde war auch das nur eine Vermutung, die sich auf ihre langen knallroten Bärte stützte. Sie waren zu kunstvollen Zöpfen geflochten und reichten fast bis auf den Boden, obwohl sie gerade einmal einen knappen Meter lang waren; und damit fast so lang wie ihre Träger.

»Das sind …!«, ächzte Alica und riss ungläubig die Augen auf.

»Zwerge«, sagte Brack. Er klang fast erschrocken. »Starrt sie nicht so an, bei Kronn! So etwas mögen sie gar nicht!«

Alica starrte das seltsame Trio einfach weiter an, genau wie Pia, und damit waren sie nicht allein. Jeder hier drinnen hatte sich soeben zur Tür gewandt. Bierkrüge waren auf halbem Wege zu offenen Mündern erstarrt, und für einen winzigen Moment wurde es so still, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Die meisten Gesichter sahen genauso erschrocken aus, wie Brack sich angehört hatte.

Dann warf der letzte Neuankömmling die Tür mit einem Knall hinter sich zu, und das Leben im Schankraum lief weiter, als hätte jemand nur kurz eine imaginäre Pause-Taste gedrückt und gleich wieder losgelassen.

»Bier!«, flüsterte Brack hastig. »Rasch, Mädchen! Drei frische Krüge Bier, und achte darauf, dass sie auch ganz voll sind!«

Die drei grotesken Gestalten steuerten einen Tisch an, dessen momentane Besitzer es sehr eilig hatten, von ihren Schemeln hochzuspringen und ihre Plätze zu räumen. Es war nicht bloß ihre Größe, die sie so sonderbar fremdartig und vertraut zugleich erscheinen ließ. Keiner von ihnen reichte Pia auch nur bis zur Brust, aber sie waren fast genauso breit wie hoch, und auch ihre übrigen Proportionen stimmten nicht. Arme und Beine waren zu kurz, die Köpfe dafür entschieden zu groß; sie wirkten wie Liliputaner – Liliputaner allerdings, die sich vorwiegend von Steroiden ernährten. Ihre Hände waren Pranken, und die schwieligen Stummelfinger sahen aus, als hätten sie keine Probleme damit, Eisenbahnschwellen zu zerbrechen. Was Pia unter ihren Bärten und dem wild wuchernden Haar von ihren Gesichtern erkennen konnte, wirkte wie aus grobem Stein gemeißelt. Gekleidet waren alle drei in zerschlissene Kapuzenmäntel und schwere Stiefel, und als sie sich bewegten, klirrte und schepperte es unter ihrer Kleidung. Pia musste nicht fragen, um zu wissen, dass sie bewaffnet waren, und das vermutlich nicht bloß mit Messern.

Die drei nahmen Platz, und Brack erschien wie hingezaubert nicht nur neben ihnen, sondern scheuchte auch mit einer unwilligen Geste den letzten Zecher davon, der keine Anstalten machte, seinen Platz zu räumen, sondern die drei abgebrochenen Riesen nur mit offenem Mund anstarrte.

»Zwerge«, murmelte Alica. Sie klang immer noch völlig fassungslos. »Das … das sind … leibhaftige … Zwerge!«

»Stell dir vor, das ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete Pia, aber der belegte Klang ihrer Stimme nahm ihren Worten die spöttische Wirkung.

»Aber das ist vollkommen unmöglich«, beharrte Alica.

»Wie so manches andere hier?«

»Das meine ich nicht.« Alica sog so aufgeregt an ihrer Zigarette, dass ihr Gesicht kurzzeitig hinter einer graublauen Rauchwolke verschwand. Pia hustete demonstrativ, was sie aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Stattdessen begann Alica aufgeregt mit beiden Händen zu wedeln. »Das sind Zwerge! Ich wundere mich kein bisschen, dass es hier so was gibt. Ich würde mich nicht einmal wundern, wenn gleich ein leibhaftiger Drache reinschneien würde.«

»Und was ist es dann?«, fragte Pia. Sie behielt Brack und seine drei neuen Gäste aufmerksam im Auge. Wer immer diese Zwerge auch waren, sie mussten wirklich sehr einflussreich sein; oder gefährlich. Pia konnte sich nicht erinnern, Brack jemals so unterwürfig gesehen zu haben. Nicht einmal in Istvans Gegenwart.

»Es fällt dir tatsächlich nicht auf?«, fragte Alica. »Das sind nicht einfach nur Zwerge! Sie haben lange Bärte und rotes Haar, sind klein und grob und laut …«

»Das ist mir aufgefallen«, sagte Pia.

»… und sie sehen ganz genauso aus, wie wir uns Zwerge in einer Welt der Elfen und Feen vorgestellt hätten, oder?«

Pia dachte an ein edel geschnittenes blasses Gesicht unter einem spitzen Silberhelm und einen geflügelten weißen Hengst. »Und?«

»Das kann doch kein Zufall sein«, beharrte Alica. »Verdammt, hier stimmt doch was nicht!«

»Und was soll das sein?«

»Sag du es mir«, antwortete Alica. »Du bist hier die Elfenprinzessin, nicht ich.«

Pia war beinahe dankbar, dass Brack in diesem Moment zurückkam – auch wenn er ein sehr finsteres Gesicht machte und noch immer ziemlich erschrocken aussah, vielleicht auch verängstigt. »Wo bleibt das Bier, bei Kronn?«, polterte er. »Soll ich unsere Gäste noch länger warten lassen?«

Pia beeilte sich, rasch hintereinander drei Krüge Bier zu zapfen; ganz wie Brack es gerade gesagt hatte, ohne Schaum, dafür aber randvoll. Als Alica danach greifen wollte, schüttelte Brack den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Die Zwerge möchten, dass du sie bedienst.«

»Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung«, widersprach Pia.

»Das haben wir auch«, antwortete Brack hastig. »Es ist auch nur eine Ausnahme, mein Wort darauf. Aber wenn ein Zwerg etwas will, dann tut man besser daran, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.«

»Weil sie so gut zahlen«, vermutete Pia.

Bracks Miene wurde noch einmal deutlich bekümmerter. »Ich fürchte, sie werden gar nicht zahlen«, sagte er betrübt. »Ich danke Kronn auf den Knien, sollte mein Lokal noch in einem Stück sein, wenn sie gehen. Nach ihrem letzten Besuch hat es eine Woche gedauert, bis ich wieder Gäste empfangen konnte.«

»Wenn es so ist, warum wirfst du sie nicht einfach raus?«

»Rauswerfen?«, wiederholte Brack. »Man merkt wirklich, dass du von weit her kommst, Mädchen. Niemand legt sich mit Zwergen an.« Er wedelte ungeduldig mit der Hand, als Pia widersprechen wollte. »Jetzt geh und bring ihnen ihr Bier, bevor sie ungeduldig werden und du vorgeführt bekommst, warum ich so wenig erfreut über ihren Besuch bin.«

Und das sollte sie also motivieren? Pia überlegte ernsthaft, Brack mit blumigen Worten zu erklären, wohin er sich die drei Bierkrüge stecken konnte, aber dann sah sie den Ausdruck in seinen Augen und begriff, dass er wirklich Angst hatte.

Achselzuckend versuchte sie, die drei Krüge gleichzeitig zu ergreifen, scheiterte kläglich an diesem Vorhaben und nickte dankbar, als Alica ihr beisprang und wenigstens einen der Krüge ergriff. Zusammen trugen sie sie zum Tisch.

Die allgemeinen Gespräche und Unterhaltungen hatten längst wieder eingesetzt, aber etwas hatte sich geändert. Pia hätte schon blind und taub sein müssen, um nicht zu merken, dass wirklich jeder hier drinnen versuchte, Alica und die drei Zwerge – und vor allem sie – möglichst unauffällig im Auge zu behalten, während sie sich dem Tisch näherte. Sie selbst versuchte dasselbe (wenn auch alles andere als unauffällig) mit den beiden Bierkrügen, um auch ja keinen Tropfen zu verschütten. Es gelang ihr nicht ganz, aber immerhin lud sie das meiste auf dem Tisch ab, und die drei Zwerge schienen ihr die wenigen verschütteten Tropfen nicht übel zu nehmen; wenigstens ihrem breiten Grinsen nach zu schließen, bei dem sie Alica und ihr die mit Abstand schlechtesten Gebisse präsentierten, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatten. Alica knallte ihren Krug schwungvoll auf den Tisch, machte auf dem Absatz kehrt und blieb nach einem einzigen Schritt wieder stehen, um sie fragend anzusehen.

Pia hätte gern dasselbe getan, aber einer der Zwerge streckte rasch den Arm aus und legte ihr seine schwielige Pranke auf die Hüfte. Pia fuhr innerlich zusammen, als sie schon bei dieser flüchtigen Berührung spürte, wie stark diese Hand war.

»Warte doch noch einen kleinen Moment, schönes Kind.«

»Nimm die Hand da weg, Gimli«, sagte Pia. »Jedenfalls, wenn du sie behalten möchtest.«

»Gimli«, wiederholte der Zwerg. »Das ist nicht mein Name, schönes Kind … aber du kannst mich natürlich gerne so nennen, wenn du möchtest.«

Okay, es gab einen Unterschied zwischen diesen Zwergen und denen aus gewissen Romanen und Hollywood-Filmen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Alica.

»Ja«, antwortete Pia. »Geh und hilf Brack. Ich regle das hier schon.« Sie wartete, bis Alica – widerwillig – gegangen war, und wandte sich dann in verändertem und bewusst ruhigem Ton an den Zwerg. Obwohl sie sich ganz auf ihn konzentrierte, konnte sie spüren, dass die beiden anderen sie anstarrten.

»Bitte nehmt die Hand weg, geehrter Gast. Es ist nicht erlaubt, dass die Gäste das Personal anfassen.«

»Nicht umsonst, nehme ich an«, sagte der Zwerg anzüglich – nahm die Hand zwar herunter, fixierte ihren Blick aber auf eine Weise, die es ihr unmöglich machte, sich einfach umzudrehen und zu gehen. Und sie sehnsüchtig an die Pistole denken ließ, die oben in ihrem Zimmer unter der Matratze lag.

»Bleib doch noch einen Moment, schönes Kind«, fuhr der Zwerg fort. »Wie ist dein Name?«

Pia schwieg.

»Du musst die sein, von der alle reden. Habe ich recht?«

»Ich weiß nicht, was man erzählt«, antwortete Pia. »Und wer sind alle

»Alle eben. Ich bin Graukeil. Und du?«

»Gaylen«, antwortete Pia. »Das wolltest du doch hören, oder? Und nun muss ich wieder an die Arbeit. Du siehst ja selbst, wie viel ich zu tun habe.«

»Und wenn ich auf deiner Gesellschaft bestehe?«, fragte Graukeil. Täuschte sie sich oder klang er plötzlich ein bisschen drohend?

»Dann müsste ich höflich, aber entschieden ablehnen, Graukeil«, sagte sie.

»Weil du was Besonderes bist«, vermutete Graukeil. Jetzt klang er drohend, und zwar ganz eindeutig. »Aber weißt du, schönes Kind, für meine Brüder und mich ist das Besondere gerade gut genug. Und du willst deinem Herrn doch keinen Ärger bereiten, oder?«

»Brack ist nicht mein Herr«, antwortete Pia kühl. »Ich helfe nur ein wenig aus, weil hier so viel zu tun ist. Wenn du mich also jetzt bitte entschuldigen würdest.«

»Bleib, habe ich gesagt!« Graukeils Hand schloss sich blitzschnell und mit der Kraft eines Schraubstocks um ihr Handgelenk, und Pia hätte hinterher selbst nicht sagen können, worauf sie im Endeffekt reagierte – auf die Tatsache des Angriffes an sich oder den unerwartet heftigen Schmerz, den er ihr mit seinem brutalen Griff zufügte. Graukeil versuchte sie zu sich herab auf seinen Schoß zu zerren, aber Pia tat ganz genau das Gegenteil von dem, was er erwartete und die allermeisten Frauen an ihrer Stelle vermutlich getan hätten: Statt sich gegen seinen Griff zu wehren oder gar den Versuch zu starten, sich loszureißen, bewegte sie sich auf ihn zu und versetzte ihm einen kraftvollen Stoß, der ihn um ein Haar rücklings von seinem Schemel geschleudert hätte. Irgendwie gelang es Graukeil, sein Gleichgewicht nicht nur wiederzufinden, sondern auch mit einem zornigen Grunzen auf die Füße zu springen, und Pia half der Entwicklung noch ein bisschen nach, indem sie ihn mit beiden Händen am Bart packte und kraftvoll zu sich heraufriss – allerdings nicht ganz, sondern gerade hoch genug, um ihm das rechte Knie mit aller Gewalt ins Gesicht zu rammen.

Der Zwerg grunzte vor Schmerz und Zorn, und es war ein Gefühl, als hätte sie ihr Knie gegen massiven Beton geschlagen; aber sie hörte auch ein befriedigendes Knirschen. Als Graukeil nach hinten stolperte und beide Hände gegen das Gesicht schlug, war das leuchtende Rot darauf nicht nur sein Bart und das verfilzte Haar.

Pia sprang blitzartig zurück und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie die beiden anderen Zwerge in die Höhe schnellten und unter ihre Mäntel griffen, aber Graukeil hatte sich bereits wieder gefangen und machte eine blitzschnelle abwehrende Geste. »Nicht«, zischte er. »Ich brauche keine Hilfe, um ein dummes Kind zurechtzuweisen.«

Mittlerweile waren auch alle anderen Gäste aufgesprungen, und Pia registrierte beiläufig, dass in so manchen Händen wie hingezaubert Waffen erschienen waren: Messer, kurze Knüppel und in einem Fall sogar ein kurzes Schwert. Offensichtlich gingen auch die Bewohner WeißWalds nie ohne das Nötigste aus dem Haus.

Allerdings machte keiner von ihnen auch nur die geringsten Anstalten, ihr zu helfen.

»Ich bitte Euch, verehrter Herr!«, stammelte Brack. »Das war doch gewiss nur eine kleine Ungeschicklichkeit, die …«

Er brach mitten im Satz ab, als einer der beiden anderen Zwerge an Pia vorbei- und auf ihn zutrat, und Graukeil zog eine Grimasse und spuckte einen Zahn aus. »Deine kleine Ungeschicklichkeit hat mich einen Zahn gekostet, Kleine«, sagte er und fing schon wieder an zu grinsen. »Da wirst du dir aber was ganz Besonderes einfallen lassen müssen, um das wiedergutzumachen.«

»Brack hat recht«, sagte Pia hastig. »Ich wollte das nicht. Es tut mir leid. Ich entschuldige mich.«

»Das wird nicht reichen, fürchte ich«, erwiderte der Zwerg. Er kam feixend näher und breitete die Arme aus, aber sein Blick blieb wach. Er würde nicht noch einmal den Fehler begehen, sie zu unterschätzen, begriff Pia – und sie sollte sich hüten, dasselbe zu tun. Der Knirps reichte ihr vielleicht gerade mal bis zur Taille, aber sie hatte gespürt, wie stark er war – sehr viel stärker als ein normaler Mann und erst recht stärker als sie –, und er hatte ganz gewiss keine Hemmungen, ihr wehzutun.

Warum also sollte sie sie haben?

»Ich habe keine Waffe«, sagte sie.

»Ich auch nicht«, antwortete Graukeil und warf sich im selben Moment mit ausgebreiteten Armen auf sie. Pia federte ansatzlos in die Höhe und schlug einen kompletten Salto über seinen Kopf, wobei sie um ein Haar mit der niedrigen Decke der Schankstube kollidiert wäre. Graukeil stürmte mit einem überraschten Knurren unter ihr hindurch. Pia kam mühelos auf beiden Füßen auf und nutzte ihren restlichen Schwung, um nach hinten auszutreten. Sie traf, verlor nun doch das Gleichgewicht und konnte ihren Sturz mit hastig ausgestreckten Armen in einen ungeschickten Liegestütz verwandeln. Mit einer fließenden Bewegung sprang sie hoch und sah gerade noch, wie Graukeil mit voller Wucht gegen Bracks improvisierte Theke krachte und sie mit sich zu Boden riss.

»Bei Kronn, ich flehe euch an!«, jammerte Brack. »Mein Lokal! Wollt ihr mich ruinieren?«

Niemand beachtete ihn. Graukeil rappelte sich mit einem Knurren auf, das an das eines ausgehungerten Wolfes erinnerte, pflückte sich ein paar Splitter eines zerbrochenen Krugs aus dem Bart und starrte sie aus Augen an, in denen nunmehr echte Mordlust funkelte. Sie hatte ihren zweiten Fehler gemacht, begriff Pia. Vielleicht wäre sie – wortwörtlich – mit einem blauen Auge davongekommen, hätte sie sich nicht gewehrt. Jetzt konnte sie von Glück sagen, wenn sie die nächsten zehn Sekunden überlebte.

Und vielleicht noch nicht einmal diese.

Graukeil stürmte mit gesenktem Schädel heran und rechnete möglicherweise damit, dass sie noch einmal denselben Trick versuchen würde, denn er hatte die Arme halb erhoben und die Hände ausgestreckt, wie um nach etwas zu greifen, das sich über ihm befand.

Pia griff stattdessen nach seinen Handgelenken, ließ sich nach hinten fallen und zog blitzschnell die Knie an den Körper, um den Zwerg in hohem Bogen über sich hinwegzukatapultieren. Graukeil kreischte vor Überraschung und Wut, flog mit wirbelnden Armen und Beinen quer durch den Schankraum und prallte gegen zwei bewaffnete Männer, die in diesem Moment durch die Tür hereinkamen. In einem einzigen Wust aus Körpern und ineinander verstrickten Gliedmaßen gingen sie zu Boden.

Pia registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, fuhr herum und sah einen zweiten Zwerg auf sich zustürmen, doch ihre Reaktion kam zu spät. Der Zwerg prallte mit der Gewalt einer durchgehenden Planierraupe gegen sie, warf sie zu Boden und versuchte ihr die Faust ins Gesicht zu schlagen. Pia riss im letzten Moment den Kopf zur Seite, registrierte mit einer Mischung aus kaltem Entsetzen und schierer Panik, wie die Faust eines der massiven Fußbodenbretter neben ihr zertrümmerte, und schlug dem Angreifer die Handkante gegen den Kehlkopf. Der Zwerg japste nach Luft, kippte von ihr herunter und fasste sich mit beiden Händen an den Hals. Noch während sie sich herumrollte, sah sie den dritten Zwerg auf sich zukommen. Er hatte eine Waffe gezogen, einen kurzstieligen Hammer, dessen reich verzierter Kopf schwerer sein musste als ihr eigener.

Pia empfing ihn mit einem schräg nach oben geführten Tritt, der bei den meisten anderen Angreifern das Knie getroffen hätte. Da der Knirps aber kaum größer als ein Kind war, erwischte sie ihn ein gutes Stück höher und an einer sehr viel empfindlicheren Stelle. Pia konnte sich gerade noch zur Seite rollen, als er stocksteif nach vorn kippte und wie ein gefällter Baum neben ihr niederkrachte. Sofort sprang sie auf die Füße, wirbelte herum und ging mit halb ausgebreiteten Armen und leicht gespreizten Beinen in eine stabile Verteidigungsposition.

Keinen Moment zu früh, wie es aussah. Graukeil hatte seine diversen Gliedmaßen wieder eingesammelt und eingerenkt. Im ersten Moment glaubte Pia, dass er noch immer auf den Knien hockte, dann wurde ihr klar, dass sie nur auf seine vermeintliche Kleinwüchsigkeit hereingefallen war. Er stand bereits wieder aufrecht und zog etwas unter seinem Mantel hervor, das er vermutlich für ein Schwert hielt, das in Pias Augen aber allerhöchstens ein langes Messer war. Trotzdem sah es verdammt scharf aus.

»Das ist genug«, sagte eine scharfe Stimme von der Tür aus.

Pia erwartete, einen der beiden Männer zu erblicken, auf die sie den Zwerg geworfen hatte, aber die lagen noch immer benommen am Boden. Es war Istvan, der zusammen mit zwei weiteren Soldaten der Stadtgarde unter der Tür aufgetaucht war und etwas in der Hand hielt, das wirklich wie ein Schwert aussah.

»Es ist genug«, sagte er noch einmal. »Ich dulde nicht, dass hier Blut vergossen wird. Auch nicht von Euch, Gamma Graukeil!«

Einen Moment lang hatte es den Anschein, als würde der Zwerg seine Worte einfach ignorieren und sich auf Pia stürzen, aber dann ließ er seine Waffe ein wenig sinken und drehte sich zu Istvan, um ihn wütend anzufunkeln. »Diese kleine Dirne hat …«

»Ich habe gesehen, was sie getan hat, edler Graukeil«, unterbrach ihn Istvan. »Und auch, wie es dazu gekommen ist. Mir ist es jedenfalls so vorgekommen, als hätte sie sich nur verteidigt.«

»Misch dich nicht ein«, grollte der Zwerg. »Niemand schlägt mich ungestraft. Und schon gar keine Frau!«

»Ich verstehe«, sagte Istvan kühl. »Nun, wenn das so ist, dann will ich Euch natürlich nicht im Weg stehen. Weder Euch noch Euren Kameraden. Seid Ihr sicher, dass Ihr keine Hilfe braucht? Ich meine: Immerhin seid Ihr nur zu dritt, und sie ist unbewaffnet.«

Jemand lachte und hörte sofort wieder damit auf, als der Zwerg einen eisigen Blick in seine Richtung abschoss. Graukeil zögerte noch einen halben Atemzug lang, dann ließ er sein Messer unter dem Mantel verschwinden und funkelte Pia und den Kommandanten der Stadtwache nacheinander und gleichermaßen wütend an. »Damit ist die Sache nicht erledigt«, grollte er. »Verlasst euch darauf.«

Er gab seinen beiden Begleitern einen Wink, woraufhin sie sich an seine Seite schleppten und zu dritt hinaus humpelten. Istvan schloss die Tür hinter ihnen und warf einen sehr langen, aufmerksamen Blick durch das schmale Fenster daneben, bevor endlich auch er seine Waffe einsteckte und sich wieder herumdrehte. Er wirkte erleichterter, als er sich den Anschein zu geben versuchte.

»So, genug jetzt!« Brack klatschte lautstark in die Hände. »Setzt euch und trinkt weiter!« Er nutzte die Gelegenheit gleich, um Lasar anzufahren und gleichzeitig mit beiden Händen auf die umgeworfene Theke zu gestikulieren. »Was stehst du da rum und hältst Maulaffen feil, du elender Nichtsnutz? Räum das auf und hol ein frisches Fass Bier! Unsere Gäste sind durstig!«

Lasar wollte sich unverzüglich an die Arbeit machen, aber Istvan hielt ihn mit einer knappen Geste zurück. »Das wird nicht nötig sein«, sagte er.

Brack schluckte trocken. »Herr?«

»Es ist spät geworden«, sagte Istvan. »Geht nach Hause! Ihr alle habt doch Weib und Kinder, die zu Hause auf euch warten. Und morgen früh wartet die Arbeit. Also lasst es genug für heute sein und geht. Jetzt.«

»Aber die meisten haben noch nicht bezahlt, und …«, begann Brack kläglich und verstummte sofort wieder, als Istvan ihm einen eisigen Blick zuwarf.

Etliche Gäste murrten zwar, doch keiner wagte es, laut zu protestieren oder sich Istvans Anordnung gar zu widersetzen. Rasch und schon fast diszipliniert verließen sie den Weißen Eber … allerdings nicht, ohne dass jeder Einzelne Pia im Vorbeigehen einen zugleich verwirrten wie faszinierten (oder auch gierigen) Blick zugeworfen hätte.

Erst als der letzte Gast den Schankraum verlassen und Istvan persönlich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wurde ihr klar, warum das so war. Istvan bückte sich und hob etwas auf, was sie erst in diesem Moment als ihr improvisiertes Kopftuch erkannte. Es musste ihr beim Kampf mit den Zwergen heruntergefallen sein, sodass ihr Haar jetzt offen über ihre Schultern und den Rücken fiel.

Rasch nahm sie es entgegen, knotete es ungeschickt um ihren Kopf und versuchte mit wenig Erfolg, ihre Haare komplett darunter zu verbergen. Istvan ließ sie eine Weile gewähren, dann machte er eine unwillige Geste und deutete aus der gleichen Bewegung heraus auf den am nächsten stehenden Tisch. »Setz dich.«

Pia gehorchte. Istvan setzte sich zu ihr, und Alica nahm unaufgefordert bei ihnen Platz, was der Stadtkommandant zwar mit einem missbilligenden Stirnrunzeln kommentierte, ansonsten aber gar nicht.

»Das war eine beeindruckende Vorstellung«, begann Istvan. »Hast du dazu irgendetwas zu sagen?«

»Dass er Glück hat, noch am Leben zu sein?«, fragte Pia.

Istvan lächelte das humorloseste Lächeln, das sie jemals gesehen hatte. »Ja, auf diesen Gedanken könnte man beinahe kommen. Du weißt, welcher Ruf den Zwergen aus Ostengaard vorauseilt?«

»Dass sie ungehobelte Klötze sind, die es an guter Kinderstube mangeln lassen?«, vermutete Pia.

Diesmal wirkte Istvans Lächeln beinahe echt, aber der Ausdruck von Sorge in seinem Blick nahm eher noch zu. »Das auch, ja«, räumte er ein. »Aber man sagt auch, dass Leute, die in Streit mit ihnen geraten, die unangenehme Gemeinsamkeit entwickeln, spurlos zu verschwinden … wenn sie Glück haben.«

Pia zog es vor, den letzten Teil seiner Antwort zu ignorieren. »Dann ist es ja gut, dass ich nicht in Streit mit ihnen geraten bin«, sagte sie. »Sie haben mit dem Ärger angefangen.«

»Das ist die Wahrheit, Istvan!«, versicherte Brack. Er kam mit einem Krug Bier an den Tisch, stellte ihn vor Istvan ab und machte eine wedelnde Handbewegung auf die Tür, durch die die drei Zwerge verschwunden waren. »Ich habe es genau gesehen! Gamma Graukeil hat sie …«

»Gamma Graukeil«, fiel ihm Istvan ins Wort, »ist ein übler Raufbold und Säufer, aber das sind sie schließlich alle, diese Dreckwühler aus Ostengaard.«

»Dann wundert es mich ein wenig, dass sie sich so ungeschoren hier bewegen können«, sagte Pia. Ihre innere Stimme riet ihr dringend, jetzt besser die Klappe zu halten, aber sie fuhr trotzdem fort: »Ich meine, wo die Stadtgarde doch angeblich dafür sorgt, dass es hier ruhig und gesittet zugeht.«

Brack japste nach Luft, und auch Alica, die bisher kein Wort gesagt hatte, runzelte ein bisschen erschrocken die Stirn. Aber Istvan lächelte nur. »Man merkt in der Tat, dass du von weit her kommst«, sagte er. »Unser Verhältnis zum Volk der Zwerge ist … etwas kompliziert. Aber wo wir schon einmal dabei sind: Warum hast du uns verschwiegen, dass du eine Kriegerin bist?«

Weil ich es selbst nicht wusste?, dachte Pia. Istvan sah sie an, als hätte sie die Worte laut ausgesprochen, und Pia rettete sich in ein beiläufiges Achselzucken und die Behauptung: »Ich bin keine Kriegerin. Aber ich habe gelernt, mich meiner Haut zu wehren. Da, wo ich herkomme, lernen das alle.«

»Dann scheint ihr mir ein sehr wehrhaftes Volk zu sein«, sagte Istvan nachdenklich. »Vielleicht eines, über das man genauer nachdenken sollte.«

»Wir sind ein sehr friedliches Volk«, antwortete Pia. »Wir haben nicht einmal eine Armee.«

Istvan lächelte dünn. »Nach dem, was ich gerade gesehen habe, braucht ihr die ja wohl auch nicht.«

»Den Frieden zu lieben, bedeutet nicht, dass man automatisch wehrlos sein muss«, erwiderte Pia.

»Das ist wohl wahr«, gestand Istvan lächelnd, wurde aber sofort wieder ernst. »Du solltest diese Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen«, fuhr er fort. »Keiner meiner Krieger hätte es gewagt, drei Zwerge zugleich herauszufordern.«

Genau genommen hatte sie das auch nicht. Und ganz genau genommen hatte sie Gamma Graukeil und seine beiden Begleiter auch nicht wirklich besiegt, sondern schlichtweg überrumpelt. Die drei hatten einfach nicht damit gerechnet, dass sie sich so heftig zur Wehr setzen würde.

Eigentlich hatte sie das auch selbst nicht getan.

»Ich hatte einfach nur Glück«, sagte sie wahrheitsgemäß.

»Ja, vermutlich«, antwortete Istvan. »Nur fürchte ich, dass Gamma Graukeil das etwas anders sehen wird. Nicht, dass ich nicht der Meinung wäre, er und diese beiden anderen Trunkenbolde hätten die Abreibung nicht verdient … aber diese Zwerge aus Ostengaard haben ein paar komische Gebräuche. Einer davon besagt, dass eine erlittene Schmach nur mit Blut gesühnt werden kann. Na ja, und von einer Frau verprügelt zu werden – noch dazu in aller Öffentlichkeit –, stellt wohl so ziemlich die schlimmste Schmach dar, die sich Gamma Graukeil nur denken kann. Ich werde natürlich versuchen, mit ihm zu reden, und ihm sagen, wer du bist und wie wenig du von unseren Sitten und Gepflogenheiten weißt – aber du solltest trotzdem sehr vorsichtig sein, solange die drei in der Stadt sind.«

»Ich kann mich täuschen«, sagte Pia, »aber haben Alica und ich Euch nicht für unseren Schutz bezahlt?«

»Den ihr bekommen werdet«, antwortete Istvan ruhig. »Die beiden Männer draußen vor der Tür werden weiter ein Auge auf den Weißen Eber werfen, und ich selbst rede mit den Zwergen. Aber sie sind unberechenbar. Sei besser vorsichtig.«

Pia musste sich auf die Zunge beißen, um Istvan nicht die Antwort zu geben, die ihm für diese Unverschämtheit zustand. Sie hob nur die Schultern.

»Darüber hinaus«, fuhr Istvan fort, nunmehr an Brack gewandt, der noch immer neben ihm stand und vor Nervosität von einem Bein auf das andere trat, »beginne ich mich allmählich zu fragen, ob es nicht ein Fehler war, mein Einverständnis zu diesem … Arrangement zu geben. Du hattest mir versprochen, dass es keinen Ärger gibt, Brack.«

»Aber das war doch nicht meine Schuld!«, protestierte Brack. »Und auch nicht die Gaylens! Die Zwerge …«

»Ich muss darüber nachdenken«, unterbrach ihn Istvan. »Vorerst bleibt alles so, wie es ist, aber es kann sein, dass ich unsere Übereinkunft überdenken muss. Vor allem, wenn es zu weiteren … Zwischenfällen kommen sollte, die dazu angetan sind, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören.«

»Die Zwerge haben mit dem Streit angefangen«, erinnerte Pia, aber Istvan schüttelte nur den Kopf.

»Das allein ist es nicht«, sagte er. »Es gab auch vorher schon …gewisse Beschwerden.«

»Beschwerden? Worüber?«

Statt zu antworten, warf Istvan Brack einen bezeichnenden Blick zu, und der schmerbäuchige Wirt begann plötzlich nervös zu lächeln und trat noch unruhiger von einem Bein auf das andere.

»Es war ein ziemlich aufregender Abend, Pia«, sagte er. »Warum … äh … geht ihr, deine Freundin und du nicht nach oben und ruht euch aus? Es sind sowieso keine Gäste mehr da, und ihr habt für heute wirklich genug gearbeitet. Lasar kann hier aufräumen.«

Pia verstand. »Ganz wie du meinst«, sagte sie, stand auf und bedeutete Alica mit einer entsprechenden Kopfbewegung, dasselbe zu tun. Sie rechnete mit Widerspruch, doch Alica überraschte sie, indem sie kommentarlos aufstand und sogar als Erste zur Treppe ging.

»Dann sehen wir uns morgen früh«, sagte sie. Brack nickte wortlos (und jetzt sehr nervös) und Istvan erwiderte gar nichts, sondern sah sie nur eisig an, und schließlich drehte sie sich mit einem Ruck um und folgte Alica.

Das Zimmer war nicht so dunkel und kalt, wie sie es in Erinnerung hatte, sondern noch sehr viel dunkler und kälter. Ihr Atem kondensierte zu grauem Dampf vor ihrem Gesicht, und die einzelne Kerze, die Alica angezündet hatte, schien die Dunkelheit ringsum eher noch zu betonen. Selbst Alica war kaum mehr als ein verschwommener Schemen, die sie eigentlich nur an ihrer Bewegung erkannte.

Und natürlich an ihrem Tonfall.

»Würden es Durchlaucht in ihrer unermesslichen Güte vielleicht über sich bringen, ihre unwürdige Dienerin darüber aufzuklären, was da unten gerade passiert ist?«, fragte sie.

»Hör mit dem Scheiß auf, ja?«, sagte Pia gereizt, beantwortete Alicas Frage aber trotzdem: »Ich schätze, Istvan der Schreckliche versucht gerade, seinen Anteil an Bracks Umsatz ein bisschen zu erhöhen.«

»Stell dir vor, das ist mir auch schon aufgefallen. Aber das meine ich nicht. Nicht dass es mich etwas anginge, Gott bewahre, aber hättest du mir nicht trotzdem verraten können, dass du den siebenundvierzigsten Dan im Mikado hast?

»Hab ich nicht«, antwortete Pia. »Ich habe mich einfach nur gewehrt, das ist alles.«

Sie ging zum Bett, dachte eine halbe Sekunde darüber nach, wenigstens den Mantel abzustreifen, und entschied sich dann dagegen. Es war so bitterkalt hier drinnen, dass sie das Gefühl hatte, gemahlenes Eis zu atmen.

»Moment mal«, sagte Alica. »Du willst dich doch jetzt nicht einfach hinlegen und schlafen, oder?«

Wahrscheinlich würde sie es gar nicht können. »Ja.«

»Was für eine tolle Idee«, nörgelte Alica.

Pia legte sich hin, rollte sich in die viel zu dünne Decke und versuchte, nicht allzu laut mit den Zähnen zu klappern. Alica grummelte noch eine Weile herum, aber irgendwann gab sie es auf, löschte die Kerze und kroch auf der anderen Seite unter die Decke. Pia glaubte ihre Gänsehaut geradezu hören zu können.

»Diese ganze Geschichte ist doch vollkommen beknackt«, murrte sie.

Pia konnte ihr nur zustimmen, aber sie tat es vorsichtshalber lautlos und nur für sich, denn sie wollte wenigstens so tun, als wäre sie bereits eingeschlafen. Sie war noch immer aufgewühlt und so nervös, dass sie meinte, das Adrenalin richtiggehend schmecken zu können, trotzdem wollte sie jetzt nicht mit Alica sprechen. Weder mit ihr noch sonst jemandem. Da war zu viel, über das sie erst einmal nachdenken musste.

Es schien zu funktionieren. Alica rollte sich noch ein paar Minuten unruhig hin und her und versuchte zwei- oder dreimal ein Gespräch in Gang zu bringen, aber irgendwann gab sie auf, und ihre Atemzüge wurden ruhiger und flacher. Gerade als Pia glaubte, sie wäre endgültig eingeschlafen, vernahm sie erneut ihre Stimme.

»Schläfst du schon?«

»Tief und fest«, antwortete Pia. »Und es wäre nett, wenn du mich nicht wecken würdest.«

»Tu ich nicht«, versprach Alica. »Aber ich bin einfach noch viel zu aufgeregt, um jetzt so einfach schlafen zu können.«

»Ich nicht«, murmelte Pia.

»Also, ich bin immer noch ganz platt, wie du die drei Burschen abgefertigt hast«, fuhr Alica ungerührt fort. »Ich meine: Ich wusste ja, dass du dich wehren kannst, aber das?«

»Eigentlich waren es ja nur anderthalb«, nuschelte Pia. »Und ich bin jetzt wirklich müde, weißt du?«

»Ja, sicher«, sagte Alica. »Entschuldige, ich wollte dich wirklich nicht wecken. Ich bin eben nur …«

Pia hörte, wie sie sich neben ihr bewegte, dann berührte Alicas Hand sie sanft und warm zwischen den Schulterblättern. Im ersten Moment war sie einfach nur überrascht, und ihr erster Impuls war, sie abzuschütteln. Aber sie tat es nicht, denn die Berührung war zwar ungewohnt, aber auch auf eine seltsame Art angenehm. Sie war nicht nur warm, sondern ließ auch einen prickelnden Schauer über ihren Rücken rieseln. Pia war noch nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte.

»Ich habe starke Frauen schon immer bewundert, weißt du?«, fuhr Alica in ihrem Bemühen fort, sie nicht zu wecken. »Und wenn ich ehrlich sein soll, dann habe ich dich immer ein bisschen beneidet, weißt du das?«

»Nein«, antwortete Pia. »Erzähl mir doch davon – morgen früh.«

Alica lachte leise. Ihre Fingerspitzen begannen kleine kreisende Bewegungen zwischen ihren Schulterblättern zu vollführen, und aus dem Prickeln wurde … etwas anderes.

»Lass das«, murmelte sie.

»He, ich mach dir nichts vor«, sagte Alica, »ich fand es immer schon toll, wie du so ganz allein zurechtkommst, ohne auf irgendjemanden angewiesen zu sein oder vor irgendwem Angst zu haben.« Ihre Hand begann langsam an Pias Rücken hinabzuwandern, und sie rückte näher, sodass Pia die Wärme ihres Körpers fühlen konnte.

»Was glaubst du, was du da tust?«, fragte sie.

»He, komm schon«, antwortete Alica und drängte sich noch ein wenig dichter an sie. Pia konnte hören, wie ihr Atem schneller ging. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass du jetzt schlafen willst?«

»Und was sollte ich stattdessen tun, deiner Meinung nach?«, fragte Pia.

Anstelle einer Antwort verschwand Alicas Hand zwar von ihrem Rücken, war aber dafür plötzlich an einer Stelle, an der sie ganz und gar nichts zu suchen hatte … auch wenn einem Teil von ihr die Berührung ganz und gar nicht so unangenehm war, wie sie es eigentlich sein sollte.

»Komm schon«, flüsterte Alicas Stimme an ihrem Ohr. Ihr Atem strich warm über ihren Nacken und ihr Gesicht, und etwas in ihr reagierte auf diese Berührung. »Ich meine: Wir sitzen hier vielleicht für eine ziemlich lange Zeit fest, und es gibt niemanden, den wir kennen, oder dem wir vertrauen könnten. Und du bist doch nicht prüde, oder? Ich meine, du bist wirklich hübsch, und ich bin eine gesunde junge Frau, und …«

»Nicht mehr lange, wenn du die Hand da nicht wegtust«, sagte Pia.

Alica zog beleidigt die Hand zurück. Aber sie hielt wenigstens die Klappe.

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