XXX

Am schlimmsten schmerzten die Handschellen.

Es waren keine richtigen Handschellen, wie sie sie von zu Hause kannte und wie Hernandez sie ihr nur zu gerne angelegt hätte. Diese hier waren schlimmer. Statt in einer verchromten Acht aus nahezu unzerstörbarem Stahl steckten ihre Hände in groben Ringen aus rostig gewordenem Eisen, die entsetzlich eng waren und nicht nur das Blut in ihren Händen abschnürten, sondern auch ihre Haut wund gescheuert hatten und dies bei jeder noch so winzigen Bewegung unbarmherzig weitertaten. Ihre Arme, in einer qualvoll unbequemen Haltung dicht über ihrem Kopf an die Wand gekettet, waren längst mit einer dicken Schicht ihres eigenen eingetrockneten Blutes verkrustet, zu dem sich immer dann frisches und warmes Rot gesellte, wenn sie in ihrer Aufmerksamkeit nachließ oder einschlief. Jegliches Gefühl war schon am ersten Tag aus ihren Fingern gewichen – abgesehen von Schmerzen –, und mittlerweile waren auch diese zu einer imaginären Grenze aus purer Qual zurückgewichen, die sich irgendwo dort befand, wo einmal ihre Handgelenke gewesen sein mochten. Trotz der Pein, die ihr diese entsetzlich folternde Haltung bereitete, war Pia beinahe froh, ihre eigenen Hände nicht sehen zu können; aus Angst, nur noch zwei schwarz verkrampfte Raubvogelklauen zu erblicken, die bereits in Fäulnis übergegangen waren.

Jedenfalls rochen sie so.

Vielleicht war sie es auch selbst, die so roch. Sie stand jetzt seit drei Tagen aufrecht an die Wand des fensterlosen Kellerverlieses gekettet da – vielleicht länger. Sie war von erheblichem Schmerz und quälendem Durst gepeinigt hier aufgewacht, und ihre innere Uhr, so präzise sie sonst auch funktionieren mochte, hatte ihr keine Auskunft darüber gegeben, wie viel Zeit zwischen diesem Moment und der apokalyptischen Schlacht auf der Waldlichtung vergangen war – man hatte sie nicht ein einziges Mal losgekettet. Tatsächlich war in diesen drei Tagen nur zweimal ein Soldat zu ihr gekommen, um ihr zu trinken zu geben, und hatte sich wieder entfernt, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln.

Vielleicht wollte Istvan sie ja auf diese Weise sterben lassen. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass das nicht sehr wahrscheinlich war: Der Stadtkommandant und seine Männer hatten sie ganz gewiss nicht so weit verfolgt und sich auf einen verlustreichen Kampf mit den Barbarenkriegern eingelassen, nur um sie dann auf diese vielleicht grausame, aber wenig spektakuläre Art zu Tode zu foltern, noch dazu ohne Publikum. Doch es war nur ihre Vernunft, die ihr das klarzumachen versuchte. Schmerzen, Fieber und der immer quälender werdende Durst (sie gaben ihr gerade genug zu trinken, um sie am Leben zu erhalten) überzeugten sie mit jeder Stunde mehr davon, dass dies genau die Rache war, die sich Istvan für sie ausgedacht haben musste.

Irgendwo polterte etwas, aber Pia war zu müde und zu schwach, um auch nur den Kopf zu heben. Es wäre sowieso sinnlos gewesen. Während der ersten anderthalb oder zwei Tage hatte sie auf jedes noch so winzige Geräusch gelauscht und versucht, die vollkommene Dunkelheit ringsum irgendwie mit Blicken zu durchdringen, was stets sinnlos gewesen war. Das Verlies war dunkel und feucht und kalt, aber nicht still. Manchmal drangen Stimmen durch die dicken Wände aus kaltem Stein, manchmal auch Schritte, ein gedämpftes Klirren und andere, unidentifizierbare Laute. Einmal hatte sie Schreie gehört, die von erheblicher Folter kündeten und furchtbar lange andauerten, um dann einer noch furchtbareren Stille zu weichen. Zu ihr war niemand gekommen.

Und es würde auch niemand kommen. Sie würde hier sterben, bald, wenn sie endgültig verdurstet war oder das Fieber ihren Körper aufgezehrt hatte. Noch war sie nicht so weit, diesen Moment herbeizusehnen, aber das würde kommen. Bald.

Das Poltern wiederholte sich, und nun gesellte sich auch das Geräusch schwerer Schritte hinzu, dann hörte sie das Klappen eines hölzernen Riegels, hob mühsam den Kopf und schloss im nächsten Moment gequält die Augen, als die Tür ihres Gefängnisses aufging und grelles Licht so schmerzhaft wie eine Messerklinge in ihre Augen stach. War es schon wieder Zeit für die Soldaten, ihr Wasser zu bringen?

Das Gerede wurde lauter und klang plötzlich aufgeregter, dann näherten sich schnelle Schritte. Rotes Licht drang durch ihre geschlossenen Lider, und sie spürte die Hitze einer Fackel auf dem Gesicht.

»Bei Kronn! Wer ist für diese Ungeheuerlichkeit verantwortlich?«, keuchte eine Stimme, in der sich Zorn und Abscheu mischten.

»Aber Ihr habt doch …«, begann eine andere Stimme und wurde von einem klatschenden Laut zum Schweigen gebracht. Die Fackel näherte sich ihrem Gesicht noch weiter und wurde dann rasch zurückgezogen, als ihr Besitzer anscheinend sah, dass er im Begriff stand, sie zu verbrennen.

»Prinzessin Gaylen?«, fuhr die Stimme fort, die jetzt nicht mehr aufgebracht und zornig klang, sondern beinahe ängstlich. »Könnt Ihr mich hören?«

Die Bewegung fiel ihr unendlich schwer, doch irgendwie gelang es ihr, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Vor ihr war ein Durcheinander aus rotem Licht, das immer noch wehtat, und Schatten, die zu einem vertrauten Gesicht zusammenfließen wollten, ohne dass es ihnen wirklich gelang. Dann erkannte sie es, und die schwache Erinnerung an ein Gefühl namens Hass regte sich in ihr und erlosch beinahe sofort wieder. Sie war zu müde.

»Könnt Ihr mich verstehen, Erhabene?«, fragte Istvan.

Verstehen, ja, aber antworten konnte sie nicht. Sie hätte es auch nicht gewollt. Er war gekommen, um seine Rache zu genießen, und es gab nichts, was sie dagegen auszurichten vermochte – aber die Genugtuung, sie um ihr Leben betteln zu hören, würde sie ihm nicht gönnen.

Wenigstens noch nicht.

»Bei Kronn, jemand wird dafür bezahlen, das schwöre ich!«, sagte Istvan. Seine Stimme bebte vor Wut und wurde dann lauter. »Macht sie los! Und ruft eine Heilerin, die sich um ihre Wunden kümmert. Und dann sorgt dafür, dass sie gewaschen wird und zu essen bekommt!«

Das Poltern wiederholte sich, und der Tanz von rotem Licht und Schatten wurde hektischer. Rasche Schritte entfernten sich und grobe Hände machten sich an ihrem Körper zu schaffen, dann lösten sich ihre Handfesseln und Pia brach zusammen. Starke Hände fingen sie auf, und ihr erleichtertes Seufzen ging in einen wimmernden Schmerzlaut über, als ihre verkrampften Oberarmmuskel nach mehr als drei Tagen in eine Haltung gezwungen wurden, in der sie sich in flüssiges Feuer zu verwandeln schienen.

Das Schicksal war nicht barmherzig genug, sie das Bewusstsein verlieren zu lassen, aber immerhin versank sie für die nächsten beiden Stunden in eine Art Dämmerzustand zwischen Trance und Ohnmacht, in dem sie alles, was um sie herum und mit ihr geschah, nur noch wie durch einen dämpfenden Nebel hindurch wahrnahm.

Selbst das Verstreichen der Zeit … entglitt ihr. Starke und nicht wirklich behutsame Arme hoben sie auf und wickelten sie in eine übel riechende Decke, dann wurde sie eine lange Treppe hinaufgetragen und gleißendes Licht hüllte sie ein. Kälte, noch schlimmere Kälte und grausame Kälte wechselten einander ab, und irgendwann wurde sie in eine Wanne mit heißem Wasser gelegt. Eine Frau, die mindestens achtzig Jahre alt sein musste, aber kaum so groß wie ein zwölfjähriges Kind war und ihrem Blick die ganze Zeit über auswich, badete sie ausführlich, wusch anschließend noch einmal und noch gründlicher ihre Wunden aus und versorgte sie mit einer scharf riechenden, aber kühlenden Salbe, bevor sie sie mit großer Kunstfertigkeit verband. Pia dämmerte ganz allmählich in einen Zustand hinauf, in dem sie wieder zu Scham und anschließend zu Stolz fähig war, aber nicht die Kraft aufbrachte, irgendetwas gegen das zu unternehmen, was mit ihr geschah.

Die Alte versorgte ihre Wunden zwar mit großer Kunstfertigkeit, aber nicht besonders sanft, doch Pia gab nicht einmal einen Laut der Klage von sich. Als sie fertig war – nach einer Prozedur, die mindestens zwei Stunden gedauert hatte und ihr wie das Zehnfache dieser Zeit vorgekommen war –, half sie ihr, ein sauberes Kleid anzuziehen und bürstete ausgiebig (und kein bisschen sanfter als zuvor) ihr Haar. Pia hatte sich inzwischen weit genug erholt, um dagegen protestieren zu wollen, aber sie konnte es nicht. Ihre Arme schmerzten zwar nicht mehr so grausam wie bisher, waren jedoch vollkommen gelähmt und nutzlos, und obwohl sie ausgiebig getrunken hatte und die Alte ihr auch jetzt immer wieder kleine Schlückchen einer heißen, würzig schmeckenden Suppe einflößte, war ihre Kehle noch immer so ausgetrocknet, dass sie nicht einmal ein Krächzen herausbrachte, geschweige denn ein halbwegs verständliches Wort. Als sie es mit bloßer Willenskraft trotzdem versuchte, bezahlte sie dafür mit einem qualvollen Hustenanfall, der ihr die Tränen in die Augen trieb.

Sie wartete darauf, dass Istvan kam, um mit ihr zu reden – oder irgendjemand anderes –, und ein- oder zweimal glaubte sie auch Schritte draußen vor der Tür zu hören, aber sie wurde nicht geöffnet, und die alte Frau blieb ihre einzige Gesellschaft.

Später bekam sie etwas zu essen, von dem sie nur ein paar winzige Bissen hinunterbrachte und Mühe hatte, selbst diese bei sich zu behalten, und noch später führte die alte Frau sie in ein anderes Zimmer, das bis auf ein Bett, einen einzelnen Stuhl und einen Kamin vollkommen leer war. In dem Kamin prasselte ein für hiesige Verhältnisse gewaltiges Feuer, das das Zimmer mit behaglicher Wärme erfüllte (die alte Frau litt vermutlich Höllenqualen), und Pia registrierte fast amüsiert, dass das Fenster vergittert und zusätzlich mit einem groben Vorhängeschloss gesichert war – als wäre sie in der Verfassung, sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten, geschweige denn aus dem Fenster zu klettern!

Sie hatte ohnehin nur Augen für das Bett. Es war breit, bequem und frisch bezogen, und es roch nicht nur herrlich, sondern war eigentlich das erste richtige Bett, das sie seit ihrer Ankunft in WeißWald zu sehen bekam; zumindest das erste, das diesen Namen verdiente. Allein sein Anblick stellte eine Verlockung dar, der sie kaum widerstehen konnte. Zugleich erfüllte es sie mit einer Furcht, die an Panik grenzte. Sie würde einschlafen, wenn sie sich hinlegte, und dann würden die Dunkelheit und die Träume zurückkommen, die sie in den zurückliegenden drei Tagen so sehr gequält hatten.

Pia streckte sich trotzdem darauf aus und ließ es zu, dass die Alte eine saubere Decke über ihr ausbreitete, zwang sich aber mit aller Kraft, die sie nur aufbringen konnte, die Augen offen zu halten, und drehte schließlich mühsam den Kopf auf dem Kissen, um das vergitterte Fenster hoch oben in der Wand zu fixieren. Es war grau, und trotz der wohligen Temperaturen, die hier drinnen herrschten, konnte man ihm regelrecht ansehen, wie kalt es draußen war.

Dann gab es so etwas wie einen spürbaren Ruck in der Wirklichkeit, und aus dem Grau des verblassenden Tages wurde die Morgendämmerung eines anderen.

Ein Teil von ihr begriff sofort, was geschehen sein musste. Sie war eingeschlafen, und das hier war ein anderer Tag. Aber sosehr sie es auch versuchte, sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, geschlafen oder gar geträumt zu haben.

»Drei Tage, Erhabene«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr.

Pia fuhr so hastig hoch und halb herum, dass ihr prompt schwindelig wurde. Übelkeit und Schwäche wollten sich hinzugesellen, aber sie drängte beides zurück, blinzelte ein paarmal und zwang ihre Augen, sich scharf zu stellen.

»Ihr solltet Euch nicht zu hastig bewegen, Erhabene«, sagte Istvan. »Ich weiß, wie stark Ihr seid, aber Ihr braucht dennoch Ruhe. Verlangt nicht zu viel von Euch selbst.«

Pia starrte ihn an. Ihre Gedanken begannen zu kreisen, aber sie verhielten sich wie eine tollwütige Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war, und auch nicht, wie Istvan hierherkam und was er hier wollte. Nicht dass das besonders schwer zu erraten gewesen wäre.

»Lasst Euch ruhig Zeit, Erhabene«, sagte Istvan. Er seufzte. »Zwar bleibt uns nicht allzu viel davon, aber auf ein paar Augenblicke mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

Istvan war nicht die einzige Neuerung hier. Vor dem niedrigen Schemel, auf dem er Platz genommen hatte, stand jetzt ein kleines Tischchen, auf dem ein reichhaltiges Frühstück aufgetragen worden war, und neben ihm lag ein in saubere Decken eingewickeltes Bündel. Das Feuer im Kamin brannte nicht mehr ganz so übertrieben wie gestern (oder vor drei Tagen, um genau zu sein), sorgte aber immer noch für halbwegs erträgliche Temperaturen hier drinnen – was bedeutete, dass es gerade warm genug war, um ihren Atem nicht als grauen Dunst vor ihrem Gesicht erscheinen zu lassen.

»Ihr müsst hungrig und durstig sein«, fuhr Istvan fort. »Mit dem Essen solltet Ihr noch ein wenig achtgeben, nach der langen Zeit, in der Euer Magen nichts mehr zu tun hatte, aber gegen einen Schluck heiße Suppe wird wohl nichts einzuwenden sein.« Er nahm eine hölzerne Schale mit dampfend heißem Inhalt in beide Hände und kam auf sie zu. Pia wollte sich aufsetzen und die Hände ausstrecken, und zumindest der erste Teil funktionierte sogar noch, aber als sie die Arme hob, erscholl ein leises Klirren, und die Bewegung endete mit einem spürbaren Ruck und einem heftigen Schmerz in beiden Handgelenken. Verwirrt sah sie an sich herab und stellte fest, dass ihre Arme zwar noch immer bandagiert waren, sich nun aber zwei schwere eiserne Manschetten über die Verbände schmiegten, die über eine Kette aus kleinfingerdicken Gliedern mit zwei Ringen im Boden beiderseits des Bettes verbunden waren.

»Ich entschuldige mich für die Unbequemlichkeit, Erhabene«, sagte Istvan. Hätte sie nicht gewusst, wie ganz und gar unmöglich das war, dann hätte sie das Bedauern in seiner Stimme tatsächlich für echt gehalten. »Aber ich fürchte, diese Vorsichtsmaßnahmen sind nötig. Ich hoffe, die Fesseln sind nicht zu unbequem.«

Pia fürchtete eher, dass ihr herausrutschen könnte, was sie wirklich von seinen Vorsichtsmaßnahmen hielt: Nämlich dass sie diese albernen Ketten ohne Probleme aus dem Boden reißen und ihn damit erwürgen konnte, sobald sie wieder zu Kräften gekommen war. Aber vermutlich wusste er das ohnehin.

»Hier, trinkt.« Istvan hielt ihr die Schale hin, und irgendwie gelang es Pia, sie mit beiden Händen zu ergreifen und sich weit genug nach vorne zu beugen, um die Suppe mit vorsichtigen kleinen Schlucken zu trinken. Sie schmeckte nicht besonders, aber sie war heiß, und Pia sagte sich, dass sie jedes bisschen Kraft gebrauchen konnte, das sie bekam.

Sehr langsam leerte sie die Schale und gab sie ihm mit einem um mehr bittenden Blick zurück. Istvan nahm die Schale entgegen, aber er schüttelte auch den Kopf.

»Später gerne«, sagte er. »Ihr habt zu lange nichts mehr gegessen und solltet besser vorsichtig sein.« Er wartete eine Sekunde lang – vergeblich – auf eine Antwort, ging dann zum Tisch zurück und setzte sich. Die Schale stellte er nicht zurück, sondern begann nachdenklich damit zu spielen.

»Könnt Ihr reden, Erhabene?«, fragte er.

Pia war nicht ganz sicher. Vorsichtig räusperte sie sich, stellte fest, dass es nicht schmerzte, und antwortete dann: »Ich … glaube schon.« Tatsächlich ging es besser, als sie zu hoffen gewagt hätte. Ihre Stimme klang noch ein bisschen belegt, aber sie gehorchte ihr wieder. Und mehr oder weniger traf das auch auf den Rest ihres Körpers zu. Da waren noch immer unzählige Wunden, Schnitte, Prellungen und andere Verletzungen, die ihr zu schaffen machten, aber das war nichts gegen das, was sie in den Tagen im Verlies durchgemacht hatte. Das intensivste Gefühl überhaupt war eine bleierne Müdigkeit, die ihren gesamten Körper ergriffen hatte; aber es war eine durchaus angenehme Mattigkeit.

»Das ist gut«, sagte Istvan. »Varga hat gesagt, dass es Euch besser geht, und sie ist die beste Heilern in ganz WeißWald, aber ich wollte es aus Eurem eigenen Mund hören. Varga war es auch, die dafür gesorgt hat, dass Ihr drei Tage lang geschlafen habt. Sie war der Meinung, dass Schlaf noch immer die beste Medizin ist.«

»Ja, das sagt man da, wo ich herkomme, auch«, antwortete Pia fast gegen ihren Willen. Sie wollte ganz bestimmt nicht mit Istvan reden. Trotzdem fügte sie hinzu: »Trotzdem wäre ich gerne vorher gefragt worden.«

»Nehmt es ihr nicht übel, Erhabene«, sagte Istvan. »Sie ist wirklich nur an Eurem Wohl interessiert. Wenn es nach ihr ginge, dann hätte ich Euch mindestens noch eine Woche lang schlafen lassen sollen.« Er lachte leise. »Ich musste ihr mit dem Kerker drohen, damit sie Euch aufweckt.«

»Und was gibt es so Dringendes, das Ihr mit mir besprechen wollt?«, fragte Pia. Sie versuchte noch einmal, sich weiter aufzusetzen, vergaß die eisernen Ringe um ihre Handgelenke und konnte einen zischenden Schmerzlaut nicht mehr ganz unterdrücken.

»Das tut mir aufrichtig leid, Erhabene«, sagte Istvan betroffen. »Ich wusste nicht, wie man Euch behandelt. Ich habe Befehl gegeben, gut auf Euch aufzupassen, aber der Mann, der Euch in die Stadt gebracht hat, war der Bruder eines der Soldaten, die Ihr auf der Lichtung getötet habt. Ich hätte das bedenken müssen.« Er hob die Schultern. »Ich habe Befehl gegeben, ihn hinzurichten.«

»Das möchte ich nicht«, sagte Pia.

Istvan lächelte. »Ich fürchte, dazu ist es bereits zu spät, Erhabene«, sagte er. »Und der Mann hat den Tod verdient. Immerhin wusste er, wer Ihr seid.«

»Ihr anscheinend nicht«, sagte Pia.

»O doch«, antwortete Istvan. »Ihr seid Prinzessin Gaylen. Oder zumindest jemand, der den Geist der wiedergeborenen Elfenprinzessin in sich trägt.«

»Und woher kommt diese plötzliche Einsicht?«, fragte sie.

»Vermutet habe ich es die ganze Zeit«, antwortete Istvan. »Aber seit ich Euch auf der Lichtung im Wald gesehen habe, weiß ich es. Ihr habt drei meiner Männer und fünf Barbarenkrieger getötet.«

»Ich konnte mich immer schon meiner Haut wehren«, antwortete Pia. »Da, wo ich herkomme, muss ein Mädchen so etwas frühzeitig lernen.«

»Ein Mädchen, das drei meiner besten Soldaten erschlägt und dazu noch fünf Barbaren?« Istvan schüttelte den Kopf. »Kaum. Und schließlich ist da noch etwas.« Er stellte die hölzerne Schale endlich auf den Tisch, beugte sich mit einem leisen Ächzen zur Seite und hob das Bündel auf, das neben seinem Stuhl auf dem Boden lag. Ein Schwert mit einem wuchtigen goldenen Griff und einer meterlangen Klinge aus Glas kam unter dem Stoff zum Vorschein, als er es auswickelte.

»Eiranns Zorn«, sagte er. In seiner Stimme lag unverhohlene Bewunderung. »Nur sehr wenige glauben, dass dieses mächtige Schwert überhaupt noch existiert. Und noch sehr viel weniger haben es je zu Gesicht bekommen. Ich bin Euch zu tiefem Dank verpflichtet, dass mir die Ehre zuteilwird, es in der Hand zu halten.«

»Dann zeigt doch Eure Dankbarkeit und macht mich los«, antwortete Pia und hob die angeketteten Arme.

»Ich sehe, es scheint Euch schon wieder besser zu gehen«, erwiderte Istvan amüsiert. Er setzte die gläserne Spitze des Schwertes auf den Boden, legte die Handfläche auf den Griff und versetzte der goldenen Parierstange mit der anderen Hand einen leichten Stoß. Das Schwert begann sich wie ein Kreisel zu drehen, und irgendetwas geschah mit dem Licht, das sich in der kristallenen Klinge brach. Pia wünschte sich, er hätte das nicht getan. Sie glaubte etwas wie ein Flüstern zu hören, einen düsteren, verlockenden Laut, der an ihrer Seele kratzte.

»Das … ist nicht Eiranns Zorn«, sagte sie unbehaglich.

»Nein, ist es nicht?« Istvan schnippte noch einmal nach der Parierstange und ließ das Schwert schneller kreiseln. Das Flüstern wurde lauter.

»Das ist eine Fälschung«, beharrte Pia.

»Und das würde ich vielleicht sogar glauben, hätte ich nicht gesehen, wie Ihr mit dieser Waffe gekämpft habt«, sagte Istvan. Seine Hand schloss sich mit einem Ruck um den Schwertgriff und brachte die Waffe abrupt zum Halten.

»Wenn das Eiranns Zorn wäre, dann könntet Ihr es nicht berühren«, sagte Pia nervös. »Ihr kennt die Legende.«

»Ich schon«, antwortete Istvan. »Aber Ihr anscheinend nicht, Erhabene. Jeder kann diese Waffe berühren. Alles andere wäre fatal, denn sie muss gereinigt werden, möglicherweise instand gesetzt, oder es mag sein, dass sie einfach zu Boden fällt und jemand sie aufhebt, der nicht ihr legitimer Besitzer ist. Jeder kann diese Klinge anfassen. Doch im Kampf führen kann sie nur, in wessen Adern das Blut des alten Elfengeschlechtes fließt. Wer dieses Erbe nicht in sich trägt und es dennoch versucht, dessen Seele ist unrettbar verloren. Ich habe gesehen, wie Ihr diese Klinge geführt habt, Erhabene, und es scheint Eure Seele nicht verschlungen zu haben.«

»Wer sagt Euch denn, dass ich jemals eine Seele hatte?«, fragte Pia und bedauerte ihre eigenen Worte schon, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte. Sie glaubte das unheimliche Wispern noch einmal zu hören, und sie erinnerte sich schaudernd an das triumphierende Kreischen tief in sich, diese schreckliche Gier, die sie in diesem Moment gespürt, und den unstillbaren Blutdurst, der Besitz von ihr ergriffen hatte. Hätte Alica sie nicht aufgehalten und einer von Istvans Männern diese winzige Ablenkung ausgenutzt, um sie niederzuschlagen, dann hätte wahrscheinlich niemand auf dieser Lichtung überlebt.

»Niemand«, antwortete Istvan. Er stand auf, hob das Schwert und machte ein paar spielerische Ausfälle, Finten und Paraden. Dann hielt er unversehens inne, blickte das Schwert mit einer Mischung aus Überraschung und verwirrtem Erschrecken an und schien es plötzlich sehr eilig zu haben, sich wieder zu setzen und das Schwert behutsam auf den Boden zu legen.

»Gleichwie«, sagte er, nachdem er sich ebenso ausgiebig wie unecht geräuspert und seine Fassung irgendwie zurückgewonnen hatte. »Ich weiß, wer Ihr seid, Gaylen. Vielleicht wisst Ihr es nicht einmal selbst oder weigert Euch, dieses Wissen anzuerkennen, aber ich weiß es.«

Und sie wusste es auch. Es war gewiss nicht der erste Moment, in dem ihr klar wurde, dass Istvan und all die anderen recht hatten und sie tatsächlich ein uraltes Erbe in sich trug, das ihr vielleicht von allen am rätselhaftesten war und sie noch immer maßlos erschreckte, aber einfach da war, doch es war der erste Moment, in dem sie dieses Begreifen auch akzeptierte. Der Gedanke erfüllte sie mit Ehrfurcht und Zorn zugleich – Ehrfurcht vor der uralten, unvorstellbaren Kraft, die sie tief in sich spürte, aber auch Zorn auf das Schicksal, das ihr dieses Geschenk gemacht hatte, ohne sie auch nur zu fragen, ob sie es überhaupt haben wollte.

»Wenn Ihr das wirklich glaubt, Istvan, wieso bin ich dann hier angekettet?«, fragte sie.

»Weil ich meine Befehle habe, Erhabene«, antwortete er. »Dass ich weiß, wer Ihr seid und woraus Eure Aufgabe besteht, bedeutet nicht, dass ich meine wahren Herren verleugne oder meinen Auftrag verrate.«

Nun, was hatte sie erwartet? Es gab wirklich eine Menge, was man gegen Istvan sagen konnte, aber auf seine ganz spezielle Art war er zweifellos ein Mann von Ehre, der niemals einen Verrat begehen würde.

»Und woraus besteht dieser Auftrag?«, fragte sie – obwohl sie die Antwort ganz genau kannte.

Istvan musste das auch wissen, aber er antwortete trotzdem. »Es sind Männer auf dem Weg hierher, um Euch in die Hauptstadt zu bringen, Erhabene. Ich habe Befehl, dafür zu sorgen, dass Ihr ihnen sicher und unversehrt übergeben werdet.«

»Und was geschieht dann mit mir?«, fragte Pia.

Istvan sah sie fast traurig an. »Das weiß ich nicht, Erhabene«, sagte er. Es klang ehrlich, aber zugleich auch so, als erwarte er ganz und gar nichts Gutes; so wenig wie Pia selbst.

Sie hätte ihn fragen können warum er es dann tat, hätte an sein Gewissen appellieren können oder an seine Vernunft oder ihn einfach um Gnade anflehen, aber sie tat nichts von alledem, weil auch nichts von alledem Sinn gehabt hätte.

Auf seine krude Art war Istvan tatsächlich ein Mann von Ehre, und mit solchen Leuten konnte man nicht reden. Sie versuchte es trotzdem. »Es könnte mein Todesurteil sein.«

»Nein, keine Angst«, antwortete er. »Sie werden Euch nicht töten, Erhabene.« So viel Glück wirst du nicht haben, fügte sein Blick hinzu.

Ja natürlich, was auch sonst? Irgendetwas hätte ja auch einmal einfach sein können.

Theoretisch.

»Aber Ihr verehrt mich«, sagte sie vorsichtig. »Oder das, wofür ich …« Sie unterbrach sich, suchte einen Moment nach den richtigen Worten und hob dann ein wenig hilflos die Schultern. »Ihr versteht schon, was ich meine.«

»Ja.«

»Würdet Ihr mir dann … eine Bitte erfüllen? Nicht die, mich freizulassen, keine Sorge.«

»Wenn es in meiner Macht steht.«

»Was geschieht mit Alica? Sie ist nur ein einfaches Mädchen und nicht von Interesse für Eure Herren aus der Hauptstadt, und …« Sie unterbrach sich, als ihr sein Blick auffiel. Ihr Herz begann zu klopfen. »Sie ist nicht hier.«

»Nein«, antwortete Istvan.

»Ist sie …« Es kostete sie ihre ganze Kraft, das Wort auszusprechen. »Tot?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Istvan. »Nachdem meine Männer Euch überwältigt hatten, war sie verschwunden.«

»Verschwunden? Das glaube ich nicht!«, sagte Pia überzeugt. »Alica würde mich nie im Stich lassen!«

»Und doch war sie nicht mehr da«, beharrte Istvan. »Ich nehme an, die Barbaren haben sie mitgenommen. Wir haben sie verfolgt, aber nach einem Tag haben wir ihre Spur verloren und mussten aufgeben. Da draußen in den Wäldern sind sie uns überlegen. Und Eure Sicherheit hatte Vorrang.«

»Und die anderen?«, fragte sie stockend. Plötzlich hatte sie Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Die Barbaren hatten Alica entführt? Sie weigerte sich, das zu glauben. Schon weil sie sich nicht einmal vorzustellen wagte, was Hernandez mit ihr anstellen würde, wenn er begriff, dass Pia ihm schon wieder entkommen war.

Istvan schüttelte noch einmal den Kopf. »Ich fürchte, Ihr seid die Einzige, die den Überfall der Barbaren überlebt hat, Erhabene«, sagte er. »Einer der Gaukler konnte entkommen, doch wir haben seinen Leichnam eine Stunde entfernt gefunden.«

»Und Lasar?«

»Bracks Gehilfe? Er lebt.« Er hob rasch die Hand, als er die Hoffnung in ihren Augen aufblitzen sah. »Varga hat ihn versorgt, so gut sie konnte, aber ich fürchte, dass nicht mehr viel Hoffnung besteht.«

»Er hat eine Hand verloren«, erinnerte sich Pia.

»Und sehr viel Blut«, sagte Istvan ernst. »Varga sagt, es komme einem Wunder gleich, dass er überhaupt noch lebt. Aber er wird sterben.«

Pia war nicht überrascht, doch sehr traurig. Sie hatte Lasar für tot gehalten, als sie ihn auf der Lichtung in seinem Blut liegen sah, den Schmerz über seinen vermeintlichen Tod bisher aber verdrängt. »Das heißt, sie sind alle tot«, sagte sie bitter. »Alle, die den Fehler gemacht haben, mir helfen zu wollen. Selbst …« Ihre Stimme versagte, als sie an Lion dachte, und für einen Moment wünschte sie sich beinahe zurück in den Kerker, zurück zu den Ketten, den Schmerzen und dem Fieber, die ihr geholfen hatten, jenen anderen, weit schlimmeren Schmerz zu vergessen, den die Erinnerung an Lion bringen wollte.

Pia spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen, und kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen an. Istvan wusste nichts von Lion und er musste es auch nicht wissen. Sie hatte Lion verloren, kaum dass sie ihn gefunden hatte, und wenn der Schmerz die einzige Erinnerung an ihn sein sollte, die ihr blieb, dann würde sie ihn eifersüchtig bewachen und ihn hüten wie einen kostbaren Schatz.

»Ist alles in Ordnung, Erhabene?«, fragte Istvan. Offensichtlich gelang es ihr nicht annähernd so gut, ihre Gefühle zu verbergen, wie sie gehofft hatte.

»Sicher«, sagte sie. »Ich war nur … Ich scheine ein richtiger Glücksbringer zu sein, nicht wahr? Vielleicht ist es nicht die schlechteste Idee, wenn man mich einsperrt und den Schlüssel wegwirft. «

»Ich lasse nach Eurer Dienerin suchen«, versprach Istvan. »Auch wenn ich Euch keine allzu großen Hoffnungen machen will. Die Barbaren dort draußen in den Wäldern aufzuspüren, dürfte nicht einfach sein. Sie sind wie der Wind. Es ist fast unmöglich, sie festzuhalten. Sie sind …«, er suchte nach dem richtigen Wort und fand es nicht, »scheu.«

»Scheu?« Pia lachte bitter. »So sind sie mir eigentlich nicht vorgekommen, als sie uns in Eurer Stadt überfallen haben, Kommandant.«

»Ja, das war sehr ungewöhnlich«, antwortete Istvan, der den kaum verhohlenen Vorwurf in ihren Worten entweder nicht gehört hatte oder es vorzog, ihn zu ignorieren. »Normalerweise trauen sie sich nicht in die Städte. Sie wissen, was sie erwartet, wenn sie den Soldaten in die Hände fallen. Ihr hättet gleich nach dem Überfall auf Euch und Eure Dienerin zu mir kommen sollen, Erhabene.« Dann wäre nichts von alledem passiert. Dann wäre Alica jetzt nicht verschwunden, Lasar läge nicht im Sterben und Lion wäre nicht tot. Das alles sprach er nicht aus, aber Pia las es so deutlich in seinen Augen, als hätte er es gesagt und, verdammt noch mal, er hatte recht damit!

»Aber wie gesagt, es ist ungewöhnlich«, fuhr Istvan fort. Vielleicht war ihm ihre Reaktion aufgefallen, und seine Worte taten ihm leid. »Ich verstehe nicht genau, warum sie dieses Risiko eingegangen sind.«

»Vielleicht hat Hernandez sie bezahlt«, murmelte Pia, eigentlich nur für sich und nicht als Antwort auf seine Bemerkung.

Istvans Kopf flog mit mit einem Ruck in den Nacken, und sie konnte sehen, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. »Wer?«

»Hernandez«, antwortete Pia. »Ihr kennt ihn nicht. Aber ich dafür umso besser. Er ist … sozusagen ein alter Freund.«

Das war möglicherweise ein Fehler, denn plötzlich las sie nichts anderes als Misstrauen und Erschrecken auf seinen Zügen. »Ein Freund?«, vergewisserte er sich.

»Das war ironisch gemeint«, antwortete sie. »Er hat schon früher versucht, mich gefangen zu nehmen. Oder Schlimmeres.«

»Nandes?«, wiederholte Istvan. Sein Misstrauen schien zuzunehmen. »Nandes war hier? In der Stadt? Warum habt Ihr mir das nicht gesagt? Ich hätte ihn auf der Stelle festnehmen lassen!«

Irgendwie bezweifelte Pia, dass ihm das gelungen wäre. Einige Sekunden lang sah sie ihm fest in die Augen, dann fragte sie: »Ihr kennt Hernandez nicht?«

»Jedermann kennt Nandes!«, schnaubte Istvan. »Er ist der Anführer der südlichen Barbarenstämme. Der Schlimmste von allen!«

»Aber Ihr wisst nicht, wie er aussieht.«

»Niemand weiß das. Wäre sein Aussehen bekannt, wäre er längst tot. Auf seinen Kopf ist eine hohe Belohnung ausgesetzt.«

»Wenn das stimmt«, sagte Pia, ohne dass ihr Blick seine Augen losgelassen hätte, »dann ist Euch eine Menge Geld durch die Lappen gegangen, Istvan.«

»Wieso?« Seine Augen wurden schmal,

»Erinnert Ihr Euch an den Abend, an dem Ihr zum letzten Mal im Weißen Eber wart, Kommandant? An den Fremden mit dem Lederhelm? Er hat gleich neben der Tür gesessen, und ich habe mich eine Weile mit ihm unterhalten.«

Istvan wurde noch ein bisschen blasser. »Das war … Nan-des?«, krächzte er.

»Ich kenne ihn als Hernandez, aber diesen Namen hat er genannt, ja.«

»Er war … in der Stadt?«, wiederholte Istvan. »Ich … habe praktisch neben ihm gestanden und es nicht einmal gewusst? Warum bei Kronn habt Ihr nichts gesagt?«

»Warum hätte ich das tun sollen?«, fragte Pia. »Ich wusste nicht, dass Ihr ihn kennt. Und sucht.«

»Das ganze Land sucht ihn«, antwortete er finster. »Er ist der Teufel in Person! Seit er aufgetaucht ist, hat sich die Gefahr durch die Barbarensstämme verzehnfacht!«

»Ja«, seufzte Pia, »das passt irgendwie zu ihm. Eigentlich hätte es mich gewundert, wenn es anders gewesen wäre.«

»Woher kennt Ihr Nandes?«

Pia gemahnte sich innerlich zur Vorsicht. »Aus meiner Heimat, wie ich bereits gesagt habe«, antwortete sie. »Er war …auch da schon nicht unbedingt mein größter Fan, um es einmal vorsichtig auszudrücken.«

Istvan sah nicht so aus, als könne er mit dieser Antwort etwas anfangen. Vielleicht war der Begriff Ironie in diesem Land ja gänzlich unbekannt. »Ihr behauptet, ihn aus Eurer Heimat zu kennen?«

»Behauptet?«

Istvan fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Kinn. »Verzeiht, Erhabene, aber Nandes hat bereits vor zehn Jahren damit begonnen, die südlichen Stämme zu vereinen, und Ihr …also ich …«

»Ich verstehe, was Ihr meint, Kommandant«, nickte Pia. »Aber vielleicht bin ich ja älter, als es den Anschein hat.«

Istvan sah jetzt ein bisschen verwirrt aus. Pia wusste selbst, wie wenig überzeugend diese Antwort klang … aber vielleicht immer noch überzeugender als die, dass die Zeit in ihrer Heimat offensichtlich anderen Gesetzen gehorchte als hier. »Und jetzt bringt uns beide nicht in eine peinliche Lage«, fügte sie lächelnd hinzu. »Da, wo ich herkomme, fragt man eine Dame nicht nach ihrem Alter.

Istvan blieb ernst. »Was habt Ihr mit Nandes zu tun?«, beharrte er.

»Nicht mehr als das, was ich Euch schon erzählt habe«, antwortete sie, jetzt eindeutig um mehrere Grade kühler. »Er war auch früher schon ein schlechter Mensch, ein Räuber und Dieb.«

»Warum wurde er dann nicht festgenommen und bestraft?«, fragte Istvan.

Pia hob die Schultern. »Er war … Polizist.«

»Polizist?« Das Wort sagte ihm nichts.

»Eigentlich sollte er in der Stadt für Ordnung sorgen«, antwortete sie. »Er und seine Männer wurden dafür bezahlt, auf die Einhaltung der Gesetze zu achten und die Menschen zu beschützen, aber in Wahrheit waren sie die Schlimmsten. Ich glaube, es hat in unserem Viertel nicht viele krumme Dinger gegeben, in denen er nicht seine Finger mit im Spiel hatte – oder von denen er nicht wenigstens wusste und für ein kleines Bakschisch in eine andere Richtung gesehen hat.«

Istvan starrte sie an, und einen Moment lang glaubte sie, es läge nur daran, dass auch in diesem Satz ein paar Worte gewesen waren, die er nicht verstand. Dann begriff sie, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Istvan hatte sie nur zu gut verstanden. Und sie begriff noch etwas anderes: Sie hatte gerade nicht nur Hernandez beschrieben, sondern auch ihn selbst.

»Und das ist alles?«, fragte er schließlich.

Mit Ausnahme einer hässlichen Episode in einem nicht weniger hässlichen Hotelzimmer, ja, dachte Pia.

Aber das ging ihn nun wirklich nichts an. Sie nickte.

»Dann hat er eindeutig Karriere gemacht«, sagte Istvan, nachdem er sie eine weitere kleine Ewigkeit lang durchdringend angestarrt hatte. »Heute ist er der Kriegsherr der südlichen Stämme. Und es vergeht kein Jahr, in dem sich ihm nicht weitere Horden anschließen.«

»Und das ist eine Gefahr für euch?«

»Gefahr?« Istvan schien einen Moment angestrengt über dieses Wort nachzudenken. »Nein. Aber ein Problem. Und wenn es so weitergeht, irgendwann … wer weiß?«

»Und was will er dann von mir?«, fragte Pia.

Istvan sah sie lange und sehr ernst an. »Wäre es nicht eher an Euch, mir diese Frage zu beantworten, Erhabene? Nandes mag vieles sein, aber eines ist er ganz gewiss nicht: dumm. Ohne Grund hierherzukommen und das Risiko einzugehen, festgenommen und hingerichtet zu werden, wäre dumm. Und er tut nichts ohne Grund.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Ich weiß, dass Ihr mir nicht traut, Gaylen, und bis zu einem gewissen Punkt kann ich das sogar verstehen und akzeptieren.

»Und dieser Punkt heißt Hernandez?«, vermutete Pia.

»Was immer Ihr von ihm und seinen Plänen wisst, Ihr solltet es mir sagen. Nandes ist ein gefährlicher Mann. Es heißt, dass er sogar mit den Orks aus den kalten Ländern in Verhandlung steht, um sie in sein unseliges Bündnis mit aufzunehmen. Geriete ihm Eure Macht in die Hände, wären die Folgen unausdenkbar! Und glaubt mir, auch für Euch! Was immer auch in der Hauptstadt mit Euch geschehen mag, es ist nichts gegen das, was Nandes Euch antun wird!«

Das Schlimme war, dass er recht hatte, dachte sie niedergeschlagen. Sie schwieg.

»Nun, diese Neuigkeit lässt so manches in einem anderen Licht erscheinen«, fuhr Istvan fort, nachdenklich und besorgt zugleich. Er stand auf. »Ich fürchte, wir müssen unser Gespräch bei einer anderen Gelegenheit fortsetzen. Ich habe über das eine oder andere nachzudenken. Ihr entschuldigt mich?«

»Selbstverständlich«, sagte Pia. Was hätte sie auch sonst antworten sollen? Weshalb Istvan auch immer wirklich gekommen war, er würde es ihr jetzt gewiss nicht mehr sagen.

»Darf ich noch eine Bitte äußern?«

»Sicher.«

»Lasar«, sagte Pia. »Ich würde ihn gerne sehen.«

»Das geht nicht«, antwortete Istvan bedauernd. »Er würde es nicht überleben, wenn wir ihn hierherbringen würden.«

»Dann bringt mich zu ihm«, bat Pia, bekam aber auch jetzt nur ein weiteres Kopfschütteln zur Antwort. »Ich fürchte, auch das geht nicht, Erhabene. Vielleicht … später. Morgen möglicherweise.«

Morgen, dachte Pia bitter. Ja, morgen. Falls er dann noch lebte.

Und sie.

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