XXXIV

Pia stockte der Atem, aber nicht einmal vor Schrecken, den sie eigentlich kaum empfand. Sie war … empört, und sie fühlte nichts anderes als einen unglaublichen Zorn auf das Schicksal. So ungerecht konnte es einfach nicht sein, nicht einmal ihr gegenüber.

Aber es konnte, und es war.

Das Erste, was sie sah, als sie sich mit einer erzwungen ruhigen Bewegung herumdrehte, war nicht Hernandez’ Gesicht, sondern ein grün geschupptes Reptiliengrinsen mit sehr vielen Zähnen, das vom Ende eines biegsamen Schlangenhalses auf sie herabstarrte. Hernandez’ nicht minder boshaftes Lächeln befand sich noch einmal ein gutes Stück höher über dem Rücken der riesigen Reitechse.

»Doch, wirklich«, fuhr er fort. »Es kommt äußerst selten vor, dass ein Mensch einen Zweikampf mit einem Ork überlebt, und noch viel seltener, dass er ihn sogar gewinnt. Tatsächlich«, fügte er nach einer Kunstpause und in übertrieben nachdenklichem Ton hinzu, »ist mir kein einziger Fall bekannt, jedenfalls nicht aus den letzten Jahren.« Er beugte sich vor, verschränkte die Hände auf dem bizarr geformten Sattelknauf und legte den Kopf auf die linke Seite, und sein groteskes Reittier vollzog die Bewegung seitenverkehrt nach. »Ich hoffe doch, Ihr habt Euch nicht ernsthaft verletzt, Erhabene.«

Pia schluckte alles hinunter, was ihr dazu auf der Zunge lag, machte einen halben Schritt zurück und drehte sich dann einmal im Kreis, um sich ohne viel Hoffnung umzusehen.

Sie wurde nicht enttäuscht. Hernandez war nicht allein gekommen. Hinter ihr standen drei struppige Barbarenkrieger, weitere zwei rechts und weitere zwei links von ihr, und als sie ihre Drehung beendet und sich wieder zu Hernandez herumgedreht hatte, erblickte sie auch neben ihm zwei hochgewachsene Männer in schmutzigen Kleidern und mit noch schmuddeligeren Gesichtern. Na ja, einen Versuch war es wert gewesen.

Oder eigentlich auch nicht.

»Was ist das jetzt, Hernandez?«, fragte sie. »Ein Kompliment, weil Sie so große Angst vor mir haben, oder ein Beweis für meine Theorie?«

»Welche Theorie?«, fragte Hernandez.

»Dass Sie ein erbärmlicher Feigling sind. Trauen Sie sich nicht einmal zu, allein mit einer unbewaffneten, harmlosen jungen Frau fertig zu werden?«

Hernandez zog eine Grimasse, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. »Ich bitte Euch, Erhabene«, sagte er. »Wir beide wissen, dass Ihr so ziemlich alles seid, nur keine harmlose junge Frau. Und was das Wort unbewaffnet angeht, ist das wohl eher eine Frage der Definition … zumindest in Eurem Fall.« Er deutete auf den Ork, der abermals versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, auch jetzt wieder erfolglos. »Der letzte arme Kerl, der den Fehler gemacht hat, dich zu unterschätzen, nicht wahr?« Hernandez machte eine kaum sichtbare Kopfbewegung zu einem der Barbaren hinter dem Ork, und der Mann zog sein Schwert, ging zu dem Ork hin und stieß ihm die Klinge durch den Hals.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Pia.

»Er wäre sowieso gestorben«, antwortete Hernandez gleichmütig. »Und gegen das, was ihm die guten Leutchen hier angetan hätten, wenn er ihnen lebend in die Hände gefallen wäre, haben wir ihm einen Gefallen getan, glaub mir, Pia.« Er schürzte die Lippen. »Davon abgesehen hat er gegen meinen Befehl verstoßen. Ich habe ausdrücklich befohlen, dich lebendig gefangen zu nehmen.«

»Na, dann bin ich ja beruhigt«, sagte Pia spöttisch. »Ich dachte schon, ich hätte Grund, mir ernsthafte Sorgen zu machen.«

Hernandez seufzte, richtete sich im Sattel auf und machte eine befehlende Geste. Ein weiterer Barbarenkrieger tauchte aus einer Seitenstraße auf. Er führte ein Pferd am Zügel.

»Steigst du freiwillig auf, oder sollen meine Männer dir helfen?«

Pia rührte sich nicht, deutete aber immerhin mit einer Kopfbewegung auf Hernandez’ Reittier. »Wieso bekomme ich nur ein Pony und nicht so ein hübsches Exemplar?«

Die Echse zischte, ließ eine lange gespaltene Schlangenzunge in Pias Richtung schnellen und peitschte mit dem Schwanz. Hernandez lachte leise. »Später vielleicht, Erhabene. Diese Tiere sind nicht leicht zu reiten, glaubt mir. Und sie mögen keine Fremden.«

»Weil sie Sie kennen«, vermutete Pia.

Hernandez’ Lächeln kühlte um eine Spur ab. »Sosehr ich dieses Gespräch auch genieße, Erhabene«, sagte er, »fürchte ich doch, dass unsere Zeit allmählich knapp wird. Warum steigt Ihr nicht auf und kommt einfach mit? Wir können uns später in aller Ruhe und so lange gegenseitig Unfreundlichkeiten an den Kopf werfen, wie wir wollen, aber jetzt sollten wir aufbrechen. Nicht alle Bewohner dieser Stadt sind meine Freunde, fürchte ich.«

Pia wandte sich zwar gehorsam um und machte einen Schritt auf das Pferd zu, aber ihre Gedanken rasten nur so. Sie durfte auf gar keinen Fall auf dieses Tier steigen. Wenn sie Hernandez gestattete, sie aus der Stadt zu schaffen, dann war es aus. Er wusste genau, wer sie war – und offensichtlich auch, wozu sie fähig war –, und würde ihr ganz bestimmt nicht den Gefallen tun, sie zu unterschätzen.

Aber es gab nichts, was sie tun konnte. Sie war umgeben von seinen Männern, und sie stand mitten auf der Straße im hellen Sonnenlicht, und weit und breit war nicht einmal die Andeutung eines Schattens zu sehen. Die einzige Richtung, die ihr noch geblieben wäre, führte in das brennende Haus. Dort hatten die Flammen inzwischen auch auf das Obergeschoss übergegriffen, und aus dem Dach stieg schwerer, fettiger Qualm. Die Hitze war selbst hier schon unangenehm, und es konnte höchstens noch ein paar Minuten dauern, bis das Feuer auch auf die benachbarten Gebäude übergriff.

»War es wirklich nötig, die halbe Stadt in Schutt und Asche zu legen?«, fragte sie bitter und um Zeit zu gewinnen.

»Wenn ich mich richtig erinnere, war nicht ich es, der dieses Haus in Brand gesteckt hat«, antwortete Hernandez gelassen. »Aber um deine Frage zu beantworten, Pia: Nein, es wäre nicht nötig gewesen. Nichts von alledem wäre passiert, wenn du gleich mit mir gekommen wärst.« Er legte den Kopf wieder schräg, diesmal auf die andere Seite. »Und? Hast du jetzt genug Zeit geschunden, oder bestehst du darauf, dass meine Männer die Stadt komplett in Schutt und Asche legen?«

Wahrscheinlich würden sie das sowieso tun, dachte Pia. Und wenn nicht sie, dann würde das Feuer das erledigen. Sie sah mindestens drei Stellen, an denen sich schwarzer Rauch über die Dächer der Stadt erhob, den Brand, den sie selbst gelegt hatte, nicht einmal mitgezählt. Und das Schlimmste war, dachte sie bitter, dass er sogar recht hatte: Nichts von alledem hier wäre passiert, wenn sie mit ihm gekommen wäre.

Pia streckte die Hand nach den Zügeln des Pferdes aus, das der Barbar gebracht hatte. Der Krieger kam ihr einen Schritt entgegen und hob seinerseits den Arm, um ihr die geflochtenen Lederriemen zu reichen. Pia tat so, als wolle sie danach greifen, führte die Bewegung dann blitzschnell, aber in eine andere Richtung zu Ende und zog ihm das Schwert aus seinem Gürtel. Der Barbar keuchte vor Überraschung und Schmerz, prallte einen Schritt zurück und starrte auf die dünne rote Linie, die plötzlich auf seinem Unterarm entstanden war.

»Das ist keine wirklich gute Idee, Pia«, sagte Hernandez fast gelassen. »Es gibt da etwas, das du anscheinend nicht weißt, ich aber schon.«

Anscheinend gab es da auch etwas, was sie wusste, jedoch er nicht.

Zeit, für eine kleine Demonstration.

Sie fuhr auf dem Absatz herum und wechselte das Schwert mit einer blitzartigen Bewegung von der rechten in die linke Hand; auch wenn diese nicht annähernd so elegant ausfiel, wie sie es gerne gehabt hätte. Beinahe hätte sie die Waffe dabei fallen gelassen, wechselte sie erneut in die rechte Hand und schloss die Finger darum. Das Ding war schlecht ausbalanciert, zu schwer und lag nicht annähernd so gut in der Hand wie Eiranns Zorn. Vielleicht sollte sie solche Kunststücke nur mit einer Waffe versuchen, die es auch wert war, nicht mit dem Schrott, den diese Barbaren benutzten.

»Jetzt zwingt mich nicht, abzusteigen und Euch den Hintern zu versohlen, Erhabene«, sagte Hernandez.

Pia wirbelte erneut auf dem Absatz herum, nahm zwei seiner Barbarenkrieger ins Visier und riss die Waffe in die Höhe, und dann geschah etwas, das viel zu schnell ging, um es auch nur zu sehen, und ihre Hand war plötzlich leer. Ihr Arm tat weh, als hätte sie ein Pferd getreten.

»Ist es möglich, dass Ihr das falsche Schwert habt, Erhabene?«, fragte Hernandez spöttisch. »Verzeihung: hattet.«

Pia starrte ihn an, dann ihre leere Hand und dann wieder ihn, und Hernandez wartete, bis er in ihrem Blick las, dass sie allmählich zu verstehen begann, bevor er fortfuhr: »Das auf der Lichtung, Pia, das warst nicht du.«

»Aber Eiranns Zorn …«

»– hat eine Hand gesucht, die es führt«, sagte Hernandez. »Nicht umgekehrt.« Sein Blick wurde hart. »Und jetzt steig auf!«

Diesmal gehorchte Pia, ohne zu zögern.

Derselbe Mann, den sie gerade verletzt hatte, trat noch einmal auf sie zu und half ihr in den Sattel, und sie musste sich zu ihrem Ärger eingestehen, dass diese Hilfe auch nötig war. Sein Arm blutete noch immer, ohne dass es ihn sonderlich zu stören schien, und in seinem Gesicht stand auch höchstens so etwas wie sachter Ärger geschrieben, kein Zorn oder gar Hass.

Er griff nach den Zügeln und führte das Tier, als sie sich in Bewegung setzten, und auch dafür war sie ihm im Stillen dankbar. Abgesehen von den wenigen Augenblicken im Sattel des Elbenrosses hatte sie noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen, und schon nach den ersten Schritten wusste sie auch, warum. Wie so manches war Reiten offensichtlich um einiges schwieriger, als es aussah.

So viel zu ihrer Idee, dem Kerl vor sich bei der ersten guten Gelegenheit einen Tritt zu verpassen und einfach davonzugaloppieren.

Vermutlich hätte es sowieso nicht funktioniert, denn sie hatten kaum die nächste Straße erreicht, da schlossen sich ihnen weitere Barbaren an und kurz darauf auch eine Anzahl Orks, von denen etliche auf den riesigen Reitechsen saßen.

Sie bewegten sich nicht in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren und in der noch immer ein erbitterter Kampf zu toben schien. In den Rauch über den Dächern mischten sich jetzt immer mehr Flammen, deren Funkenflug vermutlich noch weitere Dächer entzünden würde, und obwohl noch immer nichts zu sehen war, klang der Lärm nicht mehr nach dem eines mittelgroßen Handgemenges, wie sie es vor dem Tor beobachtet hatte, sondern nach einer ausgewachsenen Schlacht.

»Sie wissen, dass ein komplettes Heer auf dem Weg hierher ist, Comandante?«, wandte sie sich an Hernandez.

»Oh, du meinst diese fünfhundert Krieger aus der Hauptstadt, die in Tormans Begleitung gekommen sind?« Hernandez lachte. »Ja, meine Orks freuen sich schon auf sie.«

»Und Torman sich auf Ihre Orks, vermute ich.«

»Du solltest ihn und seine beiden Begleiter nicht überschätzen«, antwortete Hernandez. »Es sind Schattenelben und sie sind zweifellos gefährlich. Aber sie sind nur zu dritt. Und sie können nicht überall sein.« Er schwieg einen kurzen Moment, in dem er sie sehr nachdenklich ansah, und fuhr dann in ebenso nachdenklichem, fast schon versöhnlichem Ton fort: »Du hast keine Ahnung, habe ich recht?«

»Keine Ahnung wovon?«

»Von alldem hier.« Hernandez machte eine ausholende Geste, die die gesamte Stadt einschloss. »Du glaubt, Torman und seine Männer seien gekommen, um dich in Sicherheit zu bringen.«

»Sind sie nicht?« In ihrer Stimme war mehr Zweifel zu hören, als ihr lieb war.

»Du weißt, was Prinzessin Gaylens Rückkehr für dieses Land bedeutet?«, sagte Hernandez. »Und vielleicht für die ganze Welt?«

»Nicht genau«, gestand Pia.

Hernandez lachte. »So ganz genau weiß das niemand. Nicht einmal die hohen Herren in Apulo. Aber vielleicht ist das gerade das Fatale, weißt du? Halbwissen und Gerüchte sind der beste Nährboden für Angst. Haben sie dir gesagt, dass du nicht die Erste bist?«

»Nicht die Erste was?«

»Die erste Gaylen«, antwortete Hernandez.

»Vielleicht bin ich ja die Erste, die es wirklich ist«, sagte Pia.

»Vielleicht aber auch nicht«, sagte Hernandez. »Wer weiß? Es könnte einen Grund haben, dass es so viele Jahrhunderte gedauert hat, bis der Tag der Befreiung gekommen ist. Es gibt Mächte, die die Rückkehr der Elfenprinzessin mehr fürchten als die Orks.«

Pia verstand nur ganz allmählich, worauf Hernandez eigentlich hinauswollte. Und natürlich glaubte sie ihm kein Wort. Hernandez war Hernandez, und das war im Grunde schon alles, was es zu seiner Glaubwürdigkeit zu sagen gab.

Aber da war plötzlich auch wieder die Erinnerung an das, was Torman vorhin gesagt hatte. Ich weiß. Sie hatte dem keine Bedeutung zugemessen, so wie sie vielleicht vielen Dingen in letzter Zeit zu wenig oder die falsche Bedeutung zugemessen hatte. Was, wenn Hernandez die Wahrheit sagte und …

Sie spürte, dass sein Gift seine Wirkung bereits zu entfalten begann, und gestattete sich nicht, den Gedanken auch nur zu Ende zu denken. »Netter Versuch«, sagte sie. »Aber ich werde trotzdem bei der ersten Gelegenheit fliehen.«

Hernandez lachte. »Jede andere Antwort hätte ich auch nicht geglaubt, Pia. Aber warum sollte ich lügen? Ich habe, was ich wollte. Du bist meine Gefangene, WeißWald stellt kein Hindernis mehr für mein Volk dar, und um die drei Spitzohren kümmern sich die Orks aus Ursa. Sie haben ohnehin noch die eine oder andere offene Rechnung mit ihnen zu begleichen. Also, warum sollte ich dich anlügen?«

»Weil es ein Charakterzug von Ihnen ist?«, fragte Pia. Das klang sogar in ihren eigenen Ohren lahm.

»Tormans Befehl lautet zweifellos, dich sicher zur Hauptstadt zu bringen«, erwiderte Hernandez bloß. »Aber bist du wirklich sicher, dass man danach je wieder von dir hören wird?«

»Quatsch«, antwortete Pia. Ohne die geringste Spur von Überzeugung in der Stimme. Tormans Gesicht erschien in ihren Gedanken, und sie glaubte noch einmal den Blick seiner seelenlosen Augen zu spüren. Sie hatte dem Schattenelben keine Sekunde lang getraut, aber das, was Hernandez da andeutete … wollte sie nicht glauben.

Sie bogen in eine schmale Straße ab, die zur Hälfte in Flammen stand, und hier sah Pia zum ersten Mal einige Einwohner WeißWalds. Die meisten trugen die bunten Uniformen und Messingharnische der Stadtgarde, aber es waren auch einige Männer und Frauen aus der normalen Bevölkerung unter ihnen, und zu ihrem maßlosen Entsetzen auch zwei oder drei Kinder.

Und sie waren ausnahmslos tot.

Hernandez’ Männer formierten sich zu einer langen Schlange, die sich ganz auf der linken Seite der Straße hielt, um der Hitze der brennenden Häuser auf der anderen Seite zu entgehen, und selbst Pia begann die Temperatur bald als unangenehm zu empfinden – obwohl sie sich seit Wochen nichts so sehnlich wie ein bisschen Wärme gewünscht hatte.

Aber hier war es nicht warm, sondern unerträglich heiß, und die Luft war so stickig, dass sie ununterbrochen husten musste. Etliche Häuser auf der gegenüberliegenden Seite waren bereits in sich zusammengebrochen, und die anderen standen lichterloh in Flammen und gaben sich redlich Mühe, auch noch den Rest der Stadt in Brand zu setzen.

Die Chancen, dass es ihnen gelingen würde, standen nicht schlecht. Das Feuer war schon viel zu groß, um es noch unter Kontrolle zu bringen. WeißWald war dem Untergang geweiht.

»Sind Sie zufrieden, Hernandez?«, fragte sie – allerdings erst, nachdem sie den brennenden Bereich der Straße hinter sich gebracht hatten und die Temperaturen wieder halbwegs erträglich waren.

Hernandez maß sie mit einem irritierten Blick, drehte sich dann aber halb im Sattel herum und sah zurück. Pia tat dasselbe und konnte ein eisiges Frösteln nicht ganz unterdrücken. Das Feuer war auf die andere Straßenseite übergesprungen und fraß auch dort gierig an Dächern und Fassaden. Die Luft flimmerte vor Hitze, und gerade als sie sich herumdrehte, brach ein weiteres Gebäude in einem gewaltigen Funkenschauer zusammen und spie eine Million gelber und roter Feuerkäfer in die Luft, die sich gierig auf die Suche nach etwas machten, das sie entzünden konnten. Die Hitze dort hinten war mittlerweile so gewaltig, dass sich die Körper der Erschlagenen in der wabernden Luft zu bewegen schienen.

»In dieser beschaulichen Stadt herrschen heute wahrscheinlich zum ersten Mal seit tausend Jahren einigermaßen erträgliche Temperaturen«, sagte Hernandez.

»Ja, das war witzig. Sie scheinen auch noch stolz auf das alles hier zu sein.«

»Stolz?« Hernandez schüttelte den Kopf, setzte zu einer Antwort an und lenkte sein Reittier ein Stück von ihrem Pferd fort, als er spürte, wie nervös das Tier auf die Nähe der unheimlichen Kreatur reagierte, bevor er fortfuhr. »Nein, das bin ich nicht, Pia. Wir haben Krieg, und Krieg ist niemals etwas, worauf man stolz sein sollte.«

»Warum führen Sie ihn dann?«

»Ich führe ihn nicht«, behauptete Hernandez. »Wir tun lediglich das, was jeder andere an unserer Stelle auch tun würde; dich eingeschlossen. Wir verteidigen uns.«

»Verteidigen? Gegen Frauen und Kinder?«

Hernandez machte ein trauriges Gesicht. »Du hast Mitleid mit Ihnen? Mit einer Stadt, deren Bewohner ihre eigenen Kinder schlachteten und dafür sorgten, dass ein ganzes Volk verhungert?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Pia. »Das mit den Kindern …«

»Ich weiß nicht, weshalb sie ihre eigenen Kinder zum Abschuss freigeben, und es ist mir ehrlich gesagt auch gleich! Und weißt du, warum?« Er deutete erregt auf die nächsten Krieger. »Ihretwegen! Unter meinen Männern ist nicht einer, der nicht einen Bruder oder Vater oder Sohn an die Truppen deiner Freunde verloren hätte, und auch nicht einer, der nicht schon sein totes Kind in Armen gehalten oder seine Frau oder Schwester beerdigt hätte, die verhungert sind, weil ihrem Volk die Weidegründe gestohlen werden und die Herren im fernen Apulo systematisch alle Lebensmittellieferungen unterbinden lassen. Also erzähl mir bitte nichts von Mitgefühl!«

»Selbst wenn das alles stimmt«, antwortete Pia, »rechtfertigt es das hier nicht!«

Sie rechnete fest mit einer noch schärferen Antwort, und Hernandez setzte auch tatsächlich zu einer solchen an – aber dann hob er nur die Schultern und machte ein eher betroffenes Gesicht. »Vielleicht hast du sogar recht.«

»Aber?«

Hernandez hob noch einmal die Schultern. »Wie soll ich etwas in ein paar Minuten erklären, was ich nicht einmal in zwölf Jahren ganz verstanden habe?«, fragte er. »Ich versuche es gern, aber jetzt ist wirklich nicht der richtige Moment dafür.« Er brachte sein Reittier mit einer abrupten Bewegung zum Stehen, bedeutete Pias Führer, dasselbe zu tun, und zog ein dünnes Lederband aus der Tasche, als der Mann ihr Pferd wieder dichter an ihn heranführte. Das Tier scheute und begann unruhig mit den Hinterläufen zu stampfen, und Pia klammerte sich hastig am Sattelhorn fest, hatte aber trotzdem alle Mühe, sich auf seinem Rücken zu halten.

»Wenn ich um Eure Hände bitten dürfte, Erhabene.«

Pia starrte die Lederriemen in seinen Händen an. »Habe ich die falschen Fragen gestellt?«

Hernandez wiederholte seine auffordernde Geste. Pia sah aus den Augenwinkeln, wie der Barbar neben ihr dazu ansetzte, seinem Herrn zu Hilfe zu kommen, und streckte Hernandez hastig die aneinandergelegten Handgelenke entgegen.

»Nur eine kleine Sicherheitsvorkehrung, Erhabene«, sagte er, während er ihre Hände rasch (und eindeutig fester als notwendig) zusammenband und den Rest des Lederriemens dann benutzte, um sie am Sattelknauf festzubinden. »Wir verlassen gleich die Stadt, und in diesem verdammten Tor gibt es für meinen Geschmack eindeutig zu viele Schatten. Wir wollen doch nicht, dass Ihr uns im letzten Moment noch abhandenkommt, nicht wahr, Erhabene?«

Pia gab sich Mühe, ihn mit Blicken aufzuspießen, aber Hernandez grinste nur knapp und überprüfte noch einmal sorgfältig den Sitz ihrer Fesseln. Dann reichte er ihrem Führer einen zweiten, deutlich längeren Riemen, den dieser benutzte, um ihn um ihr linkes Fußgelenk zu knoten und sich anschließend unter dem Pferd hindurchzuducken und das andere Ende um ihr rechtes Bein zu binden.

»Sie scheinen ja richtig Respekt vor mir zu haben«, sagte Pia.

»Den habe ich in der Tat«, antwortete Hernandez. »Das Erste, was ich auf dieser ungastlichen Welt gelernt habe, war, meine Gegner niemals zu unterschätzen. Und das solltest du auch nicht … und wo wir schon einmal dabei sind: Nur falls dir irgendwelche verzweifelten oder dummen Ideen kommen sollten, unsere Lizards laufen doppelt so schnell wie das schnellste Pferd.«

Er wartete vergeblich auf irgendeine Antwort, bedeutete dem Mann, der sie gefesselt hatte, mit einer Geste, seine Arbeit noch einmal zu überprüfen, und wandte sich dann in befehlendem Ton an einen der Orks in seiner Nähe. »Sag deinen Leuten Bescheid, dass wir abziehen. Wir haben, worum wir gekommen sind.«

»Und die Elben?«, fragte die riesige Kreatur.

Pia war nicht nur überrascht, das Wesen sprechen zu hören, sondern das auch noch mit einer zwar sehr tiefen, aber durchaus menschlich klingenden Stimme. Was hatte Hernandez gerade gesagt? Man sollte seine Gegner niemals unterschätzen?

»Wenn sie sie erledigt haben, umso besser. Aber sucht nicht nach ihnen. Wenn sie deine Leute in dieses Labyrinth hier locken, dann töten sie sie einen nach dem anderen. Wir erwischen sie schon noch.«

Der Ork nickte abgehackt, zwang sein reptilienhaftes Reittier mit einem Ruck herum und sprengte davon. Pia glaubte plötzlich ein bisschen besser zu verstehen, was Hernandez gerade gemeint hatte. Das Tier rannte nicht so, wie ein Pferd es getan hätte, sondern sprintete los wie eine zu groß geratene Eidechse, mit weit nach vorne gestrecktem Hals und waagerecht ausgestrecktem Schwanz. Es war in der Tat mindestens doppelt so schnell wie jedes Pferd, das sie je gesehen hatte.

»Beeindruckend, nicht?«, fragte Hernandez. »Sie stammen aus Ursa, der Heimat der Orks. Und das sind noch die friedlichsten Haustiere, die sie sich halten. Du solltest erst einmal die Schätzchen sehen, die sie schlachten.«

»Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie kennenlernen werde?«, sagte Pia. »Ob ich will oder nicht.«

»Ursa?« Hernandez schüttelte fast erschrocken den Kopf. »Bei Kronn, wie kommst du auf diese Idee? Niemand geht nach Ursa. Die Orks halten nicht viel von Besuch.«

Sie ritten weiter. Nach und nach gesellten sich weitere Krieger zu ihnen und auch mindestens zwei oder drei Dutzend Orks, die auf schuppigen Lizards ritten.

Pia versuchte, sich einen genaueren Eindruck von den riesigen Kreaturen zu verschaffen. Immerhin konnten diese Wesen sprechen, waren offensichtlich in der Lage, Tiere zu domestizieren und abzurichten, und verfügten über eine eigene Kultur und Zivilisation. Sie waren ausnahmslos groß und sehr muskulös, aber längst nicht alle waren solche Giganten wie der, mit dem sie es vorhin zu tun gehabt hatte. Manche waren kaum größer als Hernandez’ Barbarenkrieger, und nicht wenige von ihnen wirkten sogar verblüffend menschlich, wenn man sich die grüne Schuppenhaut, das eine oder andere Horn und ungefähr zweihundert Zähne wegdachte. Diese Geschöpfe hatten jedenfalls nichts mit dummen Tieren gemein, die nur Gewalt und Töten kannten.

Pia fragte sich, in welcher Beziehung Hernandez zu den Orks stand. Die Worte, die er gerade mit dem Echsenreiter gewechselt hatte, hatten nicht unbedingt den Charakter eines Befehls gehabt; jedenfalls nicht die Art von Befehl, wie sie ihn von dem Hernandez erwartet hätte, an den sie sich von früher erinnerte. Der Comandante war es nicht gewohnt, seine Entscheidungen zu erklären.

Die Frage, die sie dann laut stellte, war jedoch eine ganz andere. »Was habt Ihr mit Alica gemacht? Ist sie noch am Leben?«

»Deine Freundin?« Der Ausdruck gelinder Ratlosigkeit auf seinem Gesicht wirkte echt. »Was soll mit ihr sein?«

»Sie ist nicht bei Euch?«

Hernandez schüttelte nur den Kopf, und Pia fuhr schon fast ein bisschen verzweifelt fort: »Aber Ihr müsst sie gesehen haben! Sie war bei mir, als Ihre Männer uns auf der Waldlichtung überfallen haben.«

»Das mag sein«, antwortete Hernandez. »Ich war nicht dabei, und meine Männer haben nichts von ihr erzählt. Vielleicht haben Istvans Soldaten sie … mitgenommen.«

Das winzige Zögern in seinen Worten entging Pia nicht. Er hatte etwas anderes sagen wollen. »Er hat dasselbe von Ihren Leuten angenommen.«

»Dann muss sich einer von uns täuschen«, antwortete Hernandez, »oder lügen. Meine Männer haben nichts erzählt …die wenigen, die den Kampf überlebt haben, heißt das.« Er machte eine wenig überzeugende Geste. »Ich werde einige Männer losschicken, die nach ihr suchen … aber du solltest dir keine allzu großen Hoffnungen machen. Die Wälder dort draußen sind sehr gefährlich.«

»Es gibt Räuber und mörderische Barbaren«, sagte Pia. »Man kann überfallen werden. Ich weiß.«

Hernandez überging die Bemerkung. »Ich kann mir nicht erklären, was sich diese Gaukler dabei gedacht haben, dorthin zu gehen«, fuhr er unbeirrt fort. »Es gibt dort draußen Gefahren, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Selbst die Orks meiden die Eissümpfe, wenn sie es können.«

Pia konnte sich nicht an irgendwelche Sümpfe erinnern, aber die mochten weiter in Richtung des Tränensees gelegen haben, zu dem sie unterwegs gewesen waren. Dafür begriff sie eines umso deutlicher: Hernandez hatte nicht die geringste Ahnung von Valoren und ihrem geheimnisvollen Verbündeten, der angeblich am Ufer des Tränensees auf sie gewartet hatte. Und das sollte wohl besser so bleiben.

»Die Eissümpfe liegen nicht auf unserem Weg«, sagte Hernandez, »doch ich werde einen Suchtrupp losschicken. Wenn deine Freundin noch lebt, dann finden sie sie.« Sein Tonfall machte klar, wie wenig Hoffnung er hatte, Alica tatsächlich zu finden, aber Pia empfand trotzdem ein flüchtiges Gefühl von Dankbarkeit, dass er es wenigstens versuchte; ein Gefühl, das sie fast erschrocken verscheuchte. Sie würde sich auf keinen Fall auch nur irgendeine positive Regung Hernandez gegenüber gestatten. Nicht dass am Ende noch ihre Hand zitterte, wenn sie ihm ein Messer in die Brust rammte.

Ihr Trupp wuchs langsam, aber beständig weiter, während sie sich dem Stadttor näherten. Als der mächtige Turm in Sicht war, war ihre Zahl auf mehr als hundert angewachsen, gut ein Drittel davon Orks, von denen die Hälfte auf schuppigen Reitechsen saßen, und mit jedem Schritt, den sie sich dem Torturm näherten, stießen noch weitere Männer zu ihnen. In gleichem Maße nahm der Schlachtenlärm ab, der noch immer aus den Straßen der Stadt heranwehte, mittlerweile fast überlagert vom Tosen der Flammen und dem Schreien und Lärmen der Menschen, die ebenso verzweifelt wie vergeblich versuchten das Feuer zu löschen, das ihre gesamte Stadt zu verschlingen drohte. Selbst wenn es ihnen gelang, dachte Pia schaudernd, würde WeißWald nie mehr die Stadt sein, die Alica und sie kennengelernt hatten. Sie würde Jahre brauchen, um sich von diesem einen Tag zu erholen. Und ihre Bewohner würden die beiden Frauen, die wie aus dem Nichts bei ihnen aufgetaucht waren, ganz bestimmt nicht in guter Erinnerung behalten. Wahrscheinlich würde die Geschichte von Prinzessin Gaylen hier in Zukunft etwas anders erzählt werden als im Rest des Landes.

Fünfzig oder sechzig Meter vor dem Tor ließ Hernandez anhalten, angeblich, um auf die restlichen Truppen zu warten, die noch in der Stadt unterwegs waren, und tatsächlich wuchs die Zahl der Krieger noch einmal auf gute zwei- bis dreihundert an; eigentlich ein lächerlich kleiner Trupp, um eine ganze Stadt zu erobern; selbst eine so kleine wie WeißWald.

Aber diese Männer waren schließlich nicht gekommen, um die Stadt zu erobern, sondern um sie zu verwüsten, und die Hälfte von ihnen waren keine Männer, sondern schuppige grüne Giganten, von denen jeder einzelne ein Dutzend von Istvans Soldaten aufwog.

Trotzdem waren auch sie nicht ungeschoren davongekommen. Pia sah zahlreiche Barbarenkrieger, die hastig improvisierte Verbände trugen oder auch gar nicht versorgte Wunden hatten, und auch der eine oder andere Ork kam nicht ganz ohne Blessuren zurück. Allerdings fiel ihr auf, dass es keine wirklich Schwerverwundeten zu geben schien. Sie sah nicht einen einzigen Barbaren oder Ork, der nicht mehr aus eigener Kraft laufen konnte oder gar von seinen Kameraden gestützt oder getragen werden musste. Aber sie musste auch daran denken, was Hernandez’ Männer mit dem verwundeten Ork getan hatten. Vielleicht war es nicht nur reine Barmherzigkeit gewesen und auch nicht nur die Strafe dafür, dass der Schuppenkrieger gegen seinen ausdrücklichen Befehl verstoßen hatte.

Noch etwas fiel ihr auf. Das Heer sammelte sich vor dem offen stehenden Tor zum Abmarsch. Auf den Wehrgängen rechts und links des Torturmes standen jetzt Barbarenkrieger, die das Gelände vor der Stadtmauer beobachteten, ihre erhöhte Position aber auch nutzten, um die umliegenden Straßen im Auge zu behalten. Hernandez tauschte dann und wann ein Winken, eine komplizierte Geste oder ein einzelnes gerufenes Wort in einer ihr unbekannten Sprache mit den Wächtern, und obwohl er das heranrückende Heer so wenig vergessen haben konnte wie sie, schien ihn nichts von dem, was er zu hören bekam, wirklich zu beunruhigen. Dafür irrte sein Blick immer nervöser über das halbe Dutzend Straßen, das aus ebenso vielen Richtungen auf dem freien Platz vor dem Torturm mündete. Er wirkte beinahe schon ängstlich. Sie sparte sich eine entsprechende Frage, allein weil sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde, aber sie hätte schon blind sein müssen, um nicht zu begreifen, dass nicht alles so lief, wie Hernandez es geplant hatte.

Sie tat dasselbe wie er, ohne irgendetwas Außergewöhnliches zu entdecken. Aus vier der sechs Straßen stießen noch immer Krieger und Orks zu ihnen, auch wenn aus dem anfänglichen Strom inzwischen eher ein Tröpfeln geworden war, die beiden anderen standen in Flammen, obwohl das Inferno dort nicht annähernd so gewaltig tobte wie in der, durch die sie selbst vorhin geritten waren.

Der krächzende Schrei eines Raben ließ nicht nur Pia mit einem Ruck aufsehen.

Gleich drei der riesigen Tiere waren über dem Platz erschienen und begannen dort schnelle gegenläufige Kreise zu ziehen; vermutlich dieselben, die sie gerade vor dem Ork gerettet hatten. Hernandez schrie einen knappen Befehl in der unverständlichen Sprache der Barbaren, und mindestens ein Duzend Pfeile zischten zu den Raben hoch. Die Tiere kreisten niedrig genug über dem Platz, um in Schussweite zu sein, aber kein einziger der gefiederten Todesboten kam ihnen auch nur nahe. Die Raben wichen mit schon fast spöttisch anmutender Leichtigkeit aus und schienen sich selbst in tanzende Schatten zu verwandeln, die nur manchmal da waren.

Dafür regneten etliche der gefährlichen Geschosse wieder auf den Platz zurück und verletzten die Männer, die sie gerade abgeschossen hatten.

»Hört auf!«, schrie Hernandez. »Das hat keinen Sinn! Genau das wollen sie doch!«

Einer der Raben krächzte laut, wie um ihm recht zu geben, und Hernandez starrte noch einmal zu den leeren Straßen hin, aus denen weiterhin Krieger herbeistürmten. Etwas änderte sich: Bisher war es ein Heer von Eroberern und Zerstörern gewesen, in dessen Mitte sie ritt. Jetzt war es ein Haufen verängstigter Männer auf der Flucht. Es war keine Veränderung des Sichtbaren, aber Pia konnte spüren, wie Furcht wie eine eisige Hand nach den Herzen der Männer griff. Die Mienen der Orks vermochte sie nicht zu deuten, doch auf den Gesichtern etlicher Männer in ihrer Umgebung erschien plötzlich ein Ausdruck blanker Angst.

»Was … ist das, Hernandez?«, murmelte sie verstört. Die Furcht ließ auch sie nicht unberührt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie hätte mit den Händen zu ringen begonnen, wären sie nicht fest am Sattelknauf angebunden gewesen.

»Das sind diese verdammten Schattenelben!«, fluchte Hernandez gepresst. »Sie schicken uns ihre Angst.« Zwei, drei endlose schwere Herzschläge lang starrte er geradewegs durch sie hindurch ins Nichts, dann richtete er sich im Sattel auf und schrie mit laut hallender Stimme:»Wir rücken ab! Auf der Stelle!« Die drei Raben oben am Himmel krächzten zustimmend, und das Heer setzte sich augenblicklich und sehr schnell in Bewegung.

Aber vielleicht war es trotzdem schon zu spät. Aus zwei der fünf Gassen strömten plötzlich keine Barbaren und Orks mehr heraus, dafür jedoch ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Gardesoldaten, bewaffneten Bürgern und Rittern in sonderbar anmutenden, aber einheitlichen Rüstungen; vielleicht Soldaten des Heeres, von dem Istvan vorhin gesprochen hatte. Anscheinend hatten sich Hernandez’ Orks doch nicht so gründlich um sie gekümmert, wie er so vollmundig behauptet hatte.

»Aber das ist unmöglich«, keuchte er. »Das ist vollkommen ausgeschlossen!« Und dann schrie er: »Das ist nicht echt! Bleibt zusammen! Das ist nur ein Trugbild!«

Seine Worte gingen im Lärm der ausbrechenden Panik unter. Barbarenkrieger und Orks prallten gleichermaßen entsetzt zurück und suchten in überstürzter Flucht das Weite. Manche warfen gar ihre Waffen weg, und nicht wenige wurden von ihren eigenen Kameraden niedergetrampelt oder starben unter gewaltigen krallenbewehrten Pfoten, als auch die Reitechsen in Panik gerieten und eine nach der anderen durchzugehen begannen. Mehr und mehr Soldaten strömten aus den Straßen heraus, und hinter ihnen waren noch einmal Hunderte, wenn nicht Tausende, ein unendlicher blitzender Strom aus Helmen, Speerspitzen und emporgereckten Schwertern.

Und es war längst nicht nur der Anblick dieser erdrückenden Übermacht, der aus Hernandez’ gerade noch so stolzem Heer einen Haufen kopfloser, schreiender Männer machte. Viel schlimmer war die Furcht, die dem Heer wie eine unsichtbare Flutwelle vorauseilte, die Gedanken von Mensch und Tier lähmte und ihre Herzen mit Furcht erfüllte, gegen die selbst der stärkste Wille machtlos war.

Auch Pia krümmte sich und begann vor Panik zu wimmern. Ihr Pferd tänzelte und versuchte auszubrechen, und selbst Hernandez gelang es nur noch mit großer Mühe, seine Reitechse unter Kontrolle zu halten.

»Glaubt nicht daran!«, schrie er. »Das ist nur ein Trugbild!«

Vielleicht hatte er damit sogar recht, dachte Pia mit dem winzigen Rest von klarem Verstand, der ihr noch geblieben war. Eigentlich war es vollkommen unmöglich, dass dieses gewaltige Heer buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht sein sollte. Es konnte gar nicht real sein.

Aber das war lediglich, was ihr Verstand ihr sagte. Ihre Augen und die kreischende Angst in ihrem Inneren behaupteten etwas anderes, und es war ganz egal, welche Argumente ihre Vernunft dagegen aufzubieten versuchte. Rings um sie herum explodierte die Panik zu reinem Chaos. Sie hörte Schreie, das Kreischen von Mensch und Tier und ein immer lauter werdendes Tosen und Bersten, den schrecklichen Laut brechender Knochen und Rüstungen, Helme und Schädel, die unter gepanzerten Pfoten zermalmt wurden. Hernandez musste in diesen wenigen Augenblicken mehr Männer verlieren als während des gesamten Kampfes um die Stadt, und möglicherweise war das Schlimmste noch nicht einmal vorbei: Plötzlich gellten auch hinter ihnen Schreie auf, und als Pia im Sattel herumfuhr, sah sie ein Bild, das direkt aus dem tiefsten Schlund der Hölle zu stammen schien.

Das Feuer hatte weiter um sich gegriffen. Die Straße hinter ihnen schien nicht einfach nur zu brennen, sondern war zu einem lodernden Tunnel geworden, dessen Wände aus purem Feuer bestanden, ein Schacht aus lodernder weißer Glut, der direkt ins Herz einer explodierenden Sonne führte.

Und an seinem Ende erschien ein Dämon.

Er war riesig, trug eine Rüstung in der Farbe der Nacht und sprengte auf einem gigantischen schwarzen Pferd heran. Sein Mantel wehte wie ein Paar riesiger schwarzer Flügel hinter ihm her, und wo die Hufe seines Schlachtrosses den Boden berührten, da stoben Funken auf.

»Das ist auch nur ein Trugbild!«, schrie Hernandez. »Lasst euch nicht narren!«

Der schwarze Dämon raste weiter heran, hielt plötzlich einen fast mannslangen Bogen in der Hand und schoss einen Pfeil ab, und auch wenn er tatsächlich nur eine Illusion sein sollte: Der Pfeil war es nicht. Er durchschlug die Brust eines berittenen Orks, suchte sich seinen Weg durch den Schädel eines zweiten, noch bevor der Schuppenträger aus dem Sattel sank, und durchbohrte noch zwei weitere Männer, bevor er tatsächlich herumschwenkte und genau auf Hernandez zielte!

Hernandez reagierte mit unglaublicher Schnelligkeit, indem er sich mit einer eigentlich ganz und gar unmöglichen Bewegung herum- und zur Seite warf. Statt ihn zu durchbohren, schrammte der Pfeil nur Funken sprühend an seinem Brustpanzer entlang, wurde noch einmal abgelenkt und zielte nun direkt auf sie.

Pia fand nicht einmal Zeit zum Erschrecken, aber sie tat ganz instinktiv das Einzige, was ihr einfiel (auch wenn es vollkommen sinnlos war): Sie floh in die Schatten.

Der Pfeil tat dasselbe.

Den Bruchteil einer Sekunde, bevor sich die dreieckige schwarze Spitze in Pias Brust bohren konnte, verwandelte sich der Pfeil in einen rauchigen Schemen, der einfach durch sie hindurchglitt. Alles, was sie empfand, war eine flüchtige Berührung tief in ihrem Inneren, wie ein eisiger Hauch, der ihre Seele streifte. Hinter ihr schien der Pfeil jedoch wieder Gestalt anzunehmen, denn sie konnte hören, wie er klappernd an der Wand zerbrach.

»Der Kerl ist echt!«, brüllte Hernandez, noch während er mit aller Macht darum kämpfte, nicht von seinem bockenden Reittier abgeworfen zu werden. »Packt ihn!«

Noch mehr und noch lautere Schreie gellten über den Platz, und Pia sah in in einer blitzartigen Vision, wie die Front der neu aufgetauchten Krieger in Hernandez’ Heer krachte – und einfach hindurch. Hernandez hatte recht gehabt. Es waren keine Soldaten. Es waren Trugbilder, nicht mehr als Gespenster, die die Körper der Fliehenden nicht einmal berührten, sondern einfach durchdrangen und sich dann auflösten wie Gebilde aus vergänglichem Nebel.

Dann explodierte die Wand hinter ihr.

Diesmal war es ganz gewiss keine Illusion. Trümmer und Steinbrocken flogen in alle Richtungen davon, schleuderten Krieger zu Boden und fällten sogar einen der gewaltigen Orks, und inmitten dieses Chaos erschien ein weiterer schwarzer Riese, der auf einem elefantengroßen Schlachtross saß.

Mit einem einzigen Satz war der Schattenelb neben ihr, fällte mit seiner schwarzen Klinge einen Ork, der dumm genug war, sich ihm in den Weg stellen zu wollen, und griff mit dem anderen Arm nach Pia. Sie schrie vor Schmerz, als die dünnen Lederriemen zerrissen, mit denen ihre Hand-und Fußgelenke gefesselt waren, und dabei tiefe blutige Schnitte in ihrer Haut hinterließen. Der Schattenelb warf sie einfach quer vor sich über den Sattel, ließ sein Schwert in Hernandez’ Richtung züngeln (es verfehlte ihn) und sein Pferd auf die Hinterläufe steigen. Die Hufe des Elbenpferdes zertrümmerten Rüstungen und Schädel, während es herumwirbelte, dann machte es einen zweiten Satz, und plötzlich fanden sie sich im Inneren desselben Hauses wieder, aus dessen Wand es gerade herausgebrochen war. Schreie und Dunkelheit und der Geruch nach Staub und dem scharfen Schweiß des Pferdes hüllten sie ein. Was von der Einrichtung des Hauses möglicherweise noch übrig gewesen sein mochte, das wurde unter den wirbelnden Pferdehufen endgültig zermalmt. Torman legte sich weit nach vorne, aber sein Helm und der schwarze Rückenpanzer schrammten trotzdem an der niedrigen Decke entlang und rissen Putz und mit Lehm verklebtes Stroh heraus. Sie bemerkte kaum, wie Torman das Schwert hob und die nächste Wand mit einem gewaltigen Hieb zertrümmerte. Für einen Moment hüllte sie Sonnenlicht ein, und sie konnte spüren, wie ihr Mantel aus schützenden Schatten zerstob, dann krachte es erneut und noch lauter, und das Elbenpferd walzte wie ein außer Kontrolle geratener Panzer durch ein weiteres Gebäude. Schreie hallten von überall wider, und mindestens einmal tauchte etwas Großes und Grünes vor ihnen auf und zerstob in einer Wolke aus Blut, als Torman seine Schattenklinge schwang.

Pia versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur ein qualvolles Husten zustande und hätte sich beinahe übergeben, als bitter schmeckender Speichel und Staub in ihre Kehle drangen.

»Bleibt unten, Erhabene!«, keuchte Torman. »Ich halte Euch fest!«

Pia hatte nicht vorgehabt, etwas so Dummes zu tun, wie etwa ihren Halt loszulassen, und sie hätte es noch sehr viel weniger getan, als sie erneut ins helle Sonnenlicht hinaussprengten und plötzlich ein ganzer Hagel kurzer Pfeile auf sie niederging. Die meisten prallen einfach von Tormans schwarzen Rüstung ab, ohne sie auch nur anzukratzen, einen schlug er mit dem Schwert aus der Luft und einen anderen (von dem Pia das unangenehme Gefühl hatte, dass er sie getroffen hätte) mit der bloßen Hand. Dann waren plötzlich Männer rings um sie herum, Tormans Schwert sang, und zerbrochene Bögen und abgehackte Körperteile und Köpfe wirbelten durch die Luft. Etwas Klebriges und ekelhaft Warmes klatschte in ihr Gesicht, und jetzt brauchte Pia all ihre Willenskraft, um sich nicht zu übergeben, als sie den widerlichen Geschmack von Blut auf den Lippen spürte, das nicht ihr eigenes war.

Das Pferd wurde schneller. Die Mauern einer schmalen, fensterlosen Gasse flogen an ihnen vorüber und verschmolzen zu grauen Schemen, und sie hätte fast ihren Halt verloren, als Torman das Tier in einer ganz und gar unmöglichen Bewegung herum- und in eine noch schmalere Gasse riss. An deren Ende schimmerte etwas Helles, das war alles, was sie erkennen konnte. Wenigstens war es nicht grün.

Sie rasten weiter, bogen noch einmal und noch jäher ab, und nach einem weiteren Dutzend Haken schlagender Schritte ließ Torman das Pferd langsamer laufen und hielt schließlich an. Pia schluckte den Rest bitter schmeckender Galle hinunter und versuchte noch einmal etwas zu sagen, doch Torman kam ihr zuvor, indem er sie wie eine junge Katze im Nacken packte und sie vor sich auf den Hals des Schlachtrosses setzte.

»Was bei Kronn habt Ihr Euch dabei gedacht?«, fuhr er sie an.

Pia blinzelte verwirrt. Ganz davon abgesehen, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wovon er überhaupt sprach, hätte die Antwort sowieso gelautet: nichts.

»Ich hatte Euch befohlen, in die Schatten zu fliehen und dort auf mich zu warten!«

»Aber das habe ich doch …«, begann Pia, registrierte den Ausdruck in seinen Augen und brach mit einem verwirrten Stirnrunzeln ab.

»Ihr habt keine Ahnung, habe ich recht?«, fragte Torman.

Diesmal nickte sie. Sie hatte wirklich keine Ahnung. Nicht einmal, wovon er jetzt gerade sprach.

»Ja, so etwas kommt dabei heraus, wenn dumme Kinder mit den Mächten der Magie spielen«, grollte Torman. »Weißt du überhaupt, was du angerichtet hast?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln, und seine schwarzen Augen wurden noch schwärzer vor Zorn. »Nein, natürlich nicht! Und wie auch?«

»Warum erklärt Ihr es mir nicht, Schwert?«, fragte Pia scharf. Verdammt, seit sie hier angekommen waren, erklärte ihr wirklich jeder, was sie nicht tun sollte und was sie falsch gemacht hatte. Warum sagte ihr eigentlich niemand, was sie tun sollte?«

Für einen Moment brannte der Zorn in Tormans Augen noch heißer, aber dann erlosch er wie abgeschaltet.

»Verzeiht, Erhabene«, sagte er. »Wie solltet Ihr es auch wissen? Es war mein Fehler. Ich werde Euch alles sagen, was Ihr wissen müsst, sobald wir hier heraus sind.«

Alles, was Ihr wissen müsst. Das war eine Formulierung, über die nachzudenken sich sicherlich lohnte, und Pia setzte auch zu einer entsprechenden Frage an – doch dann sah sie eine Bewegung am Ende der Gasse, in die sie gerade geflohen waren. Torman, dem ihr Blick nicht verborgen geblieben war, wandte den Kopf und verzog die Lippen zu dem abfälligsten Lächeln, das Pia jemals ins Leben gesehen hatte.

»Aber ich schlage vor, das zu einem späteren Zeitpunkt zu tun«, sagte er.

Pia hatte nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden.

Torman hob sie hoch und drehte sie herum, sodass sie wenigstens nicht mehr rittlings auf dem Pferd saß, und er war sogar rücksichtsvoll genug, sie dabei mit beiden Händen an den Hüften zu ergreifen, statt sie wieder im Nacken zu packen. Sie ritten weiter, bogen zwei-, oder dreimal (sie war sicher: vollkommen wahllos) ab und machten jedes Mal wieder kehrt, wenn am Ende der entsprechenden Gasse eine Mauer aus Schwertern, Äxten, grünen Schuppen und Zähnen auftauchte. Torman sagte kein Wort, und sein Gesicht blieb so ausdruckslos und starr wie das in Stein gemeißelte Antlitz des Elfenkönigs über dem Tor im Turm des Hochkönigs, aber Pia spürte trotzdem, wie seine zur Schau gestellte Ruhe allmählich zu bröckeln begann.

»Die Burschen sind hartnäckig, wie?«, fragte sie, nachdem sie zum fünften oder sechsten Mal kehrtgemacht hatten oder hastig abgebogen waren. Natürlich antwortete Torman nicht, aber die Blicke, mit denen er sich immer unsteter umsah, hatten viel von ihrer bisherigen Sicherheit eingebüßt, fand sie. Hätte sie nicht gewusst, dass der Schattenelb die Bedeutung dieses Wortes nicht einmal kannte, sie wäre sicher gewesen, so etwas wie Angst in seinen Augen zu lesen.

Und ihr fiel noch etwas auf, was sie vielleicht viel mehr beunruhigte: Torman war nicht mehr ganz so unversehrt wie am Anfang. Sein schmales Gesicht war übersät mit Schrammen und Rinnsalen aus Blut, das so hell war, dass es auf seiner nahezu weißen Haut beinahe rosafarben wirkte. Seine Rüstung war zerschrammt, und in seinem Helm klaffte ein tiefer Riss, der vorhin noch nicht da gewesen war. Auch auf dem Fell seines riesigen Schlachtrosses glänzten Schweiß und Blut, das nicht ausschließlich von dessen Feinden stammte, und der Atem des Tieres ging rasselnd und unregelmäßig. Ganz so unverwundbar, wie sie bisher instinktiv geglaubt hatte, schienen der Schattenelb und sein unheimliches Reittier doch nicht zu sein.

Für einen winzigen Moment machte sich ein Gefühl widersinniger Schadenfreude in ihr breit, das allerdings nicht besonders lange anhielt. Vielleicht sollte sie damit warten, bis sie hier heraus waren.

Falls es ihnen überhaupt gelang.

Nicht nur eine der schmalen Gassen, durch die Torman das Pferd jagte, kam ihr auf unangenehme Weise bekannt vor, und der Schattenelb riss sein Tier immer öfter herum, um eine andere Abzweigung oder einen anderen Weg zu suchen. Schließlich gelang es ihr nicht mehr, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen: Sie ritten im Kreis. Ihre Verfolger begannen sie in die Enge zu treiben.

Torman hielt an, brachte sein heftig tänzelndes Pferd mit einem harten Schenkeldruck zur Räson und sah sich gehetzt um.

»Läuft nicht besonders gut, wie?«, fragte sie.

»Schweigt!«, sagte Torman scharf. »Ich muss nachdenken.«Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, dachte Pia, war es nicht unbedingt etwas Angenehmes, worüber er nachdachte.

Die Meute aus Schuppengesichtern und Barbaren kam wieder näher. Torman riss das Pferd herum und sprengte um die nächste Abzweigung, eine kurze, von fensterlosen Mauern gebildete Gasse entlang und um eine weitere Biegung, und vielleicht war es in diesem Fall sogar Pia, die als Erste begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte, denn das Pferd jagte noch ein gutes Dutzend Schritte weiter, bevor Torman es mit einem harten Ruck zum Stehen brachte. Seine Hand spielte nervös mit dem Griff des Breitschwerts, das er quer vor sich über den Sattel gelegt hatte. Am Ende der Straße, in die sie gerade eingebogen waren, war ein Trupp aus Barbarenkriegern und Orks aufgetaucht, der zwar näher kam, ihnen aber noch nicht gefährlich werden konnte; wenigstens für die nächsten zwei oder drei Sekunden.

Die Gasse endete zwanzig oder dreißig Schritt entfernt an der Stadtmauer. Es gab keine weitere Abzweigung, keine Lücke. Sie saßen endgültig in der Falle.

Pia sparte sich die Mühe, sich herumzudrehen und nach ihren Verfolgern Ausschau zu halten, aber sie konnte spüren, wie Torman es hinter ihr tat, und sie war sicher, sich sein erschrockenes Zusammenzucken nicht nur einzubilden. Dennoch ließ der Schattenelb das Pferd nach einer Sekunde weiterlaufen und hielt erst an, als sie die Mauer schon beinahe erreicht hatten und Pia sich allen Ernstes zu fragen begann, ob er etwa vorhatte, sie einfach zu rammen, wie er es vorhin mit dem Haus getan hatte.

Das Pferd wendete auf der Stelle, und Torman nutzte den Ruck, mit dem seine Vorderhufe den Boden wieder berührten, um Pia mit sanfter Gewalt vom Rücken des Tieres zu schubsen.

»Steigt ab, Erhabene«, sagte er, nachdem ihre Füße den Boden berührt hatten und sie mit einem hastigen Schritt zur Seite ihr Gleichgewicht wiederfand.

Pia schenkte ihm einen bösen Blick und machte hastig einen weiteren Schritt zur Seite, um nicht von dem nervös hin und her tänzelnden Pferd ganz versehentlich in den Boden gestampft zu werden. »Was Humor angeht, müsst Ihr noch eine Menge lernen, Schwert«, sagte sie.

Torman antwortete nicht darauf, und als Pia zum Ende der Gasse sah, konnte sie ihn auch verstehen.

Ihre Verfolger waren wieder da. Und es waren mehr geworden. Pia schätzte die Anzahl der Orks auf mindestens zehn, und dazu kamen wahrscheinlich noch einmal doppelt so viele Barbarenkrieger. Und hinter ihnen drängten immer noch mehr und mehr bewaffnete Gestalten in die Gasse. Sie hatten es nicht besonders eilig, näher zu kommen, und wozu auch? Sie saßen in der Falle. Es gab kein Entkommen.

»Und was jetzt, Torman?«, fragte sie nervös. »Ich meine, können wir nicht in die Schatten …?«

»Nein«, unterbrach sie Torman. Pia stellte keine weitere Frage mehr.

Die waffenstarrende Front ihrer Verfolger rückte noch ein Stück näher und kam dann zitternd und klirrend zum Stehen, und eine weitere Gestalt erschien am Ende der schmalen Gasse. Sie saß auf einem Lizard, dessen hasserfüllte Blicke Pia selbst über die große Entfernung hinweg zu spüren glaubte.

Die Phalanx der Krieger teilte sich, um Hernandez passieren zu lassen. Er kam näher, hielt aber in respektvollem Abstand an, und ein halbes Dutzend Orks schloss sich wie eine lebende Mauer um ihn. Tormans Pferd schnaubte und begann unruhig mit den Vorderhufen zu scharren, und Hernandez’ Reitechse stieß ein boshaftes Zischen aus. Der Hass zwischen diesen beiden Tieren musste mindestens ebenso groß sein wie der zwischen ihren Reitern.

»Schwert Torman«, sagte Hernandez. »Ihr habt tapfer gekämpft. Ich verbeuge mich vor Eurem Mut und Eurer Stärke.«

Torman sagte nichts dazu, sondern stieg mit einer langsamen Bewegung aus dem Sattel und ergriff sein Schwert mit beiden Händen.

»Aber nun ist es vorbei«, fuhr Hernandez fort. »Ihr habt viele meiner Krieger erschlagen, und ich weiß, dass Ihr noch mehr von ihnen töten könntet, bis dieser Kampf vorüber ist. Aber ich weiß auch, dass Ihr ihn nicht gewinnen könnt. Und Ihr wisst es auch. Das Blutvergießen muss nicht weitergehen.«

»Du wärst der Erste, den meine Klinge trifft«, sagte Torman ruhig.

»Ja, das ist gut möglich«, antwortete Hernandez. »Aber am Ende würdet Ihr auch sterben, Schwert. So weit muss es nicht kommen. Wir haben keinen Streit mit Euch und Euren Brüdern.« Er deutete auf Pia. »Wir wollen nur sie. Liefert sie uns aus und wir lassen Euch gehen. Vielleicht findet sich ja später eine Gelegenheit für uns, unseren persönlichen Zwist zu Ende zu bringen.«

Wie zur Antwort spreizte Torman leicht die Beine und ergriff sein Schwert fester. Hernandez seufzte tief und schüttelte traurig den Kopf. Er hatte keine andere Reaktion erwartet, begriff Pia.

»Schade«, sagte er. »Ich hatte es ehrlich gemeint, wisst Ihr?« Er hob die Hand, und ein gutes Dutzend Orks vor und neben ihm begann die Waffen zu heben und vorzurücken.

Torman spannte sich und hob die Waffe nun in Brusthöhe, während er zugleich den Kopf drehte und Pia ansah. Ein Ausdruck unbestimmter Trauer, aber auch großer Entschlossenheit erschien auf seinem Gesicht. »Es tut mir leid, Erhabene«, sagte er.

Sie begriff einen Sekundenbruchteil zu spät, was der Schattenelb damit meinte. Sein Bedauern galt nicht dem Umstand, dass es ihm am Ende doch nicht gelungen war, seinen Auftrag zu erfüllen und sie zu beschützen.

Tormans Klinge verwandelte sich in einen huschenden Schatten, der mit tödlicher Präzision und schnell wie ein Gedanke nach ihrer Kehle stieß, aber so schnell es auch ging, so schrecklich unentrinnbar die Bewegung auch war und so kurz der zeitlose Moment, den sie brauchte, um diesen Gedanken zu denken, begriff sie doch noch mit vollkommener Gewissheit, dass sie jetzt sterben würde; dass dies das Ende ihrer Reise war. Instinktiv bewegte sie sich zurück, aber die Bewegung war geradezu grotesk langsam im Vergleich zu dem tödlichen schwarzen Blitz, der nach ihrer Kehle züngelte, und die Schwertklinge …

… verfehlte sie.

Und war dann einfach verschwunden, zusammen mit Torman, dem Pfad, der Gasse, Hernandez und seinen Orks und dem Rest der Welt. Pia taumelte mit hilflos wedelnden Armen durch einen Vorhang unsichtbarer kribbelnder Spinnweben, kippte nach hinten und sah ein Chaos aufblitzender Lichter und tanzender Schatten überall um sich herum, bevor sie mit solcher Gewalt auf den Rücken fiel und mit dem Hinterkopf aufschlug, dass ein Gewitter vollkommen anderer, aus purem Schmerz bestehender Blitze vor ihren Augen aufflammte und sie beinahe das Bewusstsein verloren hätte. Etwas kreischte. Ein Orkan der unterschiedlichsten und allesamt falschen Geräusche schlug über ihr zusammen, und ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase, genauso falsch wie die Geräusche, aber trotzdem auf sonderbare Weise vertraut. Das Schmerzgewitter flackerte für einen Moment noch heller und erlosch dann, und irgendwie gelang es ihr, die aufkommende Dunkelheit zurückzudrängen und nicht nur bei Bewusstsein zu bleiben, sondern auch die Augen zu öffnen.

Etwas Schwarzes und sehr Massives ragte keine zehn Zentimeter vor ihrem Gesicht in die Höhe. Sie hörte das Knacken von heißem Metall und das Kreischen von Reifen, und erst dann identifizierte sie den stechenden Geruch endgültig als den Gestank von heißem Gummi.

Eine Tür schlug, dann erschienen hektisch rennende Füße und nur einen Sekundenbruchteil später ein schreckensbleiches Gesicht mit weit aufgerissenen Augen in ihrem eingeschränkten Blickfeld.

»Por Deus!«, keuchte eine atemlose Stimme. »Ist Ihnen etwas passiert? Ich … ich habe Sie gar nicht gesehen! Ich schwöre, ich habe aufgepasst und …«

Die Worte verloren ihre Bedeutung, obwohl sie weiter nur so aus dem Mann heraussprudelten. Pia rutschte behutsam ein kleines Stück von dem Reifen weg, der sie um ein Haar zerquetscht hätte, richtete sich sehr vorsichtig auf, um sich nicht an der dazugehörigen Stoßstange den Kopf zu stoßen, und stemmte sich dann ganz in die Höhe. Kurz wurde ihr schwindelig, sodass sie sich an der Motorhaube des Wagens abstützen musste, um nicht sofort wieder zu fallen, und für einen noch kürzeren Moment begannen sich Lichter und Schatten und Geräusche noch einmal um sie zu drehen wie ein außer Kontrolle geratenes Kettenkarussell. Unsichtbare Spinnweben schienen ihr Gesicht zu berühren, und etwas … wollte zurückweichen.

Pia verscheuchte das Gefühl mit einer so gewaltigen Willensanstrengung, dass ein leises Stöhnen über ihre Lippen kam. Ihre Knie gaben nach, und beinahe wäre sie gestürzt, hätte nicht diesmal eine Hand nach ihrem Arm gegriffen und sie festgehalten. Aber das Spinnwebengefühl war fort.

Als sie die Augen öffnete, blickte sie ins Gesicht eines schreckensbleichen kleinen Mannes, auf das sie trotzdem nicht hinabsehen musste. Er hatte schütteres Haar, trug einen schlichten grauen Straßenanzug, der ganz eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte, und zitterte vor Aufregung und Angst am ganzen Leib.

»Ist … ist Ihnen auch wirklich nichts passiert?«, stammelte er. Dann wurden seine Augen noch größer. »Sie bluten!«

Pia hob ganz automatisch die Hand an den Hinterkopf und sog schmerzhaft die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie warmes Blut ertastete. Trotzdem hörte sie die Worte kaum, und auch der neuerliche Schmerz kratzte nur irgendwo am Rande ihres Bewusstseins. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie sich um.

Sie stand mitten auf einer belebten Straße. Hinter dem Wagen, der sie um ein Haar überfahren hätte, begann sich bereits ein Stau zu bilden. Etliche Fahrer hatten die Warnblinker eingeschaltet, aber die meisten betätigten nur mit großer Begeisterung ihre Hupen, und auch auf der Gegenfahrbahn begann sich allmählich ein Stau aufzubauen, weil natürlich jedermann langsamer fuhr, um neugierig in ihre Richtung zu gaffen. Es war Nacht, aber nicht dunkel. Überall rings um sie herum brannten Lichter: Schaufenster, Leuchtreklamen, erhellte Fenster und Türen, und es war warm. Und als wäre das noch nötig gewesen, um ihr endgültig zu beweisen, was passiert war, donnerte in diesem Moment ein Passagierjet keine hundert Meter über ihren Köpfen dahin und steuerte den Flughafen im Norden der Stadt an. All diese Lichter, die Autos und Menschen, das Flugzeug und der harte Asphalt, auf den sie gestürzt war, gehörten zu Rio de Janeiro.

Sie war wieder zu Hause.

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