XXVII

»Das ist Wahnsinn«, flüsterte Alica. »Warum gehen wir nicht gleich zur Festung und suchen uns ein gemütliches Verlies? Das Ergebnis ist dasselbe, und wir sparen uns eine Menge Rennerei.«

Sie hatten gewartet, bis die Sonne untergegangen war, und sich dann auf den Weg zur Stadtmauer gemacht; eine Strecke von kaum einem Kilometer, für die sie trotzdem fast eine Stunde brauchten. Der sichere Ort, von dem Nani gesprochen hatte, schienen die Straßen WeißWalds zu sein. Die Stadt hatte sich verändert. Wurde es schon an einem normalen Tag schlagartig dunkel und still, kaum dass die Dämmerung vorüber war, so wirkten die schlammigen Straßen jetzt vollkommen ausgestorben. In keinem einzigen Haus, an dem sie vorbeikamen, hatte Licht gebrannt oder war auch nur der geringste Laut zu hören gewesen. Die Stadt schien vielleicht noch nicht ganz ausgestorben, aber sie hielt eindeutig den Atem an. Die einzigen Menschen, denen sie überhaupt begegneten, waren die Soldaten der Stadtwache, die in den verlassenen Straßen patrouillierten, das aber in rauen Mengen. Pia hörte nach dem fünften oder sechsten Mal auf zu zählen, wie oft Nani sie hastig in eine Seitenstraße oder einen finsteren Hinterhof scheuchte, wo sie mit angehaltenem Atem warteten, bis die Patrouille vorübergegangen war. Es musste ein Dutzend Mal gewesen sein, mindestens, und ein- oder zweimal waren sie einer Entdeckung nur um Haaresbreite entgangen.

Wie es aussah, war ihre Glückssträhne jetzt zu Ende. Sie befanden sich wieder da, wo es angefangen hatte. Vor ihnen lag der Rindermarkt, der im Laufe des Tages endgültig aufgebaut worden war. Wo sich noch am Morgen ein buntes Durcheinander aus Zelten, hastig zusammengeschusterten Verkaufsständen und vor Waren überquellende Wagen erhoben hatte, da reihten sich jetzt zahlreiche Gatter und Koppeln aneinander, in denen sich Pferde, Schweine, Ochsen und eine Unzahl jener sonderbar kleinen Rinder drängten; und noch etliches andere Getier, das Pia über die große Entfernung hinweg nicht genau erkennen konnte.

Bei dem einen oder anderen war das vielleicht auch ganz gut so. Zahllose Fackeln tauchten den asymmetrischen Platz in flackernde rote Helligkeit, und die Menschen und Geräusche, die sie auf dem Weg hierher vermisst hatten, wehten ihnen nun im Übermaß entgegen. Pia schätzte, dass sich zwischen den Gattern gute fünfzig oder sechzig Männer bewegten.

Was fehlte, waren die Kunden. Sie waren zu weit entfernt und die Sicht war trotz der zahlreichen brennenden Fackeln zu schlecht, um Einzelheiten zu erkennen, aber trotz allem herrschte zu wenig Bewegung. Hier und da standen ein paar Männer beieinander und redeten, und einmal trug der Wind ein helles Lachen an Pias Ohr und verschlang es gleich wieder, dennoch war es viel zu still. Nirgends wurde gehandelt oder gefeilscht, niemand kam, um Tiere abzuholen oder Waren zu tauschen.

»Die Geschäfte scheinen nicht gut zu gehen«, murmelte sie.

»Sie gehen überhaupt nicht, wie es aussieht«, sagte Nani nachdenklich. »Ich sehe niemanden aus der Stadt. Das ist seltsam.«

Pia dachte an die unheimliche Stille in den wie ausgestorben daliegenden Straßen und an die große Zahl patrouillierender Soldaten, der sie begegnet waren.

»Vielleicht hat Istvan eine Ausgangssperre verhängt, solange seine Männer uns noch nicht gefunden haben«, dachte Alica laut nach. »Das würde zu ihm passen.« Sie seufzte tief. »Und uns macht es in der Stadt auch nicht unbedingt beliebter.«

»Keine Sorge«, antwortete Pia. »Das gibt sich, sobald wir die Stadt verlassen haben.«

»Ja, sicher«, spöttelte Alica. »Überhaupt kein Problem, nicht wahr? Wir müssen einfach nur durch das Tor spazieren. So perfekt, wie wir verkleidet sind, erkennt uns ganz bestimmt niemand.«

Pia sagte nichts dazu, sondern sah noch einmal zur Stadtmauer hoch und zu den Männern, die dort patrouillierten. Heute Morgen hatten dort zwei gelangweilte Männer gestanden, die wahrscheinlich nur die Kälte daran gehindert hatte, im Gehen einzuschlafen. Jezt sah sie allein auf den ersten Blick beinahe ein Dutzend Männer, die ganz und gar nicht gelangweilt oder müde wirkten, sondern den Viehmarkt und alles, was sich darauf bewegte, sehr aufmerksam beobachteten. Hinter jedem einzelnen Fenster des wuchtigen Torturmes brannte Licht, und manchmal bewegten sich Schatten darin. Sie konnte von hier aus nicht erkennen, ob das massive Tor am anderen Ende des Gewölbegangs offen oder geschlossen war, aber selbst wenn Istvan darauf verzichtet hatte, die Stadt komplett dichtzumachen, so wurde es ganz bestimmt streng bewacht, und jeder, der herein- oder hinauswollte, aufs Schärfste kontrolliert. Alica hatte auch in diesem Punkt recht: Die Kleider, die Nani ihnen gegeben hatte, waren zwar warm und hatten sich nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung sogar als überraschend bequem erwiesen, aber sie sahen darin absolut lächerlich aus. Ihre Verkleidung war keine, sondern schon eher das genaue Gegenteil.

»Meine Freunde werden für Ablenkung sorgen«, sagte Nani.

Irgendwie, dachte Pia, hörte es sich an wie etwas, an das sie gerne glauben würde, ohne dass es ihr wirklich gelang.

»Sie werden kommen«, fuhr Nani knapp fort. Pia konnte nicht sagen, ob sie nur ein wenig unwillig oder besorgt klang, und eigentlich wollte sie es auch gar nicht genau wissen und übersetzte stattdessen für Alica.

»Ja, fragt sich nur, wann«, nörgelte Alica. »Warum nehmen wir nicht ein anderes Tor? Vielleicht eines, das nicht von einer ganzen Armee bewacht wird?«

Pia gab ihre Frage in leicht abgemilderter Form weiter, und Nani schüttelte heftig den Kopf. »Das geht nicht«, sagte sie. »Alle anderen Tore sind geschlossen. Das hier ist nur offen geblieben, weil noch immer Karawanen eintreffen und der Großteil der Herden draußen vor der Stadt lagert. Istvans Soldaten kontrollieren jeden, der ein- und ausgeht. Aber wir haben einen Plan.«

Alica blickte fragend, doch diesmal verzichtete Pia darauf, die Worte zu übersetzen, und beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen, auf die sie sowieso nur Antworten bekommen würde, die sie eigentlich gar nicht hören wollte, sondern sich lieber in Geduld zu fassen.

Pia wurde auf eine harte Probe gestellt. Da es auch auf dem Markt von Soldaten nur so wimmelte, blieben sie in den Schatten der letzten Gebäude stehen. Nani entfernte sich ein paar Schritte; gewiss nicht zufällig gerade weit genug, dass sie sie eben nicht ansprechen konnte, ohne die Stimme zu heben und dabei unvorsichtig laut zu werden.

Zeit verging, eine unangenehm lange Zeit, in der es Pia immer schwerer fiel, ruhig dazustehen und gar nichts zu tun, aber irgendwann hörten sie endlich das Geräusch leiser Schritte, und Nani gebot ihr mit einer raschen Geste, noch weiter in die Schatten zurückzuweichen.

Alica und sie gehorchten, aber ihre Vorsicht erwies sich in diesem Fall als unnötig. Es waren keine Soldaten, die lautlos wie Gespenster aus der Nacht heraustraten und sich ihnen näherten, sondern zwei, drei, schließlich vier kleinwüchsige, schlanke Gestalten. Sie waren auf dieselbe Art gekleidet wie die Männer, die sie am Morgen vor Hernandez und seinen Steinzeit-Kriegen gerettet hatten, auch wenn die Nacht ihre schreienden Farben dämpfte, und Pia meinte, sich an mindestens eines der Gesichter zu erinnern. Dann trat eine fünfte Gestalt aus der Nacht heraus, an deren Gesicht sie sich ganz genau erinnerte.

»Lasar?«, fragte sie überrascht.

Lasar hielt ihr ein in eine Decke eingewickeltes längliches Bündel hin und lächelte schüchtern. »Ich bringe Euch Euer Eigentum, Erhabene«, sagte er stolz.

Pia nahm das Bündel automatisch entgegen und musste sein vertrautes Gewicht gar nicht spüren, um zu wissen, was darin eingewickelt war.

»Und das hier gehört Euch auch … glaube ich.« Lasar griff unter sein Hemd und zog die verchromte Pistole hervor, die sie vergangene Nacht unter ihr Kopfkissen geschoben hatte.

Pia nahm sie ebenfalls entgegen, starrte sie eine halbe Sekunde lang verwirrt an und blickte dann wieder auf Lasars Gesicht hinab. Der Junge strahlte vor Stolz, ihren Auftrag so präzise ausgeführt zu haben, aber Pias Gedanken bewegten sich plötzlich in eine ganz andere Richtung. »Lasar?«, murmelte sie noch einmal und fuhr dann mit einer fast schon erschrockenen Bewegung zu Nani herum. »Lasar ist …?«

»Mein Sohn?« Nani schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein. Das hier ist mein Sohn.« Sie deutete auf den spindeldürren Burschen, der sich am Morgen so ungeschickt mit seinen Jonglierkeulen angestellt hatte, dass Hernandez’ Männer wahrscheinlich jetzt noch Kopfschmerzen hatten, wenn sie daran dachten. »Ich habe ihn zum Weißen Eber geschickt, wie Ihr es mir aufgetragen hattet, aber er ist zu spät gekommen. Istvans Männer hatten Euer Zimmer bereits durchsucht.«

»Als ich gehört habe, was passiert ist, da habe ich Euer Eigentum in Sicherheit gebracht«, sagte Lasar stolz. »Ich wollte nicht, dass es Istvan in die Hände fällt.«

Pia lächelte dankbar, sah auf das Bündel in ihren Armen hinab und warf Lasar dann fast unmerklich einen fragenden Blick zu, den er ebenso lautlos und mit einem nur mit den Augen angedeuteten Nein beantwortete. Nein, niemand außer ihnen wusste, was sich unter der zerschlissenen Decke verbarg.

Das lautlose Zwiegespräch war jedoch weder Nani noch ihrer Familie entgangen, und der Blick, mit dem sie das Bündel maß, war unverhohlen neugierig. Pia tat so, als hätte sie ihn nicht gemerkt.

»Dann können wir jetzt gehen?«, fragte sie.

Nani machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, aber natürlich wagte sie es nicht, zu widersprechen, sondern wandte sich nur mit einer entsprechenden Geste an Lasar. »Du hast der Erhabenen einen großen Dienst erwiesen und kannst stolz auf dich sein. Warte noch eine Stunde, bis du zum Weißen Eber zurückgehst. Und du solltest niemandem sagen, dass du uns getroffen hast.«

»Ich … werde nicht zurückgehen«, sagte Lasar zögernd.

»Wieso nicht?«

Lasar fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Er sah Pia an, nicht mehr Nani, als er weitersprach. »Ich möchte Euch begleiten. Ich kann Euch nützlich sein. Ich kann eine Menge Dinge, und was ich nicht kann, das kann ich lernen. Ich lerne schnell, und …«

»Das kommt nicht infrage«, unterbrach ihn Nani. »Du hast uns geholfen, und dafür sind wir dir alle dankbar, aber hier trennen sich unsere Wege. Wir können dich nicht brauchen.«

»Warte«, sagte Pia rasch. »Vielleicht hat er recht.«

»Aber wie …«

»Istvan würde ihn töten lassen, wenn er herausfindet, was er getan hat«, fuhr sie ungerührt fort. »Aber vorher würde er ihn foltern, und er würde ihm alles verraten.« Sie wedelte mit der Pistole, die Lasar ihr gegeben hatte. »Brack weiß, dass ich das hier besitze, und auch, dass ich es unter meinem Kopfkissen verwahre. Wenn Istvan unser Zimmer durchsucht und es nicht findet, dann wird er nicht lange brauchen, um sich zusammenzureimen, was passiert ist. Er ist nicht dumm.«

»Das mag sein«, gestand Nani. »Aber wir alle haben unser Kreuz zu tragen. Er wird schon damit fertig werden.«

Pia schwieg einen Augenblick, dann seufzte sie tief und hielt Nani die Pistole mit dem Griff voran hin.

»Erhabene?«

»Das ist eine tödliche Waffe aus meiner Heimat«, sagte Pia. »Du musst nur auf ihn zielen und an dem kleinen Hebel ziehen, und er stirbt auf der Stelle. Das Ergebnis ist dasselbe, als wenn wir ihn zurücklassen, aber so ist es leichter für ihn … und sicherer für uns.«

Nani starrte abwechselnd sie und die verchromte Pistole in ihrer Hand an, und in ihren Augen war plötzlich keine Spur von Ehrfurcht oder Bewunderung mehr zu erkennen, aber dafür blanke Wut. Pia fragte sich, was sie tun sollte, wenn Nani tatsächlich nach der Pistole greifen sollte, aber sie kam nicht in die Verlegenheit, eine Antwort auf diese Frage finden zu müssen. Nani trat demonstrativ einen Schritt zurück und senkte das Haupt. »Ganz, wie Ihr wünscht, Erhabene. Aber dann sollten wir jetzt aufbrechen. Und wir müssen uns eine Geschichte für den Jungen ausdenken. Er ist aus der Stadt. Die Wachen könnten ihn erkennen.«

Pia steckte die Pistole ein und bedeutete Lasar mit einem Kopfnicken, dass alles in Ordnung war. Der Junge nickte zwar nur knapp und mit versteinertem Gesicht, aber seine Augen leuchteten vor Stolz. Dabei war sie ganz und gar nicht sicher, ihm tatsächlich einen Gefallen getan zu haben – sie hatte Nani von einer anderen Seite kennengelernt, und die harte, herrschsüchtige Frau, mit der sie an jenem Morgen im Zelt gesprochen hatte, war vielleicht noch das Harmloseste, was sie auf der anderen Seite des Tores erwartete.

»Warum hast du ihr nicht einfach befohlen, ihn mitzunehmen?«, fragte Alica.

»Weil ich nichts davon halte, irgendjemandem Befehle zu erteilen. Es ist mir lieber, wenn sie versteht, was ich meine.«

»Ja, darauf wette ich«, sagte Alica spöttisch. »Sie macht mir auch ganz den Eindruck, als hätte sie es verstanden und würde ihren Fehler bereits bereuen.«

Nani wechselte noch ein paar Worte mit ihren Begleitern, und Pia erwartete, dass sie ihr Versteck nun verlassen und endgültig zum Markt gehen würden, aber sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Zwei Straßen weiter betraten sie einen dunklen Hinterhof, auf dem ein vierrädriger, mit Kisten und Bündeln hoch beladener Wagen stand. Nanis Begleiter zauberten von irgendwoher einen stämmigen Ochsen herbei, den sie schnell und beinahe lautlos in ein kompliziertes Geschirr spannten.

»Ist das euer Plan?«, fragte Pia, während sie der bunt gekleideten Gauklertruppe dabei zusah, wie sie den Wagen und seine Ladung ein letztes Mal überprüften, hier einen Knoten strafften, da prüfend an einem Seil zogen und dort ein Packstück zurechtrückten. In einem besonders großen Bündel glaubte sie das Zelt zu erkennen, in dem sie Nani und ihrem Mann das erste Mal begegnet war.

»Wir haben Flammenhuf verloren, unsere größte Attraktion«, sagte Nani. »Niemand besucht mehr unser Geschäft. Warum also sollten wir in der Stadt bleiben?« Sie hob die Schultern und streifte Pia mit einem Blick, in dem deutlich mehr Verbitterung zu lesen als in ihrer Stimme zu hören war. »Die Wachen am Tor wissen, was geschehen ist. Sie werden uns gehen lassen.«

»Wo sind die anderen Tiere?«, fragte Pia. »Die, die ich hinter dem Zelt gesehen habe?«

»Ich habe sie verkauft«, antwortete Nani. »Sie waren ohnehin zu nichts mehr nutze. Nichts als unnötige Fresser.«

Sie trat einen Schritt zurück, als sich der Wagen mit einem leisen Ächzen in Bewegung setzte, und machte zugleich eine Kopfbewegung auf das Bündel in Pias Armen. »Ihr könnt Eure Last auf den Wagen legen. Sie sieht schwer aus.«

»So schlimm ist es nicht«, antwortete Pia, selbst für ihren eignen Geschmack eine Spur zu hastig. »Und wenn es zu schwer wird, kann Lasar mir helfen. Was willst du den Wachen erzählen, wenn sie nach ihm fragen?«

»Warten wir ab, ob sie ihn überhaupt fragen«, antwortete Nani fast beiläufig. »Und wenn, ob sie ihn erkennen. Er ist nur ein Junge.«

»Und für Kinder interessieren sich die Soldaten hier nicht«, vermutete Pia. Außer, sie können Jagd auf sie machen und ihnen die Kehlen durchschneiden. Sie wollte es nicht, aber das grässliche Bild von heute Morgen tauchte plötzlich in lebensechten Farben wieder vor ihrem inneren Auge auf; vielleicht sogar in mehr als lebensechten Farben. War da tatsächlich so viel Blut gewesen?

Der Wagen wurde vorsichtig auf die Straße hinausbugsiert und schneller, als er nicht mehr Gefahr lief, irgendwo anzustoßen, begann aber dafür unter dem Gewicht seiner Ladung so bedrohlich hin und her zu schwanken und zu ächzen, dass Pia instinktiv ein paar Schritte zurückfiel, um nicht getroffen zu werden, falls die abenteuerliche Konstruktion unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen sollte. Nani verzog kurz und spöttisch die Lippen, trat aber nur schweigend an ihre Seite und nahm den Faden wieder auf, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen.

»Was Ihr heute Morgen gesehen habt, das hat Euch entsetzt, nicht wahr?«, fragte sie.

»Dich nicht?«

Nani wich sowohl einer direkten Antwort als auch ihrem Blick aus. »Man gewöhnt sich an viele Dinge, Erhabene«, sagte sie. »Ich weiß, dass es nicht richtig ist. An manches sollte man sich nicht gewöhnen, weil die Gewohnheit den Dingen ihren Schrecken nimmt und man irgendwann glaubt, dass sie ganz normal sind, oder Kronns Wille oder Schicksal, und anfängt, sie einfach hinzunehmen.«

»Aber manchmal ist es der einzige Weg, die Wirklichkeit zu ertragen, nicht wahr?« Nani nickte, und Pia fragte mit leiser, fast entsetzter Stimme: »Soll das heißen, dass es … überall so ist? Dass sie überall Kinder töten

»Nicht überall und auch nur die, die nicht älter als zwölf Jahre sind und zu den Kinderbanden gehören«, antwortete Nani.

»Aber … warum?«

»Die Zeiten sind schwer und es gibt zu viele Menschen«, antwortete Nani. »Wenn sie alle erwachsen werden, so könnte das Land sie bald nicht mehr ernähren. Hungersnöte wären die Folge, vielleicht Unruhen und Krieg, oder noch Schlimmeres.«

Das klang so unglaublich, dass Pia mitten im Schritt stehen blieb und sie aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Moment mal!«, sagte sie entsetzt. »Willst du mir sagen, das wäre so etwas wie eure ganz spezielle Art von Geburtenkontrolle? Ihr tötet eure Kinder?«

»Sehr viel mehr Menschen würden sterben, wenn wir es nicht täten«, antwortete Nani. »Glaubt mir, wir haben all das erlebt. Es ist der einzige Weg, um größeres Unheil zu verhindern.«

»Also, mir würden da schon noch zwei oder drei andere einfallen«, antwortete Pia empört. »Wie wäre es, wenn ihr zum Beispiel nicht so viele Kinder bekommen würdet?«

»Ihr kennt die Menschen hier nicht«, behauptete Nani. »Es gibt ein Gesetz, nach dem niemand mehr als drei Kinder haben darf.«

»Aber niemand hält sich daran.«

»Wie wollt Ihr die Natur zwingen, sich an Gesetze zu halten?«

»Mit der Pille?«, schlug Pia vor. »Präservative? Die Spirale oder was auch immer ihr hierzulande benutzt! Und jetzt erzähl mir nicht, dass ihr hier nicht Mittel und Wege kennt, um zu verhindern, dass eine Frau ungewollt schwanger wird!«

»Selbstverständlich kennen wir solche Mittel«, erwiderte Nani. »Aber manche wollen sie nicht oder sind zu arm, sie zu bezahlen, oder zu dumm, sie richtig anzuwenden. Anderen verbietet es ihre Religion, und wieder anderen … ist es wahrscheinlich egal. Viele Frauen bekommen ein Kind und geben ihr ältestes dafür weg. Die, die Glück haben, tun irgendwo einen Unterschlupf auf oder verlassen die Stadt. Andere schließen sich den Banden an, und manche überleben es sogar und finden ein Auskommen … wie Euer junger Freund, der bei Brack arbeitet. Wusstet Ihr, dass er noch vor einer Weile ebenfalls auf der Straße gelebt hat?«

»Ja«, seufzte Pia. »Das alles kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Heißt das, so etwas gibt es dort, wo Ihr herstammt, auch?«

»Sagen wir: Unsere Welten sind nicht ganz so unterschiedlich, wie es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein hat.«

»Ihr müsst mir davon erzählen, Herrin«, bat Nani. »Es muss eine faszinierende Welt sein. Ich bin begierig, alles darüber zu erfahren.«

»Gern«, antwortete Pia. »Ich nehme an, wir werden eine Menge Zeit zum Reden haben, wenn wir die Stadt erst einmal verlassen haben?«

»Ein wenig schon«, antwortete Nani. Die Frage, die Pia ihr eigentlich hatte stellen wollen (und die sie sehr wohl verstanden hatte), ignorierte sie geflissentlich.

Vermutlich hätte die Zeit ohnehin nicht mehr gereicht. So langsam sich der überladene Ochsenkarren auch bewegte, hatten sie den Marktplatz doch schon fast erreicht, und Nani musste sie nicht eigens darauf hinweisen, dass es Zeit wurde, ihre Unterhaltung einzustellen und ihre Verkleidung zu vervollständigen. Nani wurde deshalb nun ein wenig schneller, wahrscheinlich um ihre Position in der Mitte des kleinen Trosses einzunehmen, die ihr als neues Oberhaupt des Familienclans zukam, und Pia ließ sich ein paar Schritt weit zurückfallen. Alica und sie gingen jetzt nebeneinander, nicht als Letzte in der Gruppe – diese Position nahm Lasar ein, vielleicht um eine bessere Chance zum Davonlaufen zu haben, sollte ihn doch jemand erkennen –, und ihr Herz schlug schon wieder ein wenig schneller, während sie ihre Umgebung unauffällig unter dem Rand ihrer Kapuze hervor im Auge zu behalten versuchte. Genau wie heute Morgen hatte sie auch jetzt das Gefühl, von nahezu jedem auf dem Markt angestarrt zu werden, und genau wie am Morgen war es auch dieses Mal keine Einbildung; selbst wenn es wohl eher der hoffnungslos überladene Wagen mitsamt der bunt gekleideten Schar in seiner Begleitung waren, die die allgemeine Aufmerksamkeit erregten.

»Ich hoffe, unsere weise Anführerin weiß, was sie tut«, murmelte Alica neben ihr. »Wenn uns irgendjemand erkennt, dann sind wir geliefert, das ist dir doch klar, oder?«

Natürlich war es das. Sie hatten genau in diesem Moment den einzigen Weg inmitten des Labyrinths aus Koppeln und hastig aufgestellten hölzernen Gattern erreicht, der breit genug war, um den überladenen Ochsenkarren passieren zu lassen, und Pia wurde das ungute Gefühl nicht los, nicht nur sehenden Auges in eine Falle zu marschieren, sondern auch noch eigenhändig die Tür hinter sich zuzuziehen und den Schlüssel herumzudrehen. Sie vertraute Nani, aber sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, warum. Weil sie eine so liebreizende alte Dame war? Wohl kaum.

»Was hat Nanunana dir eigentlich gerade erzählt?«, fragte Alica. »Du hast ziemlich entsetzt ausgesehen.«

Im ersten Moment wollte Pia sie ganz instinktiv zurechtweisen, still zu sein, aber dann wurde ihr klar, dass das ein Fehler gewesen wäre. Sie gingen leicht nach vorn gebeugt und mit hängenden Schultern, damit ihre Größe nicht sofort auffiel, aber natürlich fielen sie auf und würden es noch in viel stärkerem Maße tun, wenn sie in verbissenem Schweigen nebeneinander hergingen. Schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, dass man am wenigsten herausstach, wenn man sich ganz natürlich benahm. Sie widerstand der Versuchung, sich unauffällig nach allen Seiten umzusehen, und erzählte Alica, was sie von Nani erfahren hatte.

»Ja, irgendwie passt das«, sagte Alica finster, als sie fertig war. »Reizende Menschen leben hier, nicht wahr? Eigentlich kein Wunder, dass der Comandante in einer Gegend wie dieser gelandet ist.« Sie legte übertrieben die Stirn in Falten. »Ich frage mich nur, was wir in unseren früheren Leben ausgefressen haben, um so bestraft zu werden.«

»Also, in deinem Fall könnte ich es dir wahrscheinlich sagen, wenn du es wirklich hören willst.«

»Danke, gleichfalls«, erwiderte Alica spitz. »Du scheinst zu vergessen, dass ich seit einem Jahr mit Esteban zusammen bin. Nur, falls es dir noch niemand gesagt hat, Süße: Esteban neigt zum Plaudern, vor allem im Bett.«

»Ich nehme an, das ist dort seine Hauptbeschäftigung?«

»Hm«, machte Alica. »Auf jeden Fall redet er gerne und viel. Ich weiß alles über dich und ich könnte dir Dinge über dich erzählen, die du wahrscheinlich selbst nicht weißt.«

»Heb sie dir auf, bis ich dich zu meiner Oberpriesterin ernannt habe. Wenn du Glück hast und länger lebst als ich, dann kannst du ja das erste Evangelium über mich schreiben.«

»Das Evangelium nach Alica«, sinnierte Alica. »Klingt irgendwie gut, finde ich. Es hat was.« Sie lachte kurz und so hell, dass sich zwei oder drei Köpfe in ihrer unmittelbaren Nähe hoben und ihnen noch mehr neugierige Blicke folgten, wurde wieder ernst und deutete auf das Tor. Der Wagen hatte das gemauerte Gewölbe fast erreicht, und Pia registrierte voller Unbehagen, dass auch die Anzahl der Wachen dort verdoppelt worden war. Rechts und links des Tunnels standen jetzt jeweils zwei Krieger. Sie unternahmen keinen Versuch, den Wagen aufzuhalten, aber das war auch gar nicht nötig. Wenn sie jetzt schon das Gefühl hatte, in einer Falle zu sitzen, dann musste sie für das da wohl ein neues Wort erfinden.

Alicas Gedanken schienen sich in eine ganz ähnliche Richtung zu bewegen. »Hat dich unsere geehrte Führerin eigentlich in ihren zweifellos genialen Plan eingeweiht?«

»Welchen Plan?«

»Wie wir an den Wachen vorbeikommen.«

Pia bezweifelte, dass Nani einen Plan hatte. »Nein«, sagte sie. Sie bezweifelte auch, dass ein solcher Plan überhaupt nötig war.

»Nein? Das ist genial! Warum ist mir das nicht eingefallen? Wenn man keinen Plan hat, dann kann einem eigentlich auch nichts dazwischenkommen, nicht wahr?«

»Ganz genau«, antwortete Pia. »Und jetzt halt endlich die Klappe. Ich muss nachdenken!«

Wenn es dazu nicht längst zu spät war. Nani und ihr keulenschwingender Sohn waren bereits in den Schatten des Torgewölbes verschwunden, und der schnaubende Ochse folgte ihnen genau in diesem Augenblick. Es war eindeutig zu spät, um jetzt noch umzukehren und – dann wusste sie, was zu tun war.

Der Gedanke war so naheliegend, dass Pia sich verblüfft fragte, wieso sie überhaupt darüber nachdenken musste.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Bleib einfach in meiner Nähe und sei um Himmels willen still!«

»Ich sage kein Wort mehr«, versprach Alica. »Mein Wort darauf. Meine Lippen sind versiegelt. Du wirst keinen Ton mehr von mir hören, bevor du es mir nicht ausdrücklich gestattest, und …«

Pia warf ihr einen giftigen Blick zu, und Alica ließ es sich zwar nicht nehmen, ihr eine Grimasse zu schneiden, aber sie verstummte immerhin, und das war im Moment das Wichtigste.

Der Tunnel war so dunkel, dass man nicht einmal die sprichwörtliche Hand vor Augen sah, doch an seinem anderen Ende flackerte ein helles rötliches Licht, in dessen Schein sie ihre schlimmsten Befürchtungen gleichzeitig erfüllt wie auch nicht eingetroffen sah. Das Tor war nicht geschlossen, aber das schwere Fallgatter war so weit heruntergelassen, dass sich wahrscheinlich selbst Nani bücken musste, um darunter hindurchzupassen, und dahinter hatte mindestens ein Dutzend Soldaten Aufstellung genommen. Pia schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr Plan tatsächlich ein Plan und nicht nur ein frommer Wunsch war. Aber jetzt hatten sie gar keine andere Wahl mehr, als es herauszufinden.

Der Ochsenkarren hielt mit einem Ruck an, der die gesamte Ladung bedrohlich hin und her schwanken ließ, und Nani bückte sich unter dem Fallgatter hindurch, um mit den Soldaten zu sprechen. Alica wollte sich an dem Wagen vorbeischieben und ihr folgen, aber Pia hielt sie mit einer hastigen Geste zurück und winkte sie gleichzeitig näher an sich heran. Alica gehorchte und Pia legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm. Alica wirkte im allerersten Moment überrascht und vielleicht sogar ein bisschen verärgert, aber dann begriff sie wohl, was Pia vorhatte, und machte stattdessen eine übertriebene Verschwörermiene.

Nani redete eine geraume Weile mit den Soldaten, und obwohl Pia die Worte nicht verstehen konnte, machte ihr Tonfall doch klar, dass es sich nicht um ein freundschaftliches Gespräch handelte. Schließlich bückte sie sich erneut unter dem Fallgatter hindurch, um mit ihrem Sohn zu sprechen, und nur einen Moment später hörte Pia das Klirren schwerer Ketten, und das Fallgatter wurde weit genug nach oben gezogen, um den Ochsenkarren passieren zu lassen.

Das Fahrzeug setzte sich knarrend in Bewegung, und Pia hüllte einen schützenden Mantel aus Schatten um Alica und sich und trat hinter ihm durch das Tor.

Ihr Herz hämmerte so laut in ihrer Brust, dass sie beinahe davon überzeugt war, dass die Soldaten das Geräusch hören und sie allein deshalb entdecken mussten. Sie wusste, dass die Schatten ihre Freunde waren und sie zuverlässig vor feindseligen Blicken beschützten, aber sie hatte ihren Schutz noch nie in Anspruch genommen, wenn sie sich bewegte. Sie konnte nicht einmal ahnen, ob es funktionierte.

»Und du bist sicher, dass du weißt, was du tust?«, murmelte Alica nervös.

»Halt um Himmels willen die Klappe!«, zischte Pia. »Willst du, dass sie uns hören?«

Alica machte ein betroffenes Gesicht und verstummte, aber vielleicht war es bereits zu spät und der Schaden schon angerichtet. Der Gardist, mit dem Nani gerade gesprochen hatte, hatte sich herumgedreht und sah genau in ihre Richtung. Er wirkte verwirrt, aber auch misstrauisch, und je länger er so dastand, desto größer wurde der Anteil von Misstrauen in seinem Blick. Es war genau wie heute Morgen, als Hernandez in den Brunnenschacht herabgesehen hatte, und Pia lernte in diesem Moment etwas sehr Wichtiges über ihre unheimliche Fähigkeit, in den Schatten zu wandeln: Sie war keineswegs unsichtbar. Der Mann sah irgendetwas, nur war er einfach nicht in der Lage, das, was er sah, richtig zu deuten.

Aber sie begriff auch, dass das nicht mehr lange so bleiben würde …

Pia schloss die Finger fester um Alicas Handgelenk, blickte sich mit klopfendem Herzen um und hätte um ein Haar laut aufgestöhnt, als sie die dunkelhaarige Gestalt nur ein paar Schritte entfernt erkannte.

Es war niemand anderer als Istvan. Offensichtlich hatte der Kommandant der Stadtwache beschlossen, jeden höchstpersönlich zu kontrollieren, der an diesem speziellen Abend die Stadt zu verlassen versuchte.

Unglücklicherweise war er auch der Einzige, der nicht Schulter an Schulter mit einem der anderen Soldaten dastand. Der Karren rollte ächzend und immer bedrohlicher wackelnd weiter, und Istvans Männer bildeten einen lebenden Kordon, schmal genug, um kaum eine Handbreit Platz zwischen sich und dem Wagen und seinen Begleitern zu lassen. Wenn sie versuchten, sich an ihnen vorbeizumogeln, standen ihre Chancen nicht schlecht, einen der Männer anzurempeln. Die einzige Lücke in dieser lebenden Mauer befand sich unmittelbar neben Istvan, und sie war ungefähr einen halben Meter breit.

Großzügig geschätzt.

»Gute Idee«, sagte Alica, die mit einem Mal die Fähigkeit entwickelt zu haben schien, Pias Gedanken zu lesen. »Das meinst du aber jetzt nicht ernst, oder?«

Nein, ganz und gar nicht. Das Einzige, was sie in diesem Moment wirklich und vollkommen ernst meinte, das war ihr inbrünstiger Wunsch, die Augen aufzumachen und endlich aus diesem Albtraum zu erwachen, selbst um den Preis, dies in Estebans Haus zu tun und ein Killerkommando der Peraltas unten im Erdgeschoss randalieren zu hören.

Pia überlegte fast verzweifelt, wie sie irgendwie aus dieser Falle herauskommen sollte, in die sie sich mit so großer Mühe selbst hineinmanövriert hatte, machte einen Schritt auf Istvan zu und registrierte erst, als sie den zweiten tat, dass ihre Füße sich wie von selbst bewegt hatten.

Der nächste Schritt führte sie fast auf Armeslänge an Istvan heran und die wiederum nächsten zwei oder drei an ihm vorbei und auf die andere Seite des lebenden Belagerungsrings, zu dem sich seine Männer vor dem Tor aufgestellt hatten. Als sie an Istvan vorbeiging, bemerkte sie einen sonderbaren Ausdruck in seinen Augen; etwas wie ein vages Erstaunen, das fast – aber eben nicht ganz – stark genug war, um sein Bewusstsein zu erreichen und den Bruchteil einer Sekunde vorher erlosch.

Und da war noch etwas. Sie hatte nach wie vor die Decke mit dem darin eingewickelten Schwert unter den linken Arm geklemmt und beinahe vergessen, doch als sie Istvan am nächsten war, da glaubte sie ein sachtes Vibrieren unter dem groben Stoff zu spüren und etwas wie ein noch viel sachteres, aber gieriges Kratzen tief am Grunde ihrer Seele. Es wurde schwächer und erlosch, als sie etwas mehr als eine Armeslänge von Istvan entfernt war; vielleicht die Distanz, in der sie ihn gerade noch mit einem Schwerthieb erreicht hätte.

Pia blieb gerade lange genug stehen, um sich zu orientieren und festzustellen, dass sich die Ebene vor der Stadt so radikal verändert hatte, dass sie sich eben nicht orientieren konnte, vertraute noch einmal blind auf den Ratschlag ihrer magischen Stiefel und entfernte sich ein gutes Dutzend weiterer Schritte von Istvan und seinen Soldaten, bevor sie abermals stehen blieb. Ihre Stiefel protestierten nicht dagegen.

»Das war knapp«, flüsterte Alica neben ihr. »Hättest du das nächste Mal vielleicht die Güte, mir vorher Bescheid zu sagen, wenn du so eine Irrsinnsaktion planst?«

»Hättest du dann dabei mitgemacht?«

Alica schnappte hörbar nach Luft. »Sehe ich so aus?«

»Eben«, antwortete Pia.

Alica schoss einen wütenden Blick in ihre Richtung ab, und Pia deutete rasch auf den davonrumpelnden Wagen und ging los, bevor sie sie mit weiteren Vorwürfen eindecken konnte. Die Schatten verbargen sie noch immer zuverlässig, aber Pia spürte auch, dass dieser beschützende Mantel dünner zu werden begann; offensichtlich standen ihr diese Kräfte nicht unbegrenzt zur Verfügung. So eilte sie vorsichtshalber um den Wagen herum und brachte ihn als zusätzliche Deckung zwischen sich und die Soldaten, bevor sie ihren magischen Schutz aufgab. Etwas hob sich unsichtbar und lautlos und verschmolz mit der Nacht, und sie glaubte etwas wie ein erleichtertes Seufzen zu hören.

»Und jetzt?«, fragte Alica, als sie ihren Arm losließ. »Ich meine: Sind wir wieder sichtbar?«

»Das waren wir die ganze Zeit. Istvan und seine Leute haben es nur nicht gewusst.«

»Aha«, sagte Alica.

Nani kam um den Wagen herum, sah sich suchend um und wirkte dann nicht unbedingt erleichtert, Alica und sie zu erblicken. »Erhabene? Ist das klug, Euch jetzt schon wieder zu zeigen?«

»Nein«, antwortete Pia. »Wenn ich klug wäre, dann hätte ich die Finger von einem gewissen Drogendeal gelassen und würde jetzt zusammen mit Jesus in einer Cantina sitzen und mich betrinken.«

»Herrin?«, fragte Nani irritiert.

»Vergiss es.« Pia winkte ab. »Irgendwelche Probleme?«

»Sind wir hier oder nicht?«, gab Nani zurück.

»Die Kontrollen waren sehr streng. Und Istvan selbst anwesend. Traut er seinen Männern so wenig zu?«

»Nein«, antwortete Nani. »Aber Euch anscheinend noch mehr. Er weiß, wer Ihr seid.«

Dann wusste er möglicherweise mehr als sie selbst, dachte Pia. »Aber er hat euch gehen lassen.«

»Seine Männer beobachten uns«, erwiderte Nani. »Aber die größte Gefahr ist vorbei. Macht Euch keine Sorgen, Erhabene. Ihr seid in Sicherheit.«

Sie klang nicht so überzeugt von ihren eigenen Worten, wie es Pia recht gewesen wäre. Nani versuchte eine Zuversicht zu verbreiten, die sie nicht wirklich empfand. Aber sie sparte sich jede entsprechende Bemerkung. Immerhin waren sie aus der Stadt heraus, und das war schon mehr, als sie noch vor wenigen Minuten auch nur für möglich gehalten hätte.

»Und wie geht es weiter?«, fragte Alica.

Pia übersetzte, und Nani machte eine flatternde Handbewegung hinter sich. »Es gibt einen Treffpunkt, zwei Stunden von hier …« Sie maß den im Schneckentempo dahinrumpelnden Ochsenkarren mit mit einem langen stirnrunzelnden Blick und verbesserte sich: »Na ja, sagen wir drei. Dort wird sich jemand um Euch kümmern.«

Irgendwie gefiel Pia diese Formulierung nicht, aber sie gestattete diesem Gedanken nicht, zu echtem Misstrauen zu werden, und bekundete Nani nur mit einem stummen Kopfnicken ihr Einverständnis. Nani verschwand und begann hektisch mit einem ihre Söhne zu tuscheln, und Pia nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal und mit der gebührenden Aufmerksamkeit umzusehen.

Der Eindruck von allgemeinem Chaos, den sie vorhin schon einmal gehabt hatte, wiederholte sich. Das Gelände vor dem Stadttor ähnelte dem Anblick, den der Rindermarkt auf der anderen Seite bot, nur in viel größerem Maßstab. Auch hier waren in aller Hast Koppeln und hölzerne Gatter aufgebaut worden, in denen sich Dutzende, wenn nicht Hunderte oder gar Tausende von Tieren drängten, deren Laute und vor allem Gerüche die Nacht ringsum erfüllten. Sie begriff erst jetzt, was Valoren damals gemeint hatte, als sie von einer Karawane gesprochen hatte. Diese unzähligen Tiere waren längst nicht nur für WeißWald und die hungrigen Mägen seiner Bewohner gedacht, sondern versorgten offensichtlich einen großen Teil des ganzen Landes. Überall brannten Feuer, deren Licht die Dunkelheit vertrieb, ohne der Kälte wirklichen Einhalt gebieten zu können. Anders als auf der anderen Seite der Mauer gab es hier Platz im Überfluss, sodass nicht ein so klaustrophobisches Gedränge herrschte.

Sie kamen an großen Karreés aus mit Heu, Stroh und anderem Tierfutter beladenen Wagen vorbei, an Ansammlungen kleiner, zum Teil schreiend bunter Zelte und einmal an etwas, das Pia verblüffend genau an eine Wagenburg erinnerte, wie sie sie aus alten Wildwest-Filmen kannte; samt den bewaffneten Posten, die ringsum patrouillierten.

Nani und ihre Familie schienen hier nicht unbekannt zu sein. Immer wieder wurden ihnen Grüße oder kurze scherzhafte Bemerkungen zugeworfen, und wenn Nani jedes Mal, das sie angesprochen wurde, auch nur mit einer kurzen Unterhaltung reagiert hätte, dann wären sie wahrscheinlich noch bei Sonnenaufgang in Sichtweite der Stadt gewesen. Und so korrigierte sie Nanis Einschätzung von gerade für sich um eine Stunde nach oben, und vielleicht war ja das noch zu optimistisch. Selbst für das kleine Stück bis zum Waldrand, das Alica und sie vor wenigen Tagen in gerade einmal zehn Minuten zurückgelegt hatten, brauchten sie nahezu eine Stunde, und es gab noch einen letzten unangenehmen Moment, in dem Pia instinktiv den Atem anhielt und überlegte, ob es nicht besser war, Alica und sich vorsichtshalber noch einmal in einen Mantel aus schützenden Schatten zu hüllen. Einige Männer hatten eine Absperrung aus hastig in den Boden gerammten Pfählen errichtet, zwischen denen Seile gespannt waren, damit Mensch und Tier nicht versehentlich in den tödlichen Wald gerieten. Es gab nur einen einzigen, wenn auch sehr breiten Durchgang, wo ein Pfad durch den Wald geschlagen worden war, und er wurde von mindestens einem Dutzend Soldaten der Stadtgarde bewacht, die den Wagen zwar einfach durchwinkten, ohne ihn anzuhalten oder gar seine Ladung zu untersuchen, aber nicht mit misstrauischen Blicken geizten – die vor allem Alica und sie trafen.

Sie kamen kaum noch von der Stelle. Der Pfad war breit genug, um drei Wagen wie dem ihren nebeneinander Platz zu bieten, aber hunderte Räder und tausende Hufe hatten ihn in schlammigen Morast verwandelt, in dem der Wagen fast bis zu den Achsen versank und mehr als einmal ganz stecken zu bleiben drohte. Die Kraft des Ochsen allein reichte längst nicht aus, um ihn immer wieder weiterrollen zu lassen. Nani und ihre ganze Familie und schließlich auch Alica und sie griffen nach Kräften mit zu und zogen und stießen und zerrten, und kurz bevor sie das Ende des Pfades erreichten, machte Pias Herz noch einmal einen erschrockenen Satz bis in ihren Hals hinauf, als sich zwei oder drei von Istvans Soldaten des Anblickes erbarmten und wortlos hinzutraten. Um ihnen zu helfen.

Doch irgendwann war auch das vorbei. Die letzten Bäume des Schlingwalds blieben hinter ihnen zurück, und unter den Rädern des Wagens war jetzt zwar noch immer kein fester Boden, aber wenigstens auch kein dünnflüssiger Morast mehr, der sein Möglichstes tat, sie direkt bis zum Mittelpunkt der Erde hinabzusaugen. Die Soldaten verschwanden so wortlos und schnell, wie sie aufgetaucht waren, und warteten nicht einmal auf ein Wort des Dankes (so, wie sie Nani einschätzte, hätten sie es auch nicht bekommen), und der Wagen rumpelte noch ein kleines Stück weiter und geriet noch einmal bedrohlich ins Wanken, als Nanis Söhne ihn von dem aufgeweichten Pfad herunter und auf den steinhart gefrorenen Boden daneben zu bugsieren versuchten.

Sie hatten es fast geschafft, als der Wagen nicht nur endgültig stecken blieb, sondern sich auch mit einem bedrohlichen Ächzen zur Seite zu neigen begann. Nani und ihre Söhne vermochten die drohende Katastrophe im letzten Moment zwar zu verhindern, aber der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen, der für Pia etwas unangenehm Endgültiges hatte. Sie konnte sehen, wie die Hinterräder mit einem glucksenden Geräusch zuerst bis zu den Achsen und dann noch ein gutes Stück weiter einsanken, und ein Teil der Ladung verrutschte endgültig und polterte auf den Boden herab.

»Na wunderbar«, nörgelte Alica. »Genau das, was uns jetzt noch gefehlt hat.«

Treffender hätte Pia es auch nicht ausdrücken können. Sie maß den leicht schräg stehenden Wagen mit einem langen, missmutigen Blick, griff aber nur schweigend mit zu, als sich Lasar und Nanis Söhne um die Hinterräder versammelten und mit aller Gewalt daran zu ziehen begannen. Nani zerrte am Geschirr des Ochsen und bedachte das Tier zusätzlich mit einem ganzen Schwall wüster Beschimpfungen und Drohungen. Der Wagen begann noch stärker zu ächzen; ein Geräusch, in das sich jetzt auch ein anderer, bedrohlicherer Laut mischte, der Pia an zerbrechendes Holz und überlastete Verbindungen denken ließ. Die Ladung verrutschte weiter und befand sich jetzt in einer Schräglage, die eigentlich schon den Gesetzen der Physik spottete. Pia konnte hören, wie die straff gespannten Seile unter der Belastung zu summen begannen.

»Das hat keinen Sinn.« Sie ließ die Speiche los, an der sie ebenso vergeblich gezerrt hatte wie alle anderen. Der Wagen saß so unverrückbar fest, als wäre er einbetoniert. »Ohne Hilfe bewegt sich das Ding keinen Zentimeter mehr.«

Lasar nickte betrübt, und auch Nanis Söhne sahen ziemlich niedergeschlagen aus, aber Alica schüttelte nur grimmig den Kopf. »Blödsinn!«, fauchte sie. »Ich kapituliere doch nicht vor so ein bisschen Matsch! Los! Wir sind doch viel stärker als diese Zwerge!« Pia sah sie verstört an, und Alica machte ein noch grimmigeres Gesicht, griff mit beiden Händen nach einer Speiche und stemmte die Füße in den Boden. Wenigstens versuchte sie es. Zu ihrem Pech war der Boden nicht fest, sondern hatte eher die Konsistenz von dünnflüssiger Schmierseife. Der Wagen rührte sich nicht einmal um einen Millimeter, aber Alicas Füße rutschten nach hinten weg, und sie fiel mit einem lautstarken Platschen der Länge nach in den Schlamm.

Pia brachte es irgendwie fertig, nicht laut loszubrüllen, aber sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie, und es fiel ihr sogar noch schwerer, als Alica sich nach einem Moment fluchend aufrappelte und dabei noch einmal und diesmal tatsächlich mit dem Gesicht voran in den Morast fiel.

Mit dem zweiten Anlauf gelang es ihr tatsächlich, auf die Füße zu kommen. »Witzig«, sagte sie, spuckte einen Mundvoll Schlamm aus und fuhr sich mit dem Handrücken durch das Gesicht, ohne dessen Anblick dadurch wesentlich zu verbessern. »Wirklich, un-ge-heu-er witzig.«

»Finde ich schon«, feixte Pia.

»Ach?« Wenigstens Alicas Augen waren in der schwarzen Schlammpackung unter ihrer Kapuze zu sehen. Sie schossen kleine feurige Blitze in ihre Richtung ab. »Der Erste, der lacht, ist tot!«, versprach sie grimmig. »Übersetz das ruhig.«

Pia verzichtete vorsichtshalber darauf, doch sie war sicher, dass die anderen ihre Worte trotzdem verstanden hatten. Niemand lachte – wenigstens nicht laut –, aber Lasar drehte sich hastig weg, als Alica ihn herausfordernd anfunkelte, und auch die anderen senkten hastig die Blicke oder wirkten mit einem Mal furchtbar beschäftigt, ohne wirklich etwas zu tun.

Dann erscholl hinter ihnen doch ein dunkles, kehliges Lachen, und als Pia alarmiert herumfuhr, trat eine hochgewachsene Gestalt aus den Schatten des Waldrandes. Er musste entweder lebensmüde sein, dachte Pia, oder ganz besonders mutig – was bei Alicas momentaner Stimmung mehr oder weniger auf dasselbe hinauslief.

»Ich fürchte, da hilft nur noch abladen. Ich helfe euch, wenn ihr es wünscht.«

Die Gestalt kam näher, und Pia fuhr leicht erschrocken zusammen, als ihr zweierlei auffiel, und das eine war so beunruhigend wie das andere: Der Mann war mindestens so groß wie sie, wenn nicht größer, und überaus kräftig gebaut, und er trug eine Art von Kleidung, die ihr nur zu unangenehm vertraut vorkam: Helm, Harnisch und Mantel der Stadtgarde von WeißWald.

Und seine Stimme … kam ihr irgendwie bekannt vor, auch wenn sie zugleich wusste, dass das ganz und gar unmöglich war.

Auch Lasar und Nanis Söhne waren beim Klang der Stimme erschrocken zusammen- und herumgefahren, und für einen Moment war die Spannung, die in der Luft lag, fast mit Händen zu greifen. Lasar trat mit einem raschen Schritt zwischen sie und den gepanzerten Riesen, und in seiner rechten Hand erschien wie durch Zauberei ein winziges Messer. Angesichts des Giganten, der ihn um fast einen halben Meter überragte, wirkte es nicht einmal mehr rührend, sondern einfach nur komisch, aber Pia empfand trotzdem ein Gefühl warmer Dankbarkeit … allerdings nur für eine einzelne Sekunde.

Dann trat der Fremde einen weiteren Schritt auf sie zu, und sie konnte sein Gesicht erkennen und spürte, wie sie innerlich zu Eis erstarrte. Neben ihr stieß Alica so erschrocken die Luft zwischen den Zähnen aus, dass es wie ein kleiner Schrei klang, und auch Nani kam mit schnellen Schritten herbei.

Ihre Reaktion war allerdings ganz anders. Sie wirkte ebenso angespannt und alarmiert wie alle anderen, und auch in ihrer Hand blitzte etwas, das verdächtig nach einer Waffe aussah …doch dann riss sie die Augen auf und schien zwar beinahe noch überraschter, das aber auf eine durchaus angenehme Art.

»Lion?«, murmelte sie.

Der Riese machte einen weiteren Schritt, blieb wieder stehen und nahm den Helm ab, und Pias allerletzte Hoffnung, sich getäuscht zu haben oder nur dem schlechten Licht und einer zufälligen Ähnlichkeit aufgesessen zu sein, zerplatzte endgültig, als sie sein Gesicht aus der Nähe sah.

»Wenn das nicht Naninaranat ist, wie sie leibt und lebt«, sagte er lächelnd, deutete eine übertriebene Verbeugung in Nanis Richtung an und drehte sich dann zu Pia um. »Und Ihr müsst Gaylen sein, Erhabene«, sagte er, zwar in durchaus ehrfürchtigem (oder doch wenigstens respektvollem) Ton, aber auch ohne dass das Funkeln von gutmütigem Spott ganz aus seinen Augen gewichen wäre. »Ihr kennt mich nicht, aber ich glaube, wir haben eine Verabredung. Mein Name ist Lion. Ter Lion.«

Pia hörte die Worte kaum, und wenn, dann sagten sie ihr nichts. Sie starrte in das vertraute Gesicht hinauf und lauschte dem Klang der ebenso vertrauten Stimme. Ihr Verstand versuchte immer lauter und hysterischer, sie davon zu überzeugen, dass das, was sie sah, vollkommen unmöglich war.

»Jesus?«, murmelte sie fassungslos.

Загрузка...