XXI

Obwohl sie den Weg nicht zum ersten Mal ging, kam er Pia diesmal nicht nur weiter vor, sie brauchte auch deutlich länger, um die Entfernung bis zum Turm des Hochkönigs zurückzulegen, denn sie blieb immer wieder stehen, um zu lauschen und ihren Blick aufmerksam über die Fassaden der dunkel daliegenden Häuser und die noch dunkleren Fenster tasten zu lassen, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass das ganz und gar nicht notwendig war. Die guten Leute in den Häusern ringsum schliefen längst, und die nicht ganz so guten gingen ihren eigenen Geschäften nach. Pia hätte gespürt, wenn irgendjemand sie beobachten würde. Und sollte jemand dumm genug sein, sie überfallen zu wollen … nun, sie hatte immer noch ihre Pistole und zehn Schuss im Magazin.

Genau wie beim ersten Mal zögerte sie unmerklich, als sie die freie Fläche vor dem Turm erreichte. In der Nacht wirkte der Anblick beinahe noch unheimlicher, und für einen ganz kurzen Moment meldete sich ihre Vernunft zurück, die hartnäckig nicht nur darauf bestand, dass sie dort oben rein gar nichts finden würde außer eben einem verschlossenen Tor – und sollte es ihr tatsächlich gelingen, irgendwie in dieses alte Gemäuer hineinzukommen, vermutlich nichts als Staub, Spinnweben, unzählige leer stehende Räume und noch mehr Staub und Spinnweben.

Aber wen interessierte schon die Stimme der Vernunft? Hätte diese etwas zu sagen, dann wäre Pia gar nicht hier.

Sie schob ihre Bedenken mit einer bewussten Anstrengung beiseite und sah sich noch einmal sichernd um, dann huschte sie geduckt und sehr schnell über den vollkommen deckungslosen Streifen zwischen den letzten Gebäuden und der Brücke, bevor sie sich hinter die hüfthohe Mauer duckte. Mit angehaltenem Atem lauschte sie, doch da war nichts. Rings um sie herum herrschte eine fast schon gespenstische Stille. Diesmal hatte sie niemand gesehen. Vermutlich ließen selbst die Wachen diesen Teil der Stadt auf ihren nächtlichen Patrouillen aus. Pia konnte es ihnen nicht verdenken. Auch ihr machte dieses Monstrum aus Stein gewordener Schwärze Angst.

Aber wenn sie auch nur die geringste Chance haben wollte, jemals wieder nach Hause zu kommen, dann musste sie dorthin, so einfach war das.

Sie blieb noch weitere endlose Atemzüge wie zur Salzsäule erstarrt im Schatten der Mauer hocken – wie sie sich selbst weiszumachen versuchte, um wirklich sicherzugehen, von niemandem beobachtet zu werden, in Wahrheit aber aus keinem anderen Grund als dem, ihre Angst zu überwinden –, bevor sie sich erhob und geduckt die vierzig oder fünfzig Schritte bis zum eigentlichen Tor zurücklegte. Mit schon wieder heftig klopfendem Herzen erreichte sie es, blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und erlebte eine weitere Überraschung.

Doch sie konnte beim besten Willen nicht sagen, ob sie angenehm war.

Die Nacht war ebenso dunkel wie der Tag hell, an dem sie das erste Mal hier gewesen war, und trotzdem konnte sie das gemeißelte Steingesicht des tausend Jahre alten Hochkönigs genauso deutlich erkennen. So unheimlich und Licht verzehrend, wie der schwarze Stein im hellen Sonnenlicht ausgesehen hatte, schien er jetzt das blasse Sternenlicht zu reflektieren, mehr noch: Es schien fast, als leuchte der schwarze Basalt wie unter einem geheimnisvollen inneren Feuer. Die steinernen Pupillen starrten so mitleidlos und kalt wie seit einem Millennium auf sie herab, und Pia fiel abermals und noch sehr viel deutlicher die Ähnlichkeit mit ihrem geheimnisvollen Retter auf. Vielleicht war es nicht genau dasselbe Gesicht. Ganz bestimmt war es nicht genau dasselbe Gesicht, aber die Ähnlichkeit war dennoch frappierend. Wenn dieses Relief nicht den Mann zeigte, der sie zweimal vor Hernandez gerettet hatte, dann seinen Vater, Bruder oder einen anderen sehr nahen Verwandten.

Pia schüttelte diesen ebenso unsinnigen wie im Moment ganz und gar nicht hilfreichen Gedanken ab, riss ihren Blick mit großer Anstrengung von den gemeißelten Elfenaugen los und konzentrierte sich stattdessen auf das Tor. Das praktisch nicht vorhandene Licht, das sie bisher so zuverlässig beschützt hatte, erwies sich nun als Nachteil. Das gewaltige Tor war wenig mehr als eine Wand aus ineinanderfließenden Schatten. Der seltsame Leuchteffekt beschränkte sich leider nur auf das gemeißelte Gesicht des Hochkönigs, und das riesige Schloss war praktisch unsichtbar. Doch auch wenn es das nicht gewesen wäre, was hätte es ihr genutzt? Sie hatte keinen Schlüssel. Niemand hatte einen Schlüssel. Den hatte jemand vor gut tausend Jahren verbummelt.

Pia gestattete sich nicht, in Mutlosigkeit zu verfallen, sondern trat einen weiteren Schritt zurück und ließ ihren Blick an der nahtlosen Wand hinaufwandern. Das nächste Fenster befand sich in mindestens sechs oder sieben Metern Höhe, vollkommen unerreichbar, und war eigentlich kein Fenster, sondern eine bessere Schießscharte, durch die sie vermutlich nicht einmal hindurchgepasst hätte.

»Ich würde passen«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Pia fuhr wie elektrisiert zusammen und herum und griff gleichzeitig unter dem Umhang nach ihrer Waffe.

Nicht einmal fünf Schritte hinter ihr war eine Gestalt aufgetaucht, schwarz wie ein Scherenschnitt in der Nacht und so lautlos wie ein Geist. Selbst jetzt, wo sie wusste, dass er da war, fiel es ihr schwer, ihn wirklich mit Blicken zu fixieren.

»Lasar?«

Der Schatten bewegte sich und wurde raschelnd von einem Umriss zu einem Körper mit Tiefe und Substanz, jedoch noch immer ohne Gesicht. Aber sie kannte die Stimme. »Lasar?«, fragte sie noch einmal. »Was tust du denn hier?«

»Es tut mir leid, Erha… «, er verbesserte sich hastig, »Gay… Pia. Ich wollte Euch nicht nachspionieren, aber …«

»Warum tust du es dann?«, fragte Pia. Wie um alles in der Welt kam er hierher? Und wieso hatte sie ihn nicht bemerkt?

»Es tut mir leid«, sagte Lasar noch einmal. »Ich wollte das nicht. Aber Brack …«

»… hat darauf bestanden, ich verstehe.« Pia war nicht ganz sicher, ob sie Lasar glauben sollte.

»Es tut mir leid«, stammelte Lasar zum dritten Mal.

»Ja, das glaube ich dir«, seufzte Pia. Das war sogar ehrlich gemeint, auch wenn sie nicht zu sagen vermochte, was Lasar so unendlich leidtat. Dass er ihr nachgeschlichen war oder dass sie ihn gesehen hatte. »Und wie lange verfolgt du uns schon?«

Lasar schwieg, aber das war Antwort genug.

»Ich passe da oben durch«, sagte er. Pia reagierte nur mit einem verständnislosen Blick, und der Junge deutete mit beiden Armen an der Wand hinauf. »Das Fenster. Ich glaube, ich passe durch.« Er lächelte ebenso unecht wie verlegen. »Ich … habe Euren Blick bemerkt. Ihr wollt dort hinein, nicht wahr? Ich könnte durch das Fenster klettern und versuchen, die Tür von innen zu öffnen.«

»Und du hast unter deinem Mantel auch ein Paar Fledermausflügel versteckt, mit denen du dort hinauffliegen kannst, nehme ich an.«

»Ich kann nach oben klettern«, behauptete Lasar.

An einer Wand, die so glatt war wie ein Spiegel?

»Ich kann das«, versicherte Lasar, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ich bin ein guter Kletterer.«

Pia sagte gar nichts mehr. Sie trat nur einen halben Schritt zur Seite und machte eine auffordernde Geste. Der Junge zögerte keinen Sekundenbruchteil, sondern rannte schon fast an ihr vorbei, und zumindest im ersten Moment hatte sie den Eindruck, dass er genauso schnell an der Wand hinauflief.

Natürlich stimmte das nicht – aber Lasar hatte wohl eher untertrieben. Er war nicht nur ein guter Kletterer, sondern krabbelte so schnell und geschickt wie eine menschengroße Fliege an der Wand empor und erreichte die erste Schießscharte bereits wenige Augenblicke später. Gleich darauf war er verschwunden.

Pia war noch immer viel zu perplex (und auch ein bisschen wütend auf Brack), um wirklich zu verstehen, was hier gerade passierte. Brack ließ sie also beobachten? Was fiel diesem Mistkerl eigentlich ein, sich als schlauer zu erweisen, als sie ihn eingeschätzt hatte?

Etwas schepperte, dann erscholl ein sehr schweres, lang nachhallendes Klacken, und in der Wand aus Schatten vor ihr erschien ein senkrechter schwarzer Riss, der sich knirschend zu einer fingerbreiten Linie erweiterte. Pia griff instinktiv zu, zog und zerrte mit aller Kraft und blickte plötzlich in ein schmales, sehr verängstigt aussehendes Gesicht.

»Es tut mir leid, Erhabe… Pia«, stotterte Lasar. »Ich habe nicht sofort herausgefunden, wie die Tür funktioniert. Da war ein Riegel, aber …«

»Schon gut. Und hör endlich auf, dich dauernd zu entschuldigen.« Pia schob ihn einfach aus dem Weg und schlüpfte durch den Türspalt. Dahinter erwartete sie nichts als Dunkelheit. Und die Mutter aller Modergerüche.

»Wartet hier.« Lasar verschwand wie ein Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolz, hantierte einen kurzen Moment alles andere als leise irgendwo vor ihr herum und kam dann zurück, eine armlange Fackel in der Hand. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich auf ein Knie sinken, legte die Fackel auf den Boden und kramte zwei Feuersteine aus der Tasche, die er hektisch (und vollkommen ergebnislos) aneinanderzuschlagen begann.

Pia ließ ihn eine kleine Weile gewähren, dann zog sie Alicas Zippo hervor, entzündete es und hielt die Flamme an die Fackel, bevor sie sie aufhob. Diese fing sofort Feuer und brannte mit einer ruhigen hellblauen Flamme, die erstaunlich viel Licht verbreitete. Leider trotzdem nicht annähernd genug.

»Gut gemacht«, sagte sie.

»Oh, das war nichts Besonderes«, antwortete Lasar bescheiden. »Die Dinger liegen hier überall rum.«

Pia bedachte ihn nur mit einem wortlosen Blick, hob die Fackel höher – obwohl sie eine Menge Licht spendete, sah sie weiterhin so gut wie nichts, nur schwarze Schatten auf fast ebenso schwarzem Untergrund – und wandte sich dann noch einmal zum Tor um. So schwer es von außen gewesen war, es aufzuziehen, so leicht ließ es sich von innen wieder schließen. Das Klacken wiederholte sich, lauter und von einem drei-, vier-, fünffach nachhallenden Echo begleitet. Pia fühlte ein kurzes eisiges Frösteln, dessen sie sich nicht erwehren konnte, obwohl es vollkommen irrational war.

»Ich hoffe, du kriegst die Tür noch einmal auf«, murmelte sie.

»Das ist kein Problem«, sagte Lasar. »Ich kann …«

Er sprach nicht weiter, und Pia senkte die Fackel weit genug, um sein ziemlich schuldbewusst aussehendes Gesicht zu erkennen. »Du warst schon einmal hier«, sagte sie.

Lasar schwieg.

»Schon mehr als einmal.«

»Ja«, antwortete der Junge widerstrebend; und so schuldbewusst, dass Pia Mühe hatte, nicht die Hand auszustrecken und ihm tröstend damit den Kopf zu tätscheln. Dennoch fügte sie hinzu: »Und Brack hat dich auch nicht geschickt.«

Lasar sagte gar nichts dazu.

»Keine Angst. Er erfährt nichts davon. Jedenfalls nicht von mir.«

»Wir können nicht hierbleiben«, sagte Lasar. »Brack hat gesagt …«

»Ja, ich kann mir vorstellen, was er gesagt hat«, fiel ihm Pia ins Wort. Sie hob die Fackel ein wenig höher, und das Licht sprang mit kleinen, sonderbar mechanisch anmutenden Rucken eine Treppe hinauf, die ebenso schnell wieder in der Dunkelheit verschwand, wie sie daraus aufgetaucht war, ohne ihr wirklich mehr von ihrer Umgebung zu offenbaren. Aber sie spürte, dass sie sich in einem sehr großen Raum befanden.

»Er hat mich nicht wirklich geschickt«, gestand Lasar. »Aber er hat mir aufgetragen, auf Euch aufzupassen. Gleich am zweiten Tag.« Pia sah ihn auffordernd an, und er fügte nach einer winzigen Pause und in hörbar verlegenerem Ton hinzu: »Und darauf zu achten, dass Ihr nicht hierhergeht.«

Also hatte er zumindest geahnt, dass sie noch einmal herkommen würde. Aber warum erstaunte sie das eigentlich? Brack war alles andere als dumm, das hatte sie schon längst begriffen. Dann begriff sie noch etwas, nämlich ihren eigenen Denkfehler: Warum wollte Brack eigentlich nicht, dass sie hierherkam?

»Er hat dir also befohlen, auf mich aufzupassen und dafür zu sorgen, dass ich diesem Turm nicht zu nahe komme«, wiederholte sie. »Aber nicht heute Abend.«

Lasar nickte stumm. Sein Gesicht schien lediglich aus großen angsterfüllten Augen zu bestehen.

»Dann haben wir ein Problem«, sagte Pia. »Du könntest ihm sagen, dass du mich hier gesehen hast. Aber dann müsstest du ihm auch erklären, wie ich überhaupt hereingekommen bin.« Sie kam sich ein bisschen schäbig bei diesen Worten vor, aber es machte ihr zugleich auch nicht das Geringste aus, hinzuzufügen: »Ich habe die Tür nicht aufgemacht.«

»Das stimmt«, sagte Lasar nervös.

»Schon gut.« Pia winkte großmütig ab. Vielleicht wurde es Zeit, die Peitsche zusammenzurollen und das Zuckerbrot herauszuholen. »Ich behalte dein kleines Geheimnis für mich, und dafür vergisst du, dass du mich hier gesehen hast … und wie ich hereingekommen bin.«

Lasar sah sie weiter aus großen Augen an. Also gut, allzu viel Zucker war anscheinend nicht auf dem Brot gewesen. Aber schließlich nickte er.

»Dann geh voraus«, sagte Pia.

»Voraus?«

Pia machte eine ungeduldige Geste mit der Fackel und wünschte sich sofort, es nicht getan zu haben, noch bevor diese ganz zu Ende war, denn das Licht erfüllte den Raum mit undeutlich huschender Bewegung und springenden Schatten und schuf Leben, wo keines war und auch keines sein sollte.

»Wenn du schon hier gewesen bist, dann kennst du dich doch aus, oder?«

»Nein, ich …«

»Auf jeden Fall besser als ich«, beharrte Pia. »Also geh voraus. Spiel noch mal den Fremdenführer.«

Es war zu dunkel, um den Ausdruck auf Lasars Gesicht wirklich zu erkennen, und die Schatten narrten sie zusätzlich. Doch Pia konnte seine Furcht beinahe riechen. »Aber Brack hat mir aufgetragen …«, begann er kläglich.

»Mir ein bisschen nachzuspionieren«, unterbrach ihn Pia. »Ich weiß. Das hast du ja nun auch getan, also bist du deinen Pflichten nachgekommen. Und jetzt richtet eine Dame eine Bitte an dich, und es wäre nett, wenn du sie erfüllen würdest.« Ihre Stimme wurde weicher, und sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, von dem sie wenigstens hoffte, dass Lasar es sah. »Es wäre wirklich nett von dir.«

»Aber ich kenne mich ja auch nicht aus«, behauptete Lasar. »Ich war ein paarmal hier, aber niemals sehr weit. Eigentlich kenne ich nur diese Halle und zwei oder drei angrenzende Räume.«

»Dann kennst du genau eine Halle und zwei oder drei Räume mehr als ich«, sagte Pia. »Also, geh voraus … du weißt nicht zufällig, wo der Lichtschalter ist?«

Lasar starrte sie verdattert an, und Pia machte eine wegwerfende Geste. Der Junge zögerte noch einen spürbaren Moment, dann verschwand er und kam mit einer zweiten Fackel zurück. Dafür, dass er so selten hier gewesen war, dachte Pia, kannte er sich ziemlich gut aus.

»Wie lange steht dieser Turm schon hier?«, fragte sie. »Seit tausend Jahren?«

Lasar verstand sofort, was sie meinte. »Die … die Dinger liegen hier überall herum«, improvisierte er. »Angeblich wartet der Thron auf die Rückkehr seines Besitzers.«

»Na, jetzt bin ich ja da«, witzelte Pia.

Lasar lächelte nicht, und auch Pia wünschte sich fast, das nicht gesagt zu haben. Ihre Worte riefen ein sonderbares Echo hervor, nicht in der Welt des Sicht- oder Hörbaren, sondern auf einer anderen, viel tiefer liegenden Ebene; als seufzte der schwarze Stein rings um sie herum ebenso tief wie lautlos.

Vielleicht nur, um sich von diesem unsinnigen Gedanken abzulenken, nahm sie Lasar die Fackel aus der Hand und schnupperte daran, bevor sie sie mit ihrer eigenen in Brand setzte. Das Öl, mit dem das Ende des kurzen Knüppels getränkt war, roch ebenso frisch wie verbrannt. Diese Fackel war keine tausend Jahre alt. Nicht einmal tausend Stunden.

Sie behielt ihre Erkenntnis für sich, gab ihm die Fackel zurück und bedeutete ihm mit einer stummen Geste, vorauszugehen. Sie selbst hob ihre eigene Fackel höher und sah sich aufmerksam um, während sie ihm folgte.

Der Raum war so groß, dass auch das Licht von zwei Fackeln nicht einmal annähernd ausreichte, um ihn zu erleuchten. Die Decke, eine erstaunliche frei tragende Ebene ohne stützende Gewölbe oder gar Pfeiler, erhob sich unmöglich hoch über ihren Köpfen, eigentlich höher, als sie diesen Teil des Gebäudes überhaupt in Erinnerung hatte. Boden, Wände und Decke bestanden aus denselben Licht fressenden schwarzen Steinen wie die Außenmauern, und sie schienen auch den Fackelschein so zu schlucken wie das Sonnenlicht draußen. Nicht ein einziger Lichtreflex wurde zurückgeworfen. Selbst als sie sich (nach einer eigentlich unmöglich großen Anzahl von Schritten) der gegenüberliegenden Wand näherten, fiel es ihr schwer, Einzelheiten zu erkennen, als gäbe es hier drinnen irgendetwas, das ihre Sinne verwirrte.

Ganz am Rande des Lichtkreises sah sie etwas, das die unteren Stufen einer gewaltigen Treppe zu sein schienen, und machte Lasar mit eine fragenden Geste darauf aufmerksam, doch der Junge schüttelte nur fast erschrocken den Kopf. »Dort gehen wir … ich nie hinauf«, sagte er.

Wir? Interessant. Sie bedeutete ihm weiterzugehen, und die beiden erreichten einen mindestens zwei Meter hohen und beinahe genauso breiten, halbrunden Durchgang. Irgendwann vor unzähligen Jahren musste es tatsächlich einmal eine richtige Tür gewesen sein, doch jetzt waren davon nur noch rostige Angeln übrig, die aussahen, als würden sie bei der geringsten Berührung zu rotem Staub zerfallen. In den steinernen Rahmen waren verwirrende Symbole und Bilder eingemeißelt, doch sie waren so verwittert, dass Pia nach einem ersten Blick nicht einmal mehr versuchte sie zu erkennen.

Der Gang dahinter war ebenso düster und unheimlich wie alles hier, hatte aber trotz des halbrunden Eingangs eine gerade Decke, und auch seine Wände waren mit Symbolen und kunstvollen Reliefarbeiten übersät, ebenso verwittert und unkenntlich wie die draußen. Pia hatte allenfalls einen flüchtigen Eindruck von zahllosen Porträts, Halb- und Basrelief-Arbeiten, die Reiter, Jagd- und Schlachtszenen und alle möglichen Fabelwesen darstellten. Sie blieb nicht stehen, versuchte aber trotzdem möglichst viele Einzelheiten zu erkennen – ohne großen Erfolg. Die Bilder flößten ihr Unbehagen ein, das war alles, was sie sagen konnte.

Sie passierten eine weitere, noch sehr viel niedrigere Tür, und Pia fiel auf, dass Lasar jetzt unwillkürlich eine Winzigkeit schneller ging. Pia jedoch blieb stehen und trat mit gesenktem Kopf und noch weiter gesenkter Fackel hindurch.

»Da ist nichts«, sagte Lasar hastig. »Nur eine leere Kammer.«

Pia ging gar nicht darauf ein, sondern sah sich ohne sonderliche Überraschung in der Kammer um, die alles andere als klein war und schon gar nicht leer. Allein der Geruch hatte ihr verraten, was sie finden würde. Auf dem Boden lag Stroh in unterschiedlichen Graden der Verwesung. Decken und schmuddelige Stofffetzen bildeten ein Dutzend ärmlicher Lagerstätten. Es roch nach schlecht gewordenen Lebensmitteln, saurem Schweiß und anderen, noch unangenehmeren Dingen. In der Mitte der Kammer gab es eine improvisierte Feuerstelle, oberhalb der die Decke eine dicke Rußschicht aufwies. Kaputte Metallteile lagen herum, und ihr Fuß stieß gegen einen ehemals wohl weißen Stoffstreifen, der jetzt mit hässlich eingetrocknetem Blut besudelt war.

»So, du bist also noch nie hier gewesen«, sagte sie. »Oder nur sehr selten.«

»Schon lange nicht mehr«, antwortete Lasar und begann unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten.

»Was ist das hier?«

»Ein Versteck«, antwortete Lasar. »Aber ich weiß nicht, wer hier lebt.«

Pia legte fragend den Kopf schräg.

»Früher war ich öfter hier«, gestand Lasar nach einer weiteren, endlosen Sekunde voller unbehaglichem Schweigen, in der er darauf gewartet hatte, dass ihr Blick ihn losließ, was er nicht tat. »Aber seit ich für Brack arbeite, komme ich nur noch selten. Hier verstecken sich viele vor der Stadtwache.«

»Weil sie sich nicht hereinwagen«, vermutete Pia. »Wer versteckt sich hier?«

»Die Kinder. Die, die die Wache jagt.«

Pia musste sich schon wieder eines eisigen Fröstelns erwehren; nicht nur weil es so kalt und dunkel und feucht war. Der erbarmungswürdige Anblick, der sich ihr bot, erzählte eine eigene Geschichte, die sie sehr traurig stimmte, aber die sie auch an andere nicht minder schlimme Geschichten aus ihrer Heimat erinnerte. Schmuddelige Verstecke unter der Erde oder in Abbruchhäusern, deren Fenster sorgsam verschlossen waren, um auch ja keinen verräterischen Lichtstrahl hinausdringen zu lassen; ärmliche Refugien, in denen sich die Kinderbanden der Favelas vor den Killerkommandos der Polizei versteckten.

»Du warst früher in einer Kinderbande«, vermutete sie.

Lasar blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig, was sie nicht weiter verwunderte.

»Wie viele Kinder leben hier?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Lasar. »Wirklich nicht. Ich bin seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Vielleicht ein Dutzend. Manchmal mehr. Aber keine Angst. Sie werden uns nichts tun.«

Vermutlich nicht, dachte Pia. Wenn es hier so war wie in ihrer Heimat, dann waren die Bewohner dieses Verstecks längst geflohen oder beobachteten sie allenfalls aus sicherer Entfernung. Sie konnten es sich nicht leisten, aufzufallen. Oder auch nur bemerkt zu werden.

»Komm weiter«, sagte sie, noch immer auf dieselbe unbestimmte Art traurig. »Zeig mir den Rest.«

Sie passierten zwei weitere Räume, die sich allenfalls in der Größe von der ersten Kammer unterschieden, gingen eine kurze, aus nur drei Stufen bestehende Treppe hinauf und standen dann vor einem weiteren Torbogen, in dem es tatsächlich noch eine Tür gab, ein riesiges schwarzes Monstrum, das mit rostigen Metallbändern verstärkt worden war und aussah, als wöge es mindestens eine Tonne. Pia rechnete damit, dass Lasar die Gelegenheit ergreifen und kehrtmachen würde, aber er gab ihr nur seine Fackel, packte mit beiden Händen zu und wuchtete die Tür mit erheblicher Anstrengung auf. Dahinter wartete lastende Schwärze.

»Was ist das?«

Lasar nahm seine Fackel wieder entgegen und hob die Schultern. »Eine alte Waffenkammer, glaube ich. Weiter haben wir den Turm nie erforscht. Wir haben es nicht gewagt. Es heißt, er wäre verwünscht.«

Pia trat wortlos neben ihm durch die Tür und fand sich in einer sechseckigen Kammer wieder, in deren Wände zahlreiche unterschiedlich große und tiefe Nischen eingelassen waren. Zunächst sah sie nichts als Staub und Schmutz und uraltes Metall, aber ihr wurde auch rasch klar, warum Lasar diesen Raum als Waffenkammer bezeichnet hatte. Hier lagen überall Rüstungsteile, Waffen, eingedrückte Harnische, zerbrochene Schwerter und gesplitterte Bögen und Pfeile, abgebrochene Speere und verbogene Hellebarden und unzählige andere, ausnahmslos rostige und zerstörte Waffen und Kriegsutensilien. Sie überlegte einen Moment, den Raum nach etwas zu durchsuchen, was sich noch in halbwegs brauchbarem Zustand befand und sich mitzunehmen lohnte, dachte den Gedanken aber nicht einmal ganz zu Ende. Das hatten wahrscheinlich schon Generationen von Kindern besorgt. Hier gab es ganz bestimmt nichts, was das Mitnehmen noch wert gewesen wäre.

Trotzdem trat sie an eine der Nischen heran und streckte die Hand nach dem verbeulten Harnisch aus, der darin aufgestellt war. Es war ein sonderbares, durch und durch unheimliches Gefühl. Das ehemals silberfarbene Metall war stumpf und fleckig geworden, seine Oberfläche porös wie uraltes Gusseisen. Was auf den ersten Blick wie die Spuren der Jahrhunderte aussah, das offenbarte sich auf den zweiten als Folgen gewaltsamer Beschädigungen: schwerer Hiebe und mit erbarmungsloser Kraft geführter Stiche und Schläge, vor denen dieser Harnisch seinen Träger beschützt hatte.

Am Ende hatte dieser Schutz nicht gereicht.

Die Erkenntnis kam blitzartig und mit absoluter Gewissheit: Der ehemalige Besitzer dieser Rüstung war tot, gestorben vor Hunderten und Hunderten von Jahren, und er war einen grausamen Tod in der Schlacht gestorben; ein Ende, so grässlich, dass sie das Echo seiner entsetzlichen Schreie nach all den Jahren noch in dem zerschrammten Metall hören konnte.

Und was für den ehemaligen Besitzer dieses Harnischs galt, galt genauso für jedes einzelne andere Stück in diesem Raum, jeden Helm, jedes zerbrochene Schwert, jeden gesplitterten Pfeil und jede abgebrochene Dolchklinge. An all diesen Waffen klebte Blut, sie konnte es spüren. Etwas in ihr reagierte auf all den Schmerz und das endlose Leid, das diese Waffen gesehen und verursacht hatten. Sie fühlte sich schuldig. Nicht weil sie etwas mit diesem Grauen und sinnlosen Sterben zu tun hatte, sondern ganz einfach, weil sie noch lebte, weil ihr dieses Leid und die Qualen erspart worden waren. Es war ein vollkommen irrationales Gefühl, grundlos und dumm, doch es wurde mit jedem Atemzug stärker, als hätten die körperlos flüsternden Stimmen hier drinnen ihre Anwesenheit bemerkt und versuchten alle gleichzeitig, sich Gehör zu verschaffen. Pia wollte sich dagegen wehren, doch es gelang ihr nicht. Das Gefühl, Schuld an irgendetwas zu tragen, wurde ganz im Gegenteil mit jedem Moment stärker.

»Wenn Ihr dann … wenn du dann alles gesehen hast, sollten wir vielleicht wieder gehen«, sagte Lasar nervös. »Warum …was suchst du eigentlich hier?«

Diesmal blieb sie ihm die Antwort auf seine Frage schuldig, nicht weil sie selbst nicht wusste, warum sie hergekommen war, sondern weil sie gehofft hatte …

Ja, was eigentlich?

Pia hob die Schultern, drehte sich mit einem Ruck herum und bedeutete Lasar zu gehen. Er schloss die Tür der alten Waffenkammer sorgsam hinter ihnen, und Pia ließ ihn gewähren. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass es richtig war.

Das lautlose Flüstern klang plötzlich enttäuscht, und die Stimmen wurden leiser, verstummten jedoch nicht ganz.

Deutlich schneller, als sie gekommen waren, führte Lasar sie wieder zurück in die große Halle, und er beschleunigte seine Schritte sogar noch und steuerte das Tor an, das irgendwo unsichtbar vor ihnen in der Dunkelheit lag. Pia passte sich seinem Tempo ganz instinktiv an, doch dann blieb sie abrupt stehen, drehte sich halb herum und hob die Fackel höher. Sonderbar kantige Lichtreflexe sprangen die Stufen der gewaltigen Freitreppe hinauf und verschmolzen mit den Schatten an ihrem oberen Ende.

»Worauf wartest du?«, fragte Lasar nervös.

Statt zu antworten, hob sie die Fackel noch höher und machte einen Schritt auf die Treppe zu. Die Dunkelheit dort oben war so massiv wie eine Mauer, aber Pia war dennoch sicher, irgendwo dahinter eine Bewegung wahrgenommen zu haben.

»Was ist dort oben?«

»Nichts. Gar nichts«, versicherte Lasar hastig und in einem Ton, der Pia davon überzeugte, dass er dort oben so ziemlich alles vermutete, nur nicht nichts.

»Ich war niemals dort oben«, beteuerte Lasar. Das wiederum glaubte sie ihm. »Niemand geht dort hinauf. Es heißt, in den Sälen spuken die Geister der Getöteten.«

»Die Geister der Getöteten?«

»Hier drinnen fand die letzte große Schlacht statt«, antwortete Lasar. »Es heißt, die Elfen hätten sich hier in diesem Turm verschanzt, um ihren letzten Widerstand zu leisten.«

»Heißt es das oder war es so?« Und welche Elfen überhaupt? Pia wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging weiter. Die Geister der Getöteten? Wohl eher ziemlich kleine und vor Schmutz starrende Geister, die aus großen Augen und mit klopfenden Herzen zu ihnen herabstarrten und sich fragten, wann zum Teufel – nein, verbesserte sie sich in Gedanken: bei Kronn – die frechen Eindringlinge endlich verschwanden, damit sie wieder in ihre Verstecke zurückkehren konnten.

Aber dort oben war auch noch mehr …

Sie machte einen weiteren Schritt, und jetzt war eindeutig ein Klang von Entsetzen in Lasars Stimme: »Geh nicht dort hinauf! Es ist gefährlich!«

»Und woher willst du das wissen, wenn noch niemand dort oben gewesen ist?«, fragte Pia.

»Weil keiner, der jemals hinaufging, je zurückgekommen ist«, antwortete Lasar.

Das war ein Argument, das sie immerhin im Schritt stocken ließ. Wenn auch nur für einen Atemzug.

»Bleib einfach hier und warte auf mich, wenn du Angst hast«, sagte sie. »Wenn ich nach zwanzig Minuten noch nicht zurück bin, dann haben mich vermutlich die Geister gefressen, und du kannst nach Hause gehen.«

Das sollte witzig klingen, tat es aber nicht, nicht einmal in ihren eigenen Ohren. Ihre innere Stimme beharrte immer lauter darauf, dass sie auf Lasar hören und von hier verschwinden sollte, solange es noch ging, aber stattdessen setzte sie ihren Weg fort und blieb nur am Fuße der Treppe noch einmal kurz stehen, um ihre Fackel zu heben. Weitere Stufen tauchten flackernd aus der Dunkelheit auf und verschwanden wieder. Sie ging weiter.

Pia zählte die Stufen, kam irgendwo zwischen dreißig und vierzig durcheinander und gab mit einem gedanklichen Achselzucken auf. Wozu auch? Diese Treppe war schon jetzt höher, als die ganze Halle sein konnte, wozu also einer Unmöglichkeit noch eine weitere hinzufügen?

Irgendwann erreichte sie das obere Ende der Treppe, einen breiten, halbmondförmigen Absatz ohne Geländer, blieb noch einmal stehen und blickte zu Lasar hinab. Sie erschrak, als sie sah, wie tief sich seine Fackel unter ihr befand; und wie winzig sie war. Diese Treppe war eindeutig höher, als sie sein konnte, basta.

Und jemand war hier, das konnte sie spüren. Jemand starrte sie an. Plötzlich war sie ganz und gar nicht mehr sicher, dass es nur ein paar Kinder sein sollten, die sie aus den Schatten heraus beobachteten.

Es gab nur eine einzige Tür, sodass ihr die Wahl nicht schwerfiel. Schnell und mit heftig klopfendem Herzen ging sie weiter, trat hindurch und fand sich auf einer weiteren, wenn auch sehr viel schmaleren Treppe wieder. Sie folgte ihr eine vollkommen unmögliche Anzahl von Stufen weit in die Höhe hinauf und gelangte schließlich in einen fensterlosen Gang aus schwarzem Stein. Mehrere Türen zweigten von ihm ab, doch Pia zögerte nicht einmal einen Sekundenbruchteil, die richtige zu wählen, durchquerte einen vollkommen leeren Raum ohne Fenster und überwand noch eine Treppe. Und so ging es weiter. Sie durchschritt Räume voller Staub und Spinnweben, durchquerte Säle, die so leer waren, dass nicht einmal die Dunkelheit darin Platz zu finden schien, ein Labyrinth aus Fluchten, Katakomben voller uralter Möbel, die schon durch den bloßen Luftzug ihres Vorübergehens zu Staub zerfielen, und noch mehr Kammern, Treppen und Säle. Während der ganzen Zeit musste Pia sich nicht einmal orientieren, sondern fand ihren Weg mit so traumwandlerischer Sicherheit, als wäre sie in diesem lichtlosen, kalten Labyrinth aufgewachsen.

Und schließlich betrat sie den Thronsaal.

Sie wusste es, noch bevor sie die gewaltige, offen stehende Tür durchschritt und sich das Licht der Fackel auf uraltem Silber und erblindetem Gold brach, lautlose Explosionen aus Licht in tausend Jahre altem Kristall und buntem Farbenregen aus noch älterem Edelstein aufflammen ließ. Sie hatte das Herz des Turmes erreicht. Vor ihr lag der Thronsaal des Hochkönigs.

Pia blieb eine kleine Ewigkeit unter der Tür stehen und versuchte den unglaublichen Anblick in sich aufzunehmen. Der Raum war gigantisch, mindestens so groß wie die riesige Halle unten, wenn nicht größer, und genau wie sie hatte er nur sehr wenige schießschartenähnliche Fenster, durch die selbst tagsüber kaum Licht hereinfallen konnte.

Trotzdem war es nicht dunkel. Das Licht der Fackel brach sich auf Hunderten glänzenden Flächen aus Metall, Glas oder Kristall, sodass sie zwar keine Einzelheiten erkennen konnte, aber immerhin einen allgemeinen Eindruck des Saales bekam – der schlichtweg atemberaubend war. Verrottete Möbel, mit staubverkrusteten Spinnweben verhangen wie mit alten grauen Segeln, bildeten ein Labyrinth aus Schatten und Hindernissen, und etwas, das gar nicht da war, schien sich zu bewegen.

Warum war sie hergekommen? Pia weigerte sich, an einen Zufall zu glauben – dafür war dieses Gebäude einfach zu groß –, und sie hatte diesen Gedanken auch kaum gedacht, da schienen sich ihre Füße wie von selbst in Bewegung zu setzen. Sie versuchte nicht, sich dem Willen ihrer magischen Stiefel zu widersetzen, sondern ließ sich einfach treiben, hielt aber nach wenigen Schritten schon wieder an, um sich umzusehen.

Auch hier gab es überall Waffen, als wäre dieser Raum einzig zu dem Zweck erschaffen worden, die Bestimmung des ganzen Gebäudes als Festung und Fanal der Wehrhaftigkeit zu unterstreichen: An den Wänden hingen gekreuzte Speere und Schwerter, runde, viereckige oder auch ganz und gar asymmetrische Schilde und überall standen Rüstungen, zum Teil aus schwerem, mit metallenen Nieten und Platten verstärktem Leder, zum Teil aus blind gewordenem Metall, das irgendwann einmal silberfarben gewesen sein mochte. Alles Metall hier war zerschrammt, die Schwertklingen rostig und von uraltem eingetrocknetem Blut besudelt, aber längst nicht so hoffnungslos zerstört wie das, was sie in der Waffenkammer gesehen hatte. Ganz instinktiv lauschte Pia auf die flüsternden Stimmen der Toten in ihrem Inneren, doch sie hörte nichts.

Zentraler Punkt des gesamten Raumes, dessen ganze Architektur darauf ausgelegt war, Blicke und Aufmerksamkeit aller Eintretenden darauf zu lenken, war ein gewaltiger schwarzer Thron, der aussah, als wäre er direkt aus dem natürlich gewachsenen Fels des Bodens herausgemeißelt worden; oder gewachsen. Selbst ein Riese musste darauf klein und verloren aussehen. Die Armlehnen und die wuchtige Rückenlehne waren mit düsteren Symbolen übersät, Schlangen, Drachen und anderen, noch sehr viel unangenehmer anzuschauenden Dingen, und ein gewaltiger Drachenschädel mit aufgerissenem Maul schien jeden zu bedrohen, der sich dem Thron näherte.

Pia hatte nichts dergleichen vor. Schon allein dieses monströse Möbel anzusehen, bereitete ihr körperliches Unbehagen. Außerdem hatte sie etwas entdeckt, das ihre Neugier in weitaus stärkerem Maße weckte. Die Wand hinter dem Thron war voll von Bildern und kunstvoll gemeißelten Reliefarbeiten wie alles hier drinnen, aber sie befanden sich in weitaus besserem Zustand als alles, was sie bisher gesehen hatte.

Etwas scharrte, ein Geräusch wie Schritte irgendwo hinter ihr, vielleicht auch ein Schleifen. Pia fuhr erschrocken herum, hob die Fackel höher und spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Aber die einzige Bewegung, die sie sah, waren die tanzenden Lichtreflexe ihrer Fackel und das hundertfache optische Echo, das sie in all den schimmernden Flächen ringsum erzeugten.

Und mehr war da auch nicht gewesen.

Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Als Nächstes würde sie noch Kettenrasseln hören. Ihre Nerven schleiften offensichtlich über den Fußboden … aber das war in einer Umgebung wie dieser schließlich auch kein Wunder.

Sie lauschte noch einmal – nichts –, drehte sich wieder herum und trat dann dichter an die Reliefarbeiten heran, wobei sie einen respektvollen Bogen um den schwarzen Thron und das aufgerissene Drachenmaul schlug. Auch wenn sie wusste, dass es ganz und gar unmöglich war, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Blick des steinernen Drachen ihr misstrauisch folgte.

Ärgerlich verscheuchte sie den Gedanken und versuchte sich ganz auf die Bilder zu konzentrieren. Auf den ersten Blick wirkten sie einfach nur verwirrend, eine schier unglaubliche Anzahl winziger gemeißelter Kunstwerke, von denen eines perfekter ausgeführt war als das andere und an denen die Zeit unglaublicherweise fast spurlos vorübergegangen zu sein schien. Aber nach einer Weile glaubte sie doch so etwas wie ein System in diesem vermeintlichen Chaos zu erkennen, und dann, einmal darauf aufmerksam geworden, fiel es ihr sogar erstaunlich leicht, all die künstlerischen Details und Übertreibungen auszublenden, und ihr wurde klar, was sie da wirklich sah.

Das gigantische Relief erzählte eine Geschichte.

Die Geschichte der Elfenkriege.

Pia machte noch einmal kehrt und ging zum Anfang des Reliefs zurück. Das flackernde Licht der Fackel offenbarte ihr nicht nur jedes winzige Detail, sondern erfüllte die Bilder auch mit Bewegung und der unheimlichen Illusion von Leben. Sie sah die Geschichte der Elfenkriege, verkürzt, heroisiert und alles andere als objektiv dargestellt, und trotzdem, wie sie einfach wusste, zumindest in der Abfolge richtig. Es begann mit der ersten Landung der fremden Krieger, die auf ihren unheimlichen lebenden Schiffen über das Meer aus dem Osten gekommen waren, hochgewachsene Gestalten in schimmernden Rüstungen und mit hohen spitzen Helmen und tödlichen Schwertern, die Leid und Chaos über das Land und seine Bewohner brachten. Sie sah brennende Städte und sterbende Menschen, Leid in tausendfacher Gestalt, gewaltige Schlachten, heroische Krieger und grässliche Niederlagen, dann schließlich die Wende, die mit der Ankunft weiterer lebender Schiffe voller spitz behelmter Gestalten aus dem Osten einherging. Der Krieg entflammte neu, mehr Schlachten wurden geschlagen, mehr Städte brannten, und Ströme von Blut färbten die Flüsse rot. Und schließlich das Erscheinen Prinzessin Gaylens und der Verrat des Hochkönigs, genau wie Brack es ihnen berichtet hatte.

Aber damit hörte die Geschichte nicht auf.

Der Krieg endete, die Elfen verschwanden wieder in ihrem unbekannten Reich hinter dem Ozean, doch das Relief erzählte die Geschichte zu Ende und zeigte nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft.

Es zeigte sie selbst.

Pia stand lange, sehr lange vollkommen reglos da und starrte das in Stein gemeißelte Bild an, das eine junge Frau in einem schlichten, hellen Gewand zeigte, die die Hände nach etwas wie einem riesenhaften Diamanten ausstreckte, der auf einem steinernen Tisch vor ihr lag. Zahlreiche Männer in schimmernden Rüstungen mit spitzen Helmen knieten in demütiger Haltung vor ihr, und etwas … würde geschehen, wenn sie den Kristall berührte, etwas Gewaltiges und Furcht einflößendes, das die Geschichte der Welt grundlegend verändern musste. Diesmal war es keine innere Stimme, die Pia diese Erkenntnis zuflüsterte. Das Wissen war in diesem Bild. Irgendwie war es dem Künstler, der es erschaffen hatte, gelungen, mehr in seine Arbeit zu bannen, als ihre Linien zeigten. Sie sah, was geschehen würde, wenn Gaylen zurückkam.

Wenn … sie zurückkam?

Pia versuchte vergeblich, diesen Gedanken als so lächerlich abzutun, wie er war. Es gelang ihr nicht. Das Relief machte ihr Angst, mehr Angst als irgendetwas zuvor.

Mit einer Kraftanstrengung, die ihre Möglichkeiten fast überstieg, zwang sie ihre Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück und sich selbst, das Bild mit anderen Augen zu betrachten. Es zeigte eine junge Frau, die tatsächlich sie sein konnte, genauso gut aber auch eine beliebige andere Frau: schlank und hochgewachsen, mit für die Menschen hier völlig untypischem langem Haar, das bis weit über ihren Rücken fiel. Ihr Gesicht war so stilisiert, dass es buchstäblich jede sein konnte.

Pia, die wiedergeborene Elfenprinzessin Gaylen … lächerlich!

Aber warum machte ihr das Bild dann solche Angst?

Weil du eine hysterische blöde Ziege bist, antwortete sie sich selbst. Das Waisenkind aus den Favelas, das sich als die seit tausend Jahren verschollene Elfenprinzessin entpuppte? Ja, das klang logisch.

Das Schleifen, das sie schon einmal gehört hatte, wiederholte sich jetzt, und ein Hauch völlig anderer, körperloser Kälte streifte ihre Seele. Pia fuhr blitzartig auf dem Absatz herum – und erstarrte mitten in der Bewegung.

Sie war nicht mehr allein. Mehrere gespenstisch bleiche Gestalten hatten den Thronsaal betreten, allesamt hochgewachsen – sehr viel größer als sie – und in lange schwarze Mäntel gekleidet, unter denen silberne Rüstungen und lange Schwerter blitzten. Sie trugen spitze, ebenfalls silberne Helme auf den Köpfen und hatten schmale, edel geschnittene Gesichter.

Und außerdem waren sie durchsichtig.

Es waren Gespenster.

Pia schloss die Augen, zählte in Gedanken ganz langsam bis zehn und sah wieder hin. Nichts hatte sich verändert. Die Gespenster waren immer noch da, und es waren sogar mehr geworden. Jetzt waren es mindestens ein Dutzend Gestalten, die den ehemaligen Thronsaal bevölkerten, flackernde Schemen, durch die das Licht drang, die manchmal da zu sein schienen, manchmal nicht und manchmal irgendetwas dazwischen. Es wurden immer mehr, zwei Dutzend, dann drei, vier … bis der Thronsaal vor lautlosen Schemen überzuquellen schien. Sie bewegten sich durcheinander, standen zu zweit oder in Gruppen da, redeten und stritten, aber Pia hörte nicht den mindesten Laut, als betrachte sie einen uralten Film ohne Ton. Alles vollzog sich in gespenstischer Lautlosigkeit, doch sie spürte, dass sie Zeugin von etwas sehr Wichtigem wurde. Etwas geschah hier (oder war geschehen?), das von großer Bedeutung war.

»Wer … seid ihr?«, murmelte sie stockend. »Was wollt ihr?«

Sie hatte die Worte fast ohne ihr Zutun gesprochen, und das Allerletzte, womit sie gerechnet hätte, wäre eine Reaktion der Gespenster gewesen.

Aber sie erfolgte.

Ihre lautlosen Gespräche verstummten. Die flackernden Gestalten erstarrten mitten in der Bewegung, und für die Dauer eines einzelnen, unendlichen Herzschlages schien selbst die Zeit innezuhalten.

Was bestimmt nur Zufall war. Ganz gewiss. Es konnte gar nichts anderes sein.

Und vielleicht war es das ja, denn schon im nächsten Moment wandten sich die Gespenster wieder dem zu, was auch immer sie gerade getan hatten, und Pia blieb einerseits Zeit, erleichtert aufzuatmen, und andererseits, sich selbst in Gedanken mit ein paar wenig schmeichelhaften Bezeichnungen zu belegen, was ihren Mut und ihre Leichtgläubigkeit anging, bevor sie einen neuerlichen, noch viel kälteren Hauch spürte, der ihre Seele zu Eis erstarren ließ, und dann den Blick unsichtbarer Augen zwischen den Schulterblättern. Sie presste die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel knackten, als sie sich langsam herumdrehte, und sah sich nach irgendetwas um, das sich als Waffe gebrauchen ließ.

Aber ein Gespenst anzugreifen, wäre wohl auch ziemlich sinnlos gewesen.

Selbst wenn dieses Gespenst nur wenige Schritte hinter ihr auf dem Thron saß und sie anstarrte. Und diesmal war sie ganz sicher, dass es kein Zufall war.

Es war Eirann, der Hochkönig der Dunkelelfen. Sie hätte ihn auch dann erkannt, wenn sie sein Gesicht nicht über dem Tor draußen gesehen hätte. Es war das Gesicht des Fremden, der sie zweimal gerettet hatte, und zugleich auch wieder nicht, denn dieses Antlitz war älter, unendlich viel erfahrener und härter. Sie konnte nicht sagen, ob der Ausdruck in seinen Augen bloße Härte oder schon Gnadenlosigkeit war. Wahrscheinlich waren diese Unterschiede ohnehin verschwommen im Laufe der Äonen, die diese Augen erblickt haben mussten.

Obwohl er saß, konnte sie erkennen, dass Eirann sehr groß sein musste, nicht nur für einen Bewohner dieser Welt, sondern überhaupt; mindestens zwei Meter, wenn nicht mehr, und der spitze Silberhelm ließ ihn noch viel größer erscheinen, sodass er selbst auf dem monströsen schwarzen Thron noch beeindruckend wirkte. Er trug einen schweren Mantel, der seine Gestalt umfloss wie ein Paar riesiger schwarzer Fledermausflügel, und einen schimmernden Brustharnisch, in dem ein sich aufbäumendes geflügeltes Pferd eingraviert war. Quer über seinen Knien lag ein mindestens anderthalb Meter langes Breitschwert mit einem wuchtigen Goldgriff, dessen Klinge aus Kristall oder Glas zu bestehen schien.

»Eirann?«, murmelte sie.

In dem edlen Gesicht des Dunkelelfen regte sich kein Muskel, aber etwas änderte sich in seinem Blick. Bisher hatte er sie einfach nur angestarrt, jetzt erschien allmählich etwas wie Erkennen darin.

Und dann …

Zorn. Ein so abgrundtiefer, gnadenloser Hass, dass sie wie unter einem Hieb zurücktaumelte, eingehüllt in einen Mantel unsichtbarer verzehrender Kälte, als hätte der bloße Blick dieser uralten Augen jegliche Wärme und alles Leben in ihrer unmittelbaren Nähe ausgelöscht. Es war eine Gnadenlosigkeit, die die Grenzen des Vorstellbaren überstieg, und ein Hass, der ein Jahrtausend lang Zeit gehabt hatte, sich an sich selbst zu nähren. Alles drehte sich um sie. Angst explodierte wie eine eisige Flamme in ihrem Herzen und löschte auch das letzte bisschen Wärme aus, und es wurde noch schlimmer, als die flackernde Gestalt das Schwert vom Schoß nahm, aufstand und die freie Hand nach ihr ausstreckte. Diese steckte in einem schweren, mit silberfarbenem Metall verstärkten Handschuh und hatte so wenig Substanz wie der Rest der Gestalt, und doch wusste Pia, dass etwas ganz und gar Entsetzliches geschehen würde, wenn diese Hand sie berührte. Etwas, das tausendmal schrecklicher war als der Tod.

Mit einem Schrei prallte sie zurück, stolperte und stieß gegen einen tausend Jahre alten Tisch, der unter ihrem Anprall zu Staub zerfiel. Sie fiel, sprang wieder auf die Füße, noch bevor sich die jahrhundertealte Staubwolke ganz entfalten konnte, wirbelte auf dem Absatz herum und gewahrte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, der sie mit einem blitzartigen Haken auswich. Etwas wie ein Schrei gellte in ihren Ohren, schrill und unmenschlich spitz und laut, dann packte eine Hand ihren Oberarm, und Pia reagierte ganz instinktiv, indem sie das dazugehörige Handgelenk ergriff und mit einem harten Ruck herumdrehte. Der Schrei klang jetzt eindeutig entsetzt und brach dann mit einem Japsen ab, als Lasar schwer auf dem Rücken aufschlug. Die linke Hand, die mit versteiftem Zeige- und Mittelfinger zu einem tödlichen Stich gegen seine Augen ausgeholt hatte, konnte sie gerade noch im letzten Moment zurückreißen.

»Lasar?«, murmelte sie erschrocken. »Aber was …« Pia hob mit einem Ruck den Kopf und starrte den Thron an. Er war leer, nur mit dem Staub eines Jahrtausends bedeckt. Sie war vollkommen allein. »… tust du denn hier?«

Lasar arbeitete sich stöhnend halb auf die Ellbogen hoch. Er hatte seine Fackel fallen gelassen, und das bisschen Licht, das es jetzt noch gab, reichte gerade aus, um seine Angst zu erkennen.

Es dauerte eine geschlagene Sekunde, bis Pia begriff, dass er nicht ihr Gesicht, sondern ihre linke Hand anstarrte, die noch immer wie zum tödlichen Stich erhoben war. Hastig und eindeutig schuldbewusst ließ sie den Arm sinken und fragte sich zugleich verblüfft, woher sie diesen ebenso tödlichen wie brutalen Schlag kannte; und vor allem, wieso sie so ganz instinktiv dazu angesetzt hatte, ihn zu führen.

»Habe ich dir wehgetan?« Was für eine blöde Frage.

»Nein«, log Lasar. »Alles in Ordnung.« Was ihn allerdings nicht daran hinderte, sich von ihr aufhelfen zu lassen. Er ließ es sogar zu, dass sie sich zuerst nach ihrer und dann seiner eigenen Fackel bückte und ihm die deutlich weiter heruntergebrannte reichte. Danach drehte sie sich einmal – sehr langsam – im Kreis und sah sich um. Die einzige Bewegung, die sie sah, war Staub, der im Fackelschein tanzte.

Keine Gespenster.

Kein Eirann.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Lasar.

Sollte sie nicht eigentlich ihm diese Frage stellen? »Mir geht es gut«, sagte sie. »Aber was tust du überhaupt hier? Wolltest du nicht unten in der Halle auf mich warten?« Weil du zu feige warst, mich zu begleiten?

»Ihr seid nicht … du bist nicht gekommen, und da habe ich angefangen mir Sorgen um dich zu machen.«

»Und hast mich gesucht?« Obwohl du so große Angst vor diesem Gebäude und den Gespenstern hast, die es möglicherweise ja doch hier gibt? »Danke.« Sie lächelte, machte aber gleich darauf ein fragendes und beinahe schon wieder misstrauisches Gesicht. »Wie hast du mich gefunden? Hast du nicht behauptet, dass du dich hier nicht auskennst?«

»Ich habe deine Schreie gehört.«

»Meine Schreie? Ich habe nicht geschrien«, antwortete Pia empört.

Lasar sagte gar nichts, doch sein Blick sprach Bände, und Pia lauschte in sich hinein und spürte ein raues Gefühl im Hals. Sie hatte geschrien.

»Ich …dachte, ich hätte etwas gehört und habe mich wohl erschreckt«, gestand sie zögernd. »Wahrscheinlich deine Schritte.«

Lasar war diplomatisch genug, auch diese noch viel dämlichere Ausrede widerspruchslos zu akzeptieren. Er machte eine Kopfbewegung über die Schulter zurück. »Es ist wirklich spät«, sagte er. »Wir sollten jetzt gehen.«

»Ja, das sollten wir. Lass uns …«

Sie brach mitten im Wort ab, runzelte die Stirn und führte die begonnene Bewegung zu Ende, allerdings dreht sie sich jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Irgendetwas hatte sich verändert, aber sie konnte im ersten Moment nicht sagen, was.

»Erha…«, begann Lasar und verbesserte sich hastig: »Gaylen?« Was nicht unbedingt eine Verbesserung war.

»Ja. Schon gut«, sagte Pia. »Wir sollten zusehen, dass wir von hier wegkommen.« Sie machte einen Schritt, sah noch einmal über die Schulter zurück und begriff endlich, was sich verändert hatte.

»Geh schon mal voraus und sieh nach, ob irgendwelche Gespenster auf uns warten«, sagte sie, während sie sich abermals herumdrehte. Der Thron war wieder leer (Nein. Nicht wieder. Er war die ganze Zeit leer gewesen!), aber davor lag etwas auf dem Boden, das Pia übersehen haben musste.

Jedenfalls redete sie sich das ein.

»Ihr solltet … du solltest besser nicht zurückgehen«, sagte Lasar nervös. »Dieser Raum ist mir nicht geheuer.«

Na, und mir erst, dachte Pia. Ihr Lachen klang selbst in ihren eigenen Ohren ziemlich unecht. »Ich habe etwas verloren«, sagte sie. »Geh schon. Warte draußen auf mich. Es dauert nur einen Moment.«

Ohne sich davon zu überzeugen, ob Lasar ihr gehorchte oder nicht, ging sie wieder auf den monströsen schwarzen Thron zu. Er war leer, aber etwas lag davor auf dem Boden, lang, schmal und glänzend.

Es war das Schwert, das sie quer über Eiranns Knien gesehen hatte.

Zögernd und von einem ganz sachten nagenden Zweifel erfüllt, ob das, was sie tat, auch wirklich klug war, ließ sie sich in die Hocke sinken und streckte die Hand nach der schlanken Klinge aus. Ein Teil von ihr wartete geradezu (hoffnungsvoll) darauf, dass ihre Hand einfach durch die Klinge hindurchglitt, die sich auf diese Weise nur als ein weiteres Trugbild herausstellte, aber stattdessen berührten ihre Finger glattes, hartes Metall, das sich eisig und zugleich auf eine sonderbare Art warm anfühlte.

Nein, verbesserte sie sich in Gedanken. Nicht warm.

Lebendig.

Der Gedanke kam ihr völlig absurd vor, aber es war das einzige Wort, das ihr spontan einfiel, und tief in sich spürte sie, dass es der Wahrheit sehr nahekam auch wenn es sie nicht wirklich traf. Ihre Finger schlossen sich um den reich ziselierten Griff der Waffe, der aus purem Gold zu bestehen schien, und aus dem bizarren Gefühl von Lebendigkeit wurde etwas noch viel Bizarreres. Etwas … flüsterte tief in ihrer Seele, eine uralte, lautlose Stimme, die Geschichten aus einer noch viel älteren Zeit erzählte, die sie nie gehört hatte und dennoch kannte. Geschichten, die …

Pia brach den Gedanken mit einer bewussten Anstrengung ab, schloss die Hand mit einer trotzigen Bewegung nur noch fester um den Schwertgriff und hätte in der Hocke fast das Gleichgewicht verloren, als sich das meterlange Schwert als sehr viel leichter erwies, als sie erwartet hatte.

»Ist alles in Ordnung, Gaylen?«, drang Lasars Stimme an ihr Ohr. So viel zu ihrem Befehl, draußen zu warten.

»Kein Problem«, sagte sie hastig. »Ich war nur ungeschickt.«

Irgendwie gelang es ihr, nicht nur nicht hintenüberzufallen, sondern sogar aufzustehen, ohne dabei eine allzu alberne Figur zu machen. Sie versuchte ganz instinktiv, die Schwertklinge mit ihrem Körper abzuschirmen, damit Lasar sie nicht sah, und das lautlose Flüstern am Grunde ihrer Seele nahm noch einmal zu. Fast glaubte sie die Worte zu verstehen, doch gerade als das lautlose Wispern tatsächlich einen Sinn ergeben wollte, fragte Lasar – beunruhigt und deutlich näher: »Was ist los mit Euch, Erhabene?«

»Nichts«, murmelte Pia. Rasch schob sie das Schwert unter ihren Mantel, drehte sich zu ihm herum und brachte sogar irgendwie das Kunststücke fertig, halbwegs überzeugend zu lächeln. »Wie gesagt: Ich habe nur etwas verloren. Gehen wir?«

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