VIII

Wahrscheinlich war am nächsten Morgen niemand überraschter als sie selbst, das Kitzeln von Sonnenlicht im Gesicht zu fühlen und sich in einem breiten und überaus bequemen Bett wiederzufinden. Es war aus Holz und sichtbar alt, aber in sehr gutem Zustand. Vier schwere gedrechselte Säulen trugen einen ebenfalls hölzernen Baldachin, der mit kunstvollen Schnitzereien übersät und mit goldenen Bordüren und Troddeln verziert war. Die Bettwäsche war ein wenig rau und roch auch nicht mehr ganz frisch, und Kissen und Decke knisterten, als sie sich bewegte, und schienen mit Stroh gefüllt zu sein. Vorsichtig drehte sie den Kopf und blickte in Alicas Gesicht. Die Schminke war verlaufen, und es wirkte teigig und ein bisschen aufgedunsen.

Also hatte sie doch nicht geträumt. Und wenn, dann schlecht.

Pia war immer noch nicht ganz sicher, was sie von dieser Erkenntnis halten sollte, und sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und weitergeschlafen, um es später noch einmal zu versuchen. Vielleicht wachte sie das nächste Mal ja wirklich auf.

Unglückseligerweise funktionierte es nicht. Das Sonnenlicht, das durch die schmalen Fenster hereinfiel – und selbstverständlich so gezielt wie ein Laserspot in einer Diskothek genau in ihr Gesicht hämmerte –, bestand darauf, dass es heller Tag war, und das Bier vom vergangenen Abend machte sich bemerkbar. Widerwillig schlug sie die Augen zum zweiten Mal auf, fand sich noch immer in derselben und nach wie vor unmöglichen Umgebung wieder und schlug die raschelnde Decke zur Seite. Alica grunzte im Schlaf, drehte sich auf die andere Seite und begann lautstark zu schnarchen, und Pia sah sich ohne große Hoffnung im Zimmer um. Genau wie Brack behauptet hatte, war es groß und in einigermaßen sauberem Zustand, dennoch aber Lichtjahre von einem Vier-Sterne-All-inclusive-Hotel entfernt. Kein Satellitenfernsehen, keine Minibar. Und auch kein Bad.

Achselzuckend verließ sie das Zimmer, bedachte die anderen Türen auf dem Flur mit einem nachdenklichen Blick und schlurfte dann mit hängenden Schultern die Treppe hinunter. Geschäftige Geräusche und ein schrecklich unmelodisches Pfeifen zeigten ihr, dass sie nicht die Erste war, die die Sonne an diesem Morgen geweckt hatte. Brack stand hinter seiner improvisierten Theke, die bei Tageslicht betrachtet noch viel improvisierter aussah, tat irgendetwas mit dem Besteck, mit dem sie gestern Abend gegessen hatten, und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er sie erblickte.

»Holla!«, sagte er aufgeräumt. Wenn sie bedachte, dass es deutlich nach drei gewesen sein musste, als Alica und sie endlich nach oben gewankt waren, war er von geradezu unverschämt guter Laune. »Du bist ja schon wach.«

»Alica hat gestern Abend versucht, deine Biervorräte auszutrinken«, erinnerte Pia. »Nicht ich. Außerdem … also, ich suche …«

»Gleich hinter dem Haus.« Brack machte eine Kopfbewegung hinter sich. »Kannst es gar nicht verfehlen. Geh einfach dem Geruch nach.«

Pia lachte unecht und schlurfte an ihm vorbei, und wie sich zeigte, hatte Brack ganz und gar nicht gescherzt. Fünf Minuten später und mit einer radikal veränderten Einstellung zu den Segnungen der technischen Zivilisation – vor allem, was moderne Hygieneeinrichtungen anging – kehrte sie in ihr Zimmer zurück und versetzte dem Bett einen wuchtigen Tritt, der das uralte Möbelstück nicht nur protestierend in allen Fugen ächzen, sondern auch Alicas Kopf mit einem Ruck in die Höhe schießen ließ.

»He!«, beschwerte sie sich. »Was fällt dir …« Sie zog eine Grimasse, setzte sich sehr viel vorsichtiger ganz auf und betastete beide Schläfen mit den Fingerspitzen.

»Kopfschmerzen?«, fragte Pia scheinheilig.

Alica schenkte ihr einen bösen Blick und schauderte übertrieben, als ihre nackten Fußsohlen den Boden berührten. Brack hatte zwar behauptet, dass das Zimmer warm sei, aber das bezog sich offenbar nicht auf den Fußboden.

»Wo ist denn hier …?«, begann Alica.

»Treppe runter«, sagte Pia. »Hinter der Theke und dann immer der Nase nach.«

Alica zog eine Grimasse, aber sie sparte sich jeden Kommentar und schlich wortlos aus dem Zimmer, und Pia wandte sich mit einem lautlosen Seufzen ab, um ans Fenster zu treten. Es war kaum so breit wie zwei nebeneinandergelegte Hände, aber sehr hoch, und was sie ganz automatisch für Glas gehalten hatte, stellte sich bei genauerem Hinsehen als eine Art durchsichtiges, aber recht stabiles Papier heraus. Der Anblick dahinter war keinen Deut weniger gespenstisch als in der vergangenen Nacht. Ganz im Gegenteil. Das helle Tageslicht sollte ihm etwas von seinem Schrecken nehmen, aber es hatte nur die Schatten vertrieben und zeigte ihr dafür unzählige andere Details, von denen sie kein einziges wirklich sehen wollte.

Die Häuser blieben so fremdartig und vertraut zugleich, wie Pia sie aus der vergangenen Nacht in Erinnerung hatte, aber die Straße war jetzt nicht mehr leer. Zahlreiche Personen waren allein auf dem schmalen Abschnitt zu sehen, den sie durch das Fenster überblicken konnte, Männer, Frauen und eine überraschend große Anzahl von Kindern, die an den Händen ihrer Eltern gingen, umhertollten oder auch fröhlich im Morast spielten, als herrschten draußen nicht Temperaturen irgendwo um den Gefrierpunkt. Die meisten Männer waren ähnlich gekleidet wie Brack und die beiden Betrunkenen von vergangener Nacht, zwei trugen eine Art Uniform, komplett mit Helm, Harnisch und Speer; als wären sie direkt aus einem Fantasy-Film entsprungen. Die meisten Frauen hatten weite Röcke und dazu passende, hochgeschlossene Blusen an, die der Witterung entsprechend aus warmem Stoff zu bestehen schienen, und kleine Häubchen, die ihr Haar verbargen. Ein dreirädriger Karren, der von einem Esel oder einem sehr kleinen Pferd gezogen wurde, rumpelte vorüber, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite gewahrte sie eine Art offenen Laden, der entweder Blumen oder ganz besonders buntes Gemüse feilbot. Der Anblick wirkte ungemein friedlich und zugleich so falsch, wie er nur sein konnte.

Pia hob den Kopf und sah über die spitzen Dächer hinweg, und aus ihrem verrückten Verdacht von vergangener Nacht wurde noch verrücktere Gewissheit. Nicht allzu weit entfernt erhob sich tatsächlich der zinnengekrönte Wehrgang einer Stadtmauer über die verschneiten Dächer. Sie konnte ein Stück eines wuchtigen Turms erkennen und eine in einen dicken Fellmantel gehüllte Gestalt, die darauf patrouillierte und sich in dem fast unmöglichen Kunststück versuchte, gleichzeitig das Gesicht aus dem Wind zu drehen und das Gebiet jenseits der Mauer im Auge zu behalten.

Kein Zweifel, sie waren nicht nur in der falschen Stadt gelandet, sondern auch in der falschen Zeit, und selbst wenn sich das völlig verrückt oder total abgedreht und ganz und gar unmöglich anhörte, es war so.

Pia schüttelte den Kopf und wollte sich schon vom Fenster abwenden, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit erweckte. Sie konnte nicht genau sagen, was daran falsch war, und presste stirnrunzelnd die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. Eine Gestalt stand dort unten und passte nicht ins Bild des gemächlichen Flanierens. Sie war deutlich größer als alle anderen, trug einen schlichten braunen Mantel mit einer hochgeschlagenen Kapuze, doch darunter waren deutlich sowohl der struppige Fellumhang als auch der mindestens genauso struppige Bart zu erkennen. Und sie konnte die hasserfüllten Blicke, die sie unter der Kapuze heraus trafen, mit fast körperlicher Intensität spüren.

Die Tür fiel ins Schloss, und Alica kam zurück. Ihrer Miene nach zu urteilen, hatte sie dasselbe Erfolgserlebnis mit den sanitären Anlagen gehabt, und sie funkelte Pia so wütend an, als wäre das alles hier ganz allein ihre Schuld. Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, dachte Pia, war das ja gar nicht einmal so falsch.

»Und?«, fragte sie. »Erfolg gehabt?«

»Danke der Nachfrage«, maulte Alica. »Ich hatte eine reizende Unterhaltung mit Brack. Netter Kerl. Nur ein bisschen geschwätzig für meinen Geschmack.«

Pia warf einen weiteren, raschen Blick aus dem Fenster. Die Gestalt im Fellumhang war verschwunden. Aber die Erleichterung wollte sich nicht einstellen.

»Du verstehst ihn wirklich nicht«, sagte sie an Alica gewandt. Sie hoffte, dass die junge Frau ihr ihre Furcht nicht allzu deutlich ansah.

»Kein Wort.« Alica trat neben sie ans Fenster, warf einen Blick auf die Straße hinab und drehte sich dann so schnell weg, als hätte sie etwas durch und durch Entsetzliches gesehen. »Kannst du mir sagen, was für eine Sprache der Kerl eigentlich spricht?«

Pias Blick suchte noch einmal und noch aufmerksamer die Straße ab, bevor sie antwortete. »Das ist das Problem«, sagte sie. »Er spricht keine fremde Sprache.«

»Was soll das heißen?«

»Genau das, was es heißt«, antwortete Pia ernst. »Ich verstehe ihn. Jedes Wort.«

»Ja, weil du seine Sprache beherrschst und ich …« Alica brach mitten im Satz ab und sah plötzlich ein bisschen erschrocken aus. »... nicht?«, murmelte sie.

»Er spricht keine fremde Sprache«, bestätigte Pia. »Du verstehst ihn nur nicht. Und er dich nicht.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Alica. »Und außerdem völlig unmöglich.«

»So wie das da?« Pia deutete auf das Fenster, aber Alica weigerte sich beharrlich, auch nur in die ungefähre Richtung zu sehen.

»Weißt du, was?«, fragte sie. »Das interessiert mich nicht. Dieser ganze verrückte Kram hier interessiert mich nicht. Ich will zurück, und das sofort!«

Pia musste an die unheimliche Gestalt unten auf der Straße denken und pflichtete ihr in Gedanken bei. »Sagst du mir auch, wie?«, fragte sie.

»Auf demselben Weg, auf dem wir gekommen sind«, antwortete Alica. Sie machte eine wedelnde Geste zur Zimmerdecke hinauf. »Das hätten wir schon gestern Abend machen sollen. Und jetzt erzähl mir bitte nicht, dass dort irgendwelche Verrückten mit Bärten und langen Messern auf uns warten, das weiß ich nämlich selbst. Aber sie sind mir allemal lieber als das hier.«

»Ihre langen Messer auch?«

»Du hast immer noch die Pistole, oder?«, schnappte Alica. »Wenn du dich nicht traust zu schießen, dann gib sie mir. Ich habe da weniger Hemmungen.«

Sie sprach es nicht aus, aber Pia überhörte keineswegs das, was sie eigentlich damit sagen wollte: Sie wären gar nicht hier, wenn sie die Waffe benutzt und sich die Kerle damit vom Leib gehalten hätte.

Und auch damit hatte sie recht.

»Versuchen wir es«, sagte Pia.

Sie verließen das Zimmer, eilten die Treppe hinauf und blieben nebeneinander und wie vom Donner gerührt stehen, als sie den Heuboden betraten.

Alles war so wie in der vergangenen Nacht. Durch die Ritzen der zusammengebundenen Strohballen drang genug Licht herein, um Einzelheiten zu erkennen. Das Heu war da, das ihren Sturz aufgefangen hatte, die gewaltigen Dachbalken und das Stroh darüber … nur das Loch, durch das sie hereingefallen waren, gab es nicht mehr. Das Dach war vollkommen unbeschädigt.

»Eins muss man diesem Brack lassen«, murmelte Alica mit belegter Stimme. »Er ist schnell.«

Pia antwortete nicht einmal darauf. Sie wussten beide, dass Brack das Dach nicht repariert hatte. Die Strohballen waren uralt und schmutzig. Staubverklebte Spinnweben bildeten einen grauen Baldachin über ihren Köpfen. Nirgendwo war eine Beschädigung zu sehen oder eine kürzlich geflickte Stelle. In diesem Dach hatte es niemals ein Loch gegeben.

»Das ist vollkommen unmöglich«, sagte Alica.

»Ich weiß«, sagte Pia.

»Und wenn es unmöglich ist, muss es folglich eine andere Erklärung geben«, fuhr Alica ungerührt fort. »Sie haben uns erwischt. Der Killer hat uns beide erledigt, und wir sind tot, und das hier ist die Hölle.«

Der Gedanke, die komplette Ewigkeit zusammen mit Alica verbringen zu sollen, kam Pias Vorstellung von der Hölle schon ziemlich nahe, aber nachdem sie einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, schüttelte sie dennoch den Kopf.

»Dann habe ich mir den Schädel eingeschlagen, und ich liege im Krankenhaus oder in der Gosse und fantasiere mir das alles hier nur zusammen«, sagte Alica.

»Wenn das hier nur eine Halluzination ist, wieso erleben wir sie dann beide?«, fragte Pia.

»Tun wir ja gar nicht«, antwortete Alica ernsthaft. »Das hier ist meine Halluzination, und du gehörst dazu.«

»Oder du zu meiner.«

Alica sah sie ein bisschen betroffen an und machte ein noch nachdenklicheres Gesicht. »Dann gibt es nur noch eine Erklärung«, sagte sie. »Du bist eine Hexe. Du hast uns hergezaubert. Also zaubere uns gefälligst wieder zurück.«

Hinter ihnen polterten schwere Schritte die Treppe herauf. Es war Brack, der schnaubend erst einmal innehielt und gegen den Türrahmen gelehnt nach Atem rang. »Da … seid ihr … ja«, stieß er kurzatmig hervor. »Ich habe euch überall gesucht. Was wollt ihr hier oben?«

Er legte den Kopf in den Nacken und nickte dann. »Ah ja, ich verstehe. Ihr seid ja vom Himmel gefallen, und jetzt sucht ihr einen Weg zurück.«

»So ungefähr«, antwortete Pia verdutzt.

»Aber lasst euch bloß nicht einfallen, mir etwa ein Loch ins Dach zu machen«, fuhr Brack todernst fort. In seinen Augen funkelte es jedoch amüsiert. »Und jetzt kommt nach unten. Ich habe das Frühstück vorbereitet.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica.

»Nichts«, antwortete Pia. »Lass uns runtergehen. Es sei denn, du willst noch ein bisschen hier rumstehen und das Dach anstarren.«

Sie folgten Brack die beiden Treppen hinunter in den Schankraum, in dem es genauso verlockend roch wie vergangene Nacht. Auf einem Tisch wartete ein Korb mit frischem Brot und Obst, und in einer hölzernen Schale befand sich frische Milch. Pia lief beim bloßen Anblick schon wieder das Wasser im Mund zusammen, und auch Alica sah zum ersten Mal an diesem Morgen nicht mehr ganz so schlecht gelaunt aus.

Sie waren nicht die einzigen Gäste. An einem Tisch ganz am anderen Ende des Raumes saßen zwei Männer, beide hochgewachsen und dunkelhaarig und beide mit zerknitterten Kleidern und ebenso zerknitterten Gesichtern. Anscheinend war Alica nicht die Einzige, die gestern Abend versucht hatte, Bracks Biervorräten den Krieg zu erklären.

Sie sahen zwar müde aus, doch als Pia hereinkam, schraken sie regelrecht zusammen und starrten sie aus aufgerissenen Augen an. Einer von ihnen wollte etwas sagen, aber Brack kam ihm zuvor.

»Was immer dir auf der Zunge liegt, Teroc, lass es dort liegen«, schnappte er. »Es sei denn, du willst mir erklären, dass du deine Zeche endlich zahlst, die schon seit etlichen Tagen überfällig ist.«

Der mit Teroc Angesprochene klappte den Mund wieder zu, und er und sein Tischnachbar beugten sich hastig tiefer über ihr Frühstück, das im Übrigen weitaus einfacher zu sein schien als das, das Brack für sie vorbereitet hatte.

»Beachtet die beiden Dummköpfe gar nicht«, fuhr Brack an Alica und Pia gewandt fort. »Setzt euch und esst. Und dann besprechen wir, was mit euch zu geschehen hat.«

Pia musste an die Gestalt draußen auf der Straße denken.

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica.

»Nichts«, antwortete Pia.

»Was sagt deine Freundin?«, wollte Brack wissen.

»Nichts«, erwiderte Pia.

»Deine Freundin ist wirklich erstaunlich«, sagte Brack, während er ebenfalls am Tisch Platz nahm und seine auffordernde Geste zum dritten Mal wiederholte. »Ich bin noch nie jemandem begegnet, der so viele Worte macht, um nichts zu sagen.«

»Was meint er?«, fragte Alica misstrauisch.

»Nichts«, sagte Pia. »Nur dass du dir dein Frühstück schmecken lassen sollst.«

»Genau genommen habe ich das nicht gesagt«, sagte Brack.

Pia zog es vor, darauf gar nichts mehr zu erwidern. Allmählich drohte die Sache wirklich kompliziert zu werden. Offensichtlich verstand weder Alica, was Brack sagte, noch umgekehrt Brack etwas von dem, was Alica sagte, ihre jeweiligen Antworten darauf aber sehr wohl. Vielleicht hatte Alica ja doch recht, und das alles hier war nur eine Halluzination. Wenn das stimmte, musste ihre Fantasie wirklich durchgeknallt sein.

Sie griff zu, und das Frühstück stellte sich zwar als weit einfacher als das verspätete Abendessen von gestern heraus, auf seine Art aber mindestens ebenso köstlich. Alica funkelte abwechselnd sie, Brack und die beiden Männer am Nebentisch mit verschiedenen Abstufungen von Feindseligkeit an, begann dann aber ebenfalls zu essen, und als Letzter griff auch Brack selbst zu. Sie frühstückten schweigend und ausgiebig, was zu einem Gutteil daran lag, dass das Essen so ausgezeichnet war. Pia vermisste ein wenig den starken Kaffee, den sie normalerweise brauchte, um richtig wach zu werden, aber das war auch der einzige (winzige) Wermutstropfen. Schließlich lehnte sie sich rundum zufrieden zurück und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, nicht auf einem Stuhl zu sitzen, sondern auf einem lehnenlosen Hocker, und brachte das Kunststück fertig, nicht hintenüberzufallen.

»Das war wirklich köstlich«, sagte sie. »Ich danke dir. Aber allmählich meldet sich mein schlechtes Gewissen.«

»Wieso?«

»Wir können nicht dafür bezahlen«, erinnerte Pia.

»Ist das klug, ihn auch noch mit der Nase darauf zu stoßen?«, fragte Alica.

»Was sagt deine Freundin?«, fragte Brack und antwortete gleich selbst. Anscheinend eine Angewohnheit von ihm. »Ach ja, ich weiß. Nichts.« Er schmunzelte. »Aber wenn es dich beruhigt: Es spielt keine Rolle. Die Geschäfte gehen zwar schlecht, aber eine Schale Milch für zwei hilflose Frauen habe ich immer noch übrig.«

Irgendwie hörte sich das für Pia so an, als spräche er von zwei streunenden Katzen, die sich in sein Haus verirrt hatten, und sie konnte selbst spüren, wie ihr Lächeln um mehrere Grade abkühlte.

»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte Brack.

Von hier verschwinden, so schnell es geht, dachte Pia. Bevor der Kerl draußen noch die Idee hatte, hereinzukommen. Laut sagte sie: »Uns erst einmal ein wenig umsehen. Und dann vielleicht einen Weg nach Hause finden.«

»Und wo genau ist dieses Zuhause?«, fragte Brack.

Pia zögerte nur unmerklich. »Rio de Janeiro«, sagte sie. »Schon mal gehört?«

»Riodejanero?«, wiederholte Brack. »Ein eigenartiger Name. Nein. Ich würde mich daran erinnern, wenn ich ihn schon einmal gehört hätte. Es ist nicht in WeißWald, nehme ich an?«

»WeißWald?«

»Unser Land.« Brack machte eine ausholende Geste.

»WeißWald?«, fragte Pia noch einmal. Nun, das war für ihren Geschmack ein eigenartiger Name. »Und wie heißt diese Stadt?«

»WeißWald«, antwortete Brack. »Wie denn sonst?«

Pia seufzte. »Sollte ich überrascht sein, zu erfahren, dass dein Gasthaus auch WeißWald heißt?«

»So vermessen wäre ich nie«, antwortete Brack lächelnd. »Das hier ist der Weiße Eber. Du stellst eine Menge Fragen, Mädchen.«

»Gaylen«, verbesserte ihn Pia und starrte ihn gleich darauf verdutzt an. Sie hatte sich auf diese Antwort konzentriert und sich fest vorgenommen, Pia zu sagen, nicht Gaylen. Aber sie hatte Gaylen gesagt. »Nicht Mädchen.«

»Und ich dachte, du bist hier fremd«, antwortete Brack amüsiert. »Ein wenig scheinst du unsere Bräuche ja doch zu kennen.«

Pia versuchte erst gar nicht, diese Bemerkung zu verstehen, und Alica fragte: »Wer ist diese Gaylen, von der du immerzu sprichst?«

»Ich«, antwortete Pia. »Aber das ist eine lange Geschichte.«

»Also gut, Gaylen«, seufzte Brack. »Wenn du darauf bestehst … schade eigentlich. Ihr wollt also fort?«

Nein, eigentlich wollte sie das nicht. Wenn sie ehrlich war, hatte sie immer noch nicht die geringste Ahnung, wohin sie gehen sollten … und wie auch? Sie hatte ja ebenso wenig Ahnung, wo sie waren. Aber der Verfolger war da. Er hatte nicht zufällig in ihre Richtung geblickt. Er wusste, wo sie waren. »Wenn du uns lässt.«

»Wenn ich euch lasse? Warum sollte ich euch hindern wollen? Das hier ist ein freies Land. Hier kann jeder tun und lassen, was er will, und hingehen oder bleiben, wo er will.«

»Das klang vergangene Nacht etwas anders«, erwiderte Pia, aber Brack machte nur eine abfällige Geste.

»Das war gestern Nacht. Wenn die Wache euch aufgegriffen hätte, dann würdet ihr jetzt im Karzer liegen.« Er grinste anzüglich. »Oder auch nicht. Aber liegen würdet ihr.«

Pia überging die Bemerkung ganz bewusst. »Das heißt, jetzt können wir gehen?«

»Gehen?«, fragte Alica erschrocken. »Wohin?«

»So?« Brack deutete auf sie, dann auf Alica und ihre praktisch nicht vorhandenen Kleider. »Ihr würdet binnen einer Stunde erfrieren.«

Alica schob ihren geleerten Teller zurück, kramte Zigaretten und Feuerzeug hervor und steckte sich eines der weißen Stäbchen zwischen die Lippen. Brack folgte ihren Bewegungen mit gerunzelter Stirn und wachsendem Staunen, und was dann geschah, hatte Pia beinahe erwartet. Alica ließ das Zippo aufflammen, und Brack riss mit einem erstaunten Ächzen die Augen auf. Einer der beiden Männer am Nebentisch sprang so erschrocken hoch, dass sein Schemel umfiel, und der zweite verschluckte sich an seinem Essen und begann zu husten.

»Was?«, fragte Alica, während sie einen ersten, tiefen Zug nahm und dann genießerisch die Augen schloss.

»Was … tut deine Freundin da?«, fragte Brack fassungslos.

»Nichts«, antwortete Pia.

»Nichts? Nimm mich nicht auf den Arm, Mädchen!«

»Also gut, sie raucht«, sagte Pia. »Eine schlechte Angewohnheit, ich weiß. Tut mir leid, wenn der Gestank dich belästigt.«

»Wie bitte?«, fragte Alica.

Brack starrte sie und Pia abwechselnd an, schien etwas sagen zu wollen und schüttelte stattdessen nur den Kopf. Sein Blick irrte immer wieder zu dem mit Strasssteinchen besetzten Feuerzeug, das Alica vor sich auf die Tischplatte gelegt hatte, und schließlich streckte Pia die Hand aus, klappte den Deckel zurück und drehte das Zündrad. Bracks Augen wurden noch größer, als er die winzige gelbe Flamme auflodern sah.

»Bei Kronn!«, keuchte er. »Was ist das für ein Zauber?«

»Kein Zauber«, antwortete Pia. »Ein Feuerzeug.«

»Ein Feuer…zeug?«, wiederholte Brack gedehnt. So wie er das Wort aussprach, tat er es ganz bestimmt zum ersten Mal im Leben.

»He, das habe ich verstanden!«, sagte Alica. »Sag bloß, er hat noch nie ein Zippo gesehen!«

»Das hat nichts mit Zauberei zu tun«, fuhr Pia fort. »Da, wo wir herkommen, hat beinahe jeder so etwas. Es ist nichts Besonderes.« Sie blies die Flamme aus, klappte den Deckel zu und legte das Feuerzeug zurück. Bracks Blick ließ es keinen Sekundenbruchteil los.

»Jeder besitzt so etwas?«, vergewisserte er sich ungläubig. »Dann müsst ihr wirklich aus einem sehr reichen Land kommen.«

»Wegen eines Feuerzeugs?«

»Aber es ist mit Edelsteinen besetzt!«, beharrte Brack. »Nur ein König könnte sich so etwas leisten!«

»Das sind keine Edelsteine«, antwortete Pia lächelnd. »Nur wertloser Strass.«

»He!«, protestierte Alica.

»Sie sind nicht echt?« Brack klang eher noch zweifelnder.

»Nur billiger Krempel«, bestätigte Pia.

Brack streckte die Hand nach dem Feuerzeug aus, zögerte aber und wartete Pias aufmunternden Blick ab, bevor er die Bewegung zu Ende führte und es ergriff, um es eindeutig bewundernd, fast schon ehrfürchtig hin und her zu drehen. »Wenn es eine Fälschung ist, dann ist sie hervorragend«, sagte er. »Ich glaube, selbst der Hofjuwelier würde darauf hereinfallen.« Sein Blick war ein bisschen gierig, fand Pia. »Und so etwas besitzt jeder bei euch?«

»Vielleicht nicht jeder«, schränkte Pia ein. »Aber jeder könnte eins haben, wenn er wirklich wollte. Sie sind nicht teuer.«

»Davon träumst du, Süße«, sagte Alica. »Das ist ein Geschenk von Esteban. Er lässt sich nicht lumpen.«

Pia sagte nichts dazu. Sie wusste, dass Esteban schon vor etlichen Jahren eine ganze LKW-Ladung der Dinger gefunden und einem talentierten jungen Goldschmied ein paar Euros gegeben hatte, damit er den Stempel Made in China entfernte. Seitdem verscherbelten seine Leute sie mit einem hübschen Gewinn an Touristen, die dämlich genug waren, die Fälschung nicht zu erkennen, und auch noch glaubten, ein gutes Geschäft zu machen – abzüglich der zwei Dutzend, die er für sich selbst zurückbehalten hatte.

Aber Alica hatte ja schließlich selbst gesagt, dass sie nicht alles wissen musste.

»Allmählich werde ich wirklich neugierig auf das Land, aus dem ihr kommt«, sagte Brack. Er drehte das Feuerzeug weiter zwischen den Fingern. Schließlich klappte er den Deckel auf und betrachtete interessiert den simplen Mechanismus. Pia ließ ihn noch einen Moment gewähren, dann nahm sie es ihm aus der Hand, drehte das Zündrad und ließ die Flamme zwei oder drei Sekunden lang brennen, bevor sie das Zippo zuklappte und demonstrativ an Alica zurückgab.

»Ein Wunder«, sagte Brack.

»Ein technisches Wunder«, sagte Pia. »Wenn auch nur ein ganz kleines.«

»Ich könnte ein reicher Mann werden, wenn ich genug von diesen kleinen Wundern hätte, um sie zu verkaufen«, sagte Brack, aber schon im nächsten Moment schüttelte er auch enttäuscht den Kopf. »Aber wenn eure Heimat so weit weg ist …«

»Ziemlich weit, fürchte ich«, sagte Pia. »Womit wir beim Thema wären. Ich fürchte, wir müssen uns allmählich auf den Weg machen.« Sie wandte sich zu Alica um und versuchte ihr mit Blicken etwas zu signalisieren, das Brack besser nicht mitbekam. »Bist du reisefertig?«

Alica riss die Augen auf. »So, wie ich bin?«

»So, wie ihr seid, kommt ihr nicht weit«, sagte Brack, als hätte er jedes Wort verstanden. »Ihr braucht warme Sachen. Wartet hier. Ich will sehen, ob ich etwas Passendes für euch finde.«

Er wollte aufstehen, aber Alica machte eine hastige Geste und wandte sich direkt an Pia. »Was soll das?«

»Vertrau mir einfach«, sagte Pia. »Bitte!«

Alica setzte zu einer scharfen Antwort an, dann aber schien sie etwas in Pias Augen zu erkennen, sah plötzlich ein bisschen verunsichert aus und schüttelte den Kopf. »Frag ihn, wo ich mich fertig machen kann.«

»Fertig machen?«

»Waschen, ein bisschen herausputzen, stadtfein machen …mein Gott, du weißt doch, was ich meine!« Sie schnippte ihre Zigarettenasche zu Boden. »Was Frauen eben so tun, bevor sie das Haus verlassen.«

»Alica möchte sich waschen«, sagte Pia. »Gibt es hier irgendwo Wasser?« Sie fragte erst gar nicht nach einem Bad oder etwas Vergleichbarem.

»Draußen im Hof ist ein Brunnen«, antwortete Brack.

Pia übersetzte, und Alica schauspielerte ein hoffnungslos übertriebenes Schaudern, das Pia nur zu gut nachvollziehen konnte. Draußen vor den Fenstern hatte es leicht zu schneien begonnen. Sie fror schon allein bei der bloßen Vorstellung, sich unter freiem Himmel und mit eisigem Brunnenwasser waschen zu sollen.

Dennoch stand Alica auf und verschwand hinter der Theke, und auch Brack erhob sich.

»Deine Freundin ist wirklich sonderbar«, sagte er und drehte sich ebenfalls um, um die Treppe hinaufzugehen. Pia blieb allein zurück. Sie sah in die Richtung, in der er verschwunden war, dann zur Theke und schließlich zu den beiden Gästen am Nachbartisch. Ganz wie sie erwartet hatte, starrten die beiden Männer sie an, unverhohlen neugierig, aber auch auf die gleiche, fast schon anzügliche Art, auf die Brack sie am vergangenen Abend gemustert hatte. Teroc wich ihrem Blick hastig aus, aber der andere grinste plötzlich breit und fuhr sich dann auf eine Art und Weise mit der Zungenspitze über die Lippen, die er vermutlich nicht überlebt hätte, wäre Jesus jetzt hier gewesen.

Der Gedanke stimmte sie traurig. Und er schürte ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte seit Stunden nicht mehr an Jesus gedacht, und nach allem, was geschehen war, kam ihr das ein bisschen wie ein Verrat an ihm vor … was natürlich Unsinn war. Aber seit wann scherten sich Gefühle um Logik?

Sie spürte, dass sie immer noch angestarrt wurde, stand auf und drehte sich dann mit einem Ruck herum. Teroc tat sein Möglichstes, um in den Teller hineinzukriechen, aber sein Kumpel grinste nur noch breiter.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Pia, während sie gemächlich auf ihn zuschlenderte.

»Ganz bestimmt sogar, Gaylen«, antwortete der Bursche. Sein Name war Brasil, wenn sie sich richtig erinnerte. So ungefähr, jedenfalls. »Falls wir uns über den Preis einig werden, heißt das.«

Gut, das konnte sie nun beim besten Willen nicht mehr nicht verstehen. Sie spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht schoss, aber der Bursche deutete das offensichtlich falsch. In seinen Augen glitzerte es gierig.

»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich die Ware erst einmal prüfe?«, fragte er, streckte die Hand aus und griff nach Pias Hüfte, und Pia griff ihrerseits nach seinem Handgelenk, verdrehte es mit einem Ruck und bog dann seine Finger so weit zurück, wie sie es gerade noch konnte, ohne sie zu brechen.

»Mit dieser Hand?«, fragte sie lächelnd.

Der Bursche ächzte vor Schmerz, sank von seinem Hocker direkt auf die Knie und schien etwas sagen zu wollen, aber Pia hatte gar keine Lust, ihm zuzuhören. Sie verstärkte den Druck auf seine Hand noch einmal um eine Winzigkeit, und aus der geplanten Beschimpfung wurde ein noch lauteres Ächzen, dann ein Wimmern.

Pia bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Teroc aufspringen wollte, und warf ihm einen so eisigen Blick zu, dass er mitten in der Bewegung erstarrte und sich wieder zurücksinken ließ. Kluger Kerl.

»Es tut mir wirklich leid, Brasil«, fuhr sie in zuckersüßem Ton fort. »Aber ich fürchte, dass du meinen Preis nicht bezahlen kannst.«

»Hmpf!«, machte Brasil.

»Dann ist es jetzt wohl das Beste, wenn wir uns alle wieder setzen und dieses Gespräch einfach vergessen«, schlug Pia vor.

»Hrmmpfff!«, keuchte Brasil, und Pia beschloss, Gnade vor (Faust-)Recht walten zu lassen, ließ seine Hand los und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Sie erkannte einen Feigling, wenn sie ihn sah, und Brasil war einer. Aber auch Feiglinge konnten gefährlich werden, wenn man den falschen Knopf drückte. Gerade Feiglinge.

Tatsächlich sprang der Bursche wütend auf die Füße … und zog sich dann seinerseits einen halben Schritt vor ihr zurück. Möglicherweise lag es daran, dass er nahezu einen Kopf kleiner war als Pia. Sie war keine Riesin, aber immerhin beinahe eins achtzig, und der Bursche allerhöchstens anderthalb Meter.

»Genieß dein Frühstück«, sagte Pia lächelnd, drehte sich um und ging zu ihrem Tisch. Sie sah nicht zu ihm zurück, lauschte dafür umso konzentrierter. Sie konnte hören, wie er sich schwer auf den Hocker fallen ließ, und wagte es, sich etwas zu entspannen. Gleichzeitig belegte sie sich in Gedanken mit einer ganzen Anzahl sehr wenig damenhafter Bezeichnungen. Ihre Reaktion war ziemlich dumm gewesen; verständlich vielleicht, aber trotzdem dumm. Einmal ganz davon abgesehen, dass die Sache auch hätte ins Auge gehen können, wäre es im Moment wirklich besser, wenn sie so wenig Aufsehen erregten wie möglich.

Sie setzte sich wieder und hatte es kaum getan, als Brack die Treppe herunterkam. Er trug einen Mantel über dem linken Arm, einen zweiten über der Schulter und zwei Paar kurze Stiefel in der Hand. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln steuerte er den Tisch an, schob mit dem Fuß einen Hocker zurück und zögerte dann plötzlich.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Pia sah nun doch über die Schulter und zum Nachbartisch zurück. Teroc schien etwas ungemein Interessantes auf seinem Frühstücksteller entdeckt zu haben, Brasil hingegen funkelte sie fast hasserfüllt an und massierte seine gezerrte Hand, sagte aber immerhin nichts.

»Alles in Ordnung«, erwiderte sie.

»Na, dann ist es ja gut.« Brack ließ sich schwer auf den Hocker fallen, warf die beiden Mäntel einfach zu Boden und reichte ihr beide Paar Stiefel. »Hier. Die Größeren sollten dir passen.«

»Wie angegossen«, bestätigte Pia, nachdem sie den linken Stiefel anprobiert hatte. Er passte nicht nur, als wäre er von einem Schuhmachermeister eigens für sie angefertigt worden, sondern fühlte sich auch wunderbar weich und bequem an. Ohne es ausprobieren zu müssen, wusste sie, dass man in diesen Stiefeln sehr lange und sehr gut laufen konnte.

»Das will ich meinen«, sagte Brack. Er klang stolz. »Sie haben einem Waldläufer aus dem Süden gehört. Die Burschen haben das beste Schuhwerk. Man sagt, sie wären verzaubert und würden sich ihren Träger selbst aussuchen. Wenn sie sich einmal für jemanden entschieden haben, dann passen sie auch.«

»Und dieser Waldläufer …?«

Brack lachte leise. »Der hatte eine Auseinandersetzung mit einem betrunkenen Hauptmann von der Stadtwache«, sagte er. »Sie sind schnell mit dem Messer bei der Hand.«

»Die Stadtwache?«

»Die Waldläufer«, antwortete Brack feixend. »Leider war der Hauptmann nicht allein.«

»Und jetzt braucht er keine Stiefel mehr«, vermutete Pia.

»Ich fürchte, er braucht jetzt gar nichts mehr«, bestätigte Brack. »Aber ich bin damals auf der Rechnung sitzen geblieben, und da habe ich eben seine Schuhe behalten. Ich hätte auch gerne das Messer behalten, aber das steckte im Hauptmann, und der wollte es sich nicht von mir herausziehen lassen.«

»Diese Schuhe müssen sehr wertvoll sein«, sagte Pia. »Ich kann sie nicht bezahlen.«

»Das ist auch nicht nötig«, antwortete Brack. »Wenn du allerdings darauf bestehst … Ich möchte ja schließlich nicht, dass dir dein schlechtes Gewissen zu schaffen macht. Dieses Zauberding, das deiner Freundin gehört. Du hast völlig recht. Diese Stiefel sind wirklich sehr wertvoll.«

Pia seufzte, setzte dazu an, den Stiefel wieder auszuziehen, und Brack winkte hastig ab. »Lass gut sein, Mädchen. Ich schenke sie dir.« Er grinste schief. »Einen Versuch war es wert.«

Pia schlüpfte auch in den zweiten Stiefel und genoss für einen Moment einfach nur das Gefühl, wieder Schuhe an den Füßen zu haben, noch dazu solche. Sie waren nicht nur unglaublich bequem, sondern auch sehr warm, als wären sie mit Fell gefüttert. Magische Schuhe? Warum nicht?

Alica kam zurück, und Pia erlebte eine Überraschung. Sie hatte gesagt, dass sie sich waschen wollte, und das hatte sie ganz offensichtlich auch getan, aber dabei war es nicht geblieben. Sie hatte sich auch geschminkt.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte sie erstaunt.

»Eine Dame geht nicht ohne ihr Notfallköfferchen aus dem Haus«, antwortete Alica grob, griff in die Hosentasche und zog ein flaches schwarzes Etui hervor. Pia versuchte erst gar nicht zu verstehen, wo sie das Ding versteckt gehabt hatte.

»Was ist mit deiner Freundin?«, fragte Brack. Er klang ein bisschen erschrocken. »Wieso malt sie sich das Gesicht an?«

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica.

»Dass er es sehr hübsch findet«, antwortete Pia.

»Das habe ich eigentlich nicht gesagt«, sagte Brack.

»Ganz besonders hübsch sogar«, sagte Pia. »Hier. Probier die Schuhe an.« Sie reichte Alica das zweite Paar Stiefel. Es sah nicht annähernd so bequem aus wie das ihre und schien auch nicht wirklich zu passen, denn Alica zog eine Grimasse und linste fast neidisch auf Pias Füße hinunter.

»Tja, wer zu spät kommt …«, sagte Pia. »Dafür hast du die erste Wahl bei der Garderobe.« Sie machte eine Geste auf die beiden Mäntel auf dem Fußboden.

»Ja, vielen Dank auch«, nörgelte Alica, hob dann die beiden Kleidungsstücke nacheinander auf und begutachtete sie. Einen großen Unterschied gab es nicht. Es handelte sich eher um schlichte Umhänge mit einer angesetzten Kapuze, beide aus sehr schwerem, warmem Stoff, und beide hatten ihre besten Tage offensichtlich schon länger hinter sich.

»Und du willst wirklich raus?«, fragte Alica. »Wohin denn?«

»Vertrau mir einfach«, sagte Pia noch einmal. »Ich weiß, was ich tue.« Aber wusste sie es wirklich?

»Wenn ihr dann so weit seid.« Brack stand auf und zauberte von irgendwoher einen dritten Umhang herbei, den er sich um die Schultern warf.

»Willst du uns loswerden?«, fragte Pia mit gutmütigem Spott.

»Nein«, antwortete Brack. »Aber es ist ein strammer Tagesmarsch bis zum nächsten Ort, gleich in welche Richtung. Wenn ihr vor Dunkelwerden dort sein wollt, dann solltet ihr nicht noch mehr Zeit verlieren.«

»Und das?« Pia deutete auf seinen Mantel.

»Ich begleite euch bis zum Tor«, antwortete Brack. »Ich kenne die Wache. Sie lassen euch durch, ohne zu viele Fragen zu stellen, wenn ich bei euch bin. Außerdem wollt ihr euch doch nicht schon auf dem Weg zum Stadttor verlaufen, oder? WeißWald ist groß.«

Er machte nicht den Eindruck, über diesen Entschluss diskutieren zu wollen, und im Grunde war es Pia nur recht, nicht ganz allein durch eine Stadt laufen zu müssen, die ihr vollkommen fremd und voller Menschen war, deren Sitten und Gebräuche sie nicht kannte, und deren Sprache sie nicht einmal beide beherrschten. Außerdem war da noch die Gestalt, die sie gesehen hatte.

Teroc schien regelrecht in seinen Teller hineinzukriechen, als sie am Tisch vorbeigingen, aber Brasil beging den Fehler, ihr einen wütenden Blick zuzuwerfen. Brack versetzte ihm eine Kopfnuss, die ihn beinahe vom Hocker geworfen hätte.

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