XIV

Der nächste Morgen begann mit einer für Pia fast erschreckenden Erfahrung: Es war das zweite Mal hintereinander, dass sie mit dem ersten Licht des neuen Tages ganz von selbst wach wurde, obwohl ihr der vergangene Abend (beziehungsweise die Nacht) noch gehörig in den Knochen steckte. Sie hatte es irgendwann aufgegeben, ständig auf ihre innere Uhr zu sehen und sich zu fragen, wer zuerst schlappmachen würde: die Meute trinkfester Gäste, die immer betrunkener und lauter wurde und dem Weißen Eber einen Umsatz bescherte, der wahrscheinlich größer war als der der zurückliegenden drei Monate zusammen, oder sie.

Brack hatte nicht einmal viel von ihr verlangt; im Grunde nicht mehr, als hinter der Theke zu stehen, sich von den Gästen begaffen zu lassen und dann und wann einen Krug Bier zu füllen, den Alica und Lasar dann an die Tische brachten, während Brack selbst seine Aufgabe eher darin sah, mit den Gästen zu tratschen und immer wieder viel zu laut und viel zu unecht zu lachen und Unmengen von Münzen einzustreichen. Irgendwann, vielleicht gegen drei oder noch später, hatte er den letzten Zecher vor die Tür gesetzt, und sie war zu Tode erschöpft nach oben gewankt und praktisch auf der Stelle eingeschlafen.

Trotzdem erwachte sie mit dem ersten Sonnenstrahl, der durch das schmale Fenster fiel. Und nicht nur das. Sie fühlte sich noch immer wie gerädert und hatte zu allem Überfluss hämmernde Kopfschmerzen, aber tief in sich verspürte sie das absurde Wissen, dass es richtig war, so früh aufzustehen.

Nein, diese Welt bekam ihr ganz eindeutig nicht.

Sie schloss noch einmal die Augen, versuchte, erneut einzuschlafen und wieder in ihrer ganz normalen, gewohnten Welt aufzuwachen, in der die größte Absurdität vielleicht im Anblick Jesus’ bestand, der ein Buch las, oder allenfalls in dem Alicas, die mit ihm darüber diskutierte (nein, daswar eindeutig zu albern), gab es schließlich auf und krabbelte müde aus dem Bett. Zu Tode erschöpft, wie sie gestern gewesen war, hatte sie sich nicht mehr die Mühe gemacht, das Kleid oder auch nur die Stiefel auszuziehen, sodass ihr zwar kühl, aber wenigstens nicht unerträglich kalt war. Mit einem müden Blick auf die andere Betthälfte überzeugte sie sich davon, dass Alica tatsächlich schon vor ihr aufgestanden sein musste, fuhr sich noch müder mit beiden Händen durchs Gesicht und machte auf dem Weg zur Tür einen kurzen Bogen am Fenster vorbei. Wider besseres Wissen und gegen jede Logik klammerte sie sich daran, mit dem Anblick einer heruntergekommenen, von schmalen, aus Wellblech, Holz und Bauabfällen errichteten Hütten flankierten Straße belohnt zu werden, und sie war tatsächlich auf eine trotzige Art enttäuscht, als sie stattdessen die spitzen Dächer WeißWalds sah. Der Schnee darauf schien mehr geworden zu sein. Und ihre Stimmung sank noch weiter, als sie zum ersten Mal bewusst registrierte, dass zwar jedes einzelne Haus einen Kamin hatte, sich aber aus kaum einem davon Rauch kräuselte. Gut, dann war das hier eben doch kein Albtraum.

Oder einer, aus dem sie einfach nicht aufwachen konnte.

Müde schlurfte sie die Treppe hinunter, registrierte eher beiläufig, dass Alica mit Brack am Tisch saß, schon wieder einen Krug Bier in der einen und eine brennende Zigarette in der anderen Hand hielt und unverschämterweise geradezu provozierend frisch und ausgeruht wirkte. Als sie sie sah, hob sie die Hand und gestikulierte heftig, sich zu ihnen zu setzen. »Pia! Ich wollte dich gerade wecken! Setz dich zu uns. Ich brauche eine Übersetzerin!«

Pia nuschelte eine Antwort, die sie selbst nicht verstand, schlurfte an ihr und Brack vorbei und stellte sich wenige Augenblicke später tapfer nicht nur der Herausforderung der mittelalterlichen Toilette, sondern auch der noch sehr viel größeren, sich mit eiskaltem Wasser zu waschen – und das war wörtlich zu verstehen. Auf dem Eimer, der an einem Seil über dem altmodischen Ziehbrunnen hing, hatte sich tatsächlich eine dünne Eisschicht gebildet, die knisternd zerbrach, als Pia zwei Hände voll Wasser daraus schöpfte und sich ins Gesicht schüttete. Danach sah sie vermutlich alles andere als frisch oder gar sorgfältig gewaschen aus, aber der Schock hatte sie endgültig geweckt.

Zurück im Schankraum steuerte sie den Tisch an, an dem Brack und Alica saßen. In dem Kamin dahinter brannte ein prasselndes Feuer, und Alica war rücksichtsvoll genug, ihren Stuhl – der den Flammen am nächsten war – freizugeben und sich auf einen anderen zu setzen, sodass Pia zumindest die Illusion von Wärme genießen konnte, als sie sich darauf niedersinken ließ.

»Gut siehst du aus«, begann sie feixend und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. »Und da soll noch mal einer sagen, dass ehrliche Arbeit schadet. Dir scheint sie zu bekommen.«

Pia hatte keine Ahnung, worauf Alica mit ihrer Stichelei hinauswollte, und es interessierte sie auch nicht. Ohne sonderliche Überraschung registrierte sie, dass einer der beiden ihre Abwesenheit genutzt hatte, um einen weiteren Krug Bier auf den Tisch zu stellen, aber sie nippte nur gerade ausgiebig genug daran, um ihre Lippen zu befeuchten und den schlechten Geschmack des Schlafs aus ihrem Mund gegen den kaum weniger schlechten des starken Gebräus einzutauschen. Sie sehnte sich nach einer Tasse starken Kaffee.

»Ich hoffe, du hast gut geschlafen«, begann Brack.

Pia warf ihm einen schrägen Blick zu und schwieg. Ihrer bescheidenen Meinung nach war es noch viel zu früh für Small Talk, aber das lag auch ganz gewiss nicht in Bracks Absicht …Er wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. »Jedenfalls sehr tief«, antwortete sie widerwillig. »Was war das gestern Abend?«

»Gestern Abend?« Brack schien alle Mühe zu haben, ein breites Grinsen zu unterdrücken. »Ich habe Rücksicht auf dich und deine Freundin genommen und die Tür noch nicht aufgemacht. Die ersten Gäste waren schon da.«

Pia blinzelte. Der Schock des kalten Wassers ließ bereits nach, und sie musste schon wieder gegen die Müdigkeit ankämpfen, die in rasch aufeinanderfolgenden Schüben zurückkehrte und sie daran erinnerte, dass sie gerade einmal (sie lauschte in sich hinein und erschrak. Großer Gott!), gerade einmal vier Stunden geschlafen hatte. Und sie wunderte sich, dass sie kaum die Augen offen halten konnte?

»Scheint ja gestern Abend ein voller Erfolg gewesen zu sein«, sagte Alica, als Pia Brack nicht den Gefallen tat, auf das Stichwort zu reagieren, das er ihr gegeben hatte, sondern ihn nur müde ansah.

»Ach?«, murmelte sie.

»Wenn ich deinen neuen Freund richtig verstanden habe«, fuhr Alica aufgeräumt fort, »dann sind die meisten nur deinetwegen gekommen. Wie es aussieht, hat der Weiße Eber eine neue Attraktion.«

»Toll«, maulte Pia. »Davon habe ich immer geträumt, weißt du?«

»Hätte schlimmer kommen können«, antwortete Alica leichthin. Sie nahm den unwiderruflich letzten Zug aus ihrer Zigarette, bei dem die Glut schon den Rand des Filters berührte, bedachte den Glimmstengel mit einem wehleidigen Blick und schnippte ihn dann zielsicher einen halben Meter neben den Kamin.

»Denk daran, was dieser Istvan gesagt hat«, fuhr sie fort, während Brack ihr einen anklagenden Blick zuwarf und sich dann ächzend nach der Kippe bückte, um sie in die Flammen zu werfen. »Die Leute hier sehen es nicht gern, wenn man nichts tut. Wir brauchen einen Job.«

Pia konnte sich nicht daran erinnern, dass Istvan das gesagt hatte, doch bevor sie antworten konnte, mischte sich Brack ein.

»Was sagt deine Freundin von Istvan?«

»Ich dachte, du verstehst unsere Sprache nicht?«

»Den Namen habe ich verstanden«, antwortete Brack. »Und er ist ein gutes Stichwort. Ich habe heute Morgen mit Istvan gesprochen.«

Heute Morgen? Pia warf dem Wirt einen missmutigen Blick zu. Heute Morgen? Schlafen die Leute hier eigentlich nie? Sie maß Brack mit neuer Aufmerksamkeit und stellte ohne große Überraschung fest, dass er genauso unverschämt wach und ausgeruht aussah wie Alica. Sie beschloss, das beiden persönlich übel zu nehmen.

»Er war da«, bestätigte Brack. »Jemand hat ihm wohl zugetragen, dass du gestern hier im Weißen Eber gearbeitet hast.«

»Ich habe ausgeholfen«, verbesserte ihn Pia betont. »Ausnahmsweise.«

Brack ignorierte das. »Vermutlich ein neidischer Konkurrent«, fuhr er Grimassen schneidend fort. »Die Welt ist schlecht, und die Menschen hier sind viel großzügiger mit ihrem Neid als mit Freundlichkeiten. Aber ich nehme an, das ist dort, wo du herkommst, auch nicht anders.«

Pia machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.

»Ich konnte ihn überzeugen, vorerst nichts zu unternehmen«, fuhr Brack fort. »Wir müssen natürlich ein wenig an deinem … äh … Äußeren arbeiten.«

An meinem Äußeren? Pia blickte an sich hinab und suchte vergeblich nach irgendeinem Argument, um ihm zu widersprechen. Das Kleid war nicht besser geworden, weil sie darin geschlafen hatte, und ihr fiel erst jetzt, im hellen Tageslicht, auf, wie schmutzig und abgetragen es wirklich aussah. Eigentlich kam es schon einem kleinen Wunder gleich, dass es ihr nicht bei der kleinsten Bewegung am Leib auseinanderfiel. Außerdem war es an einigen besonders prekären Stellen so verschlissen, dass es schon beinahe durchsichtig war.

»Hm«, machte sie.

»Gefällt unserem Wohltäter und Beschützer etwa dein Outfit nicht?«, stichelte Alica. Pia schenkte ihr einen bösen Blick.

»Heute ist Markttag, wie es der Zufall will«, fuhr Brack fort. »Wenn ich eure Maße hätte, dann würde ich auf den Markt gehen und ein neues Kleid für dich und eines für deine Freundin kaufen.«

Pia starrte ihn an und wartete darauf, dass er vorschlug, besagte Maße gleich persönlich abzunehmen, aber so lebensmüde war er anscheinend doch nicht.

»Andererseits«, fuhr er fort, »dürfte es schwer sein, für jemanden eurer Größe ein Kleid auf dem Markt zu finden. Vielleicht sollten wir einfach Stoff kaufen, und ihr schneidert euch selbst etwas Passendes.«

»Schneidern?«, wiederholte Pia fast entsetzt.

Alica riss die Augen auf. »Was hat er gesagt?«

Pia übersetze, und Alica machte ein noch ungläubigeres Gesicht. »Schneidern? Sehe ich aus wie eine sizilianische Gastarbeitermama?«

Das übersetzte Pia vorsichtshalber nicht. »Das … wird sich zeigen«, sagte sie ausweichend. »Vielleicht sollten wir selbst auf den Markt gehen und Stoff kaufen«, schlug sie vor.

»Stoff kaufen«, wiederholte Alica.

Brack wirkte nicht begeistert. »Ich weiß nicht, ob …«, begann er.

»… du uns allein auf die Straße lassen sollst?«, fiel ihm Pia ins Wort. Vielleicht waren diese Worte nicht besonders klug gewählt und ganz bestimmt alles andere als diplomatisch, aber sie drückten ganz genau das aus, was sie in diesem Moment empfand.

Brack war bisher freundlich zu ihnen gewesen und für seine Verhältnisse vermutlich sogar außergewöhnlich großzügig … dennoch traute Pia ihm nicht völlig. Sie kannte Typen wie Brack. Er mochte es ehrlich meinen – in diesem Moment –, aber er war auch ein Schlitzohr – und musste es wohl sein, um in einer Welt wie dieser überleben zu können – und letzten Endes auf seinen persönlichen Vorteil bedacht. Eine interessante Kombination im Zusammenhang mit dem, was er gerade über die Menschen in seiner Stadt gesagt hatte.

Und darüber hinaus ein ziemlich guter Schauspieler. Der Ausdruck von Verletztheit, mit dem er auf ihre Worte reagierte, hätte sie um ein Haar überzeugt.

»Ihr könnt gehen, wohin immer ihr wollt«, erklärte er leicht verschnupft. »Das hier ist eine freie Stadt, in der jeder tun und lassen kann …«

»… was er will, und hingehen oder bleiben, wo er will, und so weiter, ja, ich weiß«, unterbrach ihn Pia. »Aber es gefällt dir nicht, habe ich recht?«

»Nein«, gestand Brack unumwunden. »Und ich dachte, du würdest das verstehen.«

»Nimm einfach an, ich wäre ein bisschen begriffsstutzig«, antwortete Pia und fragte sich im Stillen, ob sie es vielleicht war. Alica maß sie aus spöttisch funkelnden Augen, griff nach ihrer Zigarettenschachtel und klappte sie auf und mit einem lautlosen, aber tiefen Seufzen wieder zu, als sie sah, dass sie nur noch fünf Zigaretten enthielt.

»Du weißt, wofür die Menschen hier dich halten«, sagte Brack. »Ich weiß, dass dir das wahrscheinlich unrecht tut, aber es ist nun einmal so. Es könnte ein wenig … unangenehm für dich werden, wenn du dich draußen zeigst.«

»Du meinst, die Leute würden mich anstarren«, vermutete Pia. Brack nickte, und sie fügte hinzu: »So wie gestern Abend?«

»Da warst du immerhin hier, und ich konnte auf dich aufpassen«, antwortete er trocken. Dennoch spürte sie, dass es noch einen anderen Grund für ihn gab, Alica und sie nicht wegzulassen.

»Du kannst uns ja begleiten«, fügte sie hinzu. Alica legte vielsagend die Stirn in Falten, sagte aber immer noch nichts, und nach einer kleinen Weile schüttelte Brack den Kopf.

»Das ist vielleicht eine noch schlechtere Idee«, sagte er. »Auf der anderen Seite … möglicherweise solltest du tatsächlich anfangen, WeißWald ein wenig besser kennenzulernen. Immerhin werdet ihr bis zum Frühjahr bleiben, und das ist eine lange Zeit …« Er überlegte einen Moment angestrengt und kam dann zu einem Entschluss. »Ich gebe euch Lasar mit.«

»Als Aufpasser?«

»Um eure Fragen zu beantworten. Ihr werdet bestimmt eine Menge davon haben. Und um dafür zu sorgen, dass ihr nicht von jedem Händler auf dem Markt übers Ohr gehauen werdet. Das sind alles Banditen, müsst ihr wissen.«

»Na, dann können wir ja von Glück sagen, dass wir an den einzigen ehrlichen Geschäftsmann der Stadt geraten sind«, erwiderte Pia – vorsichtshalber so leise, dass Brack die Worte nicht verstand. Oder vielleicht doch, denn er warf ihr einige schräge Blicke zu, bevor er den Kopf in den Nacken legte und brüllte, so laut er nur konnte: »Lasar, du nichtsnutziger, überflüssiger Fresser! Hör auf, dich irgendwo rumzudrücken und geh nach oben! Hol die Mäntel der Erhabenen und ihrer Freundin, und dann begleitest du sie auf den Markt! Und Kronn sei dir gnädig, wenn du dich wieder übervorteilen lässt oder gar etwas für dich abzweigst!«

Lasar zeigte sich nicht, aber über ihren Köpfen polterten plötzlich Schritte, und Brack machte eine ernste Geste und ein dazu passendes noch ernsteres Gesicht. »Du solltest dein Haar besser bedecken, Pia. Und auch die Kleidung deiner Freundin ist … vielleicht nicht unbedingt in der Öffentlichkeit angemessen.«

Alica sah sie fragend an, aber Pia zog es vor, auch das besser nicht zu übersetzen.

»Ihr werdet Geld brauchen«, fuhr Brack fort, stand auf und kam einen Moment später mit einem Lederbeutel zurück, aus dem er eine Anzahl Münzen nahm, die er vor ihr auf den Tisch legte, sie einen Atemzug lang stirnrunzelnd ansah, um dann drei oder vier davon wieder wegzunehmen und in den Beutel zurückzuwerfen. »Das wird reichen, um Stoff für zwei Kleider zu kaufen. Lasar wird euch bei den Preisen behilflich sein. Ich strecke euch die Summe vor. Schließlich müsst ihr anständig gekleidet sein, wenn ihr in einem Haus wie dem meinen arbeiten wollt.«

Pia konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, irgendeine Zusage in dieser Richtung gemacht zu haben, griff aber trotzdem nach den Münzen und schloss die Hand darum. »Du musst uns nichts vorstrecken«, sagte sie freundlich. »Ich hasse es, Schulden zu haben. Da, wo wir herkommen, nennt man so etwas Arbeitskleidung. Wenn wir zurück sind, reden wir darüber, was du Alica und mir für den gestrigen Abend schuldest.«

»Aber …«, begann Brack.

»Wir müssen natürlich nicht für dich arbeiten, wenn dir unsere Kleider nicht gefallen«, fuhr Pia lächelnd fort und streckte die Hand aus, wie um ihm sein Geld zurückzugeben.

Brack starrte ihre Hand ungefähr so begeistert an, als hielte sie eine abgezogene Handgranate. »Kann es sein, dass ich dich unterschätzt habe?«, fragte er schließlich.

»Ganz bestimmt sogar«, antwortete Pia, »aber mach dir nichts draus. Du bist nicht der Erste, dem das passiert.«

Lasar kam zurück, Alicas und ihren Mantel über dem einen und einen dritten, viel zu dünnen und hoffnungslos zerschlissenen Umhang über dem anderen Arm. Er wich ihrem Blick aus.

Pia stand auf, schlüpfte in ihren Mantel und überzeugte sich davon, dass ihre Haare bis auf die letzte Strähne unter dem improvisierten Kopftuch verborgen waren, bevor sie die Kapuze hochschlug und sich zur Tür wandte, was sich als gar nicht so einfach erwies. Sie würde ihr Spesenkonto um einen weiteren Betrag strapazieren müssen, um sich eine anständige Kopfbedeckung zu beschaffen.

Die Kälte, die sie draußen erwartete, schien noch grimmiger geworden zu sein; aber das war eine Täuschung, der sie nicht nur jetzt, sondern auch an jedem der folgenden Tage erliegen sollte, die sie noch in WeißWald verbringen würden; und das würden eine Menge sein. Jetzt jedoch war sie felsenfest davon überzeugt, dass sich die Natur ganz bewusst gegen Alica und sie (vor allem gegen sie) verschworen hatte, um sie noch ein bisschen mehr zu quälen. Weil sie ja noch nicht genug am Hals hatten.

Sie blieb stehen und wartete, bis Alica und als Letzter Lasar auf die Straße herausgetreten waren. Mit einem ganz und gar nichtschuldbewussten Gefühl von Schadenfreude registrierte sie, wie Alica unter der Kälte zusammenfuhr und ganz automatisch versuchte, einen Mantelkragen hochzuschlagen, den es nicht gab.

»Du hast Brack gehört«, wandte sie sich an Lasar. »Bring uns zum Markt. Geh voraus … bitte.«

Lasar hastete ein paar Schritte weiter, blieb dann stehen und sah ein bisschen hilflos zu ihr zurück. »Erhabene?«, murmelte er.

Pia schluckte alles hinunter, was ihr zu dieser nervigen An-rede auf der Zunge lag. »Geh voraus«, sagte sie nur noch einmal.

»Aber das … tue ich doch.« Der Junge wirkte jetzt so hilflos, dass er ihr beinahe leid tat. Aber nur beinahe.

»Ja, das stimmt. Aber nicht weit genug.«

»Und wie weit … soll ich vorausgehen?«, fragte er schüchtern.

»Nicht sehr weit. Nur gerade bis außer Hörweite.«

Lasar wirkte nun vollkommen hilflos, aber nach einer weiteren Sekunde verstand er doch, drehte sich auf dem Absatz um und ging weiter. Pia und Alica schlossen sich ihm an.

»Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft«, sagte Alica, »muss ich die Sprache dieser netten Leute hier lernen.« Das war nicht nur eine Feststellung, sondern eine Frage. Wenn auch eine, die Pia ganz und gar nicht hören wollte. Und noch sehr viel weniger beantworten.

»Ich hoffe, dass das nicht nötig ist«, sagte sie leise. Lasar ging zwar gehorsam ein halbes Dutzend Schritte vor ihnen her, aber vielleicht waren die Ohren der Leute hier ja so scharf wie sie selbst klein. »Wir müssen verschwinden. Besser heute als morgen.«

»Ich verstehe«, sagte Alica spöttisch. »Deshalb gehen wir ja jetzt auch auf den Markt, um Stoff zu kaufen und uns einzukleiden.«

»Und um Informationen zu bekommen«, fügte Pia hinzu.

Alica sah sie fragend an.

»Wir müssen bis zum Frühjahr hierbleiben, habe ich recht?«

Alica nickte.

»Und woher wissen wir das?«, fragte Pia. »Außer von Brack, meine ich?«

»Von niemandem, aber …«

»Dann wird es vielleicht Zeit, dass wir es uns von jemandem bestätigen lassen«, fuhr Pia fort.

»Und dazu gehen wir auf den Markt?«

»Nein«, antwortete Pia. »Ja. Ach verdammt, ich …« weiß es nicht? Das wäre die ehrliche Antwort gewesen. Aber einmal ganz davon abgesehen, dass sie bei Alica bestimmt nicht gut angekommen wäre, hätte sie sich damit selbst eingestanden, dass sie mit ihrem Latein ziemlich am Ende war und sich einfach nur hilflos fühlte. So hilflos, dass es fast körperlich wehtat.

»Du weißt schon, warum unser Wohltäter uns den Jungen mitgegeben hat?«

Alica reagierte mit einer sonderbaren Mischung aus einem zaghaften Nicken und einem Schulterzucken. »Weil er uns nicht traut?« Sie machte eine wiegende Kopfbewegung. »Du meinst, er hat Angst, wir könnten einfach verschwinden? Aber wo sollten wir hingehen?« Sie schauspielerte ein absichtlich übertriebenes Frösteln, wohl um an die Szene vom vergangenen Morgen zu erinnern – was ganz und gar nicht nötig gewesen wäre. Pia hatte die schrecklichen Minuten im Schlingwald so wenig vergessen wie sie.

Eine Weile gingen sie in unbehaglichem Schweigen nebeneinander her, jede mit ihren eigenen, vornehmlich düsteren Gedanken beschäftigt. Pia war noch immer von jenem quälenden Gefühl der Hilflosigkeit erfüllt. Und dazu fühlte sie sich nach wie vor körperlich müde und zerschlagen, was vielleicht der ganz banale Grund für das psychische Loch war, auf das sie zusteuerte. Es war nicht so, dass sie körperliche Arbeit nicht gewohnt gewesen wäre – ganz im Gegenteil –, aber der gestrige Abend war trotz aller bizarren Requisiten auf eine erschreckende Art normalgewesen. Sie war aus ihrer gewohnten Umgebung, ihrem Leben, ja, ihrer Welt herausgerissen worden und hatte sich nach kaum vierundzwanzig Stunden wie ganz selbstverständlich in eine andere eingefügt, tat Dinge und überlegte Möglichkeiten, als gehörte sie hierher und bereite sich darauf vor, den Rest ihres Lebens in dieser verrückten Stadt zuzubringen.

Und nicht zum ersten Male hatte sie das Gefühl, dass das auch richtig war.

Der Gedanke weckte ihren Trotz. Vielleicht stimmte es. Vielleicht fanden sie nie wieder den Weg zurück, und vielleicht würden Alica und sie hierbleiben und sich irgendwie mit alldem arrangieren müssen – aber nicht, bevor sie alles in ihrer Macht Stehende versucht und ausprobiert hatte, zurückzukehren.

Lasar blieb plötzlich stehen und drehte sich mit einer fast schuldbewusst wirkenden Bewegung zu ihr herum. Er sah zugleich auch ein bisschen verwirrt aus – vielleicht fragte er sich ja, dachte Pia, wieso sie ihm befohlen hatte vorauszugehen, damit Alica und sie sich in Ruhe unterhalten konnten, was sie aber nicht getan hatten –, raffte dann all seinen Mut zusammen und wartete, bis sie sich ihm auf zwei Schritte genähert hatten und ebenfalls stehen blieben. »Der Marktplatz ist dort vorne, Erhabene«, begann er mit einer wedelnden Geste die Straße hinab. Pias Blick folgte ihr, und sie konnte dort ganz und gar nichts Außergewöhnliches erkennen; sah man einmal von der ganzen Stadt ab. Als er weitersprechen wollte, hob sie rasch die Hand.

»Tu mir einen Gefallen und hör mit diesem dummen Erhabene auf. Mein Name ist …«

Sie sprach nicht weiter, sondern biss sich beinahe erschrocken auf die Unterlippe, und Alica kam ihr zu Hilfe. »Pia«, sagte sie.

»Pia?« Lasar wiederholte den Namen mit derselben vollkommen falschen Betonung, wie Brack es gestern getan hatte, und er sprach die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, nicht laut aus, aber Pia konnte sie deutlich auf seinem Gesicht ablesen: Warum nennst du dich dann selbst Gaylen?

»Das hat … religiöse Gründe«, improvisierte sie. »Da, wo ich herkomme, darf nur ich meinen wirklichen Namen benutzen. Andere müssen mich mit dem ansprechen, den Alica gerade genannt hat.«

Lasar starrte sie nun vollkommen fassungslos an, und Pia überlegte, ob er es tat, weil er sich in diesem Moment ernsthaft fragte, ob sie vielleicht seine Gedanken lesen konnte, oder eher, weil er diese Erklärung genauso bescheuert fand, wie sie in ihren eigenen Ohren klang. Andererseits hätte er vermutlich auch dann nicht widersprochen, wenn sie von ihm verlangt hätte, den Rest des Weges auf den Händen zu laufen und dabei ein Lied zu pfeifen. Sie bedeutete ihm mit einer wortlosen Geste, weiterzugehen.

»An diesem Gaylen-Ding«, sagte Alica spöttisch, »müssen wir noch arbeiten.«

Pia pflichtete ihr zumindest in Gedanken bei, antwortete aber nicht laut, schon weil sich Lasar jetzt wieder in ihrer Hörweite befand und so demonstrativ nicht in ihre Richtung blickte, dass es fast rührend war (sie aber ganz bestimmt aufmerksam belauschte). Nur einen Augenblick später hatten sie eine Straßenkreuzung erreicht, und sie blieb abermals überrascht stehen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich nicht in Richtung Stadtmitte zubewegt hatten, wo sie einen Marktplatz ganz instinktiv vermutet hätte, sondern in die entgegengesetzte. Vor ihnen lag die Stadtmauer, wenn auch ein anderer Teil, in dem es kein Tor und nur einen einzelnen, wuchtigen Turm gab.

Die Häuser reichten hier nicht bis direkt an die Stadtmauer heran, sondern ließen einen unregelmäßigen Halbkreis von sicherlich zwei- oder dreihundert Schritten Durchmesser frei, auf dem sich ein buntes Durcheinander aus Marktständen, Zelten, offenen Karren und hastig zusammengezimmerten Buden erhob. Ein emsiges, dennoch aber sonderbar gedämpft wirkendes Stimmengewirr schlug ihnen entgegen, und all die bunten Farben und die hektische Betriebsamkeit, die Pia bisher in dieser seltsamen Stadt vermisst hatte, schienen sich an genau diesem Ort versammelt zu haben. Sie sah Dutzende einfacher Karren, auf denen Gemüse und Blumen, Fleisch und Obst, Brot und Kuchen und andere Backwaren feilgeboten wurden, aber auch Stände mit Stoffen, Töpfen und Tiegeln, Werkzeugen und Dingen des täglichen Gebrauchs, viele davon vertraut, andere so fremdartig, dass sie nicht einmal mehr versuchte, ihre Bestimmung zu erraten. Zwischen all den Karren, Wagen und Verkaufsständen erhob sich auch eine Anzahl schreiend bunter Zelte, manche davon winzig, andere so groß, dass spielend zwei oder drei Dutzend Menschen darin Platz gefunden hätten. Nur einen halben Steinwurf entfernt gewahrte sie etwas, das ihr auf sonderbar melancholische Weise vertraut war: einen aus einer hastig improvisierten Umzäunung bestehenden Kreis, in dem Kinder auf Ponys reiten konnten, die von ihren Eltern langsam im Schritttempo am Zaumzeug geführt wurden. Ein gutes Stück dahinter, aber deutlich zu erkennen, hatten Schausteller eine kleine Bühne improvisiert und gaben irgendetwas zum Besten, was bei der kleinen Zuschauermenge, die sich darum versammelt hatte, zu schallendem Gelächter führte. Wie um das Bild abzurunden, identifizierte sie jetzt unter alldem Lärm, Durcheinander und Stimmengewirr etwas, das in ihren Ohren zwar vollkommen unvertraut und einfach nur nach misstönendem Lärm klang, vermutlich aber Musik sein sollte. Brack hatte von einem Markt gesprochen. Für ihren Geschmack war es eher ein Jahrmarkt. Aber vielleicht machte das für die Leute hier ja gar keinen Unterschied.

Lasar ließ Alica und ihr hinlänglich Zeit, den unerwarteten Anblick zu verarbeiten, bevor er gerade dezent genug von einem Fuß auf den anderen zu treten begann, um nicht aufdringlich oder gar strafend zu wirken, seine Ungeduld aber dennoch kundzutun. Pia wedelte nur knapp mit der Hand. »Geh voraus.«

Sie hatte nicht gesagt, wohin, doch das schien der Junge auch gar nicht erwartet zu haben. Er eilte weiter, blieb nach fünf oder sechs Schritten wieder stehen und überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass sie ihm auch folgten, eilte ein weiteres Stück voraus und blieb noch einmal stehen, bis er es schließlich aufgab und darauf wartete, dass sie ganz zu ihm aufschlossen. Pia fand dieses Benehmen zunächst ziemlich albern, doch nachdem sie nur ein kleines Stück in die schmalen Gassen zwischen den Verkaufsständen und Karren eingedrungen waren, musste sie ihm im Stillen recht geben. Außer den bunten Zelten, Schaustellern und unterschiedlichen Musikanten, die sich gegenseitig zu überbrüllen versuchten, hatte dieser angebliche Markt noch etwas mit einer Kirmes gemeinsam, wie sie sie kannte: Er wimmelte nur so von Menschen, und obwohl Alica und sie die meisten hier fast um Haupteslänge überragten, hätten sie sich in der dicht gedrängten Menge wahrscheinlich schon nach wenigen Schritten verloren, hätte Lasar nicht so aufmerksam darauf geachtet, dass sie zusammenblieben. Sie tat etwas, was sie unter normalen Umständen verabscheut hätte: Ihre Hand suchte die Alicas und schloss sich fest um ihre Finger – was ihr einen sehr überraschten Blick der jungen Frau eintrug. Alica protestierte jedoch nicht, sondern griff ganz im Gegenteil ihrerseits fester zu.

Sie waren gekommen, um Stoff zu kaufen – und natürlich um diese Stadt und ihre Bewohner kennenzulernen –, doch das hatte Pia schon nach dem ersten Dutzend Schritten beinahe vergessen. Sie war ein Stadtkind und durch die Umgebung, in der sie aufgewachsen war, viele Menschen auf engem Raum gewohnt, sodass ihr das Gedränge und Geschiebe nichts ausmachte, hatte Dinge wie Jahrmarkt, Kirmes oder gar den Karneval aber bisher instinktiv verabscheut. Sie mochte keine angeordnete Fröhlichkeit, und sie hasste es, wenn andere ihre angeborene Fluchtdistanz unterschritten und ihr näher als bis auf Armeslänge kamen. Dieser Anblick hier aber schlug sie sofort in seinen Bann. Alles war viel bunter, viel lauter und viel aufdringlicher, als sie es je erlebt hatte, aber da war etwas Vertrautes, noch einmal und in noch viel stärkerem Maße als bisher, das Gefühl, hierherzugehören, hier zu Hause zu sein.

Darüber hinaus gab es wirklich eine Menge interessanter Dinge zu entdecken. Ließ sie alle ihre komplizierten und verwirrenden Gefühle einfach beiseite (was ihr natürlich nicht gelang, aber sie versuchte es), dann war dies sicherlich einer der bemerkenswertesten Orte, an denen sie jemals gewesen war. Ein bisschen kam sie sich vor wie auf einer jener albernen Mittelalter-Shows, die sie noch viel grässlicher fand als die ohnehin nervigen Volksfeste und Karnevalsveranstaltungen, die Rio de Janeiro sowohl mit der Regelmäßigkeit als auch mit der Unerbittlichkeit von Naturkatastrophen heimsuchten und auf denen sie zwei- oder dreimal gewesen war, um Jesus einen Gefallen zu tun. Es war hier sogar noch lauter, enger und aufdringlicher (von der grässlichen Musik und den tausenderlei nicht immer angenehmen Gerüchen, die über ihnen zusammenschlugen, gar nicht zu reden), doch dieser Ort hatte etwas, das all diese Nachteile nicht nur ausglich, sondern ihn schon fast wieder angenehm machte, sosehr sie diese Erkenntnis auch selbst verwirrte. Er hatte Authentizität. Nichts hier war gespielt. Nichts war billig nachgemacht oder existierte nur um des Effektes willen. Das hier war echt, und sie begriff, dass man diesen Unterschied wohl nur spürte, wenn man es wirklich erlebt hatte.

Außerdem wurden Alica und sie schon wieder von allen angestarrt, aber damit hatte sie gerechnet und sich innerlich darauf vorbereitet, sodass es ihr schon beinahe überraschend leichtfiel, es hinzunehmen. Sie versuchte, sich auf die angebotenen Waren, die Marktstände und deren Besitzer zu konzentrieren. Vieles von dem, was sie sah, war ihr vertraut, denn manche Dinge ändern sich einfach nie. Manches war fremdartig und interessant und einiges auch abstoßend, vor allem wenn es um das ging, was die Leute hier offensichtlich zu essen pflegten. Von Hygienevorschriften schien man nicht allzu viel zu halten (falls es das Wort hier überhaupt gab), und zwei- oder dreimal kam sie sich vor wie in einer chinesischen Garküche, bei der man sich unwillkürlich fragte, ob es nicht vielleicht ästhetischer (und gesünder) wäre, den Koch zu essen, statt dem, was er in seiner Pfanne brutzelte.

Pia schüttelte den albernen Gedanken ab, als sie nicht nur Lasars Blick schon wieder auf sich spürte, sondern auch seine Ungeduld. Er wagte es nicht, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, aber sie fühlte seine Nervosität. Vielleicht hatte die ja einen Grund. Wenn dieser Ort hier so viel mit seinen Gegenstücken in ihrer Heimat gemein hatte, wie es aussah, dann trieben sich hier vielleicht nicht nur ehrbare Bürger herum …

Sie schloss ganz instinktiv die andere Hand noch fester um die Münzen, die Brack ihr gegeben hatte, bedeutete Lasar mit einem Blick vorauszugehen und folgte ihm durch das Gewirr aus Menschen und überfüllten Gässchen auf einen anderen Teil des Jahrmarkts, wo keine Lebensmittel, Blumen oder Küchengeräte (jedenfalls vermutete sie es, auch wenn manches davon ihrer Meinung nach ganz passables mittelalterliches Folterwerkzeug abgegeben hätte) angeboten wurden, sondern eher die Art von Waren, derentwegen sie eigentlich hergekommen waren: Kleider, Schuhe und Stoffe.

Lasar führte sie zielsicher zu einem großen, aus drei flachen Karren mit überdimensionierten Rädern und geschickt drapierten Stoffbahnen improvisierten Stand mit Kleidern, Mänteln, Blusen und Schals und anderen Kleidungsstücken. Drei junge Frauen standen hinter ihren Auslagen und versuchten ebenso lautstark wie gestenreich, die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden auf ihre Waren zu lenken. Gleich zwei von ihnen stürzten sich mit dem untrüglichen Gespür ihrer Spezies auf Pia, kaum dass sie auch nur einen vorsichtigen Blick aus den Augenwinkeln auf ihre Auslagen geworfen hatte; aber zumindest einer der beiden verschlug es die Sprache, als sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihr ins Gesicht zu sehen. Pia sagte nichts dazu, sondern gönnte sich den kleinen Luxus, den Moment einfach zu genießen.

Die andere fand ihre Fassung rascher wieder. »Lass mich raten«, begann sie in professionell vertraulichem Ton. »Du suchst ein neues Kleid, habe ich recht?«

Das war ein ungemein scharfsinniger Schluss, fand Pia, vor allem für jemanden, der nichts anderes verkaufte als Kleider. Bevor sie antwortete, ließ sie ihren Blick prüfend über die auf groben hölzernen Bügeln aufgereihten Kleider und Röcke hinter ihr schweifen. Eines erschien ihr hässlicher als das andere. Diplomatisch ausgedrückt.

»Sieht man das so deutlich?«, fragte sie und ahmte unbewusst eine von Bracks Angewohnheiten nach, indem sie ihre eigene Frage gleich in Gedanken selbst beantwortete: ganz eindeutig ja. Ihr schäbiger Umhang vermochte den zerschlissenen Fetzen darunter nicht wirklich zu verbergen, sondern musste die kundigen Blicke der Händlerin im Gegenteil wohl eher noch darauf aufmerksam machen, dass sie wortwörtlich in Lumpen gekleidet hergekommen war.

Ihr dunkelhaariges Gegenüber – eine junge Frau, kaum älter als sie, die vermutlich recht hübsch gewesen wäre, wäre sie zwanzig Zentimeter größer und ebenso viele Pfunde leichter gewesen – lächelte nur diplomatisch, signalisierte aber mit ihren Blicken etwas ganz anderes, und Pia trat noch einen Schritt näher an den Stand heran, um die ausgestellten Kostbarkeiten einer zweiten und etwas gründlicheren Inspektion zu unterziehen. Das Ergebnis fiel beinahe noch deprimierender aus als beim ersten Mal. Wenn es überhaupt noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dass es Alica und sie in eine vollkommen fremde Welt verschlagen hatte, dann wären es diese Kleider gewesen. So etwas konnte doch niemand ernsthaft anziehen wollen!

Pia nahm (fast) alles zurück, was sie gestern Abend über das Kleid gedacht hatte, auf das sie in Bracks Truhe gestoßen war. Verglichen mit den schweren einheitlich grauen, braunen oder schwarzen … Säcken, die sie jetzt sah, war das Ding geradezu sexy.

»Vielleicht war das mit dem Schneidern doch keine so schlechte Idee von dir«, sagte Alica neben ihr. Sie wirkte regelrecht schockiert, und auch wenn die junge Frau auf der anderen Seite des Wagens ihre Worte nicht verstand, schien ihr der Ausdruck auf Alicas Gesicht doch genug zu sagen.

»Gefällt deiner Freundin unser Angebot nicht?«, fragte sie mit perfekt gespielter Enttäuschung. Pia fiel auf, dass sie einen raschen, aber sehr beredten Blick mit den beiden anderen Frauen tauschte, aber sie dachte sich nichts dabei.

»Nein, das ist es nicht«, sagte sie hastig. »Sie sind sehr hübsch, aber … ich fürchte, dass mir nichts davon passen wird.«

»Ja, deine Größe ist … wirklich ungewöhnlich«, pflichtete ihr die junge Frau bei. »Es muss schwer für dich sein, auch nur irgendetwas Passendes zu finden.« Heute Morgen, fügte ihr Blick hinzu, ist es dir jedenfalls nicht gelungen. »Aber du hast Glück. Meine Schwester ist eine ganz ausgezeichnete Schneiderin. Alles, was du hier siehst, hat sie gemacht.«

»Ja, das ist … beeindruckend«, murmelte Pia.

Die Verkäuferin zog mit einer routinierten Bewegung den Wagen zur Seite und gestikulierte ihr mit der anderen Hand zu, durch den Spalt zu treten. »Kommt einfach rein und sucht euch irgendwas aus, was euch gefällt. Bis morgen früh sind die Kleider in eurer Größe fertig.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte Alica und winkte ab, noch bevor Pia auch nur Luft holen konnte, um zu antworten. »Nein, lass gut sein. Ich kann es mir denken. Aber das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

Natürlich war es das nicht … doch wie es aussah, blieb ihnen kaum eine andere Wahl. Sie waren an verschiedenen Ständen und Buden vorbeigekommen, und auch wenn sie nur mit einem Auge hingesehen hatte, wäre ihr garantiert aufgefallen, wenn sich das Angebot dort deutlich von diesem Schreckenskabinett hier unterschieden hätte. Sie antwortete nicht gleich, sondern sah sich stirnrunzelnd und sehr aufmerksam um, wobei ihr Augenmerk vor allem den Kleidern der Frauen ringsum galt. Sie unterschieden sich kaum von den hier ausgestellten Schmuckstücken, und wenn, dann allenfalls dadurch, dass sie ein wenig abgetragener und zerschlissener wirkten.

Anscheinend war sie mit ihrer Beobachtung nicht allein. »Erklär mich meinetwegen für verrückt«, sagte Alica, »aber das hier scheint tatsächlich der letzte Schrei zu sein … wobei die Betonung eindeutig auf Schrei liegt, wenn du mich fragst.«

»Was sagt deine Freundin?«, fragte die Pummelige.

»Dass uns leider nicht so viel Zeit bleibt«, antwortete Pia. »Wir brauchen die Kleider schneller. Aber ihr verkauft doch sicher auch Stoffe.«

Ihr Gegenüber machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. Doch sie fing sich auch fast sofort wieder. »Die besten überhaupt«, antwortete sie. »Und die größte Auswahl in der ganzen Stadt. Warte einen Moment. Ich hole dir ein paar Muster.«

Sie verschwand, ohne ihre Antwort abgewartet zu haben. Pia wünschte sich längst, nicht ausgerechnet an diesem Stand haltgemacht zu haben. Die junge Frau, die sie bediente, bemühte sich zwar nach Kräften, sie wie eine ganz normale Kundin zu behandeln, aber es blieb hauptsächlich bei dem gut gemeinten Versuch, und die beiden anderen versuchten nicht einmal, Alica und sie nicht ganz unverhohlen anzugaffen. Konnte es sein, dass mittlerweile jeder in dieser Stadt wusste, wer Alica und sie waren?

Vielleicht lag es an diesem Gedanken, dass das Gefühl, beobachtet zu werden, plötzlich regelrecht in ihr explodierte. Rasch drehte sie sich um und sah gerade noch einen Schatten davonhuschen, viel zu schnell, um ihn zu erkennen, aber auch nicht schnell genug, um nicht zu sehen, dass irgendetwas an ihm anders war. Sie konnte nicht einmal sagen, was.

»Was ist los?«, fragte Alica alarmiert.

»Nichts«, antwortete Pia.

Alica wirkte keineswegs überzeugt, sondern suchte nun ihrerseits aus eng zusammengekniffenen Augen die Menge ab, doch in diesem Moment kam die Marktfrau zurück und brachte die versprochenen Muster. Allerdings waren es keine Stoffballen, sondern nur eine Handvoll roh aus größeren Stücken herausgerissene Fetzen, die für Pias Geschmack auch ganz gut als Putzlappen durchgegangen wären. Sie waren rau wie Sackleinen und mindestens ebenso schwer. Pia schätzte, dass man ein Bajonett brauchte, um irgendetwas daraus zu nähen.

»Sind das …?«, begann sie.

»Unsere besten Stoffe, ja«, bestätigte die junge Frau. »Ich sage es gleich, sie sind nicht billig, aber dafür von ausgezeichneter Qualität. Du wirst im Umkreis von zehn Tagesreisen nichts Besseres finden. Ein Kleid aus diesem Stoff hält mindestens fünf Jahre, wenn nicht zehn.«

Was genau das war, wovon sie schon immer geträumt hatte: fünf Jahre in demselben Kleid herumzulaufen, und noch dazu in so einem. Sie versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen, aber es fiel ihr wirklich schwer.

»Was ist denn das da hinten?« Alica deutete auf ein helles Bündel, das hinter den drei Verkäuferinnen auf dem Boden lag.

»Das?« Die junge Frau machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, das ist nichts. Nur ein paar alte Fetzen. Wir benutzen sie zum Saubermachen, oder wenn eine von uns …« Sie lächelte, flüchtig und zugleich auch ein bisschen verlegen. »… du weißt schon.«

»Zeig sie mir«, verlangte Pia.

»Aber das ist wirklich nur …«

»Bitte«, fügte Pia hinzu, und das in einem Ton, der aus dem Wort eindeutig einen Befehl machte.

Das Lächeln blieb auf dem Gesicht der jungen Marktfrau, doch es war jetzt nur noch eine Maske. Mit einer abgehackten Bewegung wandte sie sich um, klaubte das Bündel vom Boden auf und knallte es regelrecht vor ihr hin. »Wie ich gesagt habe: nur ein paar alte Fetzen. Sie hätten gar nicht hier liegen sollen.«

Pia hatte noch immer das Gefühl, angestarrt zu werden, aber diesmal gestattete sie sich nicht, ihm nachzugeben und sich schon wieder erschrocken umzusehen. Stattdessen begutachtete sie den Stoff, der zumindest schmuddelig genug war, um der Beschreibung zu entsprechen, die seine Besitzerin abgegeben hatte.

Trotzdem kam sie dem, was Pia unter der Bezeichnung Stoff verstand, noch am nächsten. »Das nehmen wir«, sagte sie.

Die Marktfrau wirkte regelrecht empört. »Aber das ist wirklich nur …«

»Pack es zusammen«, sagte Pia. »Und alles, was wir sonst noch brauchen. Nadel, Faden und so weiter. Lasar wird dich bezahlen.«

Sie reichte dem Jungen das Geld, das Brack ihr gegeben hatte. Einen einzigen Augenblick lang schien sich noch einmal so etwas wie Widerspruch im Gesicht der Marktfrau zu regen, dann zuckte sie mit den Schultern und begann aus dem unordentlichen Stoffbündel ein anderes, nicht minder unordentliches zu kneten. Die Mischung aus Interesse und Gier auf ihrem Gesicht machte endgültig reiner Verachtung Platz.

Jemand zupfte an ihrem Umhang. Pia drehte sich halb um und senkte schon ganz automatisch den Blick und dann noch einmal und noch weiter, denn vor ihr stand jemand, der deutlich kleiner war, als sie ohnehin erwartet hatte.

Das Kind zupfte zum zweiten Mal an ihrem Umhang, fuhr dann auf dem Absatz herum und verschwand in der Menge. Vielleicht hatte es versucht, sie zu bestehlen, oder es hatte die sonderbare Fremde, von der die ganze Stadt sprach, einfach nur einmal anfassen wollen.

Pia lächelte flüchtig und drehte sich wieder herum, folgte dem Kind aber weiter mit Blicken. Zu ihrem Erstaunen wurde es nach wenigen Schritten langsamer, blieb dann ganz stehen und rannte erst weiter, nachdem es sich davon überzeugt hatte, dass sie es auch wirklich sah. Seltsam.

Pia wandte sich erneut dem Stand zu. Lasar hatte mittlerweile damit begonnen, heftig um den Preis des Stoffbündels zu feilschen, dessen wahrer Wert von seiner Besitzerin erst in diesem Moment wirklich erkannt worden zu sein schien. Pia hörte nur mit halbem Ohr hin, aber allein der Tonfall machte ihr klar, dass sich die Sache wohl noch eine Weile hinziehen würde. Schon wieder etwas, dachte sie, das anscheinend zu allen Zeiten und in allen Welten gleich war.

»Du hast das Zeug tatsächlich gekauft?«, vergewisserte sich Alica.

»Wenn du hier irgendwo etwas Besseres siehst, dann lass es mich wissen«, sagte Pia.

Alica durchbohrte sie regelrecht mit Blicken, und Pia legte nur aus einem Gefühl heraus den Kopf in den Nacken und blinzelte in den Himmel hinauf. Er war wolkenlos und von einem so strahlenden Blau, als hätte ihn jemand nur zu dem einzigen Zweck in dieser Farbe angemalt, um sich über die grausame Kälte lustig zu machen.

Vielleicht konnte sie den kreuzförmigen schwarzen Schatten deshalb umso besser erkennen, der über ihnen kreiste und sie aus tückisch funkelnden Augen beobachtete.

»Seht nicht so auffällig dorthin, Erha… Gaylen«, sagte Lasar. Pia warf ihm einen strafenden Blick zu, und er verbesserte sich hastig: »Pia.«

»Warum nicht?« Pia erinnerte sich, den riesigen schwarzen Vogel schon einmal gesehen zu haben, wusste aber im ersten Moment nicht mehr, wann. Dann fiel es ihr wieder ein. »Warum hat Brack ihn verdammter Spion genannt?«

Lasar machte eine wegwerfende Geste und versuchte möglichst beiläufig zu klingen. »Das ist nur ein alter Aberglaube«, sagte er.

»Ein alter Aberglaube?« Pia hatte plötzlich ein sehr, wirklich sehr schlechtes Gefühl. Anders als gestern kam der Vogel nicht näher, sondern hielt seine Position hoch über den Dächern der Stadt, doch sie konnte seinen Blick spüren; fast so intensiv wie eine Berührung. »Erzähl mir davon.«

»Eiranns Raben«, antwortete Lasar. »Es heißt, der König der Dunkelelfen habe ein Paar magischer Raben gehabt, die seine Augen und Ohren gewesen seien. Was sie sahen, das sah auch er, und was sie hörten, das konnte auch er hören. So blieb ihm nichts verborgen, was im Land getan und gesprochen wurde.«

»Und seither mögen die Leute hier Raben nicht mehr besonders«, vermutete Pia. Ihr Mund war plötzlich so trocken, dass sie beinahe Mühe hatte, überhaupt zu reden. Sie musste an ein Paar anderer Raben denken, das sie vor kaum zwei Tagen gesehen hatte.

»Niemand glaubt heute mehr an diesen Unfug«, behauptete Lasar nervös. »Na ja … außer Brack vielleicht.«

Wenn niemand mehr an diese Legende glaubt, dachte Pia, warum war er dann gerade so sehr darauf bedacht, dass ich diesen harmlosen Vogel nicht anstarre? Aber sie kam nicht dazu, die Frage laut zu stellen, denn in diesem Moment zupfte es erneut an ihrem Mantel. Das Kind war zurück, wirbelte genauso schnell herum und davon wie beim ersten Mal und blieb auch jetzt wieder nach einem Dutzend Schritten stehen, um sich davon zu überzeugen, dass Pia es auch wirklich sah. Erst dann lief es weiter.

Und es war nicht etwa so, dass Pia sich aus irgendeinem Grund entschied, ihm zu folgen.

Das taten ihre Schuhe für sie.

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