Wenn es in ihrem Leben – abgesehen von Jesus – überhaupt jemanden gab, den Pia als so etwas wie ihre Familie bezeichnet hätte, dann war es Esteban. Sie kannte ihn, so lange sie lebte. Ihre ersten Erinnerungen hatten fast ausschließlich mit ihm zu tun, ein großer, schon damals leicht übergewichtiger Mann. Heute war er um die fünfzig, was bedeutete, dass er jetzt tatsächlich ungefähr so alt war, wie er ihr damals vorgekommen war – und somit nicht viel älter gewesen sein konnte als sie heute –, als er sich des halb verhungerten Waisenkindes annahm, das man zu ihm gebracht hatte. Sein Gewicht hatte er nahezu verdoppelt und er gehörte zweifellos zu den einflussreichsten Männer der Favelas; auch wenn er sich zeit seines Lebens geweigert hatte, sich einer der zahllosen mehr oder weniger großen (und ausnahmslos gefährlichen) Banden anzuschließen oder einer der vier großen Familien, die ihrerseits über die unterschiedlichen Banden herrschten. Esteban war ganz zweifellos ein Patrono, aber der einzige Patrono, der eigentlich keine Untertanen hatte, über die er herrschen konnte, und – wenn man es ganz genau nahm – nicht einmal eine richtige Familie. Pias erste Erinnerungen an ihn waren deshalb auch die an seine unterschiedlichen Frauen, die ihr damals ebenfalls alt erschienen waren. Aber es waren eben die Erinnerungen einer Vierjährigen, und mittlerweile hatte sie nicht nur verstanden, dass Esteban niemals länger als ein Jahr mit ein und derselben Frau zusammenlebte, sondern näherte sich auch selbst dem Alter, in dem seine jeweiligen Partnerinnen gut ihre Schwestern sein könnten; auch ihre jüngeren. Es gab Zeiten, in denen er mit mehr als einer Frau gleichzeitig zusammenlebte, aber auch noch eine weitere, deutlich dunkle Seite an ihm, von der jedermann wusste und Pia gar nichts wissen wollte. Ihr gegenüber hatte er sich immer wie eine Mischung aus großem Bruder und Vater benommen, selbst als sie allmählich in ein Alter kam, in dem sie durchaus in sein Beuteschema gepasst hätte. Viele der Frauen, die sie an seiner Seite kennengelernt hatte, ähnelten ihr sogar, und wahrscheinlich war auch das kein Zufall.
Im Augenblick sah er allerdings eher aus wie ein überaus verärgerter Vater, wie er so hinter seinem zerschrammten Schreibtisch saß und abwechselnd sie und das altmodische schwarze Telefon anblickte; fast, als warte er auf einen Anruf, der ihm mitteilte, was er weiter mit ihr tun sollte.
Vielleicht war es auch so, dachte Pia niedergeschlagen. Sie hatte fast die gesamte Zeit, seit sie hergekommen war, im Zimmer nebenan bei Jesus und dem Arzt verbracht, aber die Wände hier waren dünn. Esteban hatte viel telefoniert, und er hatte sich dabei ein paarmal ziemlich aufgeregt angehört.
»Ich frage mich wirklich, was ich jetzt mit dir tun soll«, seufzte er schließlich. Pia saß seit gut fünf Minuten auf dem Arme-Sünder-Stuhl vor seinem Schreibtisch, und es waren die ersten Worte, die er seither gesprochen hatte. Sie hätte erleichtert sein sollen, dass die unangenehme Stille vorüber war – aber der Letzte, der diese Worte zu ihr gesagt hatte, war Hernandez gewesen, und die Erinnerung daran gab ihnen einen unangenehmen Beigeschmack. Sie schwieg.
»Es war ziemlich dumm von dir, hierherzukommen. Ich hoffe, wenigstens das ist dir klar«, fuhr er fort, nachdem er lange genug gewartet hatte, um das Schweigen zwischen ihnen schon wieder unangenehm werden zu lassen.
»Ich weiß«, antwortete sie kleinlaut. »Ich wusste einfach nicht, wohin. Und ich wollte dir bestimmt keine Schwierigkeiten bereiten, aber …«
»Schwierigkeiten?«, unterbrach sie Esteban. »Wie kommst du auf diese Idee? Nicht einmal die Peraltas sind so dumm zu glauben, dass ich irgendetwas mit dieser Sache zu tun habe.«
»Die Peraltas?« Pia erschrak. »Aber was … was haben denn die Peraltas mit …?«
Esteban unterbrach sie mit einem neuerlichen Kopfschütteln, maß sie mit einem sehr langen, ein wenig traurigen Blick und beugte sich dann nach rechts, um den Leinenbeutel aufzuheben. Der mindestens fünfzig Jahre alte hölzerne Bürostuhl, in dem er saß, ächzte protestierend unter der plötzlichen Verlagerung von mehr als zwei Zentnern Gewicht, und Pia musste an ein anderes zerbrochenes Möbelstück denken.
»Was die Peraltas damit zu tun haben?« Esteban ließ den Beutel übertrieben wuchtig auf die Schreibtischplatte fallen. Das Telefon hüpfte. »Was glaubst du denn, wem das Zeug hier gehört?«
Pia starrte den Beutel an. Sie schwieg. Es hätte auch nicht viel gegeben, was sie hätte sagen können. Die Peraltas? Großer Gott!
»Wie gesagt: Ich hätte dich für klüger gehalten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt wütend oder enttäuscht sein soll. Ich dachte, ich hätte dir mehr beigebracht. Weißt du, Pia, wenn du schon jemanden bestiehlst, dann solltest du dich vorher wenigstens erkundigen, wen. Ich dachte wirklich, ich hätte dir das beigebracht.«
»Das … das hast du auch«, antwortete sie, noch immer wie betäubt. Die Peraltas? Nein, nicht ausgerechnet sie. Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Und sie hatte geglaubt, sich Probleme einzuhandeln, weil sie sich mit Hernandez und seinen Schlägern angelegt hatte? »Aber ich wusste nicht, dass …«
»Eben!« Esteban schlug heftig mit der flachen Hand auf den Tisch, und das Telefon machte einen zweiten und noch heftigeren Hüpfer. »Du wusstest es nicht! Aber du hättest es wissen müssen! Verdammt, wenn man schon eine Million klaut, sollte man sich vorher erkundigen, wem sie gehört!«
»Aber ich wusste es wirklich nicht!«, verteidigte sich Pia. Sie hasste sich beinahe selbst für den weinerlichen Klang ihrer Stimme, konnte aber nichts dagegen tun, und ihr war zum Heulen zumute. Die Peraltas waren vielleicht die kleinste der vier Mafia-Familien, die sich diesen Teil der Favelas untereinander aufgeteilt hatten, aber auch die mit Abstand gefürchtetste. »Ich wusste bis jetzt nicht einmal, dass sie überhaupt mit Drogen handeln! Ich dachte immer, sie hätten ihre Prinzipien, und dieses Dreckszeug gehört nicht dazu!«
»Haben sie auch«, antwortete Esteban. Er nahm eines der weißen Päckchen aus dem Beutel, drehte es einen Moment lang unschlüssig in der Hand und warf es dann zurück. »Sie arbeiten nur als Kuriere. Aber Kuriere in diesem Gewerbe haben im Allgemeinen das Problem, dass man sie für die Ware verantwortlich macht, die sie transportieren. Sie sind nicht gerade begeistert von der Vorstellung, knappe zwei Millionen einzubüßen. Von ihrem Ruf ganz zu schweigen.«
»Wir … ich … ich könnte es ihnen zurückgeben«, sagte Pia und kam sich selbst lächerlich dabei vor.
»So läuft das nicht, Kleines, und das weißt du auch«, antwortete Esteban sanft.
Natürlich wusste sie das. Es ging nicht nur um das Geld und die Drogenpäckchen. Sie würden Jesus und sie trotzdem umbringen. Mit einer der anderen Familien hätte sie – vielleicht – reden und irgendeine Lösung finden können, aber mit den Peraltas?
»Woher … weißt du überhaupt davon?«, fragte sie stockend. Ihr Mund war mit einem Mal so trocken, dass sie kaum noch sprechen konnte. Sie begann die Finger zu kneten und wünschte sich plötzlich, wieder acht Jahre alt zu sein und auf diesem Stuhl zu sitzen, um sich eine Gardinenpredigt von ihm anzuhören, weil sie den Nachbarsjungen verprügelt hatte.
»Du bist gut.« Esteban lachte, aber es klang nicht sehr amüsiert. »Jeder weiß davon. Schlechte Nachrichten haben Flügel, und die werden umso größer, je schlechter die Nachrichten sind. Die ganze Stadt spricht von nichts anderem als von den beiden Verrückten, die irre genug gewesen sind, der Peralta-Familie eine Drogenlieferung zu klauen – und auch noch drei ihrer Leute umzulegen.«
»Das waren wir nicht!«, sagte Pia hastig.
»Das glaube ich dir«, antwortete Esteban ernst. »Du bist keine Mörderin, und Jesus ist kein Mörder. Ich fürchte nur, das wird den Peraltas ziemlich egal sein. Es geht nicht um das Geld oder die Drogen. Es ist Blut geflossen. Und sie wollen Blut sehen. Du weißt, wie das Spiel läuft. Aber …«, er hob abwehrend die Hand, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, ihm zu widersprechen, »… noch haben wir einen einzigen Vorteil. Außer Jesus und dir – und jetzt mir – weiß niemand, was wirklich passiert ist. Und solange das so bleibt, haben wir eine gute Chance, uns eine Geschichte auszudenken, an deren Ende ich nicht in die Verlegenheit komme, gutes Geld für einen Grabstein ausgeben zu müssen.«
Das würde er sowieso nicht, dachte Pia niedergeschlagen. Leute, die sich mit den Peraltas anlegten, hatten im Allgemeinen zwei Dinge gemeinsam: Sie waren ziemlich verrückt und sie pflegten spurlos zu verschwinden.
»Bist du sicher, dass Hernandez tot ist?«, fragte Esteban.
Die Verlockung, einfach Ja zu sagen, war groß. Sie wollte nichts lieber, als nicken und selbst daran glauben, aber sie konnte es nicht.
»Nein«, gestand sie. »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er mit diesem seltsamen Kerl beschäftigt.«
»Euer geheimnisvoller Retter«, sagte Esteban. Er klang ein bisschen spöttisch, und Pia schoss einen so zornigen Blick in seine Richtung ab, dass er in einer erschrocken-abwehrenden Geste beide Hände hob. »Schon gut. Ich glaube dir ja. Und sei es nur, weil die Geschichte einfach zu verrückt klingt, um sie sich auszudenken.«
»Du meinst, so verrückt wäre nicht einmal ich, dir eine solche Geschichte aufzutischen?«, antwortete Pia. »Jesus hat ihn schließlich auch gesehen!«
»Ich sagte dir bereits, ich glaube dir«, versuchte Esteban sie zu beruhigen. »Auch wenn es mir schwerfällt … ein Irrer, der im Supermankostüm durch die Stadt läuft und für Ordnung sorgt, wo es die Polizei nicht kann oder will?« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, so was gibt es nur im Kino.«
Pia tat ihm immerhin den Gefallen, die Lippen zur Andeutung eines Lächelns zu verziehen, aber es überzeugte weder ihn noch sie. Wer immer diese seltsame Fremde gewesen war … irgendetwas sagte ihr, dass er nicht einfach ein Verrückter im Supermankostüm gewesen war.
»Aber gut, das ist im Moment nicht unser Thema.« Esteban bekräftigte seine Worte mit einer Handbewegung, wie um sie im wahrsten Sinne des Wortes beiseitezuwischen. »Was ist mit Hernandez’ Männern? Du sagst, der seltsame Bursche hat sie erledigt?«
»Zwei ganz bestimmt«, antwortete Pia. »Bei dem dritten bin ich mir nicht sicher.«
Esteban begann nachdenklich mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte zu trommeln. Sein Blick suchte wieder das Telefon und verharrte für Pias Geschmack gerade einen Sekundenbruchteil zu lange darauf. »Selbst wenn nicht, wird ihnen kein Mensch die Geschichte glauben … oder vielleicht doch, aber das ist eigentlich egal. Hat euch irgendjemand auf der Baustelle gesehen?«
»Keine Ahnung«, gestand Pia. »In der Cantina bestimmt. Dafür hat der Comandante schon gesorgt.«
»Genauso wie er dafür Sorge getragen hat, dass sein Gespräch mit dir aufgezeichnet wird.« Esteban schnaubte. »Hauptmann Juan Hernandez, der aufrechte Polizist, der versucht, eine stadtbekannte Kleinkriminelle von …«
»He!«, protestierte Pia.
»… eine leichtsinnige junge Frau von einer Dummheit abzuhalten, über deren Konsequenzen sie sich anscheinend nicht im Klaren ist«, verbesserte sich Esteban. Er lächelte nicht. »Geschickt eingefädelt, das muss ich zugeben. Mit dem Überwachungsvideo von diesem fliegenden Ding und dem Revolver mit deinen Fingerabdrücken drauf wäre er möglicherweise sogar durchgekommen … aber vielleicht können wir den Spieß ja rumdrehen.«
»Und wie?«
»Ich muss einen Moment darüber nachdenken und ein paar Erkundigungen einziehen«, erwiderte Esteban, mehr an sich selbst als zu ihr gewandt. »Aber wenn man es genau nimmt, habt ihr eigentlich gar nichts getan.«
»Wir haben die Tasche geklaut«, gab Pia zu bedenken.
»Aber ihr habt niemanden erschossen«, beharrte Esteban. »Das war Hernandez. Wir wollen mal nicht zu kleinlich sein. Wer den Beutel zuerst angefasst hat, spielt im Grunde keine Rolle, oder? So wie du die Geschichte erzählst, hat er das von Anfang an so geplant.«
»Er hat mich benutzt«, sagte Pia bitter.
Esteban war nicht charmant genug, ihr zu widersprechen, sondern sah sie nur traurig an, aber auch nachdenklich und schon wieder ein bisschen so wie ein strenger und gleichzeitig gütiger Vater, dessen Kind etwas sehr Schlimmes getan hat, und der jetzt überlegte, wie er ihm die zu erwartenden Konsequenzen möglichst schonend beibringen konnte, ohne auch nur einen Deut davon abzurücken.
»Wenn du mich fragst«, sagte er schließlich, dann hat dieser Mistkerl wahrscheinlich nur einen Dummkopf gesucht, dem er die Schuld in die Schuhe schieben kann.« Er gab ein sonderbares Seufzen von sich und maß den zwei Millionen schweren Beutel auf seinem Tisch mit einem langen, traurigen Blick. »Ihr hättet dieses verdammte Ding nicht mitnehmen dürfen.«
Zu diesem Schluss war Pia schon von sich aus gekommen, aber es war noch nie ihre Art gewesen, über einmal gemachte Fehler zu jammern. Erst recht nicht, wenn sie selbst sie gemacht hatte.
»Ich muss nachdenken«, sagte Esteban und seufzte noch einmal, diesmal tiefer. »Wie geht es Jesus?«
»Nicht gut.«
Es war nicht Pia, die antwortete. Ohne dass Esteban oder sie es bemerkt hatten, war die Tür aufgegangen, und ein grauhaariger Mann um die sechzig hatte den Raum betreten. Er trug einen zerschlissenen, billigen Straßenanzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Seine Hände sahen aus wie frisch gewaschen, aber unter seinen Fingernägeln waren braunrote Ränder zu sehen. Pia fragte sich, wie lange er schon dastand und zuhörte.
»Doktor?« Esteban wirkte mit einem Mal deutlich besorgter als noch vor einer Sekunde.
»Ich habe für ihn getan, was ich konnte – aber ich fürchte, es reicht nicht.« Dr. Alvarez kam mit kleinen, schlurfenden Schritten näher, seufzte tief und sah sich nach einem Stuhl um, aber es gab keinen. Pia setzte dazu an, aufzustehen und ihm ihren eigenen Platz anzubieten, doch Alvarez wehrte mit einer müden Bewegung ab und schenkte ihr ein mindestens genauso müdes, aber sehr warmes Lächeln. »Er muss in ein Krankenhaus. Er hat zu viel Blut verloren. Wenn er hierbleibt, stirbt er.«
Esteban sah ihn zwei oder drei weitere Sekunden lang durchdringend an, dann reagierte er ganz genau so, wie Pia es von ihm gewohnt war, schnell und ohne noch mehr Zeit mit unnötigen Fragen zu verschenken. Er nahm den Hörer ab und begann die altmodische Wählscheibe zu drehen. Die Nummer war sehr kurz – nur drei Ziffern, wie Pia auffiel –, und es dauerte nicht einmal eine Sekunde, bis sich offensichtlich jemand am anderen Ende der Verbindung meldete. »Juan? Esteban hier … Ja, ich fürchte, es geht nicht anders … genau … in zwanzig Minuten. Danke.« Er hängte ein, sah Alvarez und Pia nacheinander und sehr ernst an und nickte schließlich. »Der Krankenwagen ist unterwegs. In einer Stunde ist er in der Klinik. Hält er noch so lange durch?«
»Wenn sich keine Komplikationen mehr ergeben.«
»Komplikationen?«, fragte Pia erschrocken. »Aber es war doch ganz …«
Alvarez brachte sie mit einer müden Geste zum Verstummen. »Ich weiß, wie sehr du an deinem Freund hängst, Kind«, sagte er. Sie kannten sich beinahe so lange, wie sie Esteban kannte, und Alvarez hatte sie vom ersten Moment an Kind genannt, woran sich wahrscheinlich auch nichts ändern würde, wenn sie achtzig war (und er so lange leben sollte). »Und wahrscheinlich wird er es schaffen. Er ist stark, und das ist auch sein Glück. Aber er hat viel Blut verloren, und die Verletzung ist wirklich schwer. Ich kenne niemanden, der so etwas überlebt hätte. Immerhin …«, er griff in die Tasche und zog einen in ein schmuddeliges Tuch eingewickelten Gegenstand heraus, den er mit leicht zitternden Fingern auspackte, während er weitersprach, »… war das hier in seinem Leib.«
Die Worte beinhalteten nicht nur eine Feststellung, sondern auch eine Frage, die Pia ganz bewusst ignorierte. Sie hatte gewusst, was er in der Hand hielt, noch bevor er das Tuch zurückschlug, aber sie fuhr trotzdem erschrocken zusammen, als sie den silbernen Dolch erkannte. Esteban zog die Augenbrauen zusammen, schwieg aber. Er wirkte sehr aufmerksam.
»Du hast ihn nicht herausgezogen«, fuhr Alvarez fort, als sie nicht auf seine unausgesprochene Frage reagierte. »Das war sehr klug von dir. Wahrscheinlich hast du ihm damit das Leben gerettet. Aber sein Zustand ist trotzdem sehr ernst. Hier kann ich nichts mehr für ihn tun. Ich wahrscheinlich«, fügte er nach einer winzigen Pause und in leicht verändertem, resignierendem Ton hinzu, »sowieso nicht. Da müssen Leute ran, die mehr davon verstehen.«
»Ich hätte ihn gleich ins Krankenhaus bringen sollen«, sagte Pia.
Alvarez war taktvoll genug, gar nicht darauf zu antworten, und Esteban streckte die Hand über den Tisch aus und bedeutete ihm, ihm den Dolch zu geben. Er gehorchte, und Pia nutzte die Gelegenheit, sich die seltsame Waffe zum ersten Mal genauer anzusehen. Es war der sonderbarste Dolch, den sie je erblickt hatte, nicht nur wegen des reich ziselierten und mit einem fast fingernagelgroßen roten Edelstein besetzten Griffs – die Klinge war kaum länger als der Griff und so dünn, dass sie fast unsichtbar wurde, wenn man sie von der Seite betrachtete. Jesus’ Blut klebte nicht mehr daran – Alvarez musste sie gereinigt haben, wofür Pia ihm sehr dankbar war – und sie schien nicht aus Silber, Stahl oder irgendeinem anderen Metall zu bestehen, sondern aus Glas oder Kristall, denn sie war durchsichtig. Je nachdem wie Esteban die Klinge hielt, brach sich der Schein der nackten Glühbirne unter der Decke darin und ließ verschiedenfarbige Lichtblitze auflodern, als wäre die Glut eines Sonnenuntergangs darin gefangen.
»Das ist erstaunlich«, murmelte Esteban. »Und damit hat er nach Jesus geworfen?«
»Ich glaube eher nach Hernandez«, antwortete Pia. »Er hat ihn verfehlt. Wenn Jesus sich nicht dazwischen geworfen hätte, hätte er mich getroffen.« Und das war vielleicht das Schlimmste überhaupt. Dieser Dolch hatte ihr gegolten. Sicher nicht der Mann mit dem silbernen Helm, aber das Schicksal hatte ihr diesen Dolch zugedacht. Und Jesus hatte sich, ohne auch nur nachzudenken, dazwischen geworfen und ihn mit seinem eigenen Körper aufgefangen. Wenn er starb, dachte sie bitter, dann war es genauso, als hätte sie selbst ihn niedergestochen.
»… wirklich erstaunlich«, murmelte Esteban noch einmal.
»Seien Sie vorsichtig«, sagte Alvarez. »Das Ding ist …«
Esteban sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und starrte vorwurfsvoll seinen Daumen an, der heftig zu bluten begonnen hatte.
»… scharf«, führte Alvarez den begonnenen Satz zu Ende.
Esteban warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, steckte den blutenden Daumen in den Mund und drehte den Dolch – mit der anderen Hand und deutlich mehr Respekt – herum, um damit über die Tischkante zu fahren. Die Klinge glitt so mühelos durch das steinharte Holz, wie das Kristallschwert des Fremden vorhin durch die Kehle des Schlägers, und hinterließ einen fünf Zentimeter tiefen Schnitt, so präzise, wie mit einem Laser ausgeführt. Esteban riss die Augen auf, betrachtete das Messer mit plötzlich noch größerem Respekt und legte es mit spitzen Fingern auf den Tisch zurück.
»Tut mir leid«, sagte Alvarez, als wäre das alles seine Schuld. »Aber das Ding ist wirklich scharf. Die meisten meiner Skalpelle sind nicht so gut.«
»Hm«, machte Esteban. Behutsam nahm er den Daumen aus dem Mund, betrachtete den immer noch heftig blutenden Schnitt – Pia erkannte erst jetzt, dass er bis auf den Knochen reichte; wahrscheinlich hatte Esteban Glück, seinen Daumen überhaupt noch zu haben – und griff schließlich mit der anderen Hand zu dem dreckigen Lappen, in den der Dolch eingewickelt gewesen war. Alvarez legte missbilligend die Stirn in Falten, als er den wenig sterilen Verband sah, zu dem er den Fetzen kurzerhand umfunktionierte, sparte sich aber jeden Kommentar. Stattdessen strich sein Blick mit unverhohlener Neugier über den Leinenbeutel auf dem Schreibtisch. Esteban klaubte ihn wortlos mit der unversehrten Hand von der Platte und ließ ihn beiläufig neben seinem Stuhl auf den Boden fallen, als wären nur schmutzige Socken darin.
»Vielen Dank auch, Doktor Alvarez«, sagte er. »Ich weiß zu schätzen, was Sie für Jesus getan haben. Schauen Sie in den nächsten Tagen einmal in ihren Briefkasten. Vielleicht finden Sie eine angenehme Überraschung vor.«
»Sollte ich nicht besser noch bleiben, bis der Krankenwagen …«, begann Alvarez.
»Nein«, unterbrach ihn Esteban. »Pia wird sich um Jesus kümmern, keine Sorge. Sie haben schon mehr getan, als ich von Ihnen erwarten kann. Es ist spät geworden. Machen Sie mein schlechtes Gewissen nicht noch schlechter. Ich weiß doch, dass Sie morgen früh raus müssen, um sich um Ihre anderen Patienten zu kümmern.«
Alvarez wirkte verstört. Esteban und er waren vielleicht keine guten Freunde, aber sie kannten sich ein Leben lang, und bis vor zwei Sekunden hätte sich Pia nicht einmal vorstellen können, dass Esteban ihn rauswarf.
Aber nichts anderes hatte er gerade getan.
»Also dann … ja, Sie … Sie haben vermutlich recht«, murmelte der grauhaarige Arzt. Er fand seine Fassung wieder, wirkte aber immer noch verwirrt. »Ich muss sowieso noch zu einer Schwangeren.«
»Doch hoffentlich nichts Ernstes?«, fragte Esteban.
Alvarez lächelte nervös. »O nein, keine Angst. Der jungen Dame geht es prächtig. Und sie ist auch erst in einem Monat so weit. Das Problem ist eher der Vater. Wenn ich nicht aufpasse, dann stirbt er mir noch vor lauter Nervosität weg, bevor er seinen Sohn auch nur das erste Mal zu Gesicht bekommen hat.«
»Dann sollten Sie sich um ihn kümmern, Doktor.«
Alvarez sah nun eindeutig bestürzt aus – aber schließlich nickte er nur noch einmal abgehackt, fuhr auf dem Absatz herum und floh regelrecht aus dem Zimmer. Pia sah ihm verwirrt nach und wandte sich dann noch verwirrter an Esteban.
»Was war das denn?«
Er ignorierte die Frage, sah zuerst sie, dann den silbernen Dolch und dann wieder sie an, und das auf eine vollkommen veränderte Art; ein Blick, unter dem sich Pia mit jeder Sekunde unwohler fühlte.
»Was?«, fragte sie.
»Dieser seltsame Kerl, von dem du vorhin erzählt hast.« Esteban machte eine Geste auf den Dolch, hütete sich aber, ihm auch nur nahe zu kommen. »Es gibt ihn also wirklich.«
Pia war im ersten Moment so perplex, dass die Worte ein paar Sekunden brauchten, um überhaupt bis zu ihrem Bewusstsein durchzudringen. Sie hatte gedacht, er habe ihr geglaubt. Aber offensichtlich stimmte das nicht.
»Du hast also doch geglaubt, ich hätte mir das alles nur eingebildet«, sagte sie leise. Sie wollte vorwurfsvoll klingen, aber es gelang ihr nicht. »Oder dich belogen.«
»Und er hat nicht gesagt, wer er ist, oder was er von dir will?«, fragte Esteban, ihre Worte komplett ignorierend. Etwas … passierte mit ihm, das fühlte Pia. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos, und auch in seinem Blick und seiner Körpersprache war absolut nichts Verräterisches, aber Pia kannte ihn einfach zu gut und zu lange, um nicht zu spüren, dass all das nichts als eine perfekte Maske war.
Dahinter geschah etwas, das sie zutiefst erschreckte.
»Nein«, sagte sie.
»Er hat sich mit gleich vier bewaffneten Männern angelegt und kein einziges Wort gesagt?«, bohrte Esteban weiter. »Einfach so?«
»Einfach so«, bestätigte Pia, genauso ungerührt wie er, aber in hörbar schärferem Ton. »Ich habe keine Ahnung, wer der Kerl war.« Oder was?Pia hatte ihm weder von den unheimlichen Raben noch von dem noch viel unheimlicheren Haus erzählt, in dem sie gewesen waren, doch sie hatte nichts davon vergessen. Was ging hier vor? Und was hatte er damit zu tun?
»Und er hat mich Gaylen genannt«, fügte sie hinzu.
Diesmal gelang es ihm nicht mehr ganz, sich zu beherrschen. Beinahe, ja. Jedem anderen wäre das fast unmerkliche erschrockene Flackern in seinem Blick wahrscheinlich entgangen …aber es gab kaum jemanden, der ihn so gut kannte wie sie.
»Ein … seltsamer Name«, sagte er. »Klingt ein bisschen nach …« Er tat so, als würde er angestrengt nachdenken, und hob schließlich die Schultern. »Keine Ahnung, wonach.«
Die hatte Pia auch nicht, aber sie fand, dass dieser Name irgendwie zu der ganzen Erscheinung des Fremden passte. Auch wenn sie nicht sagen konnte, woher dieses Gefühl kam.
»Na ja, wir werden den Kerl schon auftreiben«, fuhr Esteban in verändertem Ton fort. »Im Moment haben wir andere Probleme. Warum gehst du nicht zu Jesus und bleibst bei ihm, bis der Krankenwagen kommt? Ich muss noch ein paar dringende Anrufe erledigen und einige … Dinge klären.«
»Wirfst du mich jetzt auch raus?«, fragte Pia.
»Auch?« Esteban schien gar nicht zu begreifen, wovon sie überhaupt sprach. Dann schüttelte er den Kopf. »Natürlich nicht. Ich dachte nur, du willst bei Jesus bleiben, solange er noch hier ist.«
»Ich fahre mit ihm ins Krankenhaus«, sagte Pia, aber Esteban schüttelte sofort und noch viel heftiger den Kopf.
»Das wäre viel zu gefährlich«, erwiderte er. »Solange wir nicht wissen, was mit Hernandez ist, halte ich es für besser, wenn du hierbleibst. Falls der Kerl noch lebt, dann ist er im Moment wahrscheinlich noch unberechenbarer als sonst.«
Pia überlegte sich ihre nächsten Worte sehr genau. Wenn Esteban sagte, dass er der Meinung sei, irgendjemand solle dies oder das tun, dann kam das im Allgemeinen einem Befehl gleich, und man tat gut daran, ihn zu befolgen – und so ganz nebenbei hatte er recht. Hernandez war schon unter normalen Umständen schlimm genug. Nach den zurückliegenden Stunden war er vermutlich so unberechenbar und gefährlich wie eine angeschossene Ratte.
»Ich begleite ihn«, sagte sie, ruhig, aber auch mit großem Nachdruck. »Ich bin schuld an dem, was passiert ist.«
»Ja, das stimmt«, antwortete Esteban. »Möchtest du auch noch schuld an meinem Tod sein? Von deinem eigenen wollen wir mal gar nicht reden.«
»Wie?«, machte Pia erschrocken.
Esteban stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Was hast du denn gedacht, was jetzt passiert? Dass ich die Peraltas anrufe und sie höflich um Entschuldigung für das kleine Missverständnis bitte?«
»Aber ich dachte, sie …«
»Genau das glaube ich allmählich nicht mehr«, fiel ihr Esteban ins Wort. »Dass du irgendetwas gedacht hast!«
»Du willst ihnen das Geld also zurückgeben.«
»Von wollen kann gar nicht die Rede sein«, schnaubte er. »Selbstverständlich werde ich ihnen das Geld und den Stoff zurückgeben, weil alles andere Selbstmord wäre. Wahrscheinlich haben ein paar hundert Leute gesehen, wie ihr das verdammte Ding hierhergebracht habt. Ich wäre nicht erstaunt, wenn sie jetzt schon wissen, wo ihre vermisste Lieferung abgeblieben ist! Ich werde sie anrufen und ihnen sagen, wo sie ihr Eigentum abholen können, und wenn sie darauf bestehen, bringe ich es ihnen sogar persönlich. Aber das kann ich erst, wenn ich weiß, wo Hernandez geblieben ist – und wie viel von dem, was auf der Baustelle passiert ist, irgendjemand mitbekommen hat. Ich habe schon ein paar Leute losgeschickt, die nach dem Comandante und seinen Männern suchen, und du solltest beten, dass sie ihn vor den Peraltas finden! Wir brauchen diesen verdammten Revolver. Ohne ihn dürfte es Hernandez schwerfallen zu beweisen, dass Jesus und du irgendetwas mit der Sache zu tun habt. Die Einzigen, die das bezeugen könnten, sind tot. Pech für ihn. Und ziemlich dumm, die einzigen Entlastungszeugen umzubringen, denen die Peraltas vielleicht geglaubt hätten. Glück für dich.«
»Und …?« Pia machte eine schüchterne Kopfbewegung dorthin, wo gerade noch der Beutel auf dem Tisch gestanden hatte. »Das da?«
Esteban winkte ab. »Das war dumm«, sagte er. »Ihr seid dazugekommen, wie sich Hernandez und seine Leute um die Beute gestritten haben, und ihr habt eben die Gelegenheit ergriffen. Wer könnte schon einer Million in bar widerstehen, die einem praktisch in den Schoß fällt? Dumm, aber verständlich. Schließlich konntet ihr ja auch nicht wissen, wem die Ware gehört, nicht wahr? Und hättet ihr es gewusst, hättet ihr sie bestimmt nicht angerührt.«
»Und du glaubst, dass sie dir das abkaufen?«
»Dir«, verbesserte sie Esteban. »Nicht mir. Tut mir leid, aber das kann ich dir nicht abnehmen. Du wirst ihnen diese Geschichte schon selbst erzählen müssen – aber keine Sorge. Ich spreche vorher mit ihnen. Doch das kann ich eben erst, wenn ich weiß, was mit Hernandez los ist. Und so lange bleibst du hier und rührst dich keinen Zentimeter aus dem Haus.« Er wiederholte seine wedelnde Handbewegung. »Und jetzt geh und kümmere dich um Jesus.«
Pia stand auf und ging zur Tür, drehte sich dann doch noch einmal um und sah zu ihm zurück. Esteban schien sie bereits vollkommen vergessen zu haben. Er massierte seinen verletzten Finger und blickte mit gerunzelter Stirn auf den Kristalldolch hinab, und der Ausdruck auf seinem Gesicht … verstörte Pia. Er wirkte immer noch nachdenklich und erstaunt, aber auch ganz eindeutig erschrocken. Als hätte er ein Gespenst gesehen.
Er verschwieg ihr etwas. Pia hatte nicht die leiseste Ahnung, was es sein mochte, doch er verheimlichte ihr etwas, und sie spürte, dass es etwas Wichtiges war.
Etwas sehr Wichtiges. Gern hätte sie eine entsprechende Frage gestellt, aber sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen hätte, und so drehte sie sich nach einem weiteren, unbehaglichen Zögern um und überquerte den Flur, um das Zimmer zu betreten, in dem Jesus lag.
Obwohl Esteban ganz zweifellos so etwas wie ein Vaterersatz für sie gewesen war und sich zeit ihres Lebens um sie gekümmert hatte, war Pia nicht in seinem Haus aufgewachsen. Vielmehr hatte sie ein Dutzend Eltern gehabt, unterschiedliche Familien von unterschiedlichem Alter und sozialem Status, bei denen sie manchmal für Monate, manchmal für nur wenige Wochen oder ein Jahr oder länger gelebt hatte, stets unter Estebans unsichtbarem Schutz, aber niemals direkt bei ihm. Trotzdem hatte sie ein Zimmer in seinem Haus, in dem sie manchmal übernachtet hatte (niemals länger als ein Wochenende), in das sie manchmal zum Spielen gekommen war und manchmal einfach nur so, um eine Stunde oder zwei hier zu sitzen und das Gefühl zu genießen, dass es einen Ort gab, der ihr allein gehörte, an dem sie tun und lassen konnte, was immer sie wollte, und an dem ihr niemand etwas vorschrieb. Ein großer Schatz, obwohl Estebans Haus alles andere als luxuriös war, nicht einmal sehr viel größer als die meisten anderen Häuser hier.
Jetzt hatte dieses Zimmer die Unschuld der Jugend verloren und war zu einem Ort des Schreckens geworden. Es war dunkel. Pia verzichtete sowohl darauf, das Licht einzuschalten, als auch, die Läden zu öffnen, und durch die schmalen Spalten zwischen den hölzernen Lamellen drang nur mattgrauer Lichtschein herein, kaum genug, um den Raum nicht in vollkommener Dunkelheit versinken zu lassen. Die Luft roch nach Blut, Exkrementen und vielleicht noch nach anderen, schlimmeren Dingen, die sie nicht erkannte und auch gar nicht erkennen wollte, und das allerschlimmste überhaupt waren Jesus’ unregelmäßige rasselnde Atemzüge.
Sie schloss die Tür hinter sich, wie eine Barriere, die sie zwischen sich und der Wirklichkeit mit all ihren Schrecknissen und Gefahren aufrichtete, blieb aber unmittelbar dahinter stehen und wagte es nicht, sich dem Bett weiter zu nähern. Jesus war noch am Leben, das bewiesen seine mühsamen Atemzüge, doch sie hatte nicht den Mut, ganz an das Bett heranzutreten, in dem er lag – ihr Bett, das ihm viel zu klein und von dem sie nicht einmal sicher war, ob es sein Gewicht aushalten würde; immerhin wog er beinahe dreimal so viel wie sie –, und ihm ins Gesicht zu sehen. Er war schon bleich wie ein Toter gewesen, als die Männer in hereingebracht hatten, und seither hatte er noch mehr Blut verloren. Der Boden, auf dem sie stand, war klebrig, und der süßliche Geruch in der Luft erzählte den Rest der Geschichte. Alvarez hatte ihn versorgt, so gut er konnte, aber das war eben nicht besonders gut, wie sie schmerzlich begriff. Er war ein gewissenhafter Arzt, und angesichts der Gegend, in der er lebte und praktizierte, war Jesus auch ganz gewiss nicht der erste Patient mit einer Schuss- oder Stichwunde, den er zu versorgen hatte; aber alles, was ihm an Instrumenten zur Verfügung stand, fand in einer schäbigen schwarzen Arzttasche Platz, die mindestens so alt war wie er selbst, und was Esteban dazu hatte beitragen können, hatte aus einer Emailleschüssel mit heißem Wasser und sauberen Handtüchern bestanden. Wenig mehr, als zu Columbus’ Zeiten üblich gewesen war.
Wie passend, dass Jesus auch mit einer altertümlichen Waffe verwundet worden war, dachte sie bitter, schob den Gedanken aber fast augenblicklich wieder von sich. Sie wollte jetzt nicht an den unheimlichen Fremden denken.
Natürlich gelang es ihr nicht. In der Dunkelheit war es Pia, als erschiene das schmale, silbern umrahmte Gesicht des Fremden vor ihr, und sie glaubte, den Blick seiner seltsamen Augen fast körperlich auf sich zu fühlen. Esteban hatte so unrecht, wie es nur ging. Wer immer dieser seltsame Fremde mit dem Silberhelm auch sein mochte, eines war er ganz bestimmt nicht: ein Verrückter, der irgendetwas ohne Grund tat.
Jesus stöhnte leise, und das Geräusch riss Pia endgültig aus ihren Gedanken. Rasch löste sie sich von ihrem Platz an der Tür, trat neben das Bett und ließ sich nach einem unmerklichen Zögern auf den niedrigen Stuhl sinken, auf dem Alvarez zuvor gesessen hatte. Ihre Hand tastete nach der von Jesus, aber dann wagte sie es doch nicht, sie zu berühren. Er schlief – oder war bewusstlos –, und das war im Moment wohl das Beste, was sie ihm wünschen konnte, denn wäre er wach, würde er zweifellos große Schmerzen leiden. Pia war in ihrem ganzen Leben weder ernsthaft verletzt worden, noch wirklich krank gewesen, und sie wusste nicht, ob er das, was die gläserne Klinge ihm angetan hatte, in seinem momentanen Zustand spürte. Sie hoffte nur, dass es nicht der Fall war.
Aber ganz gleich, was er im Moment durchlitt: Es war ihre Schuld.
Auf die Gefahr hin, ihn zu wecken, überwand sie ihre Hemmungen und griff nun doch nach seiner Hand. Jesus’ Haut war kalt wie die eines Toten, und Pia konnte spüren, wie schnell sein Herz schlug, und hatte damit die Antwort auf ihre Frage. In welcher Welt sein Geist im Moment auch immer weilte, es war dort ganz gewiss nicht angenehmer als hier.
Obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Berührung seiner kalten Hand ihr mit jeder Sekunde unangenehmer wurde, griff sie noch fester zu und versuchte in ihn hineinzulauschen. Vorhin, als er in ihren Armen zusammengebrochen war, hatte sie seinen Schmerz gespürt, nicht im übertragenen, sondern in ganz realem und körperlichem Sinne, und allein die bloße Erinnerung an die gleißende rote Flamme, die sich in ihren Leib gebohrt hatte, ließ sie noch im Nachhinein schaudern. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen Schmerz verspürt zu haben. Und doch wünschte sie sich im Moment nichts mehr, als ihn noch einmal zu spüren, denn alles wäre besser gewesen als diese schreckliche Leere in ihr.
Was war das?, dachte sie entsetzt. Starb er?
Doktor Alvarez hatte gesagt, dass er sterben könnte, und selbstverständlich hatte sie ihm geglaubt und war entsprechend erschrocken gewesen, doch nun wurde ihr klar, dass sie die wahre Bedeutung dieser Worte erst nach und nach begriff. Noch vor wenigen Stunden hätte sie die bloße Vorstellung als absurd von sich gewiesen, dass es überhaupt irgendetwas gab, was diesen gutmütigen Riesen erschüttern konnte, und schon der reine Gedanke an seinen Tod wäre jenseits alles Möglichen gewesen. Jesus und sie kannten sich seit mehr als zehn Jahren, und er war in all der Zeit stets so etwas wie der Inbegriff von Unerschütterlichkeit und Stärke in ihrem Leben gewesen; der berühmte Fels in der Brandung, den nicht einmal die gewaltigste Flut erschüttern konnte.
Und jetzt lag er im Sterben, und es war ihre Schuld.
Ein Teil von ihr fragte sich ganz sachlich, was sie tun würde, wenn er tatsächlich starb, und die ebenso einfache wie brutale Antwort lautete: nichts.
Was sollte sie schon tun? Sich selbst kasteien? Sich einen Finger abschneiden und ins Kloster gehen? Wohl kaum. Aber ein Leben ohne Jesus würde nicht mehr dasselbe sein wie zuvor. Umso weniger, wenn sie Schuld daran hatte, dass er nicht mehr Teil dieses Lebens war …
Die Tür ging auf und beinahe sofort wieder zu, und leichte Schritte näherten sich. Pia sah nicht einmal auf, sondern blickte weiter den verschwommenen grauen Fleck an, als der Jesus’ Gesicht über dem weißen Kopfkissen zu schweben schien, aber sie roch ein ebenso billiges wie aufdringliches Parfüm und wusste, dass es Alica war, Estebans momentane Bettgespielin. Pia hatte nichts gegen, jedoch auch nicht besonders viel für sie übrig, wusste aber immerhin, dass sie kaum älter war als sie selbst und ziemlich hübsch.
»Der Krankenwagen ist da«, sagte Alica.
Jetzt schon? Esteban hatte am Telefon etwas von zwanzig Minuten gesagt. Hatte sie tatsächlich so lange hiergesessen und Jesus’ Hand gehalten? Ihr kam es vor, als wären es nur ein paar Sekunden gewesen.
»Und jetzt hat Esteban dich geschickt, um auf mich aufzupassen?«, vermutete sie. »Damit ich keine Dummheiten mache?« Die Feindseligkeit in ihrer Stimme überraschte sie selbst ein bisschen, aber Alica schien sie nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Und selbst wenn, störte sie sie wahrscheinlich nicht.
»Er hat nur gesagt, ich solle Bescheid sagen«, antwortete sie.
Pia konnte das uninteressierte Schulterzucken, das die Worte begleitete, in der Dunkelheit hinter sich hören. Alica kam einen weiteren Schritt näher und blieb wieder stehen, und Pia nahm sich vollkommen emotionslos, aber sehr entschlossen vor, ihr die Hand zu brechen, wenn sie es wagte, sie zu berühren und ihr etwa in einer Große-Schwester-Geste die Hand auf die Schulter zu legen. Oder einen Finger.
»Willst du ihn begleiten?«
»Esteban will, dass ich hierbleibe.«
»Nur bis zum Krankenwagen, meine ich.«
Pia dachte einen Moment über diese Frage nach und schüttelte dann den Kopf. Schon hier zu sitzen und seine Hand zu halten, hatte mehr von Abschiednehmen, als sie sich eingestehen wollte. Mit ihm zu gehen und dabei zuzusehen, wie sie ihn auf eine Trage legten, die Türen des Krankenwagen hinter ihm schlossen und abfuhren, wäre mehr, als sie ertragen wollte. Wahrscheinlich konnte sie es. Aber sie wollte es nicht. »Nein.«
»Wie du willst«, antwortete Alica. »Aber du kannst nicht hierbleiben. Hier in diesem Zimmer, meine ich.«
»Es ist mein Zimmer«, erinnerte Pia.
»Und du willst heute Nacht in diesem Bett schlafen?«
Für diese Bemerkung konnte Pia sie noch ein bisschen weniger leiden.
Aber sie hatte auch recht. »Nein«, gestand sie widerwillig ein.
»Du kannst mein Zimmer haben«, sagte Alica. »Ist überhaupt kein Problem. Weißt du was? Ich gehe schon mal nach oben und bereite alles vor, und du kommst nach, wann immer du willst.«
Sie war ja so großzügig, dachte Pia und tat ihr nicht den Gefallen, auch nur ein einziges Wort zu sagen, sondern blickte nur stumm auf Jesus’ bleiches Gesicht hinab, aber ihr Schweigen schien Alica als Antwort vollauf zu genügen. Sie verschwand, um nach oben zu gehen und alles vorzubereiten. Pia fragte sich, was eigentlich. Die Barbie-Puppen von ihrem Bett zu räumen oder ihre Bücher fürs Erstlesealter?
Sie war sich darüber im Klaren, dass sie Alica Unrecht tat, aber ihr schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Manchmal war es gut, jemandem Unrecht zu tun, und jemand wie Alica war eindeutig ein dankbares Opfer.
Ihr blieb noch eine gute Minute, dann wurde es draußen laut, und die Tür wurde unsanft aufgestoßen, um zwei in weiße Jacken mit gelben Neonstreifen gekleidete Sanitäter einzulassen, die eine zusammengeklappte Trage mit sich führten. Ihre Fantasie-Uniformen waren Pia gänzlich unbekannt, vermutlich gehörten sie zu irgendeinem der privaten Rettungsdienste, die den offiziellen Stellen seit Jahren zunehmend (willkommene) Konkurrenz machten, aber sie gingen durchaus professionell vor. Pia stand auf und wich hastig ein paar Schritte zurück, um nicht im Weg zu stehen, folgte jedem ihrer Handgriffe mit schon fast wissenschaftlicher Neugier; und sei es nur, um den bohrenden Schmerz nicht an sich herankommen zu lassen, mit dem sie Jesus’ Anblick erfüllte, nachdem die beiden Männer das Licht eingeschaltet hatten. Er sah noch kränker aus als befürchtet. Das bisherige blasse Licht hatte den Anblick seines Gesichts nicht schlimmer gemacht, sondern war barmherzig gewesen.
Zumindest schienen die beiden Männer zu wissen, was sie taten. Keiner von ihnen sagte auch nur ein einziges Wort, und sie gingen sehr routiniert zu Werke. Während der Jüngere die Trage auseinanderklappte und einen kleinen, aber beeindruckend aussehenden Computer einschaltete, stieß sein Kollege Jesus eine Injektionsnadel in den Arm und befestigte einen dünnen Kunststoffschlauch daran, der zu einem Infusionsbeutel mit einer wasserklaren Flüssigkeit führte. Pia hoffte, dass es sich um ein schmerzstillendes Mittel handelte, das stark genug war, um selbst seine Träume zu erreichen. Keiner der beiden Männer warf auch nur einen Blick unter den klobigen Verband, den Alvarez Jesus angelegt hatte (so groß er war, der ehedem weiße Stoff hatte sich schon wieder braunrot gefärbt, und auf dem Bett blieb ein nasser roter Fleck zurück), aber sie bugsierten Jesus mit einer angesichts seines Gewichtes schon erstaunlichen Mühelosigkeit auf die Trage. So wortlos, wie sie gekommen waren, trugen sie den Bewusstlosen aus dem Zimmer. Pia folgte ihnen bis zur Haustür. Niemand hätte sie daran gehindert, ihnen bis auf die Straße hinaus und zum Wagen zu folgen, der mit offen stehenden Hecktüren und laufendem Motor vor dem Haus wartete, auch Esteban nicht, aber das brachte sie einfach nicht über sich. Sie weigerte sich standhaft, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Jesus tatsächlich starb … aber ihre letzte Erinnerung an ihn sollte auch auf keinen Fall die an einen Krankenwagen sein, in den man ihn verfrachtet hatte wie ein Stück Fleisch auf dem Weg zum Abdecker.
Esteban stand unter der Tür zu dem fast leeren Zimmer, das er sein Büro nannte, als sie schließlich auf den Flur hinaustrat, und sie spürte deutlich, wie er darauf wartete, dass sie irgendetwas sagte, doch sie beließ es bei einem wortlosen Nicken und drehte sich hastig um, um die schmale Treppe ins Obergeschoss hinaufzueilen. Sie konnte jetzt nichts sagen. Sie hätte nicht gewusst, was, außer einfach lautlos zu heulen oder sich in sinnlosen Anschuldigungen zu ergehen, die im Grunde niemand anderem galten als ihr selbst. Zu ihrer Erleichterung schien Esteban das zu spüren, denn er verzichtete darauf, ihr nachzueilen oder auch nur irgendetwas zu sagen. Vielleicht hatte er auch noch nicht mit den Peraltas gesprochen. Sie stürmte die Treppe hinauf und in Alicas Zimmer, ohne anzuklopfen. Ihre Augen brannten. Wenn Jesus starb, dann … dann würde sie …irgendetwas tun. Etwas Schlimmes.
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie in Alicas Armen lag und ihren Tränen hemmungslos freien Lauf ließ.