Der nächste Tag kam und ging, und sie wurde nicht zu Lasar gebracht, und auch Istvan kehrte nicht zurück, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Nur die alte Heilerin besuchte sie, einmal um ihr frische Kleider zu bringen und ihre Wunden zu versorgen, und dann noch zweimal, um ihr zu essen zu bringen.
Darüber hinaus kam ihr der Tag erstaunlich kurz vor; was daran lag, dass sie ihn zum allergrößten Teil schlafend verbrachte. Eingedenk der Tatsache, dass sie auch die drei Tage zuvor durchgeschlafen hatte, kam ihr das selbst ein wenig seltsam vor, aber sie war (und blieb) schrecklich müde, und mehr als einmal beschlich sie der Verdacht, dass Varga bei dieser unnatürlichen Müdigkeit ihre Hand im Spiel haben könnte. Die alte Heilerin antwortete auf ihre entsprechenden Fragen jedoch genau wie auf alle anderen – nämlich gar nicht –, und letzten Endes war es ihr auch gleich, ob Varga tatsächlich einen Abstecher in ihren Kräutergarten gemacht hatte oder ihr Körper einfach sein Recht verlangte. Diese Art von Schlaf war anders. Pia spürte (sogar während sie schlief), wie ihre Kräfte zurückkehrten und ihre Verletzungen heilten. Als Varga am darauffolgenden Morgen kam, um ihre Verbände zu wechseln, war sie selbst nicht annähernd so überrascht wie die alte Frau. Sämtliche kleineren Schrammen und blauen Flecke waren einfach verschwunden, und selbst die tiefen Wunden, die die Handschellen in ihre Gelenke gerissen hatten, begannen schon sichtbar zu heilen. Varga starrte ihre Arme geschlagene fünf Sekunden lang an und danach noch länger und mit vollkommen anderem Ausdruck ihr Gesicht, aber sie sagte nicht einmal dazu etwas. Eine der Fragen, auf die Pia niemals eine Antwort bekommen sollte, war die, ob die alte Heilerin überhaupt sprechen konnte.
Zwei Tage später waren an ihren Handgelenken nur noch zwei dünne weiße Narben zu sehen, und Varga verzichtete darauf, frische Verbände anzulegen, und wickelte lediglich zwei saubere Stoffstreifen um ihre Arme, damit die Fesseln ihr nicht sofort wieder neue Verletzungen zufügten.
Und das war das mit Abstand Aufregendste, was innerhalb der nächsten anderthalb Wochen geschah. Istvan kam nicht zurück, und sie erfuhr auch sonst rein gar nichts von dem, was in der Stadt und dem Rest der Welt geschah. Pia schlief nach wie vor viel, wenn auch nicht mehr ganz so viel wie am Anfang, und die Zeit, die sie wach war, verbrachte sie zum größten Teil damit, zu grübeln, mit dem Schicksal zu hadern und sich selbst leidzutun. Aber irgendwann ging auch diese Phase vorbei und eine andere begann: Sie hatte alle Gedanken gedacht, alle Fluchtpläne erwogen und wieder verworfen, und irgendwann begann die Zeit zu etwas Eigenständigem zu werden, begann allein durch ihr Verstreichen den Tag fast zur Gänze auszufüllen.
Zweimal am Tag kettete Varga sie los und führte sie auf die Toilette. Sie waren auch dabei allein, denn auf dem winzigen Innenhof, auf dem das mit Brettern vernagelte Örtchen stand, zeigte sich keine Menschenseele. Pia erwog einmal kurz den Gedanken, die Gelegenheit zu einem Fluchtversuch zu nutzen, verwarf die Idee aber rasch wieder. Varga zu überwältigen wäre sicherlich kein Problem (auch wenn ihr der Gedanke zuwider war, der alten Frau Gewalt anzutun), doch sie war trotz der vollkommenen Stille ringsum sicher, dass sie aus misstrauischen Augen beobachtet wurde.
Vielleicht zwei Wochen nach ihrer Rückkehr nach WeißWald änderte sich doch etwas.
Pia wachte früher auf als gewöhnlich, und obwohl nicht der geringste Laut in ihre Gefängniszelle drang, glaubte sie so etwas wie summende Nervosität zu spüren, die über der gesamten Stadt liegen mochte und selbst die Luft hier drinnen mit etwas Knisterndem erfüllte. Als sie sich aufsetzte, stellte sie fest, dass sich noch zwei andere Dinge verändert hatten: Es war spürbar kälter geworden, was daran lag, dass das Feuer im Kamin erloschen war. Varga musste vergessen haben, Holz nachzulegen, was sie normalerweise jeden Morgen zuverlässig tat, kurz bevor Pia aufwachte. Aber sie war trotzdem hier gewesen. Die zweite Veränderung lag auf dem Tisch: ein ausgesprochen hässliches, aber warmes Kleid, noch wärmere grobe Unterwäsche, ein gefütterter Mantel und (zu ihrem großen Erstaunen) ein Paar aus feinem Leder gearbeitete Stiefel; die magischen Schuhe, die sie von Brack bekommen hatte.
Was hatte das zu bedeuten?
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie eine Antwort auf diese Frage bekam, wenn auch nicht in der Ausführlichkeit, die sie sich gewünscht hätte. Varga kam, stellte ein Tablett mit einem außergewöhnlich reichhaltigen Frühstück auf den Boden neben dem Tisch und kettete sie wie üblich schweigend los. Pia überfiel sie sofort mit einem Schwall von Fragen, die Kleider und die spürbare Veränderung der Stimmung betreffend, rechnete nicht mit einer Antwort und bekam auch keine. Die Alte bedeutete ihr nur mit ebenso ehrerbietigen wie energischen Gesten, sich anzuziehen, und nutzte die wenigen Augenblicke, die sie dafür brauchte, das Frühstück auf dem Tisch aufzutragen.
Es erwies sich als eine schon mehr als ausgewachsene Mahlzeit, mit der selbst ein hungriger Bauarbeiter seine liebe Mühe gehabt hätte. Pia aß trotzdem so viel davon, wie sie konnte, und sogar noch ein bisschen mehr. Diese Mahlzeit war bestimmt nicht zufällig so reichhaltig ausgefallen. Irgendetwas würde geschehen, und jemand war anscheinend der Meinung, dass sie eine kräftige Unterlage für den bevorstehenden Tag brauchte. Wer war sie, sich anzumaßen, es besser zu wissen?
Sie frühstückte ausgiebig zu Ende und hatte es kaum getan, als die Tür aufging und Istvan hereinkam. Er lächelte ein sehr warmes, ehrlich wirkendes Lächeln, aber in seinen Augen war zugleich auch ein Ausdruck von nicht mehr ganz unterdrückter Sorge, und etwas an ihm war anders. Doch es dauerte ein paar Sekunden, bis sie erkannte, was – auf seinem Gesicht lag ein ganz sachter gehetzter Ausdruck, und wenn man genau hinsah, konnte man die Andeutung dunkler Ringe unter seinen Augen erkennen; und einen ungesunden grauen Schimmer auf seinen Wangen. Es schien, als hätte er in den zurückliegenden Tagen so wenig Schlaf gefunden wie sie zu viel.
»Guten Morgen, Erhabene«, begrüßte er sie. »Wie ich sehe, hat Varga alles wunschgemäß vorbereitet.«
»Wenn Ihr ihr befohlen habt, mich zu mästen, dann könnt Ihr zufrieden sein«, antwortete Pia. »Aber es hat auch ausgezeichnet geschmeckt. Wo seid Ihr die ganze Zeit gewesen, Kommandant? Ihr seid mir noch ein paar Antworten schuldig.«
»Aber Ihr habt doch gar keine Fragen gestellt, Erhabene«, antwortete er ruhig. »Trotzdem habt Ihr recht. Ich wollte eher zurückkommen, um unser Gespräch fortzusetzen, aber ich wurde aufgehalten. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich niemanden geschickt habe, um Euch zu informieren. Ich entschuldige mich in aller Form dafür … aber wir können es nachholen.«
Pia sah ihn einen Herzschlag lang nachdenklich an. Konnte es sein, dass er nur plapperte, um aus irgendeinem Grund Zeit zu gewinnen?
»Und mir erklären, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte sie mit einer Geste auf den reich gedeckten Tisch, ihr Kleid und die magischen Schuhe, die sie noch nicht angezogen hatte.
Istvan starrte einen Moment lang an ihr vorbei ins Leere, bevor er sich mit einer knappen Geste an Varga wandte. Die alte Heilern verließ das Zimmer, und Istvan wartete geduldig, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Ich fürchte, sehr viel Zeit zum Reden bleibt uns auch heute nicht«, sagte er. »Ich bin vorausgeritten, um noch die letzten Vorbereitungen zu treffen, aber Eure Eskorte wird in längstens zwei Stunden eintreffen.«
Warum erschrak sie eigentlich? Sie hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. »Immerhin schon mal eine positive Veränderung, nicht wahr?« Istvan blickte fragend, und Pia zwang sich zu einem nicht ganz geglückten Lächeln. »Bisher war ich eine Gefangene. Jetzt bekomme ich schon eine Eskorte.«
»Es freut mich, wenn Ihr es so seht«, sagte Istvan. Er blieb dabei auf eine Art ernst, die sie eigentlich beunruhigen sollte. Dann deutete er auf ihre Stiefel. »Ihr solltet sie anziehen, Erhabene. Wir können … auf dem Weg reden.«
»Auf dem Weg? Gerade habt Ihr gesagt, dass die Eskorte noch zwei Stunden weit weg ist.«
Istvan wich ihrem Blick aus. »Es tut mir leid, dass ich anscheinend immer nur mit schlechten Nachrichten zu Euch komme, Erhabene«, sagte er unbehaglich. »Aber bei unserem letzten Gespräch habt ihr Euch nach dem Jungen erkundigt.«
»Lasar?« Pia konnte selbst spüren, wie sich ihr Gesicht umwölkte. »Ich hoffe, er hat nicht zu sehr gelitten.«
»Er lebt«, antwortete Istvan, erstickte den Funken ungläubiger Hoffnung in ihr aber augenblicklich wieder, indem er den Kopf schüttelte und mit trauriger Stimme fortfuhr: »Der Junge muss unglaublich zäh sein. Er hat bis jetzt gekämpft, doch nun geht es zu Ende. Er wird den Tag nicht überstehen.«
»Und warum … sagt Ihr mir das?«, fragte Pia. Ihr Mund war mit einem Mal so trocken, dass sie kaum noch sprechen konnte. »Um mich zu quälen?«
Istvan wirkte nicht verletzt, trotzdem spürte Pia ihr schlechtes Gewissen. Sie hätte das nicht sagen sollen. »Nein«, antwortete er. »Wir haben noch ein wenig Zeit. Ihr hattet darum gebeten, ihn sehen zu dürfen. Beim letzten Mal konnte ich Euch diesen Wunsch nicht erfüllen, aber jetzt … ich meine, wenn Ihr wollt, könnt Ihr ihn noch einmal sehen.«
Bei den letzten Worten klang er fast ein bisschen unbeholfen, fand Pia. Und ihre eigenen Worte von gerade taten ihr plötzlich noch mehr leid. Istvan hatte keineswegs vor, sie zu quälen. Er wollte ihr die Gelegenheit geben, Abschied zu nehmen, das war alles. Für einen Mann wie ihn musste es einen gewaltigen Satz bedeutet haben, so weit über seinen Schatten zu springen.
Sie lächelte dankbar und machte sich dann an die gar nicht so leichte Aufgabe, die Stiefel anzuziehen. Diese waren so eng, dass sie fast all ihre Kraft dafür brauchte und fast ein bisschen außer Atem war, als sie den ersten Stiefel anhatte.
»Warum tut Ihr das, Istvan?«, fragte sie, während sie sich mit dem zweiten abmühte.
»Es ist nur ein kleiner Umweg, und ich hatte das Gefühl, dass der Junge Euch etwas bedeutet.«
»Das meine ich nicht.« Pia deutete mit einem Kopfnicken und zusammengebissenen Zähnen auf den Stiefel, der sich beharrlich weigerte, schneller als millimeterweise an ihrer Wade hinaufzukriechen. »Ihr wisst, was das für Schuhe sind?«
»Sie sehen sehr hübsch aus, und sie stehen Euch ganz ausgezeichnet.« Er lächelte flüchtig und wurde danach umso ernster. »Ja, ich weiß, was das für Stiefel sind. Und ich weiß auch, woher Ihr sie habt. Warum sollte ich sie Euch nicht lassen? Sie werden Euch nicht helfen, zu fliehen oder irgendetwas anderes Unbedachtes zu tun. Diese Stiefel weisen Euch den richtigen Weg, das ist alles. Sie machen Euch weder schneller noch verleihen sie Euch Flügel.«
»Eigentlich schade«, sagte Pia. Der Stiefel rutschte mit einem so unerwarteten Ruck an ihrem Bein hoch, dass sie das Gleichgewicht verlor und einen Moment lang albern herumhampeln musste, um nicht rückwärts vom Stuhl zu fallen, was vermutlich noch sehr viel alberner ausgesehen hätte. Istvan rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, sondern grinste ganz im Gegenteil unverhohlen schadenfroh.
»Ja, vielen Dank auch für Eure Hilfe, Kommandant«, maulte Pia. »Ihr wisst wirklich, wie man eine Dame behandelt.«
Istvan feixte sogar noch breiter, aber er streckte immerhin die Hand aus, um ihr aufzuhelfen, und Pia nahm dieses Angebot an, obwohl es ganz und gar nicht notwendig gewesen wäre … wenigstens so lange, bis sie nicht nur ganz dicht vor ihm stand, sondern ihn dabei um einen guten Kopf überragte, dann wurde die Situation irgendwie peinlich, und sie traten beide gleichzeitig und sehr hastig einen Schritt zurück.
»Ja, dann … sollten wir jetzt gehen«, sagte Istvan. »Es ist nicht weit, aber es wäre mir lieber, wenn wir wieder zurück sind, bevor Eure Eskorte eintrifft.«
Pia sagte nichts dazu, aber Istvans Angebot, sie zu Lasar zu bringen, erschien ihr plötzlich in einem anderen Licht. Möglicherweise war Istvan ja nicht nur großzügig. Er ging sogar ein gewisses Risiko ein, ihr diesen Ausflug zu gestatten.
Sie verließen das Zimmer und nach wenigen Augenblicken das Gebäude. Pias Gefühl von vorhin bewahrheitete sich: Über der Stadt lag eine spürbare Nervosität. Die wenigen Menschen, die ihnen begegneten, wirkten gehetzt und beinahe ängstlich, und ganz anders als sonst wurde sie nicht von jedem angestarrt, der ihren Weg kreuzte, sondern das genaue Gegenteil war der Fall. Die Menschen senkten sogleich den Blick oder sahen woanders hin, und mindestens zwei- oder dreimal entfernten sie sich so überhastet, dass das Wort Flucht der einzig zutreffende Begriff dafür war.
»Was ist hier los?«, fragte sie geradeheraus.
»Ihr seid eine sehr aufmerksame Beobachterin, Erhabene«, antwortete Istvan, ohne wirklich zu antworten. »Das ist mir auch vorher schon aufgefallen.«
»Jedenfalls merke ich, wenn mir jemand auszuweichen versucht.«
»Die Menschen haben Angst«, sagte Istvan, und fast, als hätte er sie eigens bestellt, um seine Behauptung unverzüglich zu untermauern, tauchte in diesem Moment eine dunkel gekleidete Frau vor ihnen auf, starrte Pia einen halben Atemzug lang aus aufgerissenen Augen an und fuhr dann auf dem Absatz herum, um eindeutig fluchtartig das Weite zu suchen.
»Vor mir«, vermutete sie.
»Ja«, antwortete Istvan, verbesserte sich dann: »Nein«, zuckte mit den Schultern und korrigierte sich noch einmal: »Oder doch. Irgendwie schon.«
»Aha«, sagte Pia.
»Es ist eine Menge geschehen, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, Erhabene«, fuhr Istvan fort, deutete nach vorne und fügte scheinbar unvermittelt hinzu: »Das Haus am Ende der Straße. Dort wohnt Varga. Sie hat den Jungen zu sich genommen.«
Vielleicht noch dreihundert Meter, schätzte Pia. Dreihundert Schritte … also gut, fünfhundert für Istvan. Auf jeden Fall Zeit genug, um auf ein paar Antworten zu bestehen.
»Ihr wart nicht in der Stadt«, sagte sie.
»Nein. Was Ihr über Nandes erzählt habt, das hat mich beunruhigt. Ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen … und ein paar Leute losgeschickt, um nach den Barbaren zu suchen, die Eure Freundin entführt haben.«
Zumindest die letzte Behauptung, vermutete Pia, war gelogen. Istvan war auf ihrer Sympathieskala zweifellos um etliche Plätze nach oben gerutscht (vom Mittelpunkt der Erde bis ins tiefste Kellergeschoss), aber dass er auch nur einen Finger rühren würde, um Alica zu retten, glaubte sie nun doch nicht. »Sind sie mit ihr oder ohne sie zurückgekommen?«, fragte sie.
Istvan antwortete erst nach einem spürbaren Zögern. »Gar nicht«, sagte er.
Pia sah ihn überrascht an. Vielleicht hatte er ja doch die Wahrheit gesagt.
»Und das ist nicht alles«, fuhr er fort. »Es sind Barbaren gesehen worden.«
»Zum Beispiel von mir.«
»Von sehr vielen Leuten«, sagte Istvan ungerührt. »Und vermutlich auch vielen, die nicht mehr zurückgekommen sind, um davon zu berichten. Menschen sind verschwunden, und angeblich wurde einer der Clans angegriffen und ein Teil der Herde gestohlen.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Pia.
Istvan hob abermals die Schultern und sah bewusst an ihr vorbei. »Es gibt Gerüchte.«
»Was für Gerüchte?« Verdammt, warum ließ dieser Kerl sich eigentlich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?
»Es heißt, sie seien euretwegen hier.«
Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, war an diesen Gerüchten wahrscheinlich etwas dran. »Und jetzt haben sie Angst, sie könnten hierherkommen«, sagte Pia. »Meinetwegen.«
Dazu sagte Istvan nichts, aber das war auch nicht nötig.
»Na ja, morgen oder übermorgen bin ich vermutlich nicht mehr da, und dann haben die Leute hier keinen Grund mehr, Angst zu haben.«
Der bittere Klang in ihrer Stimme war Absicht, aber Istvan ging nicht darauf ein. »Es ist vermutlich auch besser für Euch. Auf jeden Fall sicherer. Ich glaube nicht, dass sie tollkühn genug dazu wären, aber sollten die Barbaren die Stadt tatsächlich angreifen, dann könnten wir Euch vielleicht nicht beschützen.«
Pia blieb stehen und sah den Stadtkommandanten stirnrunzelnd an. »Ich kann mich täuschen«, sagte sie, »aber habt Ihr nicht gerade selbst gesagt, diese Barbaren wären nichts als ein kleines Problem?«
»Und WeißWald ist eine kleine Stadt«, antwortete er ernst. »Ich habe kaum hundert Mann unter meinem Befehl, und bei der Hälfte davon bin ich schon froh, wenn sie ihr Schwert aus dem Gürtel ziehen können, ohne sich dabei die Finger abzuschneiden.«
»Und Ihr meint, mit meiner Eskorte wäre ich sicherer?«, fragte Pia zweifelnd. »Ein Zelt statt einer Stadtmauer, und eine Handvoll Reiter statt Eurer Garde?«
»Fünfhundert der besten Ritter, die das Land aufzubieten hat«, verbesserte sie Istvan, und eine Spur von Stolz war in seinen Worten zu hören. »Nicht einmal ein ganzer Barbarenstamm würde es wagen, sie anzugreifen.«
Na ja, dann hoffen wir mal, dass Hernandez nicht zwei aufgeboten hat, oder drei, dachte Pia. Oder ein paar noch viel bösere Überraschungen. Einen großen Unterschied zwischen Hernandez und Istvan gab es offenbar doch: Hernandez hatte seine Gegner nie unterschätzt.
Anderseits sollte sie jetzt auch nicht den Fehler begehen, ihn zu überschätzen.
Sie hatten ihr Ziel fast erreicht, und Pia blieb noch einmal stehen und sah sich demonstrativ um. »Wieso sind wir überhaupt allein?«, fragte sie. »Muss ich jetzt beleidigt sein, dass Ihr es nicht für nötig gehalten habt, auch nur einen einzigen Soldaten mitzunehmen, der auf mich aufpasst? Ich könnte immerhin versuchen zu fliehen.«
»Aber ich habe doch Euer Wort, dass Ihr das nicht tut, Erhabene.«
»Genau genommen nicht«, antwortete Pia.
Istvan seufzte. »Dann muss ich mich wohl getäuscht haben. Aber wohin solltet Ihr gehen? Niemand hier würde Euch helfen oder Euch auch nur Unterschlupf gewähren.«
Pia fiel mindestens ein Ort ein, an dem sie vermutlich in Sicherheit war; ganz bestimmt vor Istvans Leuten, und vielleicht sogar vor Hernandez und seinen Barbaren.
Das Problem war nur, dass sie diesen Ort noch mehr fürchtete als beide zusammen.
»Ja, es ist immer wieder ein schönes Gefühl, geliebt zu werden«, seufzte sie.
»Oh, das werdet Ihr«, sagte Istvan. »Das ganze Land wird Euch zu Füßen liegen, wenn Ihr erst einmal in der Hauptstadt seid.«
»So wie allen anderen, die dorthin gebracht worden sind? Ja, ich freue mich schon auf einen gemütlichen Job in der Wäscherei … oder im Steinbruch.«
»Hat Nandes Euch das erzählt?«, fragte Istvan.
»War es etwa nicht die Wahrheit?«
»Doch«, antwortete Istvan mit völlig unerwarteter Offenheit. »Viele wünschen sich, als die wiedergekommene Gaylen anerkannt und verehrt zu werden. Manche sind Betrüger, manche glauben es wirklich, aber sie alle zahlen einen hohen Preis für diesen Irrtum. Doch es gibt einen Unterschied.«
»So? Und wie sieht der aus?«
»Ihr seid es wirklich«, antwortete Istvan. »Wir sind da.«
Sie waren vor einem schmalen eingeschossigen Haus stehen geblieben, das sich von den anderen Gebäuden ringsum allenfalls dadurch unterschied, dass es noch ein wenig ärmlicher aussah. Die Tür stand einen schmalen Spaltbreit offen, aber dahinter war nichts als Dunkelheit zu erkennen.
»Ich warte hier draußen«, sagte Istvan. »Lasst Euch Zeit, aber nicht zu viel.«
Der Gedanke, allein dort hineinzugehen, bereitete ihr beinahe körperliches Unbehagen. Aber sie konnte und wollte jetzt auch nicht kehrtmachen. Dass Lasar nach all der Zeit noch immer lebte, erschien ihr unglaublich genug, und jetzt einfach wieder zu gehen, ohne ihn wenigstens noch einmal gesehen zu haben, wäre ihr nicht nur feige vorgekommen (und es gewesen), sondern auch wie ein Verrat an ihm. Nach allem, was er für sie getan hatte, ein vollkommen unerträglicher Verrat.
Sie betrat das Haus und war zunächst praktisch blind, aber nicht orientierungslos. Die schmalen Papierfenster waren nicht abgedunkelt, wie sie im ersten Moment angenommen hatte, sondern einfach so schmutzig, dass sie praktisch kein Licht mehr durchließen. Irgendwo vor ihr brannte eine einzelne Kerze, aber die flackernde gelbe Flamme schien die Dunkelheit hier drinnen eher noch zu vertiefen, als sauge sie das bisschen Licht auf, das es noch gab. Atemzüge waren zu hören und ein fast regelmäßiges helles Ticken, das sie für das Geräusch eines tropfenden Wasserhahns gehalten hätte, hätte es so etwas im Umkreis von ungefähr hunderttausend Lichtjahren gegeben. Dann entstand ein Streifen aus blassgrauem Zwielicht irgendwo in der Dunkelheit, und eine gebückte Gestalt machte einen einzelnen Schritt zu ihr herein und winkte ihr zu. Vielleicht sagte Varga sogar etwas, aber Pia war nicht sicher und es spielte auch keine Rolle. Schweigend folgte sie Vargas einladender Geste und betrat ein winziges und nun tatsächlich fensterloses Zimmer, das von zwei heftig rußenden Kerzen in eindeutig mehr Schatten als Licht getaucht wurde. Der hier anscheinend vorherrschenden spartanischen Einrichtungsphilosophie folgend war es praktisch leer und enthielt nur einen Stuhl, einen Kamin, der nicht so aussah, als hätte jemals ein Feuer darin gebrannt, und ein schmales Bett, auf dem ein sterbender Junge lag.
»Es ist gut, Varga«, sagte Pia. »Bitte lass uns allein.«
Sie konnte hören, wie die Heilerin sich herumdrehte und davon schlurfte. Und sie wartete auch noch ab, bis sie das Geräusch der Haustür hörte, bevor sie aus ihrer selbst auferlegten Starre erwachte und die zwei Schritte zum Bett ging.
Vielleicht waren es die beiden schwersten Schritte ihres Lebens.
Lasar war bewusstlos oder schlief, aber es war kein friedlicher Schlaf. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen und unregelmäßigen Stößen, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß; kleine ölig glänzende Perlen, die ein verwirrendes Muster auf seiner Haut bildeten und ihren schlechten Geruch dem Atem abschnürenden Gestank hinzufügten, der die Luft hier drinnen in etwas Zähflüssiges zu verwandeln schien, das sich nur noch mit einer bewussten Anstrengung in die Lungen saugen ließ. Der Geruch war so schlimm, dass sich ein leises Gefühl von Übelkeit in Pias Magen zu regen begann; ein Gestank nach Krankheit, Fäulnis und Tod.
Es war nicht Vargas Schuld. Soweit Pia es erkennen konnte, hatte sie den Jungen so gut versorgt und sauber gehalten, wie es nur ging. Es ging eben nicht besonders gut.
Pia schloss die Augen, zählte in Gedanken bis drei und zwang sich dann, den sterbenden Lasar so emotionslos und analytisch wie überhaupt nur möglich anzusehen. Es funktionierte nicht.
Auch ganz sachlich betrachtet bot Lasar einen durch und durch grauenerregenden Anblick. Er war immer schon klein gewesen und so schlank, dass das Wort eigentlich nicht mehr passte. Jetzt schien er … kleiner geworden zu sein und so weit in Richtung Skelett abgemagert, wie es ein Mensch nur konnte, ohne tatsächlich zu sterben.
Pia stand lange Zeit einfach da und sah auf Lasar hinab, und alles, was sie fühlte, waren Leere und ein nagendes Gefühl von Schuld. Niemand hatte diesen Jungen gezwungen, mit einem rostigen Küchenmesser auf einen ausgewachsenen Krieger loszugehen, der doppelt so groß war wie er.
Sie zog sich den Schemel heran, ließ sich darauf nieder und hätte um ein Haar nach seiner Hand gegriffen. Aber sie war nicht mehr da. Wo sie sein sollte, befand sich nur ein klobiger, gelb und braun verkrusteter Verband, den sie nun, wo sie ihn einmal gesehen hatte, auch als Quell des erbärmlichen Gestanks hier drinnen ausmachte. Empörung wollte sich in ihr breitmachen, aber sie sagte sich auch fast sofort, dass Varga für diesen Jungen mit Sicherheit alles getan hatte, was in ihrer Macht stand. Sie konnte eben nicht besonders viel tun. Selbst die talentierteste Kräuterhexe war wohl relativ machtlos in einer Welt, in der nicht einmal die grundlegendsten Begriffe der Hygiene bekannt waren. Lasars Armstumpf war brandig geworden, und die Entzündung hatte sich längst ausgebreitet und den gesamten Arm bis zur Schulter hinauf anschwellen lassen. Die Haut sah aus, als würde sie bei der leisesten Berührung aufplatzen. Pia verstand mit jeder Sekunde weniger, wieso der Junge überhaupt noch lebte. Sie verstand nicht viel davon, aber soweit sie wusste, führte Wundbrand normalerweise binnen weniger Tage zum Tod. Dass Lasar in diesem Zustand zwei Wochen durchgehalten hatte, war geradezu unglaublich. Er musste über eine gewaltige Willenskraft verfügen … oder Varga hatte doch noch ein paar Tricks mehr auf Lager, als sie ihr zutraute. Sie bezweifelte allerdings, dass sie dem Jungen damit einen Gefallen getan hatte.
Lasar bewegte sich unruhig. Ein dumpfes Stöhnen kam über seine Lippen, kein artikulierter Laut, sondern ein bloßer Ausdruck von Leid, der sich wie eine dünne Messerklinge in ihre Brust bohrte. Tränen füllten ihre Augen, ohne dass sie es auch nur merkte.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Pia. »Warum hast du das nur getan, du dummer, tapferer Junge?« Lasar stöhnte im Fieber, als hätte er sie tatsächlich verstanden, und versuchte zu antworten, und Pia streckte nun doch die Hand aus und berührte seinen verstümmelten Arm. Seine Haut platzte nicht auf, wie ihre überbordende Fantasie ihr weismachen wollte, aber sie fühlte sich genauso an, wie sie es befürchtet hatte: heiß und fiebrig, so rau wie warmes Sandpapier und krank. Sie konnte spüren, wie sein Herz jagte, und etwas Unsichtbares und Verwundetes schien sich unter ihren Fingern zu krümmen. Sie konnte auch spüren, welch großen Schmerz ihm die sachte Berührung ihrer Hand bereitete, und wollte die Finger ganz instinktiv zurückziehen.
Stattdessen griff sie nur noch fester zu, spürte, wie seine Qual regelrecht explodierte, und machte den Schmerz zu ihrem eigenen, ohne ihn ihm zu nehmen. Geteiltes Leid war in diesem Falle nicht halbes Leid, sondern doppeltes, und erneut hörte sie ein gequältes Stöhnen, ohne auch nur zu begreifen, dass dieser Laut über ihre eigenen Lippen kam. Etwas in ihr krümmte sich in einer Pein, wie sie sie nie zuvor im Leben kennengelernt hatte, ja, sich bis zu diesem Moment nicht einmal hatte vorstellen können, aber sie schrak nicht davor zurück, sondern stellte sich ihr, schritt durch einen Vorhang aus purem Feuer und suchte nach seinem Ursprung. Sie brannte. Ihre Seele berührte das Herz einer lodernden weißen Sonne und tauchte hinein in einen Ozean aus reiner Qual. Da war etwas Verzehrendes in ihm, eine schwarze Flamme, die das hellere Feuer des Lebens erstickte und durch schwärende Fäulnis ersetzte, die an ihm fraß und nagte und alles verdarb, was irgendwann einmal lebendig an ihm gewesen war.
Prinzessin Gaylen streckte eine unsichtbare Hand nach dieser Flamme aus, erstickte sie und entzündete ein helleres, reineres Licht an ihrer Stelle, dann schwanden ihr die Sinne, und sie brach über dem bewusstlosen Jungen zusammen.