XXXII

Etwas Kühles berührte ihre Stirn, und eine knochige, aber sehr sanfte Hand machte sich an ihrem Gesicht und ihren Schläfen zu schaffen, ohne dass sie genau sagen konnte, was sie dort tat. Aber es tat gut, und sie hatte das ebenso grundlose wie bestimmte Gefühl, nicht nur in Sicherheit, sondern auch unter Freunden zu sein, was vielleicht sogar wichtiger war.

Das Gesicht, in das sie sah, als sie die Augen aufschlug, gehörte jedoch keinem ihrer wenigen Freunde, sondern einer verhutzelten alten Frau, die mindestens zweihundert Jahre alt sein musste und nur aus Falten und Runzeln und zu Sorgenfalten erstarrter blasser Haut voller Altersflecken zu bestehen schien. Vargas Augen wirkten noch trüber als sonst und von einer Mischung aus Sorge und Angst und sachter Panik erfüllt, doch in ihnen waren auch Erschrecken und Zorn und fast so etwas wie Wut. Ihre linke Hand tastete weiter über ihr Gesicht und tat irgendetwas daran, das Pia immer noch nicht verstand und das immer noch ungemein wohl tat, und ihre andere Hand tupfte ein angefeuchtetes Tuch auf ihre Stirn, das ihre Haut kühlte, das schwelende Feuer darunter aber eher zu noch heißerer Glut anzufachen schien. Da waren Geräusche, die ihr verrieten, dass noch jemand hier drinnen war, aber es vergingen ein paar Sekunden, bis sie sich daran erinnerte, wo dieses hier überhaupt war.

»Hattet Ihr mir nicht versprochen, mich allein zu lassen, Kommandant?«, fragte sie. Aus dem scharfen Ton, den sie hatte anschlagen wollen, wurde nichts. Ihre Stimme versagte ihr zwar nicht vollends den Dienst, ließ aber nicht mehr als ein schwächliches Flüstern zu. Pia war nicht einmal ganz sicher, ob die zweite Person, deren Anwesenheit sie fühlte, überhaupt Istvan war.

Er war es. Seine schmale, aber offensichtlich sehr kräftige Hand legte sich auf Vargas Schulter und schob sie unsanft zur Seite. »Das ist richtig, Erhabene«, sagte er. Sowohl seine Miene als auch seine Stimme hatten eine Menge von ihrer Freundlichkeit eingebüßt. »Aber das war vor mehr als einer Stunde. Fühlt Ihr Euch wieder besser?«

Pia konnte sich nicht wirklich erinnern, sich schlecht gefühlt zu haben … eigentlich konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, wie sie sich in der zurückliegenden Stunde (Stunde? Hatte er eine Stunde gesagt?) gefühlt hatte. Sie war sehr schwach. Zwischen ihren Schläfen war ein an und ab schwellendes Summen wie von einem zornigen Bienenschwarm, und wo ihre Erinnerungen sein sollten, war nichts als ein vages Gefühl, etwas Böses und sehr, sehr Gefährliches berührt zu haben. Eine Stunde? Sie war hierhergekommen, um Lasars Sterben zu erleichtern, aber wie es aussah, hatte sie es wohl eher noch einmal hinausgezögert. Wortlos stand sie auf (sie war mit dem Rücken an der Wand neben dem Kamin lehnend zu sich gekommen) und streifte das Bett, auf dem Lasar lag, mit einem kurzen Blick, wobei sie es aber fast angstvoll vermied, in sein Gesicht zu sehen. Ihre Erinnerungen waren immer noch nicht vollständig, aber das, was nach und nach zurückkehrte, verriet ihr mehr, als sie eigentlich wissen wollte. Lasar hatte einen leichten Tod gehabt. Aber wahrscheinlich, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, war jeder Tod leicht nach zwei Wochen Höllenqualen.

»Es tut mir leid, wenn ich Eure Zeit über Gebühr in Anspruch genommen habe«, sagte sie kühl. »Er wollte einfach nicht so schnell sterben, wie es vielleicht angemessen gewesen wäre.«

Istvans Miene verdüsterte sich wunschgemäß, auch wenn sie das sichere Gefühl hatte, dass er sich weit mehr über ihren Ton ärgerte als über das, was sie gesagt hatte. »Ich fürchte, wir müssen jetzt wirklich zurück, Erhabene«, sagte er. »Die Zeit war lang genug, um Abschied zu nehmen.« Er wollte sich umwenden, doch Varga ergriff ihn am Arm und zerrte ihn fast schon grob in die entgegengesetzte Richtung. Istvan schüttelte ihre Hand mit einer ärgerlichen Bewegung ab und setzte auch zu einer entsprechenden Bemerkung an, aber dann machte er stattdessen ein überraschtes Gesicht – vielleicht auch ein bisschen erschrocken –, trat an Lasars Sterbebett und schob sie unsanft zur Seite, um sich über den reglosen Jungen zu beugen. Einen Augenblick lang stand er einfach nur in sonderbar verkrampfter Haltung da, dann konnte Pia hören, wie er scharf die Luft zwischen den Zähnen einsog, und begab sich mit klopfendem Herzen an seine Seite. Sie hatte Angst vor dem, was sie wahrscheinlich sehen würde, aber sie sagte sich auch, dass sie Lasar diesen letzten Blick schuldig war. Der Junge hatte sein Leben für sie gegeben, und sie hatte Angst vor einem Blick in sein Gesicht?

Vielleicht zu Recht. Lasar war nicht tot. Er war nicht einmal mehr bewusstlos, und sogar sein Fieber schien nicht mehr ganz so schlimm zu sein wie zuvor. Seine Augen standen offen, und sein Blick war nicht trüb und von Fieber und Schmerz verschleiert, wie sie es erwartete, sondern war klar.

»Aber das ist doch …«, murmelte Pia. Istvan brachte sie mit einer raschen Geste zum Schweigen, winkte mit der anderen Hand die Heilerin heran und starrte sie und den Jungen abwechselnd, aber mit derselben Fassungslosigkeit an. Sie schien fast so groß zu sein wie die, die Pia empfand.

Varga eilte mit trippelnden kleinen Schritten um das Bett herum, beugte sich über Lasar und fuhr einen Moment lang auf dieselbe Art mit den Fingerspitzen über sein Gesicht, wie sie es gerade bei Pia getan hatte. Dann sog auch sie und noch viel schärfer als Istvan gerade die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Was … ist mit ihm?«, fragte Pia stockend.

»Diese Frage sollte ich eigentlich an Euch richten«, antwortete Istvan. Seine Stimme klang flach. »Was habt Ihr getan?«

Pia konnte sich nicht erinnern, überhaupt etwas getan zu haben, aber irgendetwas war ganz zweifellos mit Lasar geschehen. Sein Zustand hatte sich sichtbar gebessert. Es sah immer noch sehr krank aus, jedoch nicht mehr wie jemand, der seit zwei Wochen im Sterben lag.

Was er nicht würde, begriff Pia. Lasar war zu schwach, um auch nur den winzigsten Laut von sich zu geben, sein Atem ging langsam und sehr flach, und er sah immer noch aus wie ein Gespenst, das jemand schlampig mit menschlicher Haut überzogen hatte … aber er würde leben.

»Wäre ich ein abergläubischer Mensch, Erhabene«, sagte Istvan leise, »dann würde ich jetzt möglicherweise anfangen, an schwarze Magie zu glauben.«

Womit er sich in guter Gesellschaft befinden würde, dachte Pia. Zum Beispiel in ihrer. Sie starrte Lasar weiter fassungslos an und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, aber es gelang ihr nicht. Da war etwas wie die Erinnerung an eine schwarze Flamme, doch sie war nicht klar, kaum mehr als die Ahnung einer Erinnerung, und je angestrengter sie sie herbeizuzwingen versuchte, desto rascher schien sie zu verblassen.

Schritte wurden hinter ihnen laut, und ein Mann in der Uniform der Stadtgarde erschien unter der Tür und verlangte mit einem entsprechenden Blick nach Istvans Aufmerksamkeit. Er ging hin, wechselte ein paar Worte mit dem Soldaten und kam mit versteinertem Gesicht zurück.

»Wir müssen jetzt gehen, Erhabene«, sagte er. Täuschte sie sich oder hatte er das letzte Wort eine Spur anders betont als sonst? Wahrscheinlich täuschte sie sich.

Pia wandte sich noch einmal zu Lasar um und setzte dazu an, etwas zu sagen, und Istvan fügte hinzu: »Jetzt, Erhabene.«

Sie tauschte trotzdem noch einen langen Blick mit Lasar, lächelte ihm zu und folgte Istvan und dem Soldaten dann ins vordere Zimmer. Nach dem furchtbaren Geruch und der Dunkelheit nebenan kam ihr jeder Atemzug hier drinnen wie ein Labsal vor, aber die offen stehende Tür nach draußen war noch viel verlockender. Sie versuchte sie mit schnellen Schritten anzusteuern, doch Istvan schüttelte rasch den Kopf. »Noch eines, Erhabene.«

»Ja?«

»Wenn wir … wenn Ihr gleich mit Torman sprecht, dann wäre es vielleicht besser, ihm nichts von dem zu erzählen, was Ihr gerade getan habt.«

»Das dürfte mir nicht besonders schwerfallen«, antwortete Pia. Istvan blickte fragend, und sie zwang sich zu einem schiefen Grinsen. »Würdet Ihr mir glauben, wenn ich Euch sage, das ich selbst nicht weiß, was ich getan habe – oder ob ich überhaupt etwas getan habe?«

»Ja«, antwortete Istvan so schnell, als hätte er genau diese Antwort erwartet. »Aber das ändert nichts daran, dass Ihr etwas getan habt. Ich weiß nicht, was, aber es wäre vielleicht besser, wenn Torman …« Er suchte einen Moment nach den richtigen Worten, und Pia, die nichts mehr wollte, als endlich aus diesem stickigen Loch herauszukommen, kam ihm zu Hilfe: »Falsche Schlüsse aus etwas zieht, was er ebenso wenig versteht?«

Istvan nickte.

»Wer ist dieser Torman? Der Anführer meiner Eskorte?«

»Ja. Und er ist nicht unbedingt für seine Geduld bekannt. Es wäre besser, wenn wir ihn nicht warten lassen.«

Der Gedanke, noch ein bisschen herumzutrödeln, nur um auch ganz sicherzugehen, dass sie auch tatsächlich zu spät kamen und sie Istvan dabei zusehen konnte, wie er sich wand und drehte und nach irgendeiner glaubhaften Ausrede suchte, hatte etwas durchaus Verlockendes. Aber dann sah sie ein, wie unfair das wäre. Istvan hatte sich ein bisschen unfaire Behandlung redlich verdient … doch er hatte ihr gerade auch eine Stunde geschenkt, einfach so. Also gut. Sie verzichtete darauf, ihm ein paar glühende Stecknadeln unter die Fingernägel zu treiben, und machte sich in Gedanken eine Notiz, dass sie quitt waren. »Dann sollten wir uns beeilen«, sagte sie nur.

Nach einer Stunde, die sie in fast völliger Dunkelheit zugebracht hatte, machte sie das grelle Sonnenlicht fast blind. Aber die klare und sehr kalte Luft verscheuchte die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf, und spätestens der zweite Atemzug auch die faulige Luft aus ihren Lungen. Im ersten Moment konnte sie Istvan nur als Schemen erkennen, dessen Ränder sich im grellen Licht aufzulösen schienen, aber ihr fiel trotzdem auf, dass er zwar neben ihr ging, sein Begleiter aber zwei Schritte vorauseilte und es noch einen zweiten Soldaten gab, der offensichtlich vor der Tür gewartet hatte und ihnen jetzt im gleichen Abstand folgte. Beide Männer wirkten nervös und beide hatten die Hände auf die Griffe ihrer Waffen gelegt.

»Dieser Torman scheint Euch nicht unbedingt sympathisch zu sein, Kommandant«, sagte sie, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren. »Wie kommt das?«

»Haltet Ihr es für klug, solche Fragen zu stellen?«, fragte Istvan.

»Nein«, antwortete Pia. »Aber wenn ich klug wäre, dann wäre ich nicht hier.«

Istvan lachte, setzte zu einer Antwort an und blieb dann mitten in der Bewegung stehen. »Wie es aussieht, könnt Ihr ihm diese Frage gleich selbst stellen«, sagte er.

Pias Blick folgte dem Istvans, und sie war beinahe ein bisschen erstaunt über sich selbst, dass ihre einzige Reaktion aus einem überraschten Stirnrunzeln bestand.

Es war das erste Mal, dass sie Reiter innerhalb der Stadtmauern sah. Pferde hatte sie eine Menge gesehen, manche davon sogar gesattelt (auch wenn für die meisten die Bezeichnung Pony eher zutreffend gewesen wäre), aber auf keinem einzigen hatte ein Reiter gesessen. Diese hatten Reiter, und deren Anblick war sogar noch sehr viel ungewöhnlicher.

Im ersten Moment glaubte sie, ihre Augen würden ihr einen Streich spielen, weil sich die drei Reiter direkt aus Richtung der aufgehenden Sonne näherten. Sie waren riesig, nicht nur für hiesige Verhältnisse, und alles an ihnen war schwarz, wie Schatten, denen durch einen bösen Zauber die Körper abhanden gekommen waren. Sie rasten in scharfem Galopp heran, aber die hämmernden Pferdehufe erzeugten kaum einen Laut auf dem hart gefrorenen Boden, und irgendwie schienen sie auch nicht … deutlicher zu werden, als sie näher kamen, sondern Schatten zu bleiben.

»Ist das Torman?«, fragte sie.

Istvan nickte abgehackt. »Ja. Er ist selbst gekommen. Aber warum?«

Die drei Reiter sprengten weiter heran, ohne ihr Tempo auch nur im Mindesten zu verlangsamen, und wurden rasend schnell größer, aber immer noch nicht realer, als existierten sie nicht wirklich in dieser Welt, sondern in einer, die ein winziges Stückchen in Richtung der Schatten abgedriftet war.

»Mein Gott, was ist das?«, flüsterte Pia.

»Schattenelben«, murmelte Istvan. »Kronn steh uns bei!«

Pia hatte zwar nach all der Zeit, die sie hier verbracht hatte, nicht wirklich begriffen, wer dieser Kronn war … aber sie stimmte Istvan aus tiefstem Herzen zu.

Die drei Reiter sprengten in unverändertem Tempo heran, und gerade als Pia sich ernsthaft zu fragen begann, wie es sich wohl anfühlen mochte, von drei ausgewachsenen Schlachtrössern zu Tode getrampelt zu werden, rissen sie ihre Tiere zurück und brachten sie in einer nahezu unmöglichen (und noch viel unmöglicher: lautlosen) Bewegung zum Stehen. Die Schatten umflatterten sie wie ein Schwarm körperloser schwarzer Krähen und gerannen zu Körpern, aber die Krähen waren immer noch da und schlugen lautlos mit den Flügeln.

Und das, was darunter zum Vorschein kam, war beinahe noch unheimlicher.

Die drei Reiter waren nicht so groß, wie Pia im ersten Moment angenommen hatte. Sie waren deutlich größer; Riesen, von denen keiner weniger als zwei Meter maß, und die durch ihre spitzen Helme aus ziseliertem schwarzem Metall sogar noch viel größer wirkten. Alles an ihnen war schwarz – ihre Rüstungen, die Waffen, ihre bauschigen Blusen und die lose fallenden Hosen und glänzenden Stiefel und die langen Umhänge, die sie um die Schultern trugen und die sich selbst jetzt, nachdem sie angehalten hatten, noch wie von einem unsichtbaren Wind gebauscht bewegten.

Das Einzige, was nicht schwarz an ihnen war, waren ihre Gesichter. Sie waren ganz im Gegenteil fast schon unnatürlich hell, nahezu weiß, und sie ähnelten sich nicht nur, als wären diese drei Männer Brüder, sondern kamen Pia auch sonderbar bekannt vor; vielleicht nicht diese drei, aber Gesichter wie ihre hatte sie schon gesehen, eingemeißelt in den schwarzen Stein über dem Tor zum Turms des Hochkönigs, für alle Zeiten verewigt in zahllosen Reliefs und Bildern, und auch mindestens einmal in Fleisch und Blut. Schmale, edel geschnittene Gesichter mit aristokratischen Nasen, hoch angesetzten markanten Wangenknochen und dunklen Augen, in denen ein schwarzes Feuer brannte. Es waren Elben … aber nicht nur. Etwas war anders an ihnen, ohne dass Pia den Unterschied konkret hätte benennen können.

Wie hatte Istvan Torman und seine Begleiter genannt? Schattenelben?

Einer der drei – obwohl sie sich ähnelten wie Drillingsbrüder und weder Rangabzeichen noch irgendwelche andere Insignien trugen und auch vollkommen identisch gekleidet waren, wusste Pia einfach, dass es Torman war – sah einen Moment lang ausdruckslos auf Istvan und sie herab und stieg dann mit einer raschen, irgendwie spinnenhaft wirkenden Bewegung vom Pferd. Istvan sank auf ein Knie, wodurch er vor dem schwarzen Giganten nicht nur noch kleiner wirkte, sondern regelrecht zu verschwinden schien, und verbeugte sich so tief, dass seine Stirn den Boden berührte.

»Schwert Torman!«, sagte er in demütigem Ton. »Willkommen in WeißWald! Es ist mir eine Ehre …«

»Ist sie das?«, unterbrach ihn Torman und deutete mit einer Kopfbewegung auf Pia herab. Obwohl sie stand und Istvan normalerweise um mehr als eine Haupteslänge überragte, kam sie sich vor dem schwarz gekleideten Riesen selbst wie eine Zwergin vor. Wäre sie eine solche gewesen, hätte sein Anblick sie vielleicht sogar eingeschüchtert. So machte er sie nur wütend.

»Wenn Ihr etwas über mich wissen wollt, Torman, warum fragt Ihr mich dann nicht selbst? Ich kann durchaus reden.«

Istvan sog so entsetzt die Luft ein, dass es fast wie ein Schrei klang, aber der Schattenelb wurde weder zornig, noch reagierte er in irgendeiner anderen Weise. Er blickte sie nur einen weiteren Atemzug lang aus seinen von kaltem schwarzem Feuer erfüllten Augen an und wandte sich dann wieder an Istvan.

»Steht auf, Kommandant«, sagte er. »Was tut Ihr hier? Ich hatte Euch in Eurer Kommandantur erwartet.«

Istvan stand nicht auf, hob aber wenigstens den Kopf und sah in Tormans Gesicht hinauf. »Bitte verzeiht, edles Schwert!«, sagte er. »Ich hatte Euch noch nicht erwartet! Man sagte mir, Euer Heer wäre noch zwei Stunden entfernt, und …«

»Ich bin vorausgeritten«, unterbrach ihn Torman. »Etwas ist in Eurer Stadt geschehen, Istvan. Ich habe das Wirken starker Magie gespürt. Etwas geht hier vor, das mich beunruhigt.«

Istvan antwortete nicht direkt, aber er hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, um einen raschen, sehr erschrockenen Blick in Pias Richtung zu unterdrücken. Torman hätte schon blind sein müssen, um es nicht zu sehen.

Prompt verlagerte sich seine Aufmerksamkeit auf sie. »Ihr seid Gaylen?«, fragte er. Schon wieder eine?, fügte sein Blick hinzu.

»Der eine oder andere hier nennt mich so«, antwortete sie spröde.

Torman wandte sich wieder an den Stadtkommandanten. »Was tut sie hier? Ich hatte befohlen, dass sie mir in Eurer Kommandantur überstellt wird.«

Istvan wollte antworten, aber Pia kam ihm zuvor. »Falls Ihr mich gerade nicht richtig verstanden habt, Torman: Ich kann durchaus für mich selbst reden. Ich habe einen Freund besucht, um mich von ihm zu verabschieden. Und Ihr«, fügte sie an Istvan gewandt und in deutlich schärferem Ton fort, »steht endlich auf, bevor am Ende noch jemand auf Euch drauftritt!«

Sie wartete, bis Istvan aufgestanden war, und fuhr dann zu dem schwarz gekleideten Riesen herum. »Und Ihr, Torman …«

»Mein Rang ist der eines Schwertes«, fiel ihr Torman ins Wort, »und Ihr werdet mich damit anreden. Ihr habt einen Freund besucht? Hier in der Stadt?« Er sah an ihr vorbei, nicht nur in die ungefähre Richtung, aus der Istvan und sie gekommen waren, sondern direkt auf Vargas Haus, und für einen Moment wurden seine Augen schmal. »Warum?«

»Um mich von ihm zu verabschieden«, antwortete sie. »Und ich wüsste auch nicht, was Euch das angeht, Schwert!« Was war das überhaupt für eine seltsame Bezeichnung? Wenn die militärischen Ränge hier nach Waffen benannt wurden, was war dann Istvan? Zahnstocher?

Torman ging nicht darauf ein und lächelte auch nicht. »Etwas ist hier geschehen«, sagte er, wieder am Istvan gewandt, und viel mehr eigentlich an sich selbst. »Jemand hat einen Zauber gewoben. Ihr wisst nichts darüber?«

»WeißWald ist frei von Zauberei, Herr!«, beteuerte Istvan. »Wenn es hier Zauberei oder gar eine Hexe gäbe, dann hätten wir sie längst …«

»Und ich spüre noch mehr«, fuhr Torman ungerührt fort. »Ich weiß nicht, was es ist und was es bedeutet, aber es beunruhigt mich. Etwas geschieht und es ist nicht gut.«

»Ich werde sofort Patrouillen losschicken und die Wachen auf den Mauern verdoppeln!«, sagte Istvan eilfertig.

Torman hörte nicht einmal hin. Er wandte sich wieder an Pia. »Könnt Ihr reiten, Gaylen?«

»Nein«, antwortete Pia. »Aber ich lerne schnell.«

»Das solltet Ihr auch«, sagte Torman. »Vor dem Stadttor steht ein Pferd für Euch bereit, und sobald wir zu meinen Männern gestoßen sind, wartet ein Wagen auf Euch, in dem Ihr bequemer reisen könnt. Doch bis dorthin werdet Ihr reiten müssen, fürchte ich.«

»Schwert?«, fragte Istvan verwirrt. Torman bedachte ihn dieses Mal immerhin mit einem – mitleidigen – Blick. »Aber ich dachte, dass Ihr …«, stammelte Istvan. »Ich meine, Eure Krieger müssen zu Tode erschöpft sein. Eure Tiere brauchen Futter und Wasser, und …«

»Wir brechen sofort auf«, unterbrach ihn der Schattenelb. »Ich spüre die Gefahr, die über dieser Stadt liegt. Und Ihr solltet sie auch spüren. Und wenn nicht, dann solltet Ihr wenigstens auf mich hören und Euch und Eure Männer auf Schlimmes vorbereiten. Etwas Böses nähert sich Eurer Stadt … wenn es nicht schon hier ist. Seid auf der Hut.«

»Aber …«, stammelte Istvan, doch Torman drehte sich demonstrativ zu Pia herum und machte eine auffordernde Handbewegung. »Könnt Ihr laufen oder soll ich das Pferd hierherbringen lassen?«

»Eigentlich müsste ich noch ein paar Sachen packen«, antwortete Pia. »Das kommt jetzt doch ein bisschen überraschend, Schwert. Ihr wisst ja, wie wir Frauen sind. Wir gehen nie ohne das Nötigste aus dem Haus. Ein bisschen Schminkkram, unser Handtäschchen, den einen oder anderen Schrankkoffer voller Kleider und …«

Torman legte ihr kurzerhand beide Hände um die Hüften, hob sie ohne die geringste Mühe hoch und setzte sie in den Sattel seines schwarzen Schlachtrosses.

»He!«, protestierte Pia. Sogar jetzt, da sie auf dem Pferd saß, hatte es immer noch etwas von einem Schatten; ein Schatten, der etliche Zentner wog und die Kraft eines Elefantenbullen haben musste, trotzdem aber auf fast unheimliche Weise zugleich substanzlos wirkte. Und was vielleicht noch viel schlimmer war: Tief in sich spürte Pia, dass diese verwirrende Gefühl nicht nur vollkommen richtig war, sondern sie eigentlich auch ganz genau wusste, was es bedeutete.

»Aber Herr!«, stammelte Istvan. »Geehrtes Schwert! Ich bitte Euch! Ich hatte gehofft, dass Ihr mir die Ehre erweist, mit mir zu speisen und …«

»Ich erwarte einen ausführlichen Bericht von Euch, Istvan«, sagte Torman, während er bereits nach dem Zaumzeug seines Pferdes griff. »Wenn Ihr des Schreibens mächtig seid, dann verfasst ihn noch heute und in aller Ausführlichkeit, und wenn nicht, dann sucht Euch jemanden, der es für Euch tut. Wir machen uns sofort auf den Rückweg, aber ein schneller Reiter dürfte uns ohne Mühe bis morgen Abend einholen.«

Pia griff hastig nach den Zügeln, als sich das Pferd in Bewegung setzte, sah beinahe sofort ein, dass das keine besonders gute Idee war, und grub stattdessen die Finger in die schwarze Mähne des Tieres. Gleichzeitig versuchte sie die Schenkel zusammenzupressen, um sich irgendwie im Sattel festzuhalten, aber dafür war das Tier einfach zu massig. Sie hatte die Wahrheit gesagt, als sie behauptet hatte, noch niemals auf einem Pferd gesessen zu haben, aber vermutlich hatte noch niemand in ihrer Welt auf einem solchen Pferd gesessen. Das Tier war riesig.

»Dann begleite ich Euch wenigstens noch bis zum Tor«, sagte Istvan hastig. »Könntet Ihr … ich meine … würdet Ihr mir die Gnade erweisen, mir zu erklären, was Ihr mit Euren Worten gemeint habt? Von welcher Gefahr habt Ihr gesprochen? Müssen wir uns auf einen Angriff vorbereiten? Von wem? Den Barbaren?«

»Wäre mir die Natur dieser Gefahr bekannt, Istvan, so hätte ich bereits entsprechende Maßnahmen ergriffen.« Torman ging los. Irgendwie war es seinen beiden Begleitern gelungen, ihre Tiere herumzudrehen, ohne dass Pia auch nur eine Art von Bewegung registriert hätte, und auch sie setzten sich im gleichen Moment in Bewegung. Anders als vorhin, als sie nahezu lautlos herangaloppiert waren, erzeugten die Hufe ihrer Pferde jetzt lang anhaltende, klackende Echos auf dem Boden, die von den Häusern beiderseits der Straße vielfach verzerrt zurückgeworfen wurden. Ihr eigenes Pferd bewegte sich so sanft, dass Pia kaum etwas spürte; trotzdem krallte sie die Finger weiter mit aller Kraft in die Mähne des Tieres und presste auch die Schenkel weiter mit solcher Gewalt zusammen, dass sie in spätestens fünf Minuten einen Krampf bekommen würde.

Istvan eilte nervös neben ihnen her, wobei er jedes Mal drei Schritte machen musste, wenn Torman einen tat. »Lauf los, Dummkopf!«, fuhr er einen der beiden Gardisten an, die sie begleiteten. »Die Wachen auf den Mauern werden verdoppelt. Und sie sollen eine Eskorte schicken, die das ehrbare Schwert und seine Begleiter zum Tor begleiten!«

Torman sagte nichts, aber Pia meinte zum ersten Mal eine Reaktion auf seinem schmalen Gesicht zu erkennen; etwas wie ein ganz sachtes abfälliges Verziehen der Lippen. Seine Hand schloss sich ein wenig fester um das mit schwarzem Metall beschlagene Zaumzeug des gewaltigen Schlachtrosses, und das Tier schnaubte leise. Irgendwie klang der Laut amüsiert, dachte Pia, obwohl eine solche Regung bei einem Tier wie diesem absolut unpassend schien.

Ihr selbst war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Sie war … verstört. Einem Teil von ihr war vollkommen klar, dass sie die Stadt innerhalb der nächsten Minuten verlassen und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nie mehr wiedersehen würde. Alles war so schnell gegangen, dass sie sich wie überfahren fühlte. Wahrscheinlich würde sie erst wirklich verstehen, was mit ihr geschah, wenn sie schon lange unterwegs zur Hauptstadt war.

Auf dem gesamten Weg zum Stadttor begegnete ihnen kein Mensch. Die Stadt wirkte wie ausgestorben, aber Pia hatte das Gefühl, dass es diesmal nicht an ihr lag oder daran, dass Istvan seinen Männern Befehl gegeben hatte, die Straßen zu räumen. Es waren die drei lebenden Schatten in ihrer Begleitung, vor denen die Menschen sich fürchteten. Ewas wie eine Aura unsichtbarer Kälte umgab sie und ihre Tiere, ein Mantel aus lautlos flüsternden Schatten, der etwas in ihrer Seele berührte und zum Erschauern brachte. Eigentlich sollte es auch ihr Angst machen, überlegte sie, aber seltsamerweise tat es das nicht.

Sie bogen abermals ab, und am Ende der langen Straße, die nun vor ihnen lag, erhob sich die Stadtmauer und der gedrungene Torturm. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Pia erkennen, dass das innere Tor geschlossen war. Zahlreiche Soldaten hatten auf dem Zinnengang darüber Aufstellung genommen und sahen ihnen entgegen, und direkt vor dem Tor wartete ein halbes Dutzend weiterer Reiter auf sie, auch sie sehr groß und vollkommen in Schwarz gekleidet, aber Menschen, keine Schattenkreaturen.

Es war erst dieser Anblick, der ihr wirklich klarmachte, dass sie die Stadt nun tatsächlich verlassen würden, und das unwiderruflich. Endgültig und für immer. Sie würde nicht nur WeißWald und Lasar und Brack und alle anderen hier nicht mehr wiedersehen, sondern auch …

»Istvan?«

Der Stadtkommandant stolperte vor lauter Hast beinahe über seine eigenen Füße, während er sich im Gehen herumzudrehen und zu ihr hinaufzusehen versuchte. »Erhabene?«

»Darf ich Euch noch um einen letzten Gefallen bitten, Istvan?«, fragte Pia.

»Wenn es in meiner Macht steht.«

Torman machte eine Bewegung, wie um den Kopf zu drehen und sie anzusehen, beließ es dann aber bei einem angedeuteten Blick aus den Augenwinkeln. Sein Gesicht blieb so ungerührt, wie es die ganze Zeit über gewesen war, aber Pia hatte trotzdem das Gefühl, dass es ihm nicht gefiel, sie mit Istvan reden zu sehen.

»Könnt Ihr weiter versuchen, etwas über Alica herauszufinden?«, bat sie. »Ich will nicht, dass Ihr Euch oder Eure Leute in Gefahr bringt, aber vielleicht kommt Euch ja irgendetwas zu Ohren.«

Istvan nickte zwar, machte aber trotzdem ein betrübtes Gesicht. »Ich werde tun, was mir möglich ist, Erhabene«, versprach er. »Aber Ihr solltet Euch nicht zu viele Hoffnungen machen. Meine Männer haben den ganzen Bereich abgesucht, ohne eine Spur von ihr zu finden.«

»Aber sie haben auch ihre Leiche nicht gefunden.«

»Nein«, räumte Istvan ein. »Aber ich weiß nicht, ob Ihr Euch wünschen solltet, dass sie noch lebt. Wenn die Barbaren sie mitgenommen haben …« Er ließ den Satz absichtlich unbeendet und unheilschwanger in der Luft hängen, doch Pia reagierte nur mit einem Kopfschütteln.

»Glaubt mir, Istvan, wenn die Barbaren Alica tatsächlich gefangen genommen haben, dann solltet Ihr Euch vielleicht lieber Sorgen um siemachen.«

Istvan lächelte, doch es wirkte eher pflichtschuldig als überzeugt, und natürlich war Pia auch klar, dass sie Blödsinn redete. Alica war ganz zweifellos in der Lage, sich ihrer Haut zu wehren, wie der eine oder andere Bewohner WeißWalds am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, aber die Kerle, die sie dort draußen im Wald überfallen hatten, waren ein ganz anderes Kaliber.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Torman im nächsten Moment: »Vielleicht solltet Ihr Eurer Freundin nicht wünschen, noch am Leben zu sein, Gaylen.« Er drehte nun doch den Kopf und sah sie aus seinen sonderbaren Augen an, wozu er nicht einmal den Kopf in den Nacken legen musste: Obwohl sie im Sattel saß und er neben ihr ging, befanden sich ihre Gesichter nahezu auf gleicher Höhe. Er war wirklich groß. »Die Barbaren sind für ihre Grausamkeit bekannt.«

»Alica kann schon auf sich aufpassen«, antwortete sie trotzig. Torman sagte nichts mehr dazu, aber sein Blick ließ sie auch nicht los, sondern löste sich nur von ihrem Gesicht und tastete ganz unverhohlen über ihre Gestalt, und Pia hatte das unangenehme Gefühl, weder der schwere Mantel noch das Kleid, das sie darunter trug, stellten ein nennenswertes Hindernis für ihn dar. Dass ihr die Art, auf die er sie anstarrte, nicht verborgen blieb, konnte ihm keineswegs entgehen, aber es schien ihn nicht zu interessieren. Er betrachtete sie aufmerksam weiter, dann erlosch sein Interesse so schnell, wie es gekommen war. Gewogen und zu leicht befunden, dachte Pia. Aber was hatte sie erwartet? Im Vergleich zu ihm und seinen beiden hünenhaften Begleitern war sie nicht mehr als ein Kind, und das wahrscheinlich nicht nur in körperlicher Hinsicht. Plötzlich glaubte sie zum ersten Mal wirklich zu verstehen, wie sich die Menschen in dieser Stadt fühlen mochten, wenn sie Alica und ihr gegenüberstanden.

Es ärgerte sie trotzdem.

»Beantwortet Ihr mir eine Frage, Schwert?«

»Das kommt auf die Frage an«, sagte Torman. Pia schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Immerhin sprach er mit ihr, und das war schon beinahe mehr, als sie vor ein paar Minuten noch zu hoffen gewagt hätte.

»Glaubt Ihr, dass ich die echte Prinzessin Gaylen bin?«

»Nein«, antwortete Torman. »Ich glaube es nicht. Ich weiß es.«

Pia war nicht einmal wirklich überrascht. »Wenn das so ist«, fragte sie, »warum erstarrt Ihr dann nicht vor Ehrfurcht und kriecht vor mir im Staub, statt mich wie eine Gefangene zu behandeln?«

»Warum sollte ich das tun?«, erwiderte Torman gelassen und ohne sie dabei anzusehen. »Was wir verehren, ist in Euch. Das Blut des alten Geschlechts, das in Euren Adern fließt. Nicht Ihr. Ihr seid nur ein Mensch, der mit Dingen spielt, die er nicht versteht. Es war Eure Magie, deren Wirken ich gespürt habe, habe ich recht? Was habt Ihr getan?«

»Ich glaube nicht, dass ich Euch das verraten möchte«, antwortete Pia.

Istvan, der nach wie vor neben ihrem Pferd herstolperte, riss die Augen auf und sah regelrecht entsetzt aus, aber Torman deutete nur ein Achselzucken an. Seine schwarze Rüstung klirrte leise.

»Ganz, wie Ihr meint«, sagte er. »Doch was immer es war, Ihr solltet es nicht wiederholen, solange wir draußen in der Wildnis sind.«

»Warum?«

»Weil es gefährlich ist«, antwortete Torman. »Magie ist kein Spielzeug, sondern eine mächtige Waffe, die in den falschen Händen ungeheuren Schaden anrichten kann. Und sie bleibt nicht unbemerkt. Ich habe sie gespürt, und andere könnten sie auch spüren. Sie könnte … Dinge anlocken.«

»Dinge?«

Torman wiederholte nur sein angedeutetes Schulterzucken. Vermutlich war diese Erklärung für seine Begriffe Antwort genug gewesen, und wenn es in seiner Absicht gelegen hatte, sie damit zu verunsichern, dann hatte er sein Ziel erreicht. Dinge? Was zum Teufel meinte er mit Dinge?

Sie betraten den freien Platz vor dem Torturm, und Pia sah, dass Istvans Soldaten seinen Befehl zumindest zum Teil bereits ausgeführt hatten: Auf dem Wehrgang waren noch weitere Männer erschienen, bei denen es sich um ausgesucht große und kräftige Soldaten zu handeln schien (wahrscheinlich, um Torman zu beeindrucken, dachte sie abfällig), und ein gutes Dutzend Gardisten war auf dem Platz zusammengelaufen und behinderte sich gegenseitig nach Kräften dabei, so etwas wie ein unordentliches Spalier zu bilden. Sie warf einen raschen Blick in Tormans Gesicht und stellte fest, dass er sichtliche Mühe hatte, nicht zu abfällig die Lippen zu verziehen.

Ein krächzender Schrei erklang. Torman blieb mitten im Schritt stehen und warf den Kopf in den Nacken, und zum allerersten Mal erschien so etwas wie ein echtes Gefühl auf seinem Gesicht: ein Ausdruck von abgrundtiefem Erschrecken. Pia sah ebenfalls auf, und nach dem, was sie gerade im Blick des Schattenelben gesehen hatte, wäre sie wahrscheinlich nicht einmal überrascht gewesen, einen ausgewachsenen Drachen oder irgendein anderes, noch fantastischeres Ungeheuer zu erblicken.

Alles, was sie sah, war ein schwarzer Rabe, der mit ausgebreiteten Flügeln reglos über dem Platz schwebte.

Das Krächzen wiederholte sich, und ein schattenhafter Schemen jagte zu dem Raben hoch, spießte ihn auf und schmetterte ihn aus der Luft. Noch bevor er mit wild schlagenden Flügeln auf dem Boden aufschlug, ertönte ein gellender Schrei, und einer von Istvans Soldaten kippte rücklings von der Mauer und stürzte auf den hart gefrorenen Boden. Unter den anderen Kriegern schien aus irgendeinem unbegreiflichen Grund ein wildes Handgemenge auszubrechen. Alles geschah gleichzeitig und rasend schnell. Torman schrie irgendetwas, das sie nicht verstand, und tat irgendetwas noch viel Unbegreiflicheres, woraufhin sich Pia plötzlich wieder auf ihren Füßen stehend und auf dem Boden wiederfand, während er im Sattel seines gewaltigen Schlachtrosses saß (und das alles, ohne dass sie auch nur eine Bewegung gespürt hätte!), und Pia erkannte, dass sie sich getäuscht hatte. Bei den zusätzlichen Männern, die auf dem Wehrgang erschienen waren, handelte es sich nicht um weitere Soldaten, sondern um große, bärtige Gestalten mit langem Haar und schweren Fellmänteln, und sie waren nicht gekommen, um Istvans Truppen zu verstärken, sondern machten sie erbarmungslos mit Äxten, Keulen, primitiven Schwertern und sogar bloßen Händen nieder.

Dann flog das riesige Tor wie vom Hieb einer gewaltigen unsichtbaren Faust getroffen in Stücke, und die Heerscharen der Hölle brachen hervor.

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