XXIV

Der Markt hatte sich verändert wie jedes Mal, wenn Alica und sie hier gewesen waren. Abgesehen von ihrem Besuch am zweiten Morgen, an dem sie möglicherweise einfach zu früh gekommen waren, als dass die Gilde der Händler und Marktschreier mit ihrem allmorgendlichen Spielchen hätte beginnen können, hatten sie nie auch nur einen einzigen Stand jemals am gleichen Platz wie am Tag zuvor wiedergefunden. Stattdessen wechselten diese täglich einem komplizierten System folgend ihre Position, sodass jeder Marktbesuch zu einem neuen Abenteuer wurde, das in gleichem Maße an Pias Nerven zehrte, wie es Alica zu freuen schien. Heute jedoch war diese Veränderung weitaus radikaler. Der Markt, wie sie ihn kannten, war verschwunden. Von den zahllosen Ständen war keine Spur mehr zu sehen.

Auf dem großen Platz unter der Stadtmauer war eine für hiesige Verhältnisse vollkommen ungewohnte Aktivität ausgebrochen. Überall wurde gewerkelt und gearbeitet, gesägt und gehämmert. Männer und Frauen eilten hektisch und zumindest auf den ersten Blick vollkommen ziel- und sinnlos durcheinander, riefen sich Kommandos und Scherzworte zu, brüllten Befehle oder lachten, soweit sie sich nicht in einem Dutzend unterschiedlicher Dialekte gegenseitig verwünschten. Wo bisher ein Labyrinth aus Zelten, Verkaufsständen und bunten Buden gestanden hatte, deren Besitzer sich gegenseitig in dem Bemühen zu überbrüllen versuchten, jedem, der es hören wollte, ihre Waren anzupreisen (und ebenso jedem, der es nicht wollte), da entstand nun ein kaum weniger verwirrendes Durcheinander aus Koppeln und Gattern, die rasch und mit erstaunlicher Präzision aus offenbar vorgefertigten Teilen aufgestellt wurden. Unmengen von Stroh und Heu warteten auf hoffnungslos überladenen Karren darauf, in diesen improvisierten Gattern verteilt zu werden, und auch die ersten Tiere waren schon da: sonderbar kleinwüchsige Rinder mit dafür umso größeren Hörnern und dickem Fell, durch deren Nasen schwere eiserne Ringe gezogen waren. Verbunden waren sie untereinander mit massiven Ketten, was angesichts ihres kleinen Wuchses und ihres freundlichen Aussehens einigermaßen übertrieben wirkte. Aber die Männer, die sie trieben, waren mit wuchtigen Eisenstangen ausgerüstet, an denen spitze Dornen befestigt waren, und Pia entging auch nicht der unübersehbare Respekt, mit denen die Männer die Tiere behandelten. Ein friedliches Aussehen allein bedeutete anscheinend gar nichts.

»Herzlichen Glückwunsch«, spöttelte Alica, nachdem sie eine ganze Weile nebeneinandergestanden und das Chaos angestarrt hatten. »Und wie willst du jetzt diesen Türütütüt finden?«

»Ter Lion«, verbesserte Pia sie. Gleichzeitig warf sie Alica einen warnenden Blick zu. Ihre beiden schweigsamen Schatten folgten ihnen zwar in guten zehn oder zwölf Schritt Abstand und sahen so müde aus, dass Pia sich schon ein paarmal im Stillen gefragt hatte, wie es ihnen eigentlich gelang, sich noch auf den Beinen zu halten, trotzdem war es besser, wenn sie vorsichtig waren. Sie hatte keine Ahnung, wie scharf das Gehör der Leute hier war. Oder über welche Sinne sie sonst noch verfügten.

»Aber jetzt mal im Ernst: Hast du eine Idee, wie wir ihn hier finden sollen?«

»Fragen?«, schlug Pia vor.

»Einfach so?« Alica machte ein noch zweifelnderes Gesicht.

»Ja, eine wirklich hervorragende Idee. Wir gehen los und fragen den Erstbesten, ob er jemanden kennt, der der wiedergeborenen Elfenprinzessin dabei hilft, unbemerkt aus der Stadt zu verschwinden. Wie toll.«

»Ist ja schon gut«, maulte Pia. Auch wenn sie es ungern zugab: Alica hatte recht. Der Markt war offiziell noch nicht einmal eröffnet, aber der Platz wimmelte jetzt schon von Menschen. Gut, Valoren hatte gesagt, dass sie einen Mann suchen sollten, der eine Karawane Rinder in die Stadt brachte. Das schränkte die Auswahl immerhin ein. Auf vielleicht achtzig oder hundert Leute …

Ohne viel Hoffnung sah sie sich noch einmal um und bedeutete Alica, ihr zu folgen. Alica machte ein noch missmutigeres Gesicht, aber sie folgte ihr immerhin kommentarlos.

Eigentlich hätte sie sich längst daran gewöhnen müssen, auf Schritt und Tritt angestarrt zu werden, und in gewissem Umfang war das auch schon geschehen. Trotzdem war das Gefühl nun wieder da, und das beinahe stärker als jemals zuvor. Vielleicht lag es daran, dass man Alica und sie hier in WeißWald mittlerweile kannte. Sie erregten immer noch ein gewisses Maß an Aufsehen, und oft genug wurde hinter ihrem Rücken getuschelt. Jetzt aber wurden sie wieder ganz unverhohlen angestarrt, dabei hatten Alica und sie ganz bewusst nicht die aufreizenden Kleider angezogen, die Aressa für sie geschneidert hatte, sondern trugen die hier üblichen modischen Säcke. Außerdem hatte Pia ihre Haare nicht nur sorgfältig unter einem mausgrauen Kopftuch verborgen, sondern auch die Kapuze ihres Umhanges hochgeschlagen, obwohl es für hiesige Begriffe nicht einmal besonders kalt war. Vielleicht lag es weniger an Alica und ihr, überlegte sie, sondern mehr an ihren beiden Wachhunden. Die Männer gaben sich weder irgendeine Mühe, unauffällig zu sein, noch stellte ihr Anblick hier eine Besonderheit dar. Pia sah auf Anhieb mindestens ein Dutzend weiterer Soldaten, die in den üblichen Zweiergruppen über den Platz schlenderten, mit misstrauischen Blicken die Vorbereitungen beäugten oder dann und wann einmal stehen blieben, um auf irgendetwas hinzuweisen, das ihrer Meinung nach nicht seine Ordnung hatte (oder auch gegen ein entsprechendes Bakschisch darüber hinwegzusehen, vermutete sie), doch die beiden Soldaten hinter ihnen machten keinen Hehl daraus, dass sie das emsige Treiben ringsum nicht interessierte, sondern sie aus keinem anderen Grund hier waren, als sie zu bewachen – oder auf sie aufzupassen. Den genauen Unterschied hatte sie bis jetzt nicht begriffen.

So oder so, wo immer sie vorbeikamen, unterbrachen die Männer und Frauen ihre Gespräche und starrten sie an. Und längst nicht alle Blicke, die ihnen folgten, waren angenehm …Sie fielen auf wie die berühmten bunten Hunde. Ihre Aussichten, hier einen bestimmten Mann zu finden – und noch dazu Kontakt mit ihm aufzunehmen, ohne dass ihre beiden Wachhunde es merkten und Istvan sofort Bericht erstatteten, standen nahe bei null. Und das war noch optimistisch ausgedrückt.

»Frag nach den Rindern«, sagte Alica.

Pia sah sie verwundert an.

»Valoren hat doch gesagt, dass er Rinder in die Stadt bringt.«

»Danke, so schlau war ich auch schon«, antwortete Pia. »Und dann?«

»Es ist immerhin ein Anfang, oder? Wir können natürlich auch ein Plakat in die Höhe halten, auf das wir seinen Namen schreiben«, fügte Alica spöttisch hinzu. »Oder hast du eine bessere Idee?«

Nein, gestand Pia in Gedanken. Aber sie hatte zumindest eine schlechtere gehabt, nämlich die, einfach so hierherzukommen, ohne auch nur die Ahnung eines Planes zu haben …

Ein helles Krächzen riss sie aus ihren Gedanken. Pia legte den Kopf in den Nacken und presste die Augen zusammen, um in das grelle Licht der Morgensonne zu blinzeln. Hoch über ihnen kreiste ein schwarzer Umriss der Luft, vielleicht irgendein Vogel, den die ungewohnte Bewegung angelockt hatte und der nun überlegte, ob es in dem brodelnden Durcheinander dort unten irgendetwas für ihn zu holen gab, vielleicht auch einer von den verdammten Spionen, wie Brack sie genannt hatte. Damals hatte sie insgeheim über seine Geschichte gelacht – aber spätestens seit gestern Abend sah sie alles, was mit dem legendären Elfenkönig zu tun hatte, mit etwas anderen Augen …

»Eiranns Raben?«, fragte Alica.

Pia hob nur die Schultern. Es kostete sie einige Mühe, ihren Blick von dem schwarzen Schemen am Himmel loszureißen, und sie wollte ganz bestimmt nicht wissen, ob er seine Position oben am Himmel hielt oder tiefer kam. Eigentlich wollte sie gar nicht hier sein, und warum zum Teufel sprach sie das eigentlich nicht aus?

»Lass uns wieder verschwinden«, sagte sie. »Es war eine Schnapsidee.«

»Wie die allermeisten, die du bisher gehabt hast«, bestätigte Alica ungerührt. »Aber nun sind wir einmal hier, oder? Also, setz dein hübschestes Lächeln auf und frag nach diesem Ter Lion. Ich würde es ja selbst tun, wenn ich es könnte.«

»Hm«, machte Pia. Sie zögerte noch einen Moment – die Idee gefiel ihr immer weniger, je länger sie darüber nachdachte –, aber ihr fiel auch kein Argument ein, das schlagkräftig genug gewesen wäre, um Alica umzustimmen. Widerwillig hob sie die Schultern und ging weiter, wobei sie die schon fertig aufgestellte Koppel mit den putzigen Rindern ansteuerte – die ihr im Übrigen immer weniger putzig erschienen, je näher sie ihnen kamen. Die Tiere waren kaum größer als kräftige Kälber und hatten ein wuscheliges Fell, das wahrscheinlich notwendig war, um in einer Gegend wie dieser zu überleben, aber sie waren auch ungemein massig gebaut, und Pia konnte regelrecht spüren, wie stark sie sein mussten. Ihre Hörner sahen ganz und gar nicht so aus, als hätten sie sie nur zur Dekoration. Außerdem hatten sie gemeine Gesichter.

Aber das traf auch auf die Männer zu, die die Tiere in die bereits fertig aufgebaute Koppel trieben … zumindest auf den, den Pia ansteuerte und mit einer Handbewegung zu sich heranwinkte.

Wie nahezu jeder hier war er einen guten Kopf kleiner als sie, aber von kräftigem Wuchs, und dass er den Kopf in den Nacken legen musste, um ihr ins Gesicht zu sehen, nötigte ihm allerhöchstens ein gewisses Maß an Erstaunen ab, aber nicht einmal eine Spur von Respekt oder gar Furcht wie bei so vielen hier.

»Ich suche Ter Lion«, begann sie übergangslos. »Weißt du, wo ich ihn finde?«

»Und was willst du von ihm?«, erwiderte der Mann. Zu dem Staunen in seinem Blick gesellte sich nun auch noch Misstrauen, und zwar deutlich mehr als nur eine Spur.

»Wir kaufen für den Weißen Eber ein«, improvisierte Pia. »Man hat uns gesagt, er hätte gutes Vieh.«

»Ja, das war clever«, sagte Alica.

»Das haben alle hier«, antwortete der Mann. »Wenn ihr Fleisch sucht, kann ich es euch auch verkaufen. Und ich bin billiger.«

Ja, das glaube ich dir sofort, dachte Pia. Laut und mit einem angedeuteten verlegenen Lächeln fuhr sie fort: »Unser Herr hat uns aufgetragen, nur bei Ter Lion zu kaufen. Leider weiß ich nicht, wie er aussieht. Kannst du mir helfen?«

Der Bursche überlegte einen Moment und maß Alica und sie dabei mit unangenehmen Blicken. Dann zuckte er mit den Achseln. »Das könnte ich, aber er ist noch nicht hier.«

»Und du weißt nicht, wann er kommt und wie ich ihn erkenne?«

»Später«, antwortete der Mann. »Und such einfach nach dem hässlichsten Kerl, den du auf dem ganzen Markt findest, dann kannst du ihn gar nicht verfehlen.« Sein Blick löste sich für einen Moment von Pia und irrte zu einem Punkt irgendwo hinter ihr, wahrscheinlich den beiden Wachen. »Aber er wird kaum vor Mitternacht ankommen, seine Karawane ist nicht besonders schnell. Du hast seltsame Freunde, Mädchen.«

Pia drehte sich halb herum und sah, dass die beiden Gardisten näher gekommen waren und in kaum drei Schritt Abstand dastanden. Sie mussten schon taub sein, um nicht zu hören, was sie sagten. Außerdem gaben sie sich große Mühe, möglichst grimmig auszusehen; was ihnen mit ihren dunkel umrandeten Augen und grauen Gesichtern nicht besonders schwerfiel …

»Wieso?«, fragte sie.

Der Mann hob nur abermals die Schultern, versetzte dem Zwergenrind vor sich einen derben Schlag mit seiner angespitzten Eisenstange (Pia hätte er vermutlich jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen, aber das Tier reagierte nur mit einem leicht vorwurfsvollen Blick und setzte sich gemächlich in Bewegung) und ging. Pia sah ihm verwirrt nach. Die beiden Wachen hatten kein einziges Wort gesagt, und so eingeschnappt konnte der Bursche doch wohl nicht sein, nur weil sie ihn nach einem Konkurrenten gefragt hatte, oder?

Sie schüttelte den Gedanken ab. Offensichtlich erfreute sich die Stadtwache auch bei Besuchern aus anderen Städten nicht gerade großer Beliebtheit. »Lass uns gehen«, sagte sie, während sie sich zu Alica herumdrehte. »Das hat keinen Sinn. Du hast es ja gehört.«

»Ja«, antwortete Alica säuerlich. Sie rührte sich nicht. »Gehört schon, nur nicht verstanden.«

Pia seufzte. »Er ist noch nicht hier«, sagte sie. »Wir sollen gegen Mitternacht wiederkommen oder später.«

»Du meinst, weil unser Freund Istvan in spätestens einer Stunde weiß, nach wem wir gesucht haben?«, fragte Alica und machte eine verstohlene Augenbewegung in Richtung der beiden Soldaten.

Pia zuckte übertrieben trotzig mit den Schultern. »Ich kann nichts dafür, dass Brack sein Fleisch nur bei diesem einen Händler kauft«, antwortete sie.

»Clever«, lobte Alica. »Aber nicht clever genug. Darauf fallen sie bestimmt nicht rein. Warum fragst du den Typen nicht, wo wir diesen Terdingsbums finden? Wir könnten ihm entgegengehen.«

»Und das ist eine noch schlechtere Idee«, seufzte Pia. »Aber bevor du fragst: Ich habe auch keine bessere.«

»Jede Idee wäre besser gewesen als die, hierherzukommen«, raunte eine Stimme neben ihr.

Pia hob den Kopf, sah niemanden und musste sich zusammenreißen, um nicht zu verwirrt auszusehen. Sie waren allein, jedenfalls im Umkreis von acht oder zehn Schritten – abgesehen von den Wachen war die ihnen am nächsten stehende Person ein uralter Mann in heruntergekommenen Kleidern, der ein schmales, von zu vielen Jahren zu harter Arbeit und zu großen Entbehrungen gezeichnetes Gesicht und schulterlanges, strähniges Haar hatte. Er war mit irgendetwas beschäftigt, das Pia nicht genau erkennen konnte, sah aber immer wieder in ihre Richtung und machte auch gar keinen Hehl aus seiner Neugier. Eigentlich war er viel zu weit entfernt, als dass es seine Stimme gewesen sein konnte, doch Pia erwog den Gedanken trotzdem einen Moment lang ernsthaft … aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein. Es war die Stimme einer jungen Frau gewesen, nicht die eines Greises, und –

»Kommt zum Tor«, fuhr die Stimme fort. Sie klang immer noch wie die Stimme einer jungen Frau und sie erklang immer noch direkt an Pias Ohr, die gerade sah, wie sich die Lippen des alten Mannes bewegten. Das war vollkommen unmöglich, aber es war trotzdem so. »Aber kommt ohne die Wachen. Ich sorge dafür, dass sie abgelenkt sind. Wartet einen Moment, bis ihr mir nachfolgt.«

Der alte Mann drehte sich mühsam herum und schlurfte mit hängenden Schultern und leicht humpelnd davon.

»Kennst du den Alten?«, fragte Alica stirnrunzelnd.

»Nein«, antwortete Pia. »Aber hast du …« Nichts gehört? Sie schluckte die beiden letzten Worte hinunter, schüttelte übertrieben heftig den Kopf und deutete einen verstohlenen Blick in Richtung der beiden Wachen an. Alica antwortete auf dieselbe lautlose Art.

Pia bezweifelte, dass sie wirklich verstand, was geschehen war, aber immerhin stellte sie keine weitere Frage mehr. Gemeinsam wandten sie sich um und gingen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Dabei fiel Pia noch ein Unterschied auf: Bisher hatten sich die beiden Männer stets mehr oder weniger diskret im Hintergrund gehalten, gerade nahe genug, um sie nicht vergessen zu lassen, dass sie da waren. Jetzt war Pia nicht einmal sicher, ob sie ihnen überhaupt aus dem Weg gehen würden oder es vielleicht Alica und sie waren, die ihnen ausweichen mussten. Eine der Wachen trat erst im allerletzten Moment zur Seite und auch das erst, nachdem Pia dem Mann einen eisigen Blick zugeworfen hatte.

Sie versuchte sich einzureden, dass es nur an der Müdigkeit der beiden Männer lag und vielleicht an ihrer Nervosität und der ungewohnten Umgebung, aber tief in sich wusste sie natürlich, dass das nicht stimmte. Etwas hatte sich geändert.

Möglicherweise die Befehle, die Istvan seinen Soldaten erteilt hatte …

»Und wohin jetzt?«, fragte Alica, während sie die beiden Männer ebenfalls mit leicht verwirrtem Gesicht ansah.

»Zurück in den Weißen Eber«, antwortete sie laut genug, damit die vier gespitzten Ohren hinter ihnen die Worte auch ganz bestimmt hörten. »Oder hast du Lust, bis Mitternacht hier zu warten, damit Brack sein Fleisch ein paar Kreuzer billiger bekommt?«

Alica sah sie nun vollkommen verstört an, und ein (nicht einmal so kleiner) Teil von Pia fragte sich, ob es wirklich klug war, einem wildfremden Greis zu vertrauen, mit dem noch dazu etwas nicht stimmte.

Ein kleinwüchsiger Kerl mit wehendem schwarzem Haar tauchte wie aus dem Nichts auf, flitzte zwischen Alica und ihr hindurch und rannte so dicht an den beiden Soldaten vorbei, dass er sie um ein Haar angerempelt hätte. Beide starrten ihm verdutzt nach, und der eine Soldat sagte irgendetwas und lachte leise. Der andere begann ebenfalls zu lachen, allerdings nur für einen Moment, dann sah er an sich hinab, und aus seinem glucksenden Lachen wurde ein Schrei jäher Wut, als er feststellte, dass ihm etwas fehlte. »Mein Geld!«, brüllte er. »Der Knirps hat meinen Geldbeutel gestohlen! Halt ihn auf!« Unverzüglich stürmten sein Kamerad und er hinter dem Jungen her, obwohl der Vorsprung des Kleinen bereits viel zu groß war, als dass sie ihn noch einholen konnten.

Alica wollte sich umdrehen und loslaufen, aber Pia hielt sie mit einer raschen Bewegung am Arm zurück und schüttelte den Kopf. »Warte«, sagte sie rasch.

Und zu Recht. Die beiden Soldaten mochten übermüdet und vielleicht nicht die Hellsten sein, aber sie waren auch nicht dämlich. Der, dessen Geldbörse der Junge stibitzt hatte, rannte zwar unverdrossen hinter ihm her, obwohl auch ihm klar sein musste, dass er keine Chance hatte, den Dieb einzuholen, aber sein Kamerad lief nur zwei oder drei Schritte weit und drehte sich dann abrupt wieder um. Pia war klar, dass er das nicht nur tat, weil er klüger oder vielleicht auch einfach bequemer als der andere sein mochte und es schließlich nicht sein Geldbeutel war.

»Mist!«, sagte Alica inbrünstig.

Pia machte nur eine besänftigende Geste, und sie hatte es kaum getan, da stieß der zweite Soldat einen triumphierenden Schrei aus, denn der Junge war ins Stolpern gekommen, kämpfte einen Moment lang mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht und fiel dann der Länge nach hin. Der Soldat ließ seine Hellebarde fallen und griff noch weiter aus, um den frechen Dieb nun vielleicht doch einzuholen, und der Junge rappelte sich hastig auf und beging dabei einen fatalen Fehler, indem er sich an einem der erst halb aufgebauten Gatter hochzuziehen versuchte. Dessen Besitzer – der wenig freundliche Kerl, mit dem Pia gerade gesprochen hatte – warf erbost beide Arme in die Luft und schrie irgendetwas sehr Unanständiges. Der Junge erschrak und riss das Gatter mit einer ungeschickten Bewegung endgültig zu Boden.

Und damit begann die Katastrophe erst.

Der Viehhändler schrie auf, als wäre er in einen glühenden Nagel oder Schlimmeres getreten, und das halbe Dutzend Zwergrinder, das er gerade so mühsam in die Koppel getrieben hatte, ergriff sofort und kollektiv die Flucht.

Der Junge war mit einer blitzartigen Bewegung verschwunden, und auch der Soldat fuhr auf dem Absatz herum und vergaß auf der Stelle seine Geldbörse, als er eine lebende Lawine mit zahllosen spitzen Hörnern und noch mehr trommelnden Hufen auf sich zurasen sah.

»O verdammt«, keuchte Alica. »Nichts wie weg hier!«

Diesmal widersprach Pia ihr nicht, sondern sürmte los. Hinter ihnen brach ein gewaltiger Tumult aus Schreien, dem Stampfen von Hufen und dem Blöken der durchgehenden Tiere los, aber sie hörte auch das Splittern von Holz, und als sie im Laufen zurücksah, erkannte sie, dass die durchgehende Herde eine weitere Koppel eingerissen hatte, deren Bewohner sich der beginnenden Stampede anschlossen. Der Chor aus gleichermaßen erschrockenen wie wütenden Schreien wurde lauter. Von überall her kamen jetzt Menschen herbeigeeilt, um die durchgehenden Rinder wieder einzufangen.

Alica schwenkte nach links, auf den Rand des Marktplatzes und die vermeintliche Sicherheit der Straße dahinter zu, aber Pia packte blitzschnell ihr Handgelenk und riss sie so derb in die entgegengesetzte Richtung, dass sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.

»Bist du …?«, keuchte sie und brach dann mit einem erschrockenen Schrei ab, als etwas Kleines und Wuscheliges so dicht an ihr vorbeidonnerte, dass das Horn einen Streifen aus ihrem Mantel riss. Das Rind war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war, aber Pia konnte die ungeheure Kraft der Kreatur regelrecht spüren.

»Bist du verletzt?«, keuchte sie.

»Nein«, stieß Alica atemlos hervor. »Aber du, sobald das hier vorbei ist und ich wieder halbwegs zu Atem gekommen bin, verlass dich darauf!«

Pia musste trotz allem flüchtig lächeln, allerdings wirklich nur für einen ganz kurzen Moment, dann warf sie einen raschen Blick über die Schulter und verwandte ihre Energie lieber darauf, noch ein bisschen schneller zu laufen. Hinter ihnen war nicht wirklich eine Stampede ausgebrochen, allerdings etwas, das gut dazu werden konnte und ganz gewiss über ein kleines Ablenkungsmanöver hinausging. Mindestens ein weiteres Gatter war zusammengebrochen, sodass sich die Anzahl der flüchtenden Tiere noch einmal erhöht hatte, und wäre mittlerweile nicht beinahe jedermann auf dem Markt unterwegs hierher, um den Schaden in Grenzen zu halten, dann wäre möglicherweise der ganze Viehmarkt binnen weniger Augenblicke im Chaos versunken.

Wenigstens die beiden Wachen waren spurlos verschwunden, und Pia ertappte sich bei dem nicht so netten Gedanken, dass ihr vielleicht nicht gerade das Herz brechen würde, wenn sie unter die Hufe geraten wären.

»Kannst du mir mal verraten … wohin wir überhaupt … rennen?«, stieß Alica keuchend neben ihr hervor.

Pia sah noch einmal rasch über die Schulter zurück, bevor sie antwortete. Mit Ausnahme des einen Rindes, das Alica beinahe über den Haufen gerannt hätte, bewegte sich keines der Tiere in ihre Richtung – aber sie waren auch so ziemlich die Einzigen, die wie von Furien gehetzt in Richtung der Mauer liefen, statt vom Ort des Chaos fort. Ein rascher Blick zum Wehrgang hinauf zeigte ihr jedoch, dass keine der Wachen dort oben auch nur Notiz von Alica und ihr nahmen. Die Männer hatten ausnahmslos auf ihrer Streife haltgemacht, blickten auf das immer noch größer werdende Chaos herab und genossen offensichtlich die Show.

»Dorthin«, sagte sie mit einer Geste auf das Tor. Auch der Posten, der normalerweise dort stand, war verschwunden und nahm vermutlich an der allgemeinen Treibjagd teil.

»Aus der Stadt?«, ächzte Alica. »Was für ein brillanter Plan! Und was dann? Lassen wir uns von Bäumen fressen oder ziehst du Erfrieren vor?«

Statt zu antworten, rannte Pia nur noch schneller und zerrte Alica einfach mit sich, bis sie den mächtigen Torbogen erreichten und keuchend stehen blieben. Das halb heruntergelassene Fallgatter am anderen Ende des Tunnels schien unendlich weit entfernt, aber Pia sah auch die schwarze Silhouette der beiden Posten, die dort standen und sich, durch den Lärm aufmerksam geworden, in ihre Richtung gedreht hatten. Rasch machte sie einen Schritt zur Seite, legte Alica die Hand auf die Schulter und wob einen schützenden Mantel aus Schatten um sie beide.

»So, und jetzt möchte ich … wirklich wissen, was der …Quatsch soll!«, stieß Alica mühsam um Atem ringend hervor. Sie setzte dazu an, ihre Hand abzuschütteln, sah dann zum anderen Ende des Tunnelgewölbes hin und ließ es bleiben.

»Ihr beherrscht die Magie der Schatten«, sagte eine Stimme irgendwo neben ihnen. »Das ist gut, vielleicht seid Ihr tatsächlich die, auf die wir schon so lange warten.«

Alica und Pia fuhren im gleichen Moment erschrocken herum, und um ein Haar wäre Alicas Hand von ihrer Schulter gerutscht.

»Aber natürlich ist das noch lange kein Beweis«, setzte die körperlose Stimme fort. Etwas raschelte, dann löste sich eine kleinwüchsige Gestalt mit strähnigem Haar aus den Schatten des Gewölbes und lächelte aus einem vom Alter zerfurchten Gesicht zu ihr hoch.

»Sag mir bitte nicht, dass wir das ganze Chaos losgetreten haben, weil dieser Opa mit uns reden wollte!«, ächzte Alica.

»Das war nicht besonders nett von dir, mein Kind«, sagte der Greis. »Der Tag, an dem andere so über dich reden, ist vielleicht schon näher, als dir im Moment klar sein mag.«

»Also, bis dahin vergehen schon noch ein paar …«, begann Alica, brach dann mitten im Wort ab und riss die Augen auf. »Wieso verstehst du mich?«

Der alte Mann lächelte und gewährte Alica und Pia nicht nur einen Blick auf ein verfaulendes Gebiss, das kaum noch aus einem Dutzend Zähne bestand, sondern brachte sie auch in den Genuss seines grässlichen Mundgeruchs. Dann …

Pia hätte nicht sagen können, ob er noch einmal in den Schatten der Wand zurücktrat oder die Schatten sich irgendwie von der Wand lösten und seine Gestalt für einen unendlich kurzen Moment einhüllten … aber als es vorbei war, da stand kein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht mehr vor ihnen, sondern eine Frau, die nur wenig älter sein konnte als Pia, glattes, bis weit über die Schultern fallendes helles Haar und perfekte Zähne hatte. Und übrigens ganz und gar keinen Mundgeruch.

»Wie du siehst, gibt es auch andere, die sich auf das Weben von Schatten verstehen«, fügte Valoren hinzu, nun wieder an Pia gewandt.

»Ja, und noch ein paar andere Tricks, wie es aussieht.«

»Valoren?«, murmelte Alica ungläubig.

Die Wahrsagerin maß sie mit einem spöttischen, aber sehr gutmütigen Blick. »Ja, als ich das letzte Mal mit euch gesprochen habe, war das mein Name … glaube ich. Doch du solltest etwas leiser reden. Die Akustik in diesem Gewölbe ist sehr gut, und die Schatten bewahren euch vielleicht davor, gesehen, aber nicht davor, gehört zu werden.«

»Ja, Massa«, antwortete Alica Grimassen schneidend. »Bitte entschuldige, dass die dumme Sklavin nicht nachgedacht hat. Sie wird sich bemühen, nicht mehr so laut zu atmen.«

»Lass den Blödsinn«, sagte Pia scharf – obwohl Valoren nur mit einem durchaus amüsierten Lächeln auf ihre Worte reagierte. Direkt an die Wahrsagerin gewandt fuhr sie fort: »Also, da sind wir.«

»Ja, das sehe ich«, antwortete Valoren. Sie lächelte unerschütterlich weiter, aber etwas änderte sich in ihrem Blick.

»Du siehst nicht besonders begeistert aus.«

»Es war auch nicht besonders … klug, hierherzukommen«, antwortete Valoren mit einem hörbaren Zögern.

Pia wollte auffahren, doch Alica kam ihr zuvor, indem sie mit einem raschen Blick zwischen sie und die Wahrsagerin trat und sich dann demonstrativ herumdrehte, um zu dem Markt zurückzusehen. Das Chaos dort hatte nicht zugenommen, war aber auch noch nicht sichtbar kleiner geworden. »War dieses Ablenkungsmanöver so drastisch geplant oder ist es dir ein wenig aus dem Ruder gelaufen?«, fragte sie harmlos.

Einen halben Atemzug lang wirkte Valoren einfach nur verblüfft, doch dann lachte sie. Es klang echt. »Sagte ich schon, dass du dich sehr glücklich schätzen kannst, eine solche Freundin zu haben, Gaylen?«, fragte sie, wurde aber auch praktisch sofort wieder ernst und machte ein fast betrübtes Gesicht. »Manchmal entwickeln sich die Dinge anders als geplant«, gab sie zu. »Dennoch war es ein Fehler, hierherzukommen.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, dann hast du uns hierherbestellt«, sagte Alica.

Valoren sah unerschütterlich weiter Pia an, als sie antwortete, und in ihrer Stimme war jetzt ein deutlicher Klang von Tadel zu hören. »Ich hatte euch gesagt, dass ihr euch mit Ter Lion treffen sollt«, sagte sie. »Im Allgemeinen findet ein solches Treffen eher heimlich statt oder doch zumindest in einem … etwas kleineren Kreis, und ein wenig diskreter. Ich hätte nicht erwartet, dass ihr auf dem Markt herumlauft und laut genug nach Ter Lion fragt, damit die ganze Stadt seinen Namen kennt.«

Pia machte ein betroffenes Gesicht und zerbrach sich vergeblich den Kopf nach einer Antwort.

Alica hatte weniger Hemmungen. »Ganz so laut war es im Grunde nicht«, sagte sie scharf. »Eigentlich hat es nur irgend so ein Viehtreiber gehört.«

»Und Istvans Männer«, fügte Valoren hinzu. »Sie sind seine Augen und Ohren. Wusstest du das nicht, mein Kind?«

»Du hast gesagt, wir sollen uns mit Ter Lion treffen«, antwortete Alica ungerührt. »Wenn man von einem Mann nur den Namen und sonst gar nichts weiß, dann muss man schon nach ihm fragen, oder?«

»Aber vielleicht nicht ganz so …«, begann Valoren scharf, sog dann hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und biss sich auf die Unterlippe. »Verzeih«, fuhr sie nach einer kurzen Pause und nun wieder beherrschter und an Pia gewandt fort. »Wahrscheinlich verlange ich zu viel von euch. Es war mein Fehler. Vielleicht bist du die wahre Gaylen, vielleicht auch nicht, aber selbst wenn du es sein solltest, so kann ich kaum von dir verlangen, dass du all das hier verstehst und sofort richtig und so kaltblütig reagierst, wie es nötig wäre. Wahrscheinlich hast du bisher ein sicheres und beschütztes Leben geführt, in der Welt, aus der ihr kommt.«

»In der Welt, aus der wir kommen?«

»Oh, wir wissen über eure Welt Bescheid«, sagte Valoren. Sie klang ein wenig amüsiert; vielleicht wegen Pias Unwissenheit, vielleicht auch aus einem ganz anderen Grund. »Wir wissen alles über sie, was sich zu wissen lohnt … obwohl das im Grunde nicht wirklich viel ist. Manche von uns waren waren schon in eurer Welt …«

»Nicht in meiner«, sagte Alica grimmig.

»– und manche von uns besuchen sie noch heute dann und wann«, fuhr Valoren ungerührt fort. »Eure Welt ist seltsam, fremd, aber unserer trotz allem so ähnlich, dass man nur zu leicht vergisst, wie groß die Unterschiede in Wahrheit doch sind. Und ich muss mich wieder daran erinnern, wie jung du noch bist.«

»Ach?«, fragte Pia, während sie Valoren mit einem langen Blick von Kopf bis Fuß maß. Valorens Worte ärgerten sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie waren durchaus ehrlich gemeint, das spürte sie, aber in ihrer Stimme war auch ein ganz sachter Unterton von Arroganz, dessen sie sich vielleicht gar nicht bewusst war … aber machte es das etwa besser? »Ja, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als du.«

Valoren lachte; ein glockenheller Laut, der unnatürlich lang in dem gemauerten Gewölbe widerzuhallen schien und die Schatten irgendwie heller machte. »O nein«, sagte sie. »Gewiss nicht.«

Pia wollte antworten, aber Valoren machte eine kleine sehr bestimmte Geste und deutete aus der gleichen Bewegung heraus zurück auf den Marktplatz. »Dafür ist jetzt keine Zeit«, fuhr sie in verändertem Ton fort. »Der Schaden ist angerichtet, und es macht es nicht besser, wenn wir darüber lamentieren. Wir müssen unsere Pläne ändern. Ich werde zu Ter Lion gehen und ihn warnen, nicht in die Stadt zu kommen.«

»Aber wir …«, begann Pia.

»Ihr geht zurück und tut so, als wäre nichts geschehen«, fuhr Valoren fort, ohne ihre Worte auch nur zu beachten. »Geht einfach eurer Arbeit nach wie an jedem Tag.« Obwohl sie immer noch lächelte und sich am sanften Klang ihrer Stimme scheinbar gar nichts geändert hatte, wurde das, was sie sagte, jetzt eindeutig zu einem Befehl. »Ich erwarte euch eine Stunde nach Mitternacht hier. Nehmt nichts mit außer dem, was ihr am Leib tragt, und achtet darauf, dass euch niemand folgt.«

»Moment, Moment«, sagte Alica. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir schon Ja gesagt hätten.«

»Ich fürchte, dass euch keine andere Wahl mehr bleibt, mein Kind«, sagte Valoren sanft. »Eure Zeit läuft ab, und der Stadtkommandant wird mit jedem Tag misstrauischer. Wenn die Soldaten aus Apulo erst einmal hier sind, dann können auch wir euch nicht mehr helfen.«

Wenn die Soldaten erst hier sind?, wiederholte Pia in Gedanken. Also hatte Hernandez die Wahrheit gesagt? Sie fragte sich, ob Valoren Hernandez kannte, und wenn ja, in welchem Verhältnis sie zueinander standen, schrak aber aus irgendeinem Grund davor zurück, diese Frage laut zu stellen.

»Geht jetzt«, sagte Valoren. »Rasch. Wir sehen uns eine Stunde nach Mitternacht.«

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