Oder vielleicht doch, denn das Nächste, was sie empfand, war ein leises Erstaunen darüber, wo das Licht geblieben war. Es war dunkel im Zimmer. Die Sonne musste untergegangen sein. Alica schnarchte leise neben ihr, und sie hatte sich nicht nur im Schlaf umgedreht, sondern auch den Arm über ihre Brust gelegt; ihre Finger befanden sich an einer Stelle, an der sie absolut nichts zu suchen hatten. Ihr erster Impuls war, sie wegzuschubsen, aber dann griff sie ganz im Gegenteil sehr behutsam nach ihrem Handgelenk und hob ihren Arm vorsichtig von sich herunter. Erst in diesem Moment wurde Pia klar, dass sie nicht allein waren.
Die Tür war aufgegangen. Stimmengewirr, Gelächter und die typischen Geräusche einer Kneipe drangen aus dem Erdgeschoss herauf, und in dem flackernden Licht zeichnete sich eine schmale, nicht besonders große Gestalt ab, die unter der Tür erschienen war und Alica und sie anstarrte. Irgendwie spürte Pia, dass sie schon eine geraume Weile dort stand; eine Vorstellung, die ihr umso unangenehmer war, als sich Alica in diesem Moment unruhig im Schlaf bewegte und schon wieder nach ihr griff. Das Erste, worum sie Brack gleich morgen früh bitten würde, war ein Zimmer mit zwei separaten Betten.
Oder besser gleich ein eigenes Zimmer.
»Erhabene?«, fragte eine schüchterne Stimme. Der Schatten unter der Tür bewegte sich unbehaglich. Pia blinzelte, stemmte sich umständlich auf die Ellbogen hoch und kramte in ihrem Gedächtnis. Erhabene? Das letzte Mal, dass jemand sie so genannt hatte, war genau … nirgendwann gewesen. Erhabene?
»Was?«, nuschelte sie noch ein bisschen schlaftrunken.
Der Schatten unter der Tür bewegte sich erneut und noch unbehaglicher; aber sie konnte seinen Blick spüren.
»Ich … also … Bitte verzeiht die Störung, Erhabene, aber Brack hat mich geschickt, um Euch zu holen.«
Erhabene? Euch?, wiederholte Pia träge in Gedanken. Anscheinend war sie immer noch nicht ganz wach und träumte sich diesen ganzen Humbug nur zusammen. Erst dann erkannte sie die Gestalt unter der Tür, nicht weil sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hätten, sondern weil sie so klein und schmalschultrig wie ein Kind war, und die Auswahl der Leute hier, die Alica und sie kannten, nicht besonders groß. »Lasar?«
Der Küchenjunge nickte hektisch und kam einen einzelnen Schritt näher, blieb dann aber erschrocken wieder stehen, als wäre ihm plötzlich klar geworden, was für einen ungeheuerlichen Frevel zu begehen er im Begriff war. Pia stemmte sich weiter hoch, schwang die Beine vom Bett und war plötzlich froh, nicht nur komplett angezogen, sondern auch mit den Stiefeln an den Füßen eingeschlafen zu sein. Selbst durch die dicken Sohlen hindurch konnte sie spüren, wie kalt der Boden war.
»Brack?«, wiederholte sie. Wer zum Teufel war noch einmal Brack? Dann klärten sich ihre Gedanken endgültig, und Pia verabschiedete sich mit einem lautlosen Seufzen von der Hoffnung, nur einen schlechten Traum gehabt zu haben.
»Er hat nach Euch geschickt«, bestätigte Lasar. »Ich wollte Euch nicht stören. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass Ihr vielleicht schlaft, aber er …«
Pia machte eine wegwerfende Geste. »Geschenkt.«
Der Junge sah sie nur verständnislos an. »Ich meine damit, es macht nichts«, fügte Pia erklärend hinzu und hatte zugleich alle Mühe, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken. »Hat er gesagt, was er von mir will?«
»Nein«, versicherte Lasar hastig. »Nur, dass ich Euch und Eure Sklavin holen soll.«
Pia warf einen raschen Blick auf das Bett und die Sklavin, die darauf lag und ungerührt weiterschnarchte, und war wieder einmal froh, dass Alica nicht jedes Wort verstand, das hier gesprochen wurde. »Ich fürchte, sie ist im Moment ziemlich erschöpft. Wir sollten sie noch eine Weile schlafen lassen.«
»Aber Brack …«, begann Lasar.
»… wird wohl auch mit mir vorliebnehmen«, unterbrach ihn Pia. Sie reckte sich ausgiebig, trat ans Fenster und warf einen mäßig interessierten Blick hinaus. Sie hatte nicht erwartet, irgendetwas Außergewöhnliches zu sehen, und wurde auch nicht enttäuscht. Die Stadt lag ebenso dunkel und still da wie vergangene Nacht, als Alica und sie aus dem Haus getreten waren. Nur hinter sehr wenigen Fenstern brannten noch vereinzelte Lichter, und selbst hier drinnen meinte man die Stille spüren zu können, die über den Straßen lag. Aber vielleicht war das ja schon außergewöhnlich, dachte sie. Trotz allem spürte sie, dass sie nicht allzu lange geschlafen hatte; die Sonne war wohl erst vor kurzer Zeit untergegangen. Dort draußen war es jedoch so dunkel und still, als wäre Mitternacht schon längst vorbei. Die Leute in WeißWald schienen tatsächlich mit den Hühnern ins Bett zu gehen.
Falls es hier so etwas wie Hühner gab.
Sie wandte sich vom Fenster ab, reckte sich noch einmal ungeniert und ausgiebig und wurde sich erneut der Tatsache bewusst, angestarrt zu werden. Fast erschrocken ließ sie die Arme sinken und drehte sich halb herum. Lasar war einen weiteren Schritt ins Zimmer hereingekommen und wieder stehen geblieben. Sein Gesicht war in dem schwachen Licht kaum zu erkennen. Trotzdem spürte sie, wie er sie anstarrte, und irgendetwas sagte ihr, dass das nicht nur daran lag, dass sie sich gekonnt vor der einzigen Lichtquelle im Raum geräkelt und ihm ihre Silhouette dabei deutlicher gezeigt hatte, als sie eigentlich wollte.
»Was?«, fragte sie harmlos.
»Euer … Euer Haar, Erhabene«, stammelte Lasar.
»Was ist damit?« Pia griff nach einer Strähne ihres langen blonden Haares, ließ sie durch die Finger gleiten und machte dann ein vage überraschtes Gesicht. »Es ist noch da.«
Lasar nahm die sanfte Ironie in ihren Worten gar nicht zur Kenntnis; Pia bezweifelte plötzlich auch, dass er sie überhaupt begriffen hatte. Der Junge wirkte mit jedem Moment nervöser. Sie sah ihn fragend an, und Lasar machte einen halben zögernden Schritt. »Darf ich … ich meine, ich weiß, es steht mir nicht zu, aber …«
»Aber was?«, fragte Pia. Sie nickte aufmunternd. »Nur zu. Was möchtest du?«
Lasar nahm sichtlich all seinen Mut zusammen. »Darf ich es anfassen?«, brachte er irgendwie heraus.
»Anfassen?«, wiederholte Pia überrascht.
»Bitte verzeiht, Erhabene!«, stieß Lasar hervor. Er musste ihren überraschten Tonfall vollkommen falsch gedeutet haben, senkte den Blick und begann mit den Füßen zu scharren. »Ich weiß, es steht mir nicht zu, und ich …«
»Nur zu«, sagte Pia lächelnd. Eine so heftige Welle von Mitleid ergriff sie, dass sie sich tatsächlich beherrschen musste, um den Jungen nicht tröstend in die Arme zu schließen, als sie sah, wie er sich regelrecht vor Scham zu winden begann, diesen ungeheuerlichen Wunsch überhaupt geäußert zu haben. Lasar hob den Kopf und blickte sie nun eindeutig fassungslos an, und Pia unterstrich ihre Worte mit einer entsprechenden auffordernden Geste und dem sanftmütigsten Lächeln, das sie nur zustande brachte. Lasar machte tatsächlich einen weiteren halben Schritt und blieb dann wieder stehen, offensichtlich erschrocken von seinem eigenen Mut. Erst als Pia ihre aufmunternde Bewegung mit beiden Händen und heftiger wiederholte, wagte er es, näher zu kommen, streckte unsicher den Arm aus und griff schließlich mit spitzen Fingern nach derselben Strähne, die sie gerade selbst betastet hatte und immer noch zwischen den Fingern hielt.
Sie konnte nicht sagen, welche Reaktion sie erwartet hatte – vermutlich keine –, aber Lasar erstarrte für einen Moment regelrecht vor Ehrfurcht. Seine Hand begann so heftig zu zit-tern, dass ihm die Haarsträhne um ein Haar entglitten wäre, dann sah er ihr aus großen Augen direkt ins Gesicht, und seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Es … es ist echt.«
»Natürlich ist es das«, erwiderte Pia lächelnd. »Was hast du erwartet?«
»Dann … dann seid Ihr …?«
»O nein, ich bin gar nichts Besonderes«, unterbrach ihn Pia. »Da, wo ich herkomme, haben viele Frauen solches Haar. Manche Männer«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu, »übrigens auch.«
Lasar starrte sie weiter aus großen Augen an, und obwohl sich an der Mischung aus Ehrfurcht und mühsam unterdrückter Angst auf seinem Gesicht rein gar nichts zu ändern schien, hatte sie plötzlich das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. Nach einer weiteren Sekunde ließ er ihr Haar los und prallte zurück.
»Brack verlangt nach Euch«, sagte er, lauter und mit veränderter Stimme und jetzt wieder ohne sie direkt anzusehen. »Das sollte ich Euch nur sagen.« Und damit fuhr er auf dem Absatz herum und verließ beinahe fluchtartig das Zimmer.
Pia sah ihm verwirrt nach. Der Lärm und das Stimmengewirr aus dem Erdgeschoss schienen lauter zu werden, jetzt, wo sie allein war, und sie verstand die Reaktion des Jungen mit jedem Augenblick weniger. Was hatte sie falsch gemacht?
Sie würde es nicht herausfinden, wenn sie hier herumstand und die offene Tür anstarrte. Pia zögerte, sah auf die schlafende Alica hinab und überlegte, sie vielleicht zu wecken – schließlich hatte Lasar unmissverständlich gesagt, dass Brack sie beide sprechen wollte, und vielleicht war es ja wirklich etwas Wichtiges –, beschloss dann aber, sie weiterschlafen zu lassen, und machte sich auf den Weg nach unten.
Das Stimmengewirr und der Lärm offensichtlich zahlreicher Zecher nahmen weiter zu, als sie die Treppe hinunterging, und als sie weit genug gekommen war, um einen Blick in die Gaststube zu werfen, erlebte sie eine Überraschung. Nach allem, was sie gestern gesehen und heute von Brack und Lasar gehört hatte, hätte sie erwartet, den Wirt allein oder höchstens mit einem oder zwei seiner Stammgäste (möglicherweise Brasil) anzutreffen, aber das Gasthaus war erstaunlich gut besucht. Ihr Blick begegnete dem Bracks, und das strahlende Lächeln auf seinem runden Gesicht belehrte sie eines Besseren. Und wenn nicht das, dann die beinahe vollkommene Stille, die mit einem Male einkehrte.
»Gaylen!« Der dickbäuchige Wirt kam mit kleinen, fast schon watschelnd wirkenden Schritten auf sie zu und gestikulierte aufgeregt mit beiden Armen. »Wo ist deine Sklavin?«
Pia verzichtete darauf, ihn zu verbessern (nahm sich aber fest vor, noch einmal über dieses Thema mit ihm zu reden, und zwar bevor Alica erwachte und vielleicht doch lernte, das eine oder andere Wort der hiesigen Sprache zu verstehen), und sah Brack nur stirnrunzelnd und ein bisschen alarmiert an. Es war noch immer unnatürlich still. Alle starrten sie an, was sie nach allem, was sie bisher hier erlebt hatte, eigentlich gar nicht hätte überraschen dürfen, es aber tat, und das auf eine ganz und gar nicht angenehme Art.
»Sie hält Siesta«, sagte sie. Brack blickte ein bisschen hilflos, und sie fügte erklärend hinzu: »Eine Sitte aus unserer Heimat. Sie ist müde. Du wolltest mich sprechen?«
»Eher deine Sklavin«, antwortete Brack. »Wenn du sie holen willst …«
Pia blickte ihn nur weiter fragend und noch ein bisschen durchdringender an, und Brack hob die Schultern. »Du siehst, es ist viel zu tun. Ich fürchte, ich brauche ihre Hilfe.«
Es dauerte noch einmal einen Moment, bis Pia wirklich be-griff. Dann drehte sie den Kopf nach rechts und links und sah sich noch einmal und jetzt sehr viel aufmerksamer in dem fast schon überfüllten Schankraum um. Ausnahmslos jeder, der ihrem Blick begegnete, sah hastig weg oder setzte sein gerade unterbrochenes Gespräch mit seinem Tischnachbar fort, aber ihr war trotzdem klar, dass sie gerade eine weitere Gemeinsamkeit zwischen WeißWald und ihrer Heimatstadt entdeckt hatte. Neuigkeiten machten hier offensichtlich sehr schnell die Runde. Sie musste Brack nicht fragen, um zu wissen, dass all diese Männer nur ihretwegen gekommen waren.
»Hast du uns nicht heute Morgen noch selbst erzählt, dass du keine Hilfe brauchst?«
Brack lächelte ein wenig gequält, ergriff sie am Oberarm und zog die Hand dann fast erschrocken wieder zurück, als Pia stirnrunzelnd auf seine Finger hinabblickte. Ohne sie ein weiteres Mal anzurühren, bugsierte er sie heftig gestikulierend und mit einem immer verlegener werdenden Lächeln durch den Schankraum und hinter die improvisierte Theke. Deren Anblick unterschied sich radikal von dem, den sie gestern geboten hatte: Zahlreiche halb gefüllte Bierkrüge standen herum, benutzte Teller mit oder ohne Essensreste, schmutziges Besteck (von dem sie nicht ganz sicher war, ob es bereits gebraucht war) und Lachen von ausgeschüttetem Bier und klebrigem Wein bildeten ein einziges unappetitliches Chaos. Brack hatte vollkommen recht, dachte Pia. Er brauchte Hilfe. Aber von ihr?
Sie wurde immer noch angestarrt, und es war immer noch sehr leise, auch wenn das eine oder andere Gespräch wieder aufgenommen worden war. Ihr Gefühl, sich im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit zu befinden, wurde mit jedem Moment unangenehmer.
»Ich bin keine Kellnerin«, sagte sie. Und schon gar keine Putzfrau.
»Aber das … weiß ich doch«, antwortete Brack hastig. Sie hatte ganz unwillkürlich leise gesprochen, aber er gestikulierte ihr trotzdem verstohlen zu, noch leiser zu sein, und versuchte ihr mit einem noch verstohleneren Blick, dasselbe zu signalisieren. »Deswegen wollte ich auch mit deiner Sklavin reden.«
»Alica ist meine Freundin«, verbesserte ihn Pia. Nun ja, ungefähr wenigstens.
»Du … ähm … brauchst gar nichts zu tun«, fuhr Brack fort. Er schien jetzt mit jedem Wort nervöser zu werden. Vielleicht war Pia ja nicht die Einzige, die das Gefühl hatte, aus zwei Dutzend neugierigen Augenpaaren angestarrt zu werden. »Vielleicht reicht es schon, wenn du …«
»Ja?«, fragte Pia, als er nicht weitersprach, sondern nur unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten begann.
»Also es … es würde wahrscheinlich reichen, wenn du … einfach nur hier bist«, stammelte Brack. Mit einem Male schien es ihm ebenso schwerzufallen, ihrem Blick standzuhalten, wie gerade oben Lasar.
»Wenn ich nur hier bin? Sonst nichts?«
»Sonst nichts!«, versicherte Brack hastig. Er machte eine nervöse Geste auf das Durcheinander auf, unter und hinter der Theke. Etwas knirschte unter seinen Sandalen, als er sich bewegte. »Lasar kann das hier aufräumen, wenn die Gäste weg sind. Der faule Bursche tut sowieso viel zu wenig.«
Der faule Bursche tauchte gerade in diesem Moment hinter ihr auf, in jeder Hand gleich drei gefüllte Bierkrüge, unter deren Last er sichtbar wankte, und Brack nutzte die Gelegenheit, ihm einen drohenden Blick zuzuwerfen, woraufhin er sich noch mehr zu beeilen versuchte.
»Und ich soll einfach nur hier rumstehen?«, fragte Pia noch einmal, noch ein bisschen misstrauischer. Sie musste Brack schon ziemlich falsch einschätzen, wenn er in Wahrheit nicht doch ein wenig mehr von ihr erwartete, aber sie wollte, dass er es aussprach.
Brack ergriff sie noch einmal (und sehr viel vorsichtiger) am Arm und führte sie ein paar Schritte weiter hinter die Theke. Ein Dutzend Gesichter folgten der Bewegung, und Pia konnte regelrecht sehen, wie die dazu passende Anzahl von Ohren gespitzt wurde. Brack klang jetzt nicht nur nervös, sondern beinahe schon ängstlich. »All diese Männer sind nur gekommen, um dich zu sehen, Gaylen.«
»Was für eine Überraschung«, antwortete Pia kühl. »Und du hast nicht etwa dafür gesorgt, dass ein völlig haltloses Gerücht die Runde macht, in dem eine plötzlich wiederaufgetauchte Elfenprinzessin eine Rolle spielt?«
Brack versuchte mit wenig Überzeugung, den zu Unrecht Beschuldigten zu spielen. »Ich?«, hauchte er. »So etwas würde ich niemals tun!«
»Natürlich nicht«, sagte Pia. »Wie komme ich nur auf die Idee?«
Einer der Gäste verlangte lautstark nach mehr Bier, und Brack drehte sich widerwillig um und begann einen Krug nachzufüllen, in dem sich noch ein längst schal gewordener Rest befand. Pia sah ihm einen Moment lang kopfschüttelnd zu, nahm ihm den Krug dann wortlos weg und schüttete seinen Inhalt auf den Boden, bevor sie ihn unter den hölzernen Zapfhahn hielt und neu zu füllen begann. Brack betrachtete das verschüttete Bier, als wäre es sein Herzblut, sparte sich – fast zu Pias Erstaunen – aber jeden Kommentar. Pia hielt den Krug etwas weniger schräg, um eine möglichst große Schaumkrone zu bekommen; wenn auch mit einem Ergebnis, das weder Brack noch sie wirklich überzeugte.
»Kein Wunder, dass du Taschendiebin geworden bist«, sagte eine spöttische Stimme hinter ihr. »Als Kellnerin wärst du wahrscheinlich elend verhungert.« Alica nahm ihr kopfschüttelnd den Krug aus den Händen und hielt ihn gerade und ein deutliches Stück tiefer unter den Hahn. Diesmal bildete sich eine appetitliche Schaumkrone, bei deren Anblick Brack anerkennend nickte. Erst dann sah sie sich demonstrativ in der Runde um und fragte: »Was ist denn hier eigentlich los?«
»WeißWald hat eine neue Attraktion, wie es aussieht«, erklärte Pia säuerlich.
Alica reichte den Krug an Brack weiter, der ihn zwar entgegennahm, aber nur achtlos auf die Theke stellte und Lasar einen bösen Blick zuwarf, ihn abzuholen. Als er Alica einen neuen Krug reichen wollte, ignorierte sie ihn. »Und was genau bedeutet das?«, fragte sie.
»WeißWald ist ein Dorf«, sagte Brack. »Und die Leute sind neugierig. Ist das da, wo du herkommst, etwa anders?« Bevor Pia antworten konnte, drehte er sich mit einer wieselflinken Bewegung um und eilte zu Lasar, der gerate dabei war, eine Handvoll Münzen von einem Gast einzustreichen, der unweit der Tür saß. »Was soll das, du Tölpel?«, polterte er los, ohne dass ganz klar wurde, wen genau er eigentlich damit meinte. »Das Bier kostet zehn Kreuzer, nicht sieben!«
»Aber gestern noch …«, protestierte der Gast.
»Das war gestern!«, fiel ihm Brack unwirsch ins Wort. »Wenn es dir hier zu teuer ist, dann geh ruhig woanders hin!«
»Manche Dinge sind anscheinend tatsächlich überall gleich«, seufzte Alica. Noch leiser und mit einem irgendwie hilflos wirkenden Stirnrunzeln fügte sie hinzu: »Was zum Teufel ist hier los? Sag mir nicht, die sind alle nur deinetwegen hier!«
»Nein«, verbesserte sie Pia. »Unseretwegen.«
Brack kam zurück. »Es tut mir leid, wenn ich euch um Hilfe bitten muss, aber ihr seht ja, was hier los ist.« Er maß den Krug, den Alica so gekonnt gefüllt hatte, mit einem anerkennenden Blick. »Du machst das gut. Hast du Übung in so etwas?«
»Was hat er gesagt?«, wollte Alica wissen.
»Dass er dir den doppelten Lohn zahlt, wenn du ihm ein bisschen zur Hand gehst«, antwortete Pia.
»Also, eigentlich habe ich das nicht gesagt!«, protestierte Brack. »Vereinbart mit Istvan war, dass deine Freundin für Kost und Logis arbeitet.«
»Na, das ist doch mal ein Wort«, sagte Alica.
»Sie verlangt das Dreifache«, übersetzte Pia kreativ.
Brack ächzte. »Das ist Erpressung!«
»Er ist einverstanden«, sagte Pia.
»Aber heute Morgen …!«, protestierte Brack.
»… war heute Morgen«, unterbrach ihn Pia. »Ist das etwa hier anders als da, wo ich herkomme?«
Brack starrte sie beinahe feindselig an. »Gut«, grollte er schließlich. »Aber dann …«
»Dann?«, fragte Pia, als er nicht weitersprach, sondern plötzlich noch nervöser wirkte. Außerdem schien er nicht mehr so recht zu wissen, wohin mit seinem Blick.
»Vielleicht könntest du …also, ein wenig an deiner Kleidung ändern.«
»Meiner Kleidung?«, wiederholte Pia. »Was gefällt dir daran nicht?«
»Nichts«, sagte Brack hastig. »Sie ist … ähm … interessant. Ein wenig exotisch vielleicht, aber interessant.«
Pia antwortete nicht gleich, sondern sah einen Moment lang nachdenklich an sich hinab. Sie trug – genau wie Alica – die Kleidung, in der sie hier angekommen waren: Jeans, eine leichte Sommerbluse und eine noch leichtere Lederjacke, die einzig und allein modischen Sinn machte (und selbst in diesem Punkt war Alica vermutlich anderer Meinung) und auf gar keinen Fall den klimatischen Bedingungen hier angepasst war. Dennoch war sie bisher nicht einmal auf die Idee gekommen, sie gegen irgendetwas Einheimisches auszutauschen.
Schon gar nicht gegen etwas, das Brack herausgesucht hatte.
»Und was genau schwebt dir vor?«, fragte sie lauernd.
»Oh, wirklich nichts … äh … Außergewöhnliches«, versicherte Brack. »Es ist nur … ich möchte nicht, dass du am Ende Ärger bekommst …«
»Oder du«, vermutete Pia.
»Oder ich«, bestätigte Brack. »Es ist eben so, dass die Männer … nun ja … etwas anderes erwartet haben.«
Ja, das kann ich mir denken, dachte Pia böse. Sie schwieg.
»Vielleicht finde ich etwas Passendes für dich.«
»Bist du nebenbei auch noch Schneider?«, fragte Pia.
»Ich habe ein Gasthaus«, erinnerte Brack. »Da bleibt schon mal das eine oder andere liegen. Kommst du eben mit mir?«
Pia zögerte gerade lange genug, um Alicas Misstrauen zu wecken. »Soll ich vorsichtshalber mitkommen?«, schlug sie vor.
»Nicht nötig«, sagte Pia. »Aber wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin, dann solltest du nachkommen und sehen, ob unser geschätzter Gastgeber Hilfe braucht.«
Sie folgte Brack – der ja ihre Hälfte des Gesprächs verstanden hatte, sich aber nicht anmerken ließ, was er davon hielt – zurück zur Treppe und ins erste Stockwerk hinauf, wo er das letzte Zimmer auf dem langen Flur ansteuerte, auf dem auch ihre Unterkunft lag. Pia hatte erwartet, dass er das größte und luxuriöseste Zimmer im Weißen Eber bewohnte, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Das Zimmer war winzig, ein asymmetrischer Verschlag, der auf der einen Seite eine angesetzte Dachschräge hatte, sodass nicht einmal dieser knappe Raum zur Gänze nutzbar war. Es stank. Das winzige Fensterchen war so verdreckt, dass selbst das wenige Licht grau wirkte, und Bracks zerwühltes Bett bot einen Anblick, den sie lieber gar nicht so genau sehen wollte.
»Hier!« Brack deutete auf eine eisenbeschlagene Truhe, die einen nicht unbeträchtlichen Teil des vorhandenen Platzes einnahm. »Da drinnen findest du alles, was die Leute hier so im Laufe der Zeit vergessen haben. Ich bin sicher, dass dir etwas davon passt. Und deiner … äh … Freundin auch. Aber such du dir zuerst etwas heraus.«
Er klappte den Deckel hoch und sah sie erwartungsvoll an.
Pia rührte sich nicht.
»Worauf …?«, begann Brack, fuhr dann ganz leicht zusammen und hatte es plötzlich sehr eilig, das Zimmer zu verlassen. Pia wartete, bis er die Tür hinter sich zugezogen hatte, und suchte vergeblich nach einem Riegel oder irgendeiner anderen Möglichkeit, die Tür abzuschließen. Schließlich trat sie an die Truhe heran, betrachtete die unordentlich hineingestopften Kleider mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck und begann einen Moment lang lustlos darin zu graben, bevor sie mit beiden Händen zugriff und die Lumpen auf Bracks Bett warf.
Das Wort traf Bracks gesammelte Schätze ganz gut, denn das meiste war tatsächlich kaum mehr als Lumpen; Mäntel, Umhänge und Röcke, die ebenso heruntergekommen aussahen, wie sie rochen. Manches davon würde sie nicht einmal mit der Kneifzange anfassen, und auch der kleine verbleibende Rest rief nicht unbedingt Begeisterungsstürme in ihr wach.
Schließlich entschied sie sich für ein schlichtes weißes Kleid, das aus einem kratzig aussehenden Stoff bestand (der sich als genau das herausstellte, als sie es überzog) und wie ein Sack an ihr herunterhing. Es gab keinen Spiegel in Bracks Zimmer, aber Pia schätzte, dass sie ungefähr so schick aussah wie eine Wurstpelle. Wenigstens fühlte sie sich so.
Es klopfte. »Darf ich … hereinkommen?«, drang Bracks Stimme durch das morsche Holz.
Pia zögerte nicht nur zu antworten, sondern suchte auch zuerst aufmerksam die Tür nach einem Schlüsselloch oder irgendeiner anderen Öffnung ab, durch die Brack sie möglicherweise beobachtet haben konnte, während sie sich umzog. Aber da war nichts. Vielleicht tat sie Brack ja unrecht.
Was ihm allerdings nur recht geschah, wenn er ernsthaft von ihr erwartete, so etwas zu tragen.
Das Klopfen wiederholte sich. Statt zu antworten, ging sie hin und riss die Tür auf, und Brack prallte erschrocken zurück, fing sich aber sofort wieder und maß sie mit einem langen Blick von Kopf bis Fuß. Ein einziges falsches Wort, dachte sie, und er würde es bitter bereuen – sobald er wieder zu sich gekommen war, hieß das.
»Perfekt«, sagte Brack.
»Ich weiß«, nörgelte Pia. »Aber in deiner Lumpensammlung war …« Sie stockte. Blinzelte. »Wie?«
»Ja, ich weiß, du bist wahrscheinlich Besseres gewohnt, da, wo du herkommst, aber für den Moment wird es genügen«, sagte Brack. »Ich schicke Lasar gleich morgen früh auf den Markt, um Stoff zu kaufen, doch für heute Abend reicht das sicher. Es steht dir gut.«
»Gut?«, wiederholte Pia zweifelnd. Sie sah noch zweifelnder an sich hinab. Der Stoff dieses prachtvollen Kleidchens fühlte sich nicht nur ungefähr so weich und anschmiegsam an wie Schmirgelpapier, er bedeckte auch nahezu jeden Quadratzentimeter ihres Körpers. Dass der Saum nicht bis zum Boden reichte, lag einzig daran, dass seine ehemalige Besitzerin ein gutes Stück kleiner gewesen sein musste als sie. Die Ärmel bedeckten noch einen Großteil ihrer Handflächen, und das Dekolleté zeichnete sich vor allem durch Nichtexistenz aus. Alles oberhalb des Halses hing in Fetzen, aber wenn man diese Fetzen in Gedanken vervollständigte, dann kam man auf etwas, das ziemliche Ähnlichkeit mit einem spätmittelalterlichen Rüschenkragen hatte, wie ihn Geistliche und später reiche Kaufleute getragen hatten.
»Das ist … äh …«
»Für heute Abend wird es reichen«, sagte Brack noch einmal. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass so viele Gäste kommen.«
»Natürlich nicht. Deshalb hast du ja auch jedem in der Stadt erzählt, dass Alica und ich hier sind, nicht wahr?«
»Nicht jedem!«, versicherte Brack.
Nein, dachte Pia. Vermutlich nicht. Nur jedem, den du kennst. Gegen ihren Willen musste sie lachen. »Also komm. Sorgen wir für ein bisschen Umsatz in deiner Kaschemme. Wahrscheinlich sind wir dir das schuldig.«