X

Eine weitere Stunde danach kehrte das Leben, kribbelnd und alles andere als angenehm, ganz allmählich wieder in Pias Finger- und Zehenspitzen zurück. Alica und sie saßen am Kamin, in dem Brack eigens für sie ein prasselndes Feuer entfacht hatte, das möglicherweise zum ersten Mal seit einem Jahrhundert die Kälte wirklich aus diesem Gemäuer vertrieb, zugleich aber auch die Luft hier drinnen derart verpestete, dass sie immer öfter husten mussten. Gesprochen hatten sie in der ganzen Zeit nicht besonders viel; am Anfang, weil ihre Gesichter und Lippen einfach zu steif gefroren waren, um ein vernünftiges Wort hervorzubringen; später, weil Pia einfach nicht nach Reden war. Alica anscheinend auch nicht, denn sie beschränkte sich darauf, Brack und sie abwechselnd mit bösen Blicken zu durchbohren, wobei Pia beim besten Willen nicht sagen konnte, wen sie zorniger anstarrte. Brack hatte sich Pias Bericht der Geschehnisse (bei dem sie ihren unheimlichen Verfolger aus der Steinzeit wohlweislich weggelassen hatte) mit gerunzelter Stirn angehört, erstaunlicherweise aber kein einziges Wort dazu gesagt und hantierte jetzt wieder lautstark in dem schmuddeligen Verschlag herum, von dem er behauptete, es wäre seine Küche. In der ganzen Zeit, in der sie hier saßen, war nicht ein einziger Gast in den Weißen Eber gekommen. Vielleicht war es in WeißWald ja nicht üblich, vormittags schon ins Gasthaus zu gehen.

Pia war es nur recht. Von Brack einmal abgesehen – noch immer wusste sie nicht wirklich, wie sie ihn einschätzen sollte –, hatte sie mit den Einwohnern dieser sonderbaren Stadt bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht, und sie legte keinen besonderen Wert darauf, diese zu vertiefen. Mit ein bisschen Pech würde sie dazu ohnehin noch reichlich Gelegenheit finden. Ihre Hoffnungen, diesen gespenstischen Ort irgendwie verlassen zu können, schwanden praktisch mit jeder Minute, doch sie war noch weit davon entfernt, sich das selbst einzugestehen.

»Und?« Zu ihrem Erstaunen war es Alica, die das immer unangenehmer werdende Schweigen am Ende brach. »Schon irgendeine grandiose Idee, wie wir von hier wegkommen, Supergirl?«

»Das Wegkommen ist nicht das Problem«, antwortete Pia niedergeschlagen. »Die spannende Frage ist, wohin. Und nein, ich habe keine Idee.«

Alicas Blick wurde noch ärgerlicher. Anscheinend hatte sie das Schweigen nur gebrochen, um sich ein bisschen mit ihr zu zanken. Irgendwie konnte Pia das sogar verstehen, aber sie gedachte trotzdem nicht, sich darauf einzulassen. Wenn Sie überhaupt eine Chance nutzen wollten, um aus dieser verrückten Situation herauszukommen, dann nur, wenn wenigstens eine von ihnen einen kühlen Kopf behielt.

Was ja überhaupt kein Problem war, gestrandet in einer fremden Welt voller seltsamer Menschen mit noch seltsameren Sitten und Gebräuchen, in der es offensichtlich nicht mit rechten Dingen zuging und in der es mit Schwertern bewaffnete Stadtwachen gab, magische Schuhe und noch eine Menge anderer, noch komischerer Dinge. O ja, die menschenfressenden Bäume nicht zu vergessen.

Brack kam aus der Küche, einen Teller frisches Brot und einen Krug Bier und drei der winzigen Trinkfässchen in der Hand, die er auf einen Tisch stellte, und forderte sie dann mit einer Kopfbewegung auf, sich zu ihm zu setzen. Pia hatte eigentlich wenig Lust, ihren Platz am warmen Feuer aufzugeben, und noch weniger, den Tag mit Bier zu beginnen. Ihre innere Uhr verriet ihr, dass es noch nicht einmal Mittag war, aber das war natürlich Rio-de-Janeiro-Zeit. Außerdem duftete das Brot wirklich köstlich, und obwohl sie ausgiebig gefrühstückt hatte, lief ihr schon wieder das Wasser im Mund zusammen. Also stand sie auf und ließ sich nicht lange bitten, nach Kräften zuzugreifen, wenigstens, was das Brot anging. Von dem Bier trank sie nur ein paar winzige Schlucke, gerade genug, um das Brot hinunterzuspülen. Sie erinnerte sich noch zu gut an gestern Abend. Das Zeug war echt stark.

»Das mit dem Wald hättest du uns wirklich sagen müssen«, sagte sie nach einer Weile und eigentlich nur, um Brack überhaupt zum Reden zu bringen.

»Was?«, fragte er harmlos.

»Dass er …« Sie suchte vergeblich nach den richtigen Worten und fuhr schließlich achselzuckend fort: »… Menschen frisst.«

»Genau genommen frisst er sie nicht«, verbesserte sie Brack.

»Nein. Er bringt sie nur um.« Pia nickte grimmig. »Was für ein Unterschied. Du hast es also gewusst?«

»Warum, glaubst du wohl, nennt man ihn Schlingwald, Mädchen?«, fragte Brack.

»Und du hast es nicht für nötig gehalten, uns davor zu warnen?«

»Jedermann kennt den Schlingwald«, erwiderte Brack, eher verwirrt als im Ton einer Verteidigung. »Außerdem habe ich dir die Stiefel gegeben.«

»Die Stiefel.« Pia blinzelte ein paarmal und erinnerte sich plötzlich an das sonderbare Unbehagen, das sie erfüllt hatte, als sie in den Wald hineingehen wollte. Tatsächlich hatten sie die ersten Schritte große Überwindung gekostet, fast als hätten sich ihre Füße in eine andere Richtung bewegen wollen als ihr Kopf. Oder vielleicht ihre Schuhe?

»Nun ja, es ist ja nichts passiert«, sagte Brack leichthin. »Aber ihr hattet wirklich großes Glück, deine Freundin und du. Nur sehr wenige Menschen überleben den Versuch, den Schlingwald zu durchqueren. Tatsächlich«, fügte er nach einem Moment und mit nachdenklich in Falten gelegter Stirn hinzu, »ist mir kein einziger Fall zu Ohren gekommen. Jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten.«

»Da haben wir wohl mächtiges Glück gehabt«, erwiderte Pia spöttisch. »Auf jeden Fall mehr als der arme Teufel, den ich zwischen die Bäume geschmissen habe.«

Brack machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach dir darüber keine Sorgen. Um den Dummkopf ist es nicht schade. Brasil treibt sich nur mit solchem Gelichter herum. Niemand wird ihm eine Träne nachweinen, glaub mir. Außerdem hat er es nicht besser verdient.«

»Weil er uns überfallen hat?«, fragte Pia. Sie war in diesem Punkt etwas anderer Meinung. Brasil und seine Kumpane hätten es vermutlich nicht dabei bewenden lassen, sie auszurauben, und das war alles andere als ein Spaß … aber ihrer Meinung nach kein Verbrechen, das die Todesstrafe verdiente. Es machte ihr zu schaffen, den Mann getötet zu haben, auch wenn sie sich noch so oft sagte, dass das ganz bestimmt nicht in ihrer Absicht gelegen hatte.

»Nein«, antwortete Brack. »Weil er sich von einer Frau hat verprügeln lassen.«

Pia sah ihn verständnislos an. »Ich habe mich nur verteidigt.«

»Tun das alle Mädchen da, wo ihr herkommt?«, wollte Brack wissen.

»Nein. Aber manche schon. Hier etwa nicht?«

Brack blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig, doch seine verwirrten Blicke sagten eigentlich schon genug. Pia musste plötzlich wieder daran denken, wie leicht es ihr im Grunde gefallen war, Brasil und seine Schlägerbande zu überrumpeln. Vielleicht war es ja ganz genau das gewesen. Sie hatte sie überrumpelt. Die Männer waren schlichtweg nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie sich verteidigen könnte!

»Wie gesagt, mach dir um diesen Dummkopf keine Sorgen.« Brack wiederholte seine wegwerfende Geste und wechselte das Thema. »Heute ist es auf jeden Fall zu spät, WeißWald noch zu verlassen und einen anderen Ort oder auch nur ein Gasthaus zu erreichen. Ihr werdet wohl oder übel noch bis morgen früh bleiben müssen.«

»Vielleicht sogar länger«, sagte Pia. Brack blickte fragend.

»Unser Aufbruch heute Morgen war vielleicht etwas … überhastet«, sagte sie gedehnt. »Außerdem haben sich gewisse Dinge … nun ja, geändert.«

»Geändert?«

Der Kerl ist nicht mehr da, der Alica und mir ans Leder wollte. Nein. Das wäre vielleicht keine so gute Idee. »Und da sind noch die Stiefel.«

Alica sah sie irritiert an, aber Brack nickte, als wäre diese Erklärung für ihn vollkommen ausreichend. »Das heißt, ihr bleibt vielleicht länger in WeißWald.«

»Nicht länger als unbedingt nötig«, antwortete Pia. Was immer das auch bedeuten mochte. »Aber wir müssen vielleicht doch noch für eine kleine Weile deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen. Keine Sorge«, fügte sie rasch hinzu, als Brack dazu ansetzen wollte, etwas zu sagen, »wir können für Essen und Unterkunft bezahlen.« Rasch zog sie den Lederbeutel hervor, den sie Brasil abgenommen hatte. Brack runzelte die Stirn, nahm ihn mit spitzen Fingern entgegen und grinste plötzlich. Ohne ein Wort der Erklärung zog er ihn auf, kramte zwei sonderbar geformte silberfarbene Münzen heraus und ließ sie in der Tasche verschwinden, bevor er ihr den Beutel zurückgab.

»Das war das, was Brasil mir noch schuldet«, sagte er. »Der Rest wird für eine Weile reichen. Danach sehen wir weiter.«

»Vielleicht finden wir eine Möglichkeit«, murmelte Pia. Ihr war nicht wohl bei diesen Worten.

»Eine Möglichkeit?«, wiederholte Brack. »Welche sollte das sein?«

»Das würde mich auch interessieren«, sagte Alica.

»Vielleicht können wir für dich arbeiten?«, schlug Pia vor.

»Bist du übergeschnappt?«, keuchte Alica.

»Nein«, antwortete Pia scharf. »Aber wir brauchen ein Dach über dem Kopf und Essen und Trinken, wenigstens so lange, bis wir wissen, wie wir wieder nach Hause kommen. Und ich hasse es, zu betteln oder Almosen anzunehmen.«

»Vielleicht findet sich ja noch der eine oder andere Blödmann, der uns auszurauben versucht«, sagte Alica. »Scheint sich ja zu lohnen.«

»Deine Einstellung ehrt dich, Mädchen«, sagte Brack, und seine Worte erinnerten Pia daran, dass er zwar Alicas Fragen nicht verstand, ihre Antworten darauf jedoch sehr wohl, »aber du weißt, dass das nicht möglich ist. Ich kann dich nicht für mich arbeiten lassen.«

»Und warum nicht?«, fragte Pia. »Es muss ja nicht für lange sein, und Alica und ich erwarten nicht einmal einen Lohn. Wir könnten in der Küche arbeiten oder hinter der Theke. Die Zimmer sauber halten und so weiter.«

»Du scheinst vorhin doch mehr abgekriegt zu haben, als ich dachte«, giftete Alica. »Sehe ich vielleicht aus wie ein Zimmermädchen?«

»Ich brauche keine Hilfskräfte«, sagte Brack. »Ich habe Lasar, und ganz davon abgesehen könntet ihr sowieso nicht hier arbeiten, wie du weißt.« Er lächelte schmerzlich. »Seht ihr vielleicht die Scharen von Gästen, die hereinstürmen? Diese Zeiten sind vorbei, schon so lange, dass ich mich kaum noch daran erinnere, ob es sie je wirklich gegeben hat. Das bisschen Arbeit schaffe ich allein.«

»Was sagt er?«, fragte Alica misstrauisch.

»Dass er eine Klofrau sucht und du die Richtige dafür bist«, schnappte Pia.

»Was ist eine Klofrau?«, wollte Brack wissen. Vielleicht aber auch nicht, denn er gab ihr gar keine Gelegenheit, zu antworten. »Ihr könnt erst einmal hierbleiben. Das Zimmer steht sowieso leer, und ihr esst wie die Spatzen. Wenn ihr wollt, dann helfe ich euch, eine Arbeit zu finden, und ihr könnt später für Speise und Unterkunft bezahlen.«

»Eine Arbeit?« Pia erschrak fast. Gut, sie hatte es vor wenigen Sekunden selbst angesprochen, aber das war doch etwas völlig anderes gewesen. Sich ein wenig nützlich zu machen und auf diese Weise für Essen und Unterkunft zu bezahlen, das war eine Sache … aber sich eine richtige Arbeit suchen? Das ging ihr eindeutig zu schnell und hätte ihren Aufenthalt hier irgendwie … besiegelt. Sie waren gerade einmal für einige wenige Stunden hier, und sie hatte wirklich nicht vor, sehr viele mehr daraus werden zu lassen.

Trotzdem nickte sie nach einigen weiteren Sekunden. »Warum nicht?«

»Was könnt ihr denn?«, fragte Brack, grinste dann wieder auf diese beinahe anzügliche Art, die Pia schon ein paarmal an ihm gesehen hatte, und schüttelte den Kopf. »Ich meine natürlich: Was kann deine Freundin? Dich unterzubringen ist bestimmt kein Problem. Aber welche Talente hat Alica?«

»Talente?«, wiederholte Pia.

»Talente«, bestätigte Brack. »Ich meine, was kann sie?«

»So ziemlich nichts«, vermutete Pia.

Alicas Augen wurden schmal. »Ich glaube, das habe ich verstanden.«

»Ich denke, wir werden schon etwas Passendes für sie finden«, sagte Brack. »Für ein Paar Hände, die kräftig zupacken können, findet sich in WeißWald immer eine Beschäftigung. Vielleicht sollte sie damit aufhören, sich das Gesicht bunt anzumalen. Ich werde sehen, was ich für sie tun kann.« Er stand auf. »Ich muss ohnehin gerade in die Richtung. Wenn du willst, dann kannst du mich begleiten, und ich lege ein gutes Wort für dich bei Malu ein … obwohl es wahrscheinlich gar nicht nötig ist.«

»Jetzt?«, fragte Pia zweifelnd.

»Gibt es einen Grund zu warten?«

Eine ganze Menge Gründe sogar, dachte Pia. Allerdings nur sehr wenige, über die sie mit ihm reden wollte. Achselzuckend stand sie ebenfalls auf und griff nach dem Mantel, den sie achtlos neben dem Kamin auf den Boden geworfen hatte. Anscheinend war das hier so üblich.

»Was habt ihr vor?«, erkundigte sich Alica misstrauisch.

»Wir gehen auf Arbeitssuche«, antwortete Pia.

»Dann komme ich mit«, erwiderte Alica, während sie bereits aufstand und sich ebenfalls nach ihrem Umhang bückte. Als sie ihn aufhob, sah Pia noch einmal die Stelle, an der ein Fetzen Stoff herausgerissen war, und ein neuerlicher kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Wie oft in wirklich gefährlichen Situationen wurde ihr erst im Nachhinein klar, wie knapp es gewesen war. Hätten sie auch nur ein ganz kleines bisschen weniger Glück gehabt, dann würden sie jetzt genauso zu Tode gequetscht oder aufgespießt zwischen den Bäumen des Schlingwalds liegen wie die beiden armen Teufel.

Irgendetwas an diesem Gedanken störte sie, aber er entglitt ihr, bevor sie ihn richtig fassen und konsequent zu Ende denken konnte.

»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte Brack, der offensichtlich keine Übersetzung brauchte, um zu wissen, was Alica vorhatte. »Malus Haus ist kein Ort für jemanden wie deine Freundin.«

»Was sagt er?«

»Nichts.«

Brack grinste ausnahmsweise einmal nicht, sondern schüttelte noch ernster den Kopf. »Ich meine es ernst, Mädchen. Malu wird sie nicht einmal einlassen.«

»Dann wartet sie eben hier«, sagte Pia, obwohl sie sich die Antwort denken konnte.

Sie wurde nicht enttäuscht. »Davon träumst du, Süße«, sagte Alica. »Ich weiche keinen Schritt von deiner Seite, nur damit das klar ist.«

»Sei vernünftig, Alica«, seufzte Pia. »Wenn Brack sagt, dass es zu gefährlich ist …«

»Das habe ich eigentlich nicht gesagt«, sagte Brack.

»… dann wollen wir ihm glauben«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Ich schätze, wir können ihm trauen.«

»Ich weiche keinen Schritt von deiner Seite«, beharrte Alica. »Was denkst du dir? Am Ende … beamst du dich wieder zurück zu Esteban, und ich bleibe allein hier und kann sehen, wie ich zurechtkomme!«

Zwei oder drei Sekunden lang starrte Pia sie einfach nur verblüfft an. »Daran … habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte sie dann.

»Siehst du?« Alica machte ein ebenso grimmiges wie entschlossenes Gesicht und hüllte sich in ihren Mantel. »Du weißt eben auch nicht alles. Tut richtig gut zu sehen, dass sogar Lara Croft nicht unfehlbar zu sein scheint. Aber dazu hast du ja mich. Von nun an sind wir wie siamesische Zwillinge. Wo die eine hingeht, dahin geht auch die andere.« Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Können wir?«

Pia resignierte. Schon allein, weil Alica vollkommen recht hatte.

»Du hast deiner Freundin nicht gesagt, wohin wir gehen?«, fragte Brack.

»Doch«, antwortete Pia. »Aber sie besteht darauf, uns zu begleiten. Keine Angst. Sie kann schon allein auf sich aufpassen.«

Brack sah alles andere als überzeugt aus, doch er schien auch zu spüren, dass jeder weitere Widerspruch sinnlos sein musste. Er hob noch einmal die Schultern und wandte sich dann zum Gehen.

Erst als sie die Tür fast erreicht hatte, fiel ihr auf, dass er nicht einmal seinen Mantel übergeworfen hatte. Sie machte eine entsprechende Bemerkung, doch Brack winkte nur ab. »Es ist nicht sehr weit … nur ein paar Straßen. Draußen ist es nicht besonders kalt. Ihr kommt wohl wirklich aus einem wärmeren Land, wie?«

Wenn man eine Stadt, deren Einwohner zum größten Teil nicht einmal wussten, was das Wort Schnee bedeutete, ein wärmeres Land nennen wollte, dann ja, dachte Pia. Sie beließ es einfach nur bei einem angedeuteten Heben der Schultern, nahm das Thema aber noch einmal auf, kaum dass sie aus dem Haus und wieder in den eisigen Wind hinausgetreten waren. Er kam ihr noch kälter vor als am Morgen.

»Wann wird es hier Sommer?«, fragte sie.

»Sommer?« Brack wiederholte das Wort, als müsse er über seine Bedeutung nachdenken.

»Sommer«, bestätigte Pia. »Die warme Jahreszeit.«

»Ich weiß, was Sommer bedeutet«, antwortete Brack leicht verschnupft. »Nun, es ist Sommer. Beinahe, jedenfalls.«

»Soll das heißen, sehr viel wärmer wird es hier nicht?«, murmelte Pia betroffen.

»Sehr selten«, antwortete Brack. »Aber dafür wird es im Winter sehr viel kälter.«

»Im Winter«, murmelte Pia und sah sich auf eine vollkommen neue Art um. Und wie zum Teufel nannte er das hier?

»Was hat er gesagt?« Alica klang ein bisschen beunruhigt.

»Oh, nichts«, sagte Pia. »Nur ein weiterer Grund, hier keine Wurzeln zu schlagen.« Sie wandte sich mit einem auffordernden Nicken an Brack. »Gehst du voraus?«

Brack grinste auf eine Art wissend, die Pia ganz und gar nicht gefiel. Sie musste eine Lösung für ihr Kommunikationsproblem finden, wenn die Geschichte hier länger dauerte.

Trotz der beißenden Kälte und obwohl er nur Sandalen an den nackten Füßen trug, schien es Brack nicht besonders eilig zu haben, sondern flanierte genauso gemächlich dahin wie alle anderen hier, und dieses Mal trieb ihn Pia nicht zur Eile an, sondern nutzte die Gelegenheit, um sich einen zweiten und möglicherweise besseren Eindruck von der Stadt zu verschaffen. Am Morgen war sie hauptsächlich mit Staunen beschäftigt gewesen und außerdem davon ausgegangen, dass sie diese Stadt sowieso niemals wiedersehen würde … aber jetzt fragte sie sich, ob dieser Stein und Holz gewordene LSD-Trip vielleicht für längere Zeit zu Alicas und ihrer Heimat werden würde … wenn nicht für immer. Was, wenn es ihr nicht gelang, das Wunder zu wiederholen, und sie für alle Zeiten hier gefangen blieben?

Nein, sie weigerte sich einfach, sich auch nur mit der bloßen Möglichkeit zu befassen.

Jedenfalls noch nicht.

Dieser Teil der Stadt unterschied sich von den Straßen, durch die sie am Morgen gekommen waren, wenn auch nicht sehr. Die Häuser waren nicht unbedingt kleiner, aber ein wenig …schäbiger, nicht ganz so gepflegt, und die Menschen vielleicht einen Deut einfacher gekleidet. Die Unterschiede waren winzig, aber subtil, und die tiefer werdende Falte zwischen Alicas Augenbrauen zeigte, dass sie genauso gut wusste wie Pia, in was für einer Gegend sie sich befanden. Manche Dinge waren offensichtlich überall gleich, ganz egal in welcher Welt.

»Was ist das da?« Pia deutete auf den monströsen Turm, der sich über die Häuser im Stadtzentrum von WeißWald erhob wie ein schwarzer Vulkan über einem postkartenkitschigen Städtchen, der nur darauf wartete, auszubrechen.

»Der Turm des Hochkönigs«, antwortete Brack. »Aber das klingt jetzt einschüchternder, als es ist.«

»Weil er nicht so hoch ist?«

»Weil es schon lange keinen Hochkönig mehr gibt«, antwortete Brack lächelnd. »Er heißt nur noch so. Manche behaupten sogar, es hätte niemals einen gegeben. Das ist bloß noch ein Name. Angeblich stammt der Turm aus der Zeit der Elfenkriege … falls sie überhaupt jemals stattgefunden haben. Heute lebt der Statthalter dort – wenn er zu Besuch in WeißWald ist. Was Kronn sei Dank nur selten vorkommt.«

»Dann steht der Turm leer?« Pia sah ein weiteres Mal hin und beantwortete ihre Frage in Gedanken gleich selbst: nein. Hinter den schmalen Fenstern und an Drachenzähne erinnernden Zinnen des monströsen Bauwerkes rührte sich nichts. Sie sah nichts, keine Bewegung, nicht einmal die geringste Spur von Leben – aber etwas war dort. Sie konnte es spüren.

»Er gefällt mir nicht«, sagte sie.

»Er gefällt niemandem«, antwortete Brack. »Nicht einmal dem Statthalter. Du spürst es auch, nicht wahr?«

Pia sah ihn fragend an. Das Lächeln kehrte auf Bracks Gesicht zurück und wurde plötzlich noch gutmütiger. »O nein, es geht nicht nur dir so, keine Sorge. Dieser Turm macht jedermann Angst. Die Menschen spüren, was er wirklich ist.«

»Und was ist er?«

»Ein Überbleibsel aus einer lange zurückliegenden Zeit«, antwortete Brack. »Dunkle Magie. Als dieses Land noch von Zauberern und Hexen beherrscht wurde, soll dieser Turm das Zentrum ihrer finsteren Macht gewesen sein. Manche glauben, dass man etwas davon noch heute in seinen Mauern spürt.«

»Du auch?«

»Irgendetwas ist da, so viel ist klar«, antwortete Brack. »Aber vielleicht haben diese Mauern einfach zu viele Schmerzen und zu viel Leid gesehen, und es sind nur die Tränen der Erschlagenen und die Schreie der Gefolterten, die den Stein dieser Wände nicht zur Ruhe kommen lassen.« Er deutete nach vorne. »Wir sind da. Der Elfenturm.«

»Elfenturm?« War das jetzt vom Turm des Hochkönigs ein Auf- oder Abstieg?, überlegte Pia. In der Richtung, in die Bracks ausgestreckte Hand wies, sah sie jedenfalls keinerlei Turm, sondern nur ein zweigeschossiges Gebäude mit schmalen Fenstern, und die einzige Elfe, die sie sah, war ein ebenso ungelenk wie anzüglich gemaltes, pummeliges Etwas mit bunten Libellenflügeln auf einem hölzernen Schild über der Tür des Hauses. Manche Dinge, dachte sie noch einmal, waren ganz offensichtlich wirklich überall auf der Welt gleich. Auf allen Welten. Das Papier der Fenster war rot.

»Elfenturm?«, fragte auch Alica. »Ja, das passt.«

Brack schüttelte den Kopf, doch er versuchte nicht noch einmal, Pia von ihrem Entschluss abzubringen, sondern ging mit raschen Schritten voraus und klopfte gegen die Tür. Sie war niedrig, selbst für hiesige Verhältnisse, aber äußerst massiv, und hatte ein kaum handflächengroßes vergittertes Fensterchen in Augenhöhe. In Bracks Augenhöhe.

Brack klopfte noch zweimal, bis die Klappe geöffnet wurde und ein dunkles Augenpaar zu ihnen heraussah. »Brack?« Die dazu passende Stimme klang müde. »Was willst du hier? Es ist noch viel zu früh. Außerdem hast du noch Schulden von …«

»Deswegen komme ich nicht, Malu«, sagte Brack. »Mach auf. Ich habe jemanden mitgebracht, den du ganz bestimmt kennenlernen willst.«

Er trat zur Seite, damit die Besitzerin des Augenpaares Alica und Pia sehen konnte. Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille, dann hörten sie das Geräusch eines schweren Riegels, der hastig zurückgezogen wurde, und die Tür flog nach außen.

Dahinter stand die fetteste Frau, der Pia jemals begegnet war.

Sie reichte ihr nicht einmal ganz bis zum Kinn, war aber so beleibt, dass sie fast wie eine Kugel auf Beinen aussah. Selbst Brack wirkte schlank neben ihr. Das schwere Wollkleid, das sie trug, schien zwar eigens für jemanden ihrer Statur geschneidert worden zu sein, schaffte es aber trotzdem nicht, ihre Leibesfülle und ihren gewaltigen Busen zu bändigen. Sie hatte lockiges, bis weit über die Schultern fallendes Haar, das vermutlich gut ausgesehen hätte, wäre es schwarz, blond oder auch brünett gewesen. Leider war es grau, strähnig und begann schon sichtbar dünner zu werden, sodass es einiger coiffeurtechnischer Kunstgriffe bedurft hatte, um die beginnende Halbglatze zu kaschieren. Noch ein, zwei Jahre, schätzte Pia, und auch der geschickteste Friseur würde vor dieser Herausforderung kapitulieren müssen.

Das dazugehörige Gesicht war rund und pausbäckig und hätte allein deshalb gutmütig wirken sollen, tat es allerdings nicht, sondern hatte etwas ganz und gar Verschlagenes, das Malu schlagartig ungefähr doppelt so viele Sprossen auf Pias Sympathieleiter herunterpurzeln ließ, wie diese überhaupt zählte.

Brack machte eine Geste auf Pia. »Das ist …«

»Ich sehe, wer das ist«, unterbrach ihn Malu, ohne dass der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen Pias Gesicht auch nur für einen Sekundenbruchteil losgelassen hätte. »Das ist … unglaublich.« Ihr Blick tastete hungrig über Pias Gesicht, ihre Haare und ihre Statur, obwohl sie sie unter dem unförmigen Umhang kaum erkennen konnte, und vor allem immer wieder über ihr Haar.

»Das Mädchen sucht Arbeit«, sagte Brack. »Und da ich weiß, was für ein weiches Herz sich hinter deiner rosigen Schale verbirgt, Malu, habe ich mich gefragt, ob du ihr vielleicht helfen kannst.«

Malu schien seine Worte gar nicht gehört zu haben, sondern starrte Pia weiter auf eine Art an, die ihr mit jedem Atemzug weniger gefiel. Eigentlich wartete sie nur noch darauf, dass die alte Vettel zu sabbern begann.

»Was geht hier eigentlich vor?«, erkundigte sich Alica. »Ich meine, du weißt schon, was das hier ist?«

»Natürlich«, antwortete Pia. An Brack gewandt und mit einem eindeutig verunglückten Lächeln fügte sie hinzu: »Ich fürchte, hier liegt ein kleines Missverständnis vor.«

»Das glaube ich weniger«, sagte Alica.

Malu starrte sie kurz und stirnrunzelnd an, wandte sich aber sofort wieder zu Pia um und zwang sich zu einem Lächeln, das sie selbst möglicherweise sogar für echt hielt. »Also, das wird sich ganz bestimmt aufklären lassen«, sagte sie. »Komm doch erst einmal rein, Kleines. Du erfrierst ja noch hier draußen in der Kälte.«

Sie ließ ihr keine Zeit, irgendetwas darauf zu erwidern, packte sie kurzerhand am Arm und zog sie mit sich. Als Alica ihnen folgen wollte, schüttelte sie herrisch den Kopf und machte eine abwehrende Geste mit der freien Hand. »Das geht nicht. Solche wie du haben hier keinen Zutritt.«

»Bisher war ich doch solche wie du«, murmelte Pia. Sowohl Alica als auch Malu sahen sie reichlich verdattert an, und zumindest Alica schien nach einigen Augenblicken ihre Sprache wiederzufinden und holte tief Luft. Brack kam der bevorstehenden Explosion zuvor, indem er sich hastig einmischte.

»Mach einfach eine Ausnahme, Malu«, bat er. »Die beiden sind fremd in der Stadt und kennen unsere Gebräuche noch nicht. Sie gehen überall zusammen hin.«

»Nicht hierher«, beharrte Malu streng.

»Selbstverständlich nicht«, sagte Brack rasch. »Aber dein Geschäft ist doch noch gar nicht geöffnet. Niemand wird sie sehen. Und heute Abend kommt sie ganz bestimmt nicht mit.«

Niemand kommt heute Abend hierher, dachte Pia. Und ich schon gar nicht. Sie schwieg jedoch, und zu ihrer Erleichterung hielt Alica den Mund, auch wenn sich ihr Gesicht nicht um einen Deut aufhellte. Täuschte sie sich, oder waren die Blicke, mit denen sie sie musterte, jetzt eindeutig schadenfroh?

»Also gut«, sagte Malu widerwillig. »Aber das ist eine Ausnahme, und ich tue es nur deinetwegen. Und Kronn soll dich holen, wenn du irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen erzählst!«

»Bestimmt nicht«, versprach Brack. »Bei meinem Leben!«

Malu sah ihn auf eine Art an, als wäre sie durchaus geneigt, ihn beim Wort zu nehmen, aber schließlich setzten sie ihren Weg fort. Sie schlug den schweren dunkelroten, samtigen Vorhang zur Seite, der sich einen halben Schritt hinter der Tür befand und nicht nur als Windfang diente, sondern auch als Schutz vor allzu neugierigen Blicken. Dahinter erstreckte sich ein großer Raum, der auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit Bracks Gaststube hatte, auch wenn hier alles weitaus gepflegter und sauberer war. In den Fenstern befand sich dasselbe durch sichtige Papier anstelle von Glas, nur war es hier rot eingefärbt, und statt lehnenloser Hocker gab es mit zerschlissenem rotem Plüsch bezogene Sessel, die genug Platz für zwei boten; zumindest wenn sie aufeinandersaßen.

»Hübsch«, sagte Alica. Malu warf ihr einen schrägen Blick zu, und Pia verzichtete vorsichtshalber darauf, die Bemerkung zu übersetzen.

»Setzt euch, Kinder.« Malu ließ endlich Pias Arm los und wedelte aufgeräumt mit beiden Händen. »Ich hole euch gleich etwas zu trinken und muss noch das … noch ein paar Dinge erledigen.«

Sie verschwand, bevor Pia auch nur einen Ton herausbrachte. Pia sah sich weiter mit gemischten Gefühlen um und fragte sich, was zum Teufel sie hier eigentlich tat.

Alica steuerte den Kamin an. Zwar brannte kein Feuer darin, aber Pia folgte ihr trotzdem und nahm auf einem der roten Plüschsessel davor Platz. Alica warf dem erkalteten Kamin einen demonstrativ sehnsüchtigen Blick zu und zog dann noch demonstrativer den Umhang enger um die Schultern, aber Brack ignorierte beides. Ihm schienen die Temperaturen hier drinnen tatsächlich nichts auszumachen.

»Ihr kommt wirklich aus einem sehr warmen Land, wie?«, fragte er. »Ich werde Malu bitten, den Kamin für euch anzuzünden.«

»Das Feuer bei dir«, vermutete Pia. »Du hast es nur unseretwegen angemacht, habe ich recht?«

»Ich kann zwei hilflose junge Frauen wie euch doch nicht einfach erfrieren lassen«, antwortete er amüsiert.

»Aber es war schon an, als wir gekommen sind«, sagte Pia.

Brack antwortete nicht darauf, doch Alica wirkte plötzlich schon wieder ein bisschen alarmiert. Auch wenn sie nur die Hälfte des Gespräches verstand – es war in diesem speziellen Fall wahrscheinlich nicht besonders schwer, sich den Rest zusammenzureimen.

»Du hast gewusst, dass wir zurückkommen«, vermutete Pia.

Brack schwieg beharrlich weiter.

»Woher?«, wollte Pia wissen.

»Wohin hättet ihr schon gehen sollen?«, fragte Brack. »Es gibt im Umkreis von hundert Tagesmärschen keine größere Stadt als WeißWald, und somit auch nichts, was besser wäre als hier. Im Westen, Süden und Osten leben die Barbarenstämme, die euch bei lebendigem Leibe auffressen würden, und im Norden sind die Berge. Wenn ihr sie überqueren wollt, dann müsst ihr sie vor dem ersten Schnee erreichen, und dazu ist es bereits zu spät.«

»Vor dem ersten Schnee?« Pia machte eine Kopfbewegung zum Fenster. »Und wie nennst du das da?«

»Vor dem ersten richtigen Schnee«, ergänzte Brack lächelnd und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, woher ihr kommt und wo eure Heimat liegt, aber wo immer es ist, ihr müsst das nächste Frühjahr abwarten, bevor ihr euch auf den Weg dorthin machen könnt.«

»Und es ist dir nicht in den Sinn gekommen, uns das vorher zu sagen?«, fragte Pia.

»Du siehst nicht aus wie jemand, der einen guten Rat von einem völlig Fremden annimmt, Mädchen«, antwortete Brack ungerührt. »Eher wie jemand, der seine eigenen Erfahrungen machen muss. Und ich dachte mir, dass du klug genug bist, um auf deine Schuhe zu hören.«

Gegen ihren Willen musste Pia lächeln. Brack lag ganz richtig – vielleicht nicht, was die Schuhe anging, aber ganz sicher mit dem Rest.

»Was hat er gesagt?«, wollte Alica wissen.

»Dass wir möglicherweise noch ein bisschen hierbleiben müssen«, sagte Pia.

»Wie?«, ächzte Alica.

»Nicht allzu lange«, fügte sie hastig hinzu.

»Nur bis zum nächsten Frühjahr«, sagte Brack.

»Sag ich doch«, sagte Pia. »Nur eine kleine Weile.« Bis zum nächsten Frühjahr? Beinahe ein halbes Jahr? Großer Gott, wie sollte sie dasAlica beibringen?

Sie war fast erleichtert, als Malu zurückkam und ein großes Silbertablett mit Trinkbechern und einem Krug darauf vor ihnen abstellte. »Bitte entschuldigt, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie. »Aber es ist noch früh. Die Küchenmägde schlafen noch, und bevor ich selbst alles gefunden habe …« Sie deutete ein Achselzucken an und machte eine einladende Geste auf den Krug – der außer Brack niemand nachkam –, bevor sie sich neben Pia in die Hocke sinken ließ und sie unverhohlen neugierig anstarrte. Ganz wie gerade draußen vor der Tür galt ihr besonderes Interesse ihrem Haar, an dem sie sich augenscheinlich gar nicht sattsehen konnte.

»Das ist eine fantastische Arbeit«, sagte sie schließlich. »Verrätst du mir, wer sie gemacht hat?«

Pia verstand nicht, was sie meinte, und sah sie nur fragend an.

»Darf ich?« Malu wartete ihre Antwort nicht ab, sondern griff nach einer Strähne ihres silberblonden Haares, rieb sie zwischen den Fingern und riss dann ungläubig die Augen auf.

»Das … das ist echt!«

»Natürlich ist es das.« Pia schob ihre Hand sanft, aber nachdrücklich weg. »Was sollte es denn sonst sein?«

Malu starrte sie noch fassungsloser an, stand plötzlich auf und machte einen raschen Schritt zurück. »Das ist unglaublich«, sagte sie noch einmal.

»Habe ich zu viel versprochen?«, fragte Brack.

»Und du suchst Arbeit, Gaylen«, murmelte Malu. Das war keine Frage. Ihre Augen leuchteten eindeutig gierig.

Pia konnte sich nicht erinnern, Malu ihren Namen genannt zu haben, aber sie verzichtete auch darauf, ihren richtigen Namen zu nennen. Vermutlich hätte sie sich sowieso wieder als Gaylen vorgestellt, ganz egal, wie sehr sie auch versuchte, es nicht zu tun. »Nicht diese Art von Arbeit, Malu«, sagte sie betont. »Hier liegt anscheinend ein Missverständnis vor.« Alica kicherte.

Für zwei oder drei Sekunden sah Malu ebenso verwirrt wie enttäuscht aus, doch dann kicherte auch sie und sah für einen Moment aus wie eine listige, alte Hexe. »Ich verstehe. Du willst den Preis in die Höhe treiben. Aber das ist gar nicht nötig. Ich bin dafür bekannt, meine Mädchen anständig zu behandeln und gut zu bezahlen.«

»Das stimmt«, sagte Brack.

»Und bei deinem Aussehen kann ich praktisch verlangen, was ich will«, fuhr Malu fort. »Die Kerle werden sich darum prügeln, jeden Preis bezahlen zu dürfen.«

Pia zählte in Gedanken langsam bis drei. Sie musste sich beherrschen, um Malu nicht eine ganz andere Erfahrung zuteilwerden zu lassen – nämlich die, wie es war, von einem ihrer Mädchen schlecht behandelt zu werden. Ihre Stimme klang schon fast gefährlich leise, als sie antwortete.

»Es tut mir wirklich leid, Malu. Das alles ist ein Missverständnis. Brack kann nichts dafür. Er wusste nur, dass ich Arbeit suche. Aber nicht diese Art von Arbeit.«

»Und das ist dein letztes Wort?«, fragte Malu. Pia hatte natürlich damit gerechnet, dass sie weiter hartnäckig blieb, auch zornig werden würde, doch als sie zur Antwort nickte, machte Malu nur ein enttäuschtes Gesicht und seufzte dann leise.

»Das ist wirklich schade«, sagte sie. »Aber vielleicht überlegst du es dir ja. Darf ich dich noch um etwas bitten?«

»Solange es keine Probearbeit ist.«

Malu tat so, als hätte sie das nicht gehört. »Ich hätte zu gerne, dass die Mädchen dich sehen«, sagte sie. »Nur damit sie sich in Zukunft vielleicht ein bisschen mehr anstrengen.«

»Wie?«, murmelte Pia, aber Malu musste das als eindeutiges Ja verstanden haben, denn sie fuhr bereits herum und hüpfte wie ein zu groß geratener Gummiball die Treppe hinauf. Pia sah ihr verwirrt nach, bis sie am oberen Ende verschwunden war, drehte sich dann um und begegnete Alicas breitem Grinsen.

»Was ist so komisch?«, fragte sie gepresst.

»Ach, so ziemlich alles«, antwortete Alica. »So schwer ist diese Sprache gar nicht zu verstehen, wenn man sich ein bisschen Mühe gibt. Du weißt schon, wofür sie dich hält?«

»Keine Ahnung«, behauptete Pia.

»Ich frage mich allmählich«, fuhr Alica fort und gab sich nicht die geringste Mühe, ihre Schadenfreude zu verhehlen, »ob Gaylen wirklich ein Name ist oder vielleicht für etwas ganz anderes steht.«

»Solltest du dich da nicht besser auskennen?«, fragte Pia giftig. »Ich meine: Das ist doch eher dein Fachgebiet, oder?«

Alica war nicht beleidigt, sondern griente nur noch unverschämter, und in diesem Moment kam auch schon Malu zurück, was vielleicht der einzige Grund war, aus dem das Gespräch nicht weiter eskalierte. Pias Blick streifte Brack, während sie sich zu ihr herumdrehte. Er schien sich köstlich zu amüsieren. Genau wie Alica verstand auch er nur jeweils die eine Hälfte der Unterhaltung, und genau wie ihr schien es ihm nicht schwerzufallen, sich den Rest dazuzudenken.

Malu kam nicht allein, sondern in Begleitung dreier junger, hellhaariger Frauen, von denen eine müder aussah als die andere. Alle waren in einfache weiße Gewänder gekleidet, die ein bisschen Ähnlichkeit mit altmodischen Nachthemden hatten und aus zerschlissener Seide bestanden. Sie waren schlank, für die hiesigen Verhältnisse recht groß und starrten Pia aus noch größeren Augen an. Und es waren die ersten Menschen hier, denen sie begegnete, die langes, bis weit über die Schultern fallendes, glattes Haar hatten.

Noch bevor sie auch nur bis auf fünf Meter herangekommen waren, sah Pia, dass es falsch war; nicht gefärbt, sondern Perücken, und absolut miese noch dazu. Gebleichtes Pferdehaar, schätzte sie. Kein Wunder, dass Malu so begeistert von ihr gewesen war.

Und alle drei sahen aus wie sie.

Natürlich nicht wirklich wie sie. Zwei von ihnen sahen ihr nicht einmal ähnlich, und auch die dritte allerhöchstens vage. Sie war deutlich kleiner, aber von kräftigerem Wuchs (eine war ein richtiges kleines Pummelchen). Alle drei trugen so schlecht sitzende Perücken, dass man ihren eigenen, dunklen Haaransatz darunter deutlich erkennen konnte. Sie wirkten wie schlechte Kopien.

»Was … bedeutet das?«, murmelte Pia.

»Gaylen?«, sagte Malu strahlend. »Das sind meine Gaylens. Mädchen? Seht sie euch gut an. So muss ein Mädchen aussehen, um die Männer zu verzaubern!«

Pia hatte genug und stand auf. »Das …«

»Würdest du den Mantel öffnen und dich einmal drehen?«, bat Malu.

»Wenn ich mich begaffen lassen möchte«, antwortete Pia eisig, »dann verkaufe ich Eintrittskarten. Ich denke, wir gehen jetzt besser.«

Die drei Aushilfs-Gaylens starrten sie weiter an, und Malu wirkte wieder enttäuscht. Vielleicht hatte sie insgeheim gehofft, dass sie es sich noch einmal anders überlegte, wenn sie sah, wie groß der Unterschied zwischen ihr und diesen Möchtegerns war.

»Nur falls du es dir doch noch anders überlegen solltest«, sagte sie, »kannst du jederzeit herkommen. Für dich habe ich hier immer Platz. Und hör nicht auf das, was dieser alte Dummkopf Brack dir vielleicht erzählt. Meine Mädchen werden hier gut behandelt.«

Pia sagte gar nichts mehr, sondern drehte sich mit einem Ruck um und stürmte regelrecht nach draußen. Sie war nicht nur wütend, sie war … schockiert, aufgewühlt und bis auf den Grund ihrer Seele vollkommen verunsichert. Was zum Teufel ging hier vor?

Es verging noch eine geraume Weile, bis Alica und Brack ihr folgten; zwei Minuten mindestens, wenn nicht mehr. Alicas Grinsen war immer noch so breit und unverschämt schadenfroh wie gerade eben, und Brack sah ein bisschen mitgenommen aus. Vermutlich hatte er bis jetzt gebraucht, um Malu wieder zu beruhigen.

»Du hast das gewusst!«, fuhr sie ihn an, bevor er auch nur den Mund aufbekam, um etwas zu sagen.

»Natürlich habe ich das gewusst«, antwortete Brack. »Warum sonst hätte ich dich wohl herbringen sollen?«

»Und was sollte das?«, fauchte Pia.

»Ich dachte mir, es wäre der einfachste Weg, es dir zu zeigen.«

»Mir was zu zeigen?«

Brack wollte antworten, sah dann aber zur anderen Straßenseite hinüber und wirkte plötzlich wieder leicht besorgt. Pia folgte seinem Blick und gewahrte zwei Männer in den albernen Operettenuniformen der Stadtwache, die dort patrouillierten. Sie konnte nicht sagen, ob es dieselben waren wie vergangene Nacht, doch sie hatten im Schritt innegehalten und schauten jetzt so direkt zu ihnen her, dass es unmöglich ein Zufall sein konnte.

»Deine Kapuze«, sagte Brack.

Pia schlug rasch die Kapuze hoch, senkte den Blick und versuchte auch, die Schultern ein wenig hängen zu lassen, um etwas kleiner zu erscheinen. Das konnte die beiden Männer unmöglich täuschen – schließlich hatten sie sie ja bereits gesehen –, aber nach einem Moment setzten sie ihren Weg dennoch fort.

»Und was hatte das jetzt zu bedeuten?«, fragte Alica.

Pia stellte dieselbe Frage Brack, und er antwortete mit einem humorlosen Verziehen der Lippen: »Man sieht es hier nicht gerne, wenn jemand wie du offen auf der Straße herumläuft.«

»Jemand wie ich?«

»Gaylen.«

»Verdammt noch mal, ich heiße nicht Gaylen!«, fauchte Pia. »Ich heiße Gaylen!« Vor lauter Hilflosigkeit schossen ihr beinahe die Tränen in die Augen.

»Sie meint natürlich, Pia«, sagte Alica. Brack sah sie verstört an, und Alica legte die flache Hand auf ihre Brust. »Ich Alica«, sagte sie betont, berührte Pia am Arm und sagte: »Sie Pia.« Dann berührte sie Bracks Arm. »Du Freitag.«

Brack blinzelte nur noch verwirrter, und Alicas Grinsen wurde so breit, dass sie eigentlich schon Gefahr lief, ihre eigenen Ohrläppchen zu verschlucken.

»Ich glaube, es gibt ein paar Dinge, über die wir uns unterhalten sollten«, seufzte Brack.

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