XI

Das Feuer im Kamin war schon fast heruntergebrannt, als sie in den Weißen Eber zurückkehrten. Zu Hause in Rio de Janeiro hätte sie die Temperaturen hier drinnen als unangenehm kühl empfunden, wenn nicht kalt, doch als sie aus dem eisigen Wind ins Haus traten, kam es Pia im ersten Moment eindeutig behaglich vor. Sie eilte trotzdem sofort zum Kamin und ließ sich daneben in die Hocke sinken, um ein paar frische Scheite ins Feuer zu werfen. Alica gesellte sich zu ihr, bedachte sie mit dem ersten Lächeln des Tages (zumindest dem ersten, das nicht schadenfroh gemeint war) und rieb demonstrativ fröstelnd die Hände über den heruntergebrannten Flammen aneinander. Hinter ihnen japste Brack hörbar, und eine fremde, beinahe schon empört klingende Stimme sagte: »Was bei Kronn tust du da? Willst du uns braten, oder …«

Pia stand auf, drehte sich um und schlug in der gleichen Bewegung ihre Kapuze zurück. Die Stimme brach mit einem überraschten Laut ab. Sie gehörte zu einem schmalgesichtigen Burschen, der nicht nur durch seinen kleinen Wuchs und die ausgemergelte Gestalt eindeutig wie ein Kind aussah. Er war so blass, das Pia jenseits aller Zweifel wusste, er kämpfte mit einer schweren Krankheit – oder hatte sie gerade überwunden. Das einzig Lebendige an ihm schienen in diesem Moment die Augen zu sein, die Pia ganz eindeutig entsetzt anstarrten. Sie kramte einen Moment in ihrem Gedächtnis und erinnerte sich. Das musste Lasar sein, der Küchenjunge, von dem Brack gesprochen hatte. Wobei die Betonung eindeutig auf Junge lag.

»Guten Morgen, Lasar«, sagte sie. »Klapp den Mund wieder zu. Es ist ein bisschen anders, als es den Anschein hat.«

»Was …«, brachte Lasar irgendwie heraus, » … machst du denn hier?«

»Frag Brack«, antwortete Pia. »Er erklärt es dir.«

Lasar klappte den Mund nicht zu, sondern eher noch weiter auf, und Brack fuhr ihn in ungehaltenem Ton an: »Was stehst du da und hältst Maulaffen feil? Hast du nichts zu tun, du Nichtsnutz?«

Der unglückselige Junge starrte Alica und sie (aber eigentlich nur sie) noch eine oder zwei Sekunden lang aus aufgerissenen Augen an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und floh regelrecht aus der Gaststube.

»Und du glaubst immer noch, dass es eine gute Idee war, sich bei ihm um Arbeit zu bewerben?«, fragte Alica. Sie streifte ihren Mantel ab, nahm so nahe am Kamin Platz, wie es überhaupt nur möglich war, und starrte die frischen Holzscheite an, als müsse sie es nur angestrengt genug tun, damit sie rascher Feuer fingen.

»Diese Burschen brauchen eine harte Hand, sonst schlafen sie am Ende noch im Stehen ein«, grummelte Brack, machte dann aber eine wegwerfende Handbewegung und ließ sich auf den letzten freien Hocker am Kamin sinken. Er verkniff sich jede entsprechende Bemerkung, aber Pia spürte, wie unangenehm ihm die Wärme war.

»Also gut«, sagte er. »Jetzt, wo wir das hinter uns haben, nehme ich an, dass du eine Menge Fragen an mich hast, Gay…«, er verbesserte sich, »Mädchen.«

»Pia«, sagte Alica. »Ihr Name ist Pia.«

Brack runzelte angestrengt die Stirn und sah sie ein paarmal abwechselnd an. »Ist das dein Name? Pia?«

Pia nickte. Sie hütete sich, auch nur ein Wort zu sagen.

»Pia«, wiederholte Brack. »Also, Pia. Wer seid ihr wirklich und wo kommt ihr her? Und vor allem, was wollt ihr hier?«

»Erklär mir erst, was es mit diesem Gaylen-Unsinn auf sich hat«, antwortete Pia. Wäre es nicht viel zu aufwendig (und so ganz nebenbei vollkommen unmöglich) gewesen, sie hätte gewettet, dass Brack diese ganze Scharade nur inszeniert hatte, um sich über sie lustig zu machen.

Brack sah allerdings nicht besonders amüsiert aus. Er starrte sie im Gegenteil so durchdringend ernst an, wie Pia es nur selten erlebt hatte, seit sie ihn kannte. »Du hast wirklich keine Ahnung, wie?«, fragte er schließlich.

»Nein.«

»Da, wo du herkommst, habt ihr noch nie von Gaylen gehört? Von der richtigen Gaylen?«

»Ich bin die richtige Gaylen«, sagte Pia, instinktiv und ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, die Worte zurückzuhalten. Alica riss die Augen auf und wirkte regelrecht schockiert, und auch Brack sah einen Moment lang eindeutig erschrocken aus. Etwas in seinem Blick … änderte sich, auf eine Art, die Pia beinahe Angst machte. Er schien sich eine Frage zu stellen und die Antwort dann in Gedanken fast verunsichert von sich zu weisen.

»Gut, dann die andere Gaylen, Pia«, sagte er betont. »Du hast noch nie von ihr gehört?«

Pia hatte noch nie von irgendeiner Gaylen gehört. Aber sie schüttelte nur stumm den Kopf.

»Wenn es wirklich die Wahrheit ist, dann wirst du ein paar Probleme bekommen«, sagte Brack. Die Vorstellung schien ihn zu amüsieren. »Es ist nur eine Legende. Um ehrlich zu sein, hätte ich bis letzte Nacht nicht geglaubt, dass es jemanden wie dich überhaupt gibt. Aber die Welt ist groß und steckt anscheinend nicht nur voller Wunder und Gefahren, sondern auch immer wieder voller Überraschungen.«

Pia nickte zustimmend – das konnte er laut sagen –, aber sie machte auch eine kleine, ungeduldige Geste, fortzufahren.

»Nun, Pia«, sagte Brack, als müsse er sich selbst zur Ordnung gemahnen. »Es ist nur eine Geschichte, so alt, dass niemand mehr weiß, wer sie zuerst erzählt hat. Eine Geschichte aus der Zeit der Elfenkriege.«

»Elfenkriege?« Pia riss erstaunt die Augen auf, bemerkte Alicas ratlosen Blick und übersetzte mit knappen Worten, was Brack gesagt hatte. Brack geduldete sich, bis sie fertig war, und das tat er auch während des Rests der Geschichte, bei dem Pia in unregelmäßigen Abständen genauso verfuhr.

»Eine alte Geschichte«, wiederholte Brack. »Man sagt, sie wäre noch älter als der Turm des Hochkönigs.«

»Anscheinend gibt es hier eine Menge alter Geschichten«, sagte Pia. Elfenkriege? Dieses Wort hatte er vorhin schon einmal benutzt, und es kam ihr jetzt so unwirklich und zugleich so vertraut vor wie beim ersten Mal.

»O ja, die gibt es«, bestätigte Brack mit einem sonderbaren, fast wehleidigen Lächeln. »Wir leben in einer harten Welt, und das Leben der Menschen ist noch härter. Was soll ihnen den Alltag erträglich machen, wenn nicht Geschichten von einer anderen Zeit und vielleicht einem besseren Leben?«

Pia übersetzte, und Brack geduldete sich, anscheinend sogar froh, sich sammeln zu können, bevor er fortfuhr.

»Es soll sich vor der Zeit der Hochkönige zugetragen haben. Unser Land lag im Krieg mit den Elfen, einem ebenso grausamen wie hochmütigen Volk magisch begabter Wesen, die auf ihren lebenden Schiffen über den großen Ozean gekommen sind, um das Land zu unterjochen und den Menschen ihre Seelen zu rauben.«

»Aber nicht die Elfen von dem Schild überm Eingang zum Elfenturm, oder?«, fragte Alica, nachdem Pia übersetzt – oder, um genauer zu sein, Bracks Worte Buchstabe für Buchstabe wiederholt – hatte.

Brack lachte. »Nein. Gewiss nicht. Obwohl …«

»Obwohl?«, wiederholte Pia, als Brack nicht weitersprach.

»Der Name kommt schon aus dieser Zeit«, sagte er. »Die Menschen hier neigen dazu, sich über Dinge lustig zu machen, die sie im Grunde doch zu Tode erschrecken sollten.«

»Nicht nur bei euch«, sagte Pia.

»Vielleicht muss das so sein, wollen sie nicht an diesem Schrecken zerbrechen«, sagte Brack. »Der Krieg währte lange, wie die Legende behauptet, über viele Generationen. Keine Seite konnte den endgültigen Sieg erringen. Die Elfen waren ein Volk gewaltiger Krieger und noch mächtigerer Zauberer, doch auch unsere Männer waren tapfer, unsere Zauberer stark, und so wogte der Kampf hin und her. Über unzählige Jahre brachte er Leid und Tod über die Menschen unserer Welt, und Feuer und Vernichtung über ihre Städte und Burgen. Und vielleicht wäre es weitere tausend Jahre so geblieben, und unsere beiden Welten hätten sich in einem endlosen Krieg gegenseitig zerfleischt …«

»Wäre Gaylen nicht gewesen«, vermutete Pia.

»Wäre Gaylen nicht gewesen«, bestätigte Brack. »Wenn auch ganz gewiss nicht absichtlich. Das Kriegsglück, so berichtet die Legende, begann sich zu wenden, als sich ein Stamm abtrünniger Elfen auf unsere Seite schlug.« Er deutete zum Fenster. »Aus ihrem Geschlecht ging der erste Hochkönig hervor. Sie waren es, die den Turm erbauten. Und zugleich andere Festungen, überall im Land.«

»Und Gaylen war eine von ihnen?«, vermutete Pia.

»Ein Dunkelelf?« Brack schüttelte den Kopf. »O nein. Ganz im Gegenteil. Es war den Elfen trotz allem zuwider, Krieg gegen ihre Brüder und Schwestern zu führen, also sandten sie ihre mächtigste Zauberin aus. Prinzessin Gaylen.«

»Prinzessin?«, wiederholte Pia.

»Wie gesagt: Die Elfen waren ein Volk gewaltiger Magier. Und Prinzessin Gaylen war ihre mächtigste Magierin. Sie allein wäre stark genug gewesen, den Hochkönig und vielleicht sogar das ganze Volk der Dunkelelfen auszulöschen, doch sie kam in Frieden, um zu verhandeln, nicht um zu töten.«

»Und was ist geschehen?«, fragte Pia.

»Sie wurde getäuscht. Der Hochkönig empfing sie in Frieden, wie es schien, doch in Wahrheit stellte er ihr eine Falle, die sie all ihrer magischen Kräfte beraubte; und um sie noch weiter zu demütigen und dem Volk der Elfen seine Verachtung zu zeigen, nahm der Hochkönig ihr zwar all ihre Zauberkräfte, aber nicht das Leben. Er zwang sie …«

»… im Bordell zu arbeiten«, vermutete Alica, nachdem Pia übersetzt hatte.

»Ja«, bestätigte Brack. »Ein jeder konnte sie haben, ganz gleich ob von edlem Geblüt oder der geringste Tagelöhner, Dieb oder Räuber. Und jedes Mal, wenn Gaylen sich weigerte, einem Mann zu Diensten zu sein, ließ der Hochkönig hundert Kriegsgefangene vor ihren Augen hinrichten. Am Schluss, so heißt es, ertrug sie es nicht mehr und nahm sich das Leben.«

»Das ist … eine ziemlich traurige Geschichte«, sagte Pia betroffen. Und sie sagte es nicht nur so. Bracks Worte, so theatralisch sie auch geklungen hatten – während er sprach, hatten sich seine Stimme und auch seine Wortwahl fast unmerklich verändert; er erzählte nicht einfach, er rezitierte –, stimmten sie traurig. Es waren nicht seine Worte, die er wiedergab, sondern die einer uralten Legende. Aber eben nicht nur einer Legende. Da war eine Wahrhaftigkeit in seinen Worten, die sie schaudern ließ. Sie glaubte den Schmerz der Frau zu spüren, die ihren Namen trug, die entsetzlichen Qualen, die ihr Körper und ihre Seele ausgestanden hatten.

»Aber ich verstehe trotzdem nicht …«

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, unterbrach sie Brack. »Der Krieg endete mit Gaylens Tod, denn mit ihr erlosch auch der größte Teil der Magie der Elfen. Ihre lebenden Schiffe fuhren nicht mehr, ihre Drachen flogen nicht mehr, und der Krieg war vorbei. Die letzten Elfenkrieger flohen, doch sie prophezeiten, dass Gaylen eines Tages wiederkehren würde, wiedergeboren und stärker und mächtiger als zuvor. Sie prophezeiten den Tag, an dem Prinzessin Gaylen zurückkehrt, und mit ihr die Kraft des alten Elfenzaubers. Daraufhin befahl der Hochkönig, dass fortan alle Frauen in den Freudenhäusern helles Haar zu tragen hätten und groß wie eine Elfe sein müssten. Auf diese Weise zeigen wir den Elfen noch heute unsere Verachtung.«

»Reizender Zeitgenosse«, sagte Alica, nachdem Pia übersetzt hatte. Sie versuchte zu lachen, aber es misslang, und auch der flapsige Ton ihrer Stimme verfehlte seine Wirkung. Ihr Blick irrte immer wieder zu Pias Gesicht und Haar.

»Und dieser Hochkönig und die Dunkelelfen?«, fragte Pia. »Was ist mit ihnen passiert?«

»Niemand weiß das«, antwortete Brack. »Sie verschwanden einfach. Manche sagen, dass Gaylens Tod auch ihnen den Untergang brachte, denn letzten Endes war sie der Quell der Elfenmagie, und auch die Dunkelelfen entstammen demselben Volk. Andere sagen, man kann ihre Stimmen hören, wenn man nach Dunkelwerden in den Turm des Hochkönigs geht, und manchmal auch ihre Schatten sehen.« Er lachte. »Du weißt ja, wie das mit Legenden ist, Mädchen. Die Menschen erzählen sie wieder und wieder und wieder, und jedes Mal dichten sie ein kleines bisschen dazu, bis niemand mehr weiß, was wirklich war. Ich glaube nicht an Geister.«

Nein, dachte Pia. Nur an verzauberte Schuhe und menschenfressende Bäume.

»Du hast gefragt«, sagte Brack. Es klang fast entschuldigend.

»Elfenprinzessin?«, murmelte Alica.

Pia tat so, als hätte sie es nicht gehört. »Es ist ja nur eine Legende«, sagte sie leichthin. »Aber sie erklärt manches.«

»Und für dich mit erheblichen Konsequenzen, Pia.« Brack machte ein ernstes Gesicht. »Niemand wird dich ernsthaft für die wiedergeborene Gaylen halten, aber du erregst Aufsehen. Ganz abgesehen davon, dass dir niemand eine Anstellung geben wird.«

»Außer Malu.«

»Außer Malu.« Brack grinste knapp und wurde sofort wieder ernst. »Man wird Fragen stellen. Man wird euch Fragen stellen.«

»So wie du.«

»So wie ich«, bestätigte Brack. »Woher kommt ihr?«

Pia sah ihn lange an. Bestimmt eine Minute. »Das ist wirklich nicht so leicht zu erklären«, sagte sie schließlich. »Aber nicht aus der Elfenwelt, wenn es das ist, was dich beunruhigt.« Sie seufzte. »Ich wollte, es wäre so einfach.«

»Einfach?«

»Nun ja, dann würde ich einen Zauberspruch aufsagen, und wir wären wieder zu Hause. So …«

»Wenn ihr wieder zurückwollt, dann wäre es von Nutzen, wenn ihr wüsstet, wohin«, erwiderte Brack leicht amüsiert. Sein Blick blieb jedoch ernst.

»Wenn ich das wüsste«, murmelte Pia. »Ich kann es dir nicht sagen. Nicht, weil ich es nicht will. Es … geht nicht.«

Zu ihrem Erstaunen nahm Brack diese Antwort hin, ohne noch einmal nachzufragen; vielleicht weil sie in so selbstverständlichem Ton hervorgebracht worden war. Er sah fast ein bisschen enttäuscht aus, aber das war auch alles. Und einen Moment lang dachte sie tatsächlich darüber nach, ihm die Wahrheit zu erzählen. Was hatte sie zu verlieren – einmal davon abgesehen, dass er sowieso kein Wort glauben würde. Wie auch?

Natürlich tat sie es nicht, sondern rettete sich in ein weiteres verunglücktes Lächeln.

»Das ist die verrückteste Geschichte, die ich je gehört habe«, sagte Alica.

»Abgesehen von der von zwei jungen Frauen, die durch ein Dach gefallen sind und sich in einer vollkommen fremden …«, um ein Haar hätte sie Welt gesagt und erinnerte sich gerade noch im letzten Moment daran, dass Brack ja jedes Wort verstand, »… Stadt wiedergefunden haben, nicht wahr?«

Alica blickte sie nur aus großen Augen an, aber Brack wirkte plötzlich wieder ein bisschen nachdenklich, fast misstrauisch. Sie war jetzt sehr froh, ihrer Eingebung, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, nicht gefolgt zu sein. Elfen?

»Gut.« Brack schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, dass es klatschte. »Ich werde sehen, was ich für euch tun kann.«

»Und du meinst, das wäre nötig?«

»Einen Freund zu haben, ist niemals unnötig, nicht wahr? Aber macht euch keine Sorgen. Wenn ihr euch an ein paar einfache Regeln haltet, werdet ihr keine Probleme bekommen. Hier in WeißWald stellen wir nicht viele Fragen.«

»Auch nicht, wenn man so aussieht wie ich?«, fragte Pia geradeheraus.

»Doch«, antwortete Brack genauso offen. »Und aus eben diesem Grund sollten wir uns ein paar gute Antworten überlegen.« Er dachte einen Moment angestrengt nach und stand dann mit einer plötzlichen Bewegung auf. »Es gibt da jemanden, mit dem ich reden könnte. Wenn es mir gelingt, ihn zu überzeugen, erledigen sich alle anderen Probleme vielleicht von selbst.«

»Und wer soll das sein?«, fragte Pia.

»Istvan, der Kommandant der Stadtwache«, antwortete Brack.

»Derselben Stadtwache, vor der du uns gestern Abend gewarnt hast?«

»Das war etwas anderes«, behauptete Brack. »Da wusste ich nicht, wer ihr wirklich seid. Es ist den Gaylens verboten, nach Dunkelwerden in ihrer … ähm … Berufskleidung auf die Straße zu gehen. Die Wache will die Stadt sauber halten.«

»Wenn sie nicht gerade selbst bei Malu einkehren«, vermutete Pia.

»Ich muss mit Istvan reden«, beharrte Brack. »Wahrscheinlich hat er bereits von euch gehört. Besser, ich gehe zu ihm, bevor er zu mir kommt. Macht euch keine Sorgen. Er ist kein besonders angenehmer Mann, aber auch kein Dummkopf, und er ist gerecht. Wenn er erfährt, wer ihr seid, kann euch nichts mehr passieren.«

»Solange wir nicht nach Dunkelwerden auf die Straße gehen«, vermutete Pia.

»Du könntest dir das Haar schneiden und färben«, sagte Brack. »Aber das wäre eine Schande. Nein. Lass mich mit Istvan reden. Hast du noch Brasils Börse?«

»Natürlich.«

»Gut. Möglich, dass du sie brauchst.«

»Weil dieser Istvan ein so ehrlicher Mann ist?«

»Das ist er«, antwortete Brack ein bisschen verwirrt. »Bezahlt ihr dort, wo ihr herkommt, nicht für eure Sicherheit?«

Pia zuckte nur mit den Schultern.

»Ich gehe und rede mit ihm«, erklärte Brack. »Gut möglich, dass er gleich mit mir zurückkommt. Geht also nicht weg. Und überlegt euch eine gute Geschichte, wie ihr hergekommen seid.« Er wandte sich um, blieb nach einem Schritt jedoch stehen und machte kehrt, um einen Moment lang nachdenklich auf die Stiefel hinabzusehen, die sie immer noch trug. »Das wäre eine mögliche Erklärung.«

»Die Stiefel?«

»Immer noch glaubhafter, als durch ein Dach gefallen zu sein, in dem es nicht einmal ein Loch gibt, nicht wahr?«

Also hatte er gehört, was sie gerade zu Alica gesagt hatte. Natürlich hatte er es gehört. Pia nickte.

»Dann wartet hier. Wenn ihr hungrig seid, sagt Lasar Bescheid. Er ist ein Faulpelz und Nichtsnutz, aber ein ganz passabler Koch. Er kann euch etwas zu essen machen. Ich bin bald zurück.« Und damit ging er.

»Elfenprinzessin, wie?«, murmelte Alica noch einmal, nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte – selbstverständlich auch diesmal ohne seinen Mantel anzuziehen.

»Lass den Quatsch«, sagte Pia ärgerlich. »Wir haben im Moment andere Probleme, oder?«

Alica machte eine beleidigte Schnute und setzte zu einer vermutlich noch beleidigteren Antwort an, doch da schepperte es hinter ihnen, und als sie beide herumfuhren, sahen sie gerade noch einen Schatten hinter der Theke verschwinden. Eine Tür klappte.

»Vielleicht gehen wir besser nach oben und reden dort weiter«, sagte Pia. Sie konnte Bracks Gehilfen ja verstehen, gerade nach der Geschichte, die sie gehört hatten, aber sie hatte ganz bestimmt keine Lust, jetzt auch noch auf Lasar Rücksicht zu nehmen und jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen.

Sie gingen nach oben, erstaunlicherweise ohne dass Alica irgendetwas sagte oder auch nur eine spitze Bemerkung von sich gab. Aber das änderte sich schlagartig, kaum dass sie die Tür hinter sich zugezogen hatte. »Jetzt komm bloß nicht auf die Idee, dir diesen ganzen Quatsch zu Kopf steigen zu lassen. Ich werde ganz bestimmt nicht Prinzessin zu dir sagen. Und auf einen Hofknicks kannst du warten, bis du grün im Gesicht bist!«

Pia verzog eher schmerzlich als amüsiert die Lippen, ging zum Fenster und sah auf die Straße hinab, bevor sie antwortete. Unten hatte sich nichts verändert. »Und wenn an dieser Geschichte etwas dran ist?«

»Dass du eine wiedergeborene Elfenprinzessin bist?« Alica lachte. »Mach dich nicht lächerlich.«

»Natürlich nicht«, antwortete Pia. »Aber ich …« Sie ließ den Satz unbeendet und sah fast eine Minute lang auf die Straße hinab, bevor sie weitersprach. Alles dort unten war so bizarr, so fremd und zugleich auf eine durch und durch unheimliche Weise vertraut. Und dasselbe galt für das, was Brack vorhin erzählt hatte.

»Aber dieser ganze … Zauberkram.«

»Magie. Buhuhuhuh«, machte Alica. Pia konnte hören, wie sie mit den Armen wedelte. »Schwarzer Zauber. Vielleicht sollten wir uns eines von diesen lebenden Elfenschiffen organisieren und damit nach Hause fahren.«

»Das kann kein Zufall sein«, beharrte Pia. »Dieser Kerl, der uns vor Hernandez und seinen Schlägern gerettet hat … er hat mich Gaylen genannt.«

»War es ein Dunkelelf oder einer von den Guten?«, spöttelte Alica.

Pia ging gar nicht darauf ein. »Dieser Turm. Du hast gehört, was Brack darüber erzählt hat. Wir sollten ihn uns ansehen.«

»Der Turm des Hochkönigs?« Alica machte ein abfälliges Geräusch. »Du glaubst diesen ganzen Humbug?«

Pia dachte weniger an das, was Brack über jenes unheimliche Gebäude erzählt hatte, als an das, was der Anblick seiner schwarzen Mauern und himmelstürmenden Türme in ihr ausgelöst hatte. In diesem Gebäude war irgendetwas.

»Ich werde ihn mir auf jeden Fall ansehen«, sagte sie. »Am besten noch heute.«

»Du spinnst«, sagte Alica. »Da kriegen mich keine zehn Pferde rein.« Sie zog eine Grimasse und schauderte übertrieben.

»Dann haben wir ein Problem«, antwortete Pia. »Hast du nicht selbst gesagt, du würdest überall hingehen, wo ich auch hingehe? Und ichwerde mir diesen Turm ansehen.«

»Du bist doch …«

»Oder willst du hierbleiben?«, fuhr Pia ungerührt fort.

Darauf antwortete Alica gar nicht mehr. Aber Alica wäre nicht Alica gewesen, hätte sie so schnell aufgegeben. »Also gut«, versuchte sie es nach einer Weile noch einmal. »Auch wenn ich mich selbst frage, ob ich allmählich den Verstand verliere: Tun wir einfach für ein paar Minuten so, als würde ich diesen ganzen Gespensterkram glauben.«

»Ich habe nichts von Gespenstern gesagt«, sagte Pia.

»Du glaubst aber nicht im Ernst, dass du irgendetwas mit dieser Elfenprinzessin zu tun hast, oder?«, fuhr Alica fort.

»Nein«, antwortete Pia. Sie klang nicht wirklich überzeugt. »Aber das ist auch gar nicht nötig. Vielleicht reicht es ja, wenn jemand anders das glaubt.«

»Dein geheimnisvoller Retter? Der Ritter auf dem weißen Pferd?«

»Er hatte kein Pferd. Immerhin hat er mich mit diesem Namen angesprochen«, erinnerte Pia, wobei sie sorgsam vermied, Gaylen zu sagen. Sie hob die Hand, als sie spürte, dass Alica widersprechen wollte. »Lass mich den Gedanken zu Ende spinnen.«

»Spinnen trifft es ganz gut.«

»Was, wenn er mich einfach verwechselt hat?«, fuhr sie ungerührt fort. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber das gilt schließlich für die ganze Geschichte hier. Was, wenn das alles einfach nur eine völlig aberwitzige Verwechslung ist?«

»Oder auch nicht, und du bist diese verschollene Elfenprinzessin?«, stichelte Alica. »Könnte doch sein, oder? Also, immerhin … wenn man’s genau nimmt, dann könntest du es schon sein. Du siehst aus wie sie und du weißt selbst nicht genau, wer du bist. Esteban hat mir verraten, dass du ein Findelkind bist. Die verschollene Elfenprinzessin, die von ihren Eltern in eine fremde Welt gebracht wurde. Und in eine besonders sichere dazu. Einen besseren Ort für ein Kind als die Favelas gibt es ja schließlich kaum … jedenfalls solange die Idioten von der Stadtverwaltung nicht wieder ein paar Killerkommandos losschicken, die Jagd auf Slumkinder machen.«

»Jaja, ist schon gut«, sagte Pia.

»Andererseits könnte ich es auch sein«, sinnierte Alica.

Pia drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an.

»Doch, doch.« Alica nickte heftig. »Ich bin auch ein Waisenkind, genau wie du. Wusstest du das nicht? Ich habe keine Ahnung, wer meine Eltern sind. Allerdings bin ich im Gegensatz zu dir in einem dreckigen Waisenhaus am Rande der Favelas aufgewachsen, in dem es keinen Strom und nur kaltes Wasser gegeben hat und nicht einmal jeden Tag etwas zu essen.«

»Mir bricht das Herz.«

»Braucht es nicht«, sagte Alica. »Ich wollte dir nur zeigen, wie leicht man sich etwas zusammenreimen kann, wenn man will.«

Pia versuchte, sie zornig anzufunkeln, doch es gelang ihr nicht. Für ihren Geschmack hatte Alica in letzter Zeit eindeutig ein bisschen zu oft recht, wenn es um solche Dinge ging. Nach einigen weiteren, endlosen Sekunden, in denen sie sie nur mit einer Mischung aus Trauer und einem immer stärker werdenden Ärger, der viel mehr ihr selbst als der jungen Frau galt, angestarrt hatte, hob sie die Schultern und sagte noch einmal: »Ich werde ihn mir ansehen. Jetzt.«

»Jetzt?«, wiederholte Alica. »Ich kann mich täuschen, aber hat Brack uns nicht befohlen, hier auf ihn und Istvan zu warten?«

»Ich kann mich ebenfalls täuschen«, erwiderte Pia, »aber seit wann lässt du dir von irgendjemandem etwas befehlen?«

»Netter Versuch«, sagte Alica. »Aber so, wie die Dinge liegen, sollten wir im Moment vielleicht besser …«

»Es ist deine Entscheidung«, unterbrach sie Pia. Ohne ein weiteres Wort und mit schon etwas mehr als nur sanfter Gewalt schob sie Alica aus dem Weg, öffnete die Tür und war schon halb die Treppe hinunter, bevor Alica ihre Überraschung überwand und sich ihr anschloss.

»Dann sei wenigstens so vernünftig und nimm das hier«, sagte sie. Pia hielt zwar nicht im Schritt inne, sah aber zu ihr zurück und bemerkte einen hellen Stofffetzen, mit dem Alica aufgeregt herumwedelte. Er sah aus, als hätte sie ihn aus der Bettwäsche herausgerissen – was sie wahrscheinlich getan hatte. Pia hätte nicht übel Lust gehabt, ihn als Knebel zu verwenden, um sie damit endlich zum Schweigen zu bringen, verstand aber, was Alica meinte, und musste ihr – wieder einmal – widerwillig im Stillen recht geben. Am Fuße der Treppe angelangt, entriss sie ihr den Fetzen, raffte mit der linken Hand ihre Haare zusammen und versuchte ihn mit der anderen unter dem Kinn zu knoten, um ein Kopftuch zu improvisieren. Erst als Alica ihr half, gelang es ihr wirklich.

Lasar tauchte wieder aus den Schatten hinter der Theke auf und starrte sie genauso fasziniert und erschrocken wie vorhin an, aber er sah zugleich auch ziemlich unglücklich aus, fand Pia. Sie gab ihm keine Gelegenheit, auch nur ein einziges Wort zu sagen, sondern schlug die Kapuze ihres Umhanges hoch und riss die Tür auf. Blindlings stürmte sie los, überquerte die Straße fast zur Gänze und blieb erst wieder stehen, als sie sich schon einen halben Block vom Weißen Eber entfernt hatte. Alica holte zu ihr auf und machte ein Gesicht, als ärgere sie sich über ein ganz besonderes störrisches Kind, sparte sich aber zu Pias Erleichterung jeden Kommentar.

Wahrscheinlich hätte sie ihr auch dieses Mal recht geben müssen.

Erst jetzt spürte sie die Kälte, die die Stadt in ihrem eisigen Griff hatte. Der Boden, auf dem sie standen, war hart gefroren (und das sollte der Sommer sein, von dem Brack gesprochen hatte?), und selbst das Luftholen begann schon wieder wehzutun.

Außerdem wurden sie auch diesmal angestarrt.

Pia fragte sich, ob es vielleicht an ihrer für die Menschen in dieser Stadt so ungewohnten Eile lag, oder ob ihre und Alicas Größe auffielen – oder die Neuigkeit von ihrem Auftauchen hier bereits die Runde gemacht hatte. Mindestens ein Dutzend Männer und Frauen blickten sie an, auch wenn sie hastig wieder wegsahen oder so taten, als wären sie in ein intensives Gespräch mit einem anderen oder die Betrachtung der Auslagen eines der zahlreichen kleinen Geschäfte vertieft, die die Straße säumten. Die Kinder – deren große Anzahl ihr abermals auffiel – kannten solche Hemmungen nicht und starrten sie unverhohlen neugierig, manche aber auch eindeutig erschrocken aus großen Augen an. Ein vor Schmutz starrendes Kind, dessen Geschlecht unter der dicken Dreckschicht auf seinem Gesicht nicht einmal zu erraten war, deutete heftig gestikulierend in ihre Richtung und fuhr dann auf dem Absatz herum, um schreiend davonzulaufen.

»Ja, das muss ungefähr das sein, was Brack sich unter dem Wort unauffällig vorgestellt hat«, sinnierte Alica und quittierte Pias ärgerlichen Blick mit einem bekräftigenden Nicken. Gleichzeitig schlang sie den Umhang enger um die Schultern und schauspielerte ein übertriebenes Frösteln. »Aber gegen einen gemütlichen Spaziergang im hellen Sonnenschein wird er sicherlich nichts einzuwenden haben.«

Pia sparte sich jeden Kommentar, zog aber beinahe ohne ihr eigenes Zutun die Kapuze ein wenig tiefer ins Gesicht und setzte endlich ihren Weg fort, langsamer und ohne irgendeine bestimmte Richtung zu wählen. Ebenfalls ohne ihr Zutun und beinahe ohne sich dessen bewusst zu sein, suchte ihr Blick die Fassaden der Häuser rechts und links der Straße ab, vor allem aber die Silhouetten der anderen Spaziergänger, um sich zu überzeugen, dass tatsächlich keiner unter ihnen war, der vielleicht durch Größe und Wuchs aus der Masse herausstach, oder unter dessen Mantel sich vielleicht ein struppiger Fellumhang verbarg, ein hässliches Gesicht oder ein noch hässlicheres Schwert.

Erst danach hob sie den Blick, ließ ihn aufmerksam über die spitzen Dächer der strohgedeckten Häuser vor ihnen schweifen und fixierte dann den schwarzen Koloss im Herzen der Stadt. Sie hatte das Gefühl, jetzt weiter davon entfernt zu sein als am Morgen (obwohl das natürlich ganz und gar unmöglich war), und damit nicht genug, kam er ihr auch noch düsterer vor, die Schatten tiefer, das Schwarz seiner zyklopischen Wände intensiver. Vielleicht hatte Alica ja recht. Vielleicht war es keine gute Idee, dorthin zu gehen.

Sie verscheuchte diesen albernen Gedanken, ohne ihn jedoch ganz loszuwerden, während sie sich mühsam dem hier üblichen gemächlichen Schlendern anpassten und mit gesenktem Kopf und noch weiter gesenkten Schultern ihren Weg durch die schmalen, oft genug hoffnungslos verwinkelten Gässchen und Straßen WeißWalds suchten. Dann und wann hob Pia den Blick, um den schwarzen Turm vor ihnen zu fixieren, die meiste Zeit über war er allerdings starr zu Boden gerichtet; eine für ihre Begriffe geradezu demütigende Art, sich zu bewegen, aber ihre innere Stimme riet ihr immer drängender, wenigstens insoweit auf Alicas Warnung zu hören und nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, als sie es ohnehin schon getan hatten.

Alica setzte dazu an, etwas zu sagen (von dem Pia mutmaßte, dass sie es nicht hören wollte), doch in diesem Moment brach vor ihnen etwas wie ein kleiner Tumult aus. Überrascht und alarmiert zugleich blieben sie stehen, aber die Aufregung und das Stimmengewirr galten nicht ihnen. Ein in zerfetzte Lumpen gekleidetes Kind schoss aus einem der schmalen Gässchen gleich vor ihnen heraus, rannte im Zickzack über die Straße und verschwand zwischen den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite. Nur einen Atemzug später rannten zwei Soldaten der Stadtwache hinter ihm her, mit wehenden Mänteln und drohend erhobenen Speeren.

»Keine Chance«, sagte Alica schadenfroh. »Den holen sie nie ein.«

Pia überlegte einen Moment, was das Kind wohl getan haben mochte, um von zwei bewaffneten Männern verfolgt zu werden, die auch ganz den Eindruck machten, als würden sie ihre Waffen benutzen, sollten sie seiner habhaft werden … was aber nicht sehr wahrscheinlich war. Pia hatte aus ihrer eigenen Jugend genug Erfahrung in solchen Dingen, um zu wissen, dass der Knirps ihnen entkommen würde. Ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie weitergingen. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte sich der Knirps nichts Schlimmeres zu Schulden kommen lassen, als einen Apfel zu stehlen oder einen etwas zu derben Scherz zu machen, aber manche Dinge, dachte sie nicht zum ersten Mal, waren offensichtlich tatsächlich in allen Welten gleich. Irgendwie hatte der Gedanke etwas Beruhigendes.

Als sie ihren Weg fortsetzten, fiel Pia etwas auf, das sie zuvor vielleicht registriert, aber nicht wirklich begriffen hatte. Abgesehen von allem anderen gab es zwischen WeißWald und den Favelas (und eigentlich jeder anderen Stadt, die sie kannte) einen fundamentalen Unterschied: Je mehr sie sich dem Stadtzentrum näherten, desto kleiner und ärmlicher schienen die Gebäude zu werden, nicht einfach nur älter und einfacher, sondern verwahrloster. Mehr als eines stand leer, wie man auf den ersten Blick erkannte, und alles hier wirkte … schmuddeliger. Seltsam.

Dann traten sie zwischen den letzten Häusern heraus, und der Grund wurde ihr klar, ohne dass sie ihn zunächst wirklich in Worte fassen konnte oder es auch nur gewollt hätte. Vor ihnen lag der Turm des Hochkönigs. Der schwarze Koloss reckte sich noch deutlich höher über die Dächer der Stadt, als es von Weitem den Anschein gehabt hatte, und auch aus der Nähe betrachtet verlor der Anblick nichts von seiner unheimlichen Wirkung. Der Stein seiner Wände war vollkommen schwarz; ein Schwarz von einer Tiefe, wie sie es selten zu Gesicht bekommen hatte, fast als sauge es das Sonnenlicht auf, um ihm alles Warme und Lebendige zu nehmen. Dieses Bauwerk schien nur Kälte auszustrahlen. Es war beinahe unmöglich, seine genaue Form zu bestimmen, denn es schien kein wirklich zentrales Gebäude zu geben, sondern nur eine wie zusammengedrückt wirkende Ansammlung unterschiedlich hoher und starker Türme und Türmchen, Erker und Vorsprünge, zinnengesäumter Dächer und Wehrgänge.

»Wer immer das Ding gebaut hat, muss gehörig einen an der Klatsche gehabt haben«, sagte Alica.

Pia lächelte flüchtig, auch wenn ihr wirklich nicht nach Lachen zumute war. Sie hätte es anders ausgedrückt, aber Alica hatte es auf den Punkt gebracht. Das Gebäude sah aus, als wäre es einem Fiebertraum entsprungen oder auf dem Reißbrett eines Architekten entstanden, der tatsächlich gehörig einen an der Klatsche gehabt hatte.

»Jetzt weiß ich auch, warum hier niemand lebt«, fuhr Alica fort. »Mir würde die Nachbarschaft auch nicht gefallen.«

Pia nickte auch dazu nur wortlos und musste sich überwinden weiterzugehen. Im ersten Moment glaubte sie, es wären wieder ihre magischen Stiefel, die ihr mitteilen wollten, dass es keine wirklich gute Idee war, diese Richtung einzuschlagen, doch das war nicht der Fall. Etwas in ihr sträubte sich. Dieser Turm flößte ihr Angst ein. Sie zwang sich trotzdem, nicht nur weiterzugehen, sondern ihre Schritte sogar noch zu beschleunigen; und sei es bloß, um nicht vor sich selbst als Feigling dazustehen.

Der Turm überragte sämtliche Gebäude WeißWalds um ein Vielfaches, und die anderen Häuser hielten respektvollen Abstand zu ihm, als hätten es die Menschen hier angstvoll vermieden, auch nur im Schatten dieses zyklopischen Dinges zu siedeln. Es gab einen gut hundert Meter messenden, vollkommen freien Streifen ringsum, und zwischen ihm und dem eigentlichen Turm klaffte ein nahezu halb so breiter und erschreckend tiefer Graben, über den eine schmale steinerne Brücke mit einem kaum hüfthohen gemauerten Geländer führte. Pia gab ihrer inneren Stimme gar nicht erst die Gelegenheit, gegen ihr weiteres Vorhaben zu protestieren, sondern ging im Gegenteil noch schneller über die Brücke und hielt erst an, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten und das Tor vor ihnen lag. Es war ebenso gigantisch und größenwahnsinnig wie das gesamte Gebäude, ein zweiflügeliges Monstrum aus gewaltigen Balken, die ebenso schwarz und lichtschluckend waren wie der Stein, der sie umgab, und mit uralten, zum größten Teil bis zur Unkenntlichkeit verwitterten Schnitzereien verziert. Pia konnte keine Möglichkeit entdecken, es zu öffnen, worüber sie tief in sich beinahe erleichtert war. So musste sie wenigstens keine Ausrede suchen, um es nicht zu tun.

»Gut, jetzt haben wir ihn uns angesehen«, sagte Alica nervös. »Können wir dann wieder gehen?« Das Wir hätten gar nicht herkommen sollensparte sie sich, aber Pia hörte es trotzdem.

Statt zu antworten, trat sie zwei Schritte zurück und schlang während der Bewegung ihren Umhang enger um die Schultern. Sie versuchte sich einzureden, ihr plötzliches Frösteln läge nur an der Kälte, die ganz WeißWald in ihrem eisigen Griff hatte, wusste aber, dass das nicht stimmte. Es war dieses Tor. Der schwarze Stein, der eine Kälte ganz anderer Art ausstrahlte, gegen die keine noch so warme Kleidung Schutz bot.

Dann erfasste ihr Blick etwas über dem Tor, und sie vergaß die Kälte, den schwarzen Basalt und selbst Alica neben sich. Pia glaubte zu spüren, wie ihr Herz stockte und dann schneller und hektischer weiterschlug.

In den tonnenschweren Firststein des Torgewölbes war das Porträt eines Mannes eingemeißelt. Eines Mannes, den sie kannte. Schmale, edle Züge, eine aristokratische Nase und wache, sehr durchdringende Augen, die mit einer Mischung aus unverhohlenem Spott und einer angeborenen Verachtung auf sie herabzublicken schienen. Es war ein sehr kräftiges Gesicht, überlebensgroß und genau wie der Rest dieses Gebäudes uralt und verwittert, und dennoch strahlte es eine unheimliche Lebendigkeit aus.

»Was ist los mit dir?« Offensichtlich hatte sie sich nicht annähernd so gut in der Gewalt gehabt, wie sie glaubte, denn Alica sah sie eindeutig alarmiert an. Ihr Blick folgte dem Pias und kehrte dann noch alarmierter wieder zu ihrem Gesicht zurück. »Sag nicht, dass …?«

»Das ist Eirann, der Hochkönig der Dunkelelfen«, sagte eine sehr verärgert klingende Stimme hinter ihnen, »jedenfalls so, wie ihn sich der Künstler vorgestellt haben mag, der dieses Porträt lange nach seinem Tod über dem Tor angebracht hat. Und was bei Kronn habt ihr hier zu suchen? Hatte ich euch nicht gebeten, im Weißen Eber auf mich zu warten?«

»Das ist eine dumme Angewohnheit von uns, weißt du?«, sagte Alica. »Wir reagieren allergisch auf Befehle.« Offensichtlich hatte sie zwar nicht Bracks Worte, wohl aber deren Sinn verstanden. Der Wirt beachtete sie gar nicht, sondern starrte Pia an und hatte dabei sichtlich Mühe, seinen Ärger nur auf seine Worte zu beschränken.

»Wollt ihr euch mit Gewalt Ärger einhandeln? Was sucht ihr hier?«

Pia sagte gar nichts, sondern starrte abermals zu dem gemeißelten Porträt über dem Tor hinauf, das den Hochkönig der Dunkelelfen zeigte … und zugleich den Mann, der Jesus und sie vor Hernandez gerettet hatte.

»Eirann?«, murmelte sie.

Brack zuckte ärgerlich mit den Schultern. »Das soll sein Name gewesen sein. Riskierst du Kopf und Kragen, weil du dich für eine alte Legende interessierst?« Er hinderte sie mit einer entsprechend ärgerlichen Handbewegung daran, zu antworten. »Was soll das?«

Pia starrte weiter das in den Stein geschlagene Gesicht an. Die Ähnlichkeit war nicht vollkommen. Zeit und Erosion hatten ihre Spuren in dem uralten Stein hinterlassen, und jetzt, als sie genauer hinsah, erkannte sie doch den einen oder anderen Unterschied. Der Mann dort oben sah älter aus, härter und erfahrener, und auch wenn es dem vor langer Zeit gestorbenen Künstler auf beinahe unheimliche Weise gelungen war, einen Ausdruck von Leben in den toten Stein zu bannen, schien dieses Antlitz trotzdem etwas auszustrahlen, das auf unmöglich in Worte zu fassende Weise noch kälter war als der eisige Wind, der in ihr Gesicht blies.

»Willst du jetzt weiter hier stehen und gaffen, oder kommt ihr mit mir zurück, und ich versuche Istvan irgendwie zu beruhigen?«, polterte Brack. »Ich bin allerdings nicht sicher, ob es mir gelingt.«

Pia riss sich mit einer spürbaren Anstrengung von dem unheimlichen Anblick los, rang sich zu einem angedeuteten Nicken durch und machte eine entsprechende Geste. Brack starrte sie noch zwei oder drei Sekunden zornig an, dann aber drehte er sich auf dem Absatz herum und stampfte davon. Alica und sie folgten ihm. Über ihnen schrie ein Rabe.

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