VII

Der Kerzenschein wurde heller, und auch das Geräusch der Stimmen nahm zu. Pia konnte die Worte nicht verstehen, aber der Ton der Unterhaltung schien eher freundlich zu sein, und so ausgelassen und redselig, wie es angesichts der fortgeschrittenen Stunde zu erwarten gewesen war. Jetzt identifizierte sie auch den Geruch. Essen. Es roch nach Braten und frisch gebackenem Brot. Der Geruch ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen und erinnerte sie daran, dass sie seit nunmehr fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Was zum Teufel war das hier?, fragte sie sich zum wiederholten Mal. So eine Art unterirdisches Gasthaus für Nachtschwärmer?

Zumindest ein Teil dieser Vermutung stellte sich als zutreffend heraus, als sie das Ende der Treppe erreichte und so abrupt stehen blieb, dass Alica leicht gegen sie prallte.

Vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiger, allerdings sehr niedriger Raum, dessen Decke von schweren Balken gestützt wurde. Fußboden und Wände bestanden ebenfalls aus Holz, und dasselbe galt für die Möbel; schwere, grob gezimmerte Tische und Hocker, die ohne sichtbares System, aber in großer Anzahl hier drinnen verteilt waren. Auf der anderen Seite des Raumes gab es etwas wie eine schlampig zusammengeschusterte Theke, die im Grunde nur aus drei bauchigen Fässern bestand, über die zwei Bretter gelegt worden waren. Ein gewaltiger Kamin, dessen prasselnde Flammen eindeutig mehr Ruß als Wärme und Licht verbreiteten, vervollständigte den Eindruck, sich in eine Kneipe verirrt zu haben, in der sich normalerweise nur Fantasy- und Mittelalter-Freaks trafen. Ein gutes Dutzend Kerzen versuchte vergebens, das dämmerige Halbdunkel zu vertreiben, das wie Nebel in der Luft hing. Und dann waren da die drei Männer, die an einem der niedrigen Tische saßen, sie anstarrten und von ihrem plötzlichen Auftauchen mindestens ebenso überrascht waren wie umgekehrt Pia von ihrem Anblick.

Alle drei waren fortgeschrittenen Alters, auch wenn Gesicht und Haarfarbe bei zwei von ihnen schwer zu erkennen waren, denn sie starrten vor Dreck. Der (etwas) sauberere hatte eine von schulterlangem grauem Haar eingerahmte Halbglatze, wog mindestens drei Zentner und trug schmutzstarrende Wildlederhosen, Schnürsandalen (ohne Socken) und eine speckige Weste über einem Rüschenhemd, das irgendwann zur Zeit der Dinosaurier einmal weiß gewesen sein mochte. Sein Gesicht glänzte mit seiner Weste um die Wette, und als er endlich seine Überraschung überwand und aufstand, schien er eher kleiner zu werden. Er reichte Pia allerhöchstens bis zum Kinn, war aber mindestens so fett sie Esteban.

»Wo bei Kronn kommt ihr denn her?«, polterte er.

»Hä?«, machte Alica.

Pia bedeutete ihr mit einer erschrockenen Geste, still zu sein, atmete tief ein und versuchte, die Augen vor allen Unmöglichkeiten zu verschließen, die dieser Raum für sie bereithielt, und sich ganz auf den Fettwanst zu konzentrieren. Er sah ziemlich verärgert aus und zugleich nicht so, als würde er viel Spaß verstehen.

So ruhig, wie sie es gerade noch konnte, deutete sie mit einer Kopfbewegung die Treppe hinauf. »Von dort«, sagte sie. »Aber es ist nicht so, wie es …«

»Das sehe ich«, unterbrach sie der Dicke. Er kam mit kleinen, trippelnden Schritten näher, blieb keine zwei Meter vor ihnen stehen und stemmte die Fäuste in die wabbelnden Fettwülste, die seine Hüften verschlungen hatten. Ein bisschen erinnerte er sie sogar an Esteban, dachte Pia – wenn der ganz besonders schlechter Laune war.

»Raus mit der Sprache! Wer hat euch eingeschmuggelt? Teroc? Brasil?«

»Was brabbelt der Kerl da?«, fragte Alica.

Pia machte eine neuerliche, noch erschrockenere Geste und bemühte sich um ein angemessen verlegenes Lächeln in Richtung des Dicken. »Ich fürchte, diese Namen sagen uns nichts«, sagte sie betont. »Und es ist auch … ähm … ganz anders, als Sie vielleicht glauben.«

»Pia?«, murmelte Alica. Sie klang ein bisschen verwirrt.

Pia ignorierte sie.

»Ach, ist es das?«, fragte der Fettsack. »Ja, darauf wette ich! Wenn Teroc euch eingeschmuggelt hat, könnt ihr ihm sagen, dass er gleich zusammen mit euch auf die Straße fliegt! Ich dulde solche wie euch hier nicht. Das ist ein anständiges Haus!«

Solche wie euch. Pia wiederholte die Worte in Gedanken ein paarmal, aber es gelang ihr nicht, ihnen auch nur das winzigste bisschen von ihrem abfälligen Klang zu nehmen. Es war derselbe Ausdruck, den sie auch in den Augen des Dicken las, nur um etliches stärker. Da waren vor allem Verachtung und Zorn und – vielleicht – eine Spur von Neugier, und dann, als er den Blick von ihrem Gesicht löste und in das Alicas sah, möglicherweise so etwas wie sachte Verwirrung. Sein Gesicht verfinsterte sich allerdings nur umso mehr.

»Es ist wirklich ein bisschen anders, als es den Anschein hat«, sagte sie vorsichtig. »Ich meine: Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich komisch, aber eigentlich wollten wir gar nicht hierher. Und wir wollten Sie auch bestimmt nicht stören.« Wobei auch immer.

»Ja, darauf wette ich«, sagte der Dicke böse. »Und was bei Kronn wollt ihr dann?«

»Schmeichiebeidenrauschunkommwiedaher, Brasch«, lallte einer der beiden anderen Zecher. Er versuchte aufzustehen, stolperte über seine eigenen Füße und fiel der Länge nach hin. Sein Begleiter, ganz offensichtlich genauso betrunken wie er, aber immerhin klug genug, weder etwas sagen oder gar aufstehen zu wollen, starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Er war genauso verdreckt und abgerissen gekleidet wie der Dicke, und er trug etwas am Gürtel, das verdammte Ähnlichkeit mit einem Schwert hatte.

»Pia, was … was tust du da?«, fragte Alica nervös.

»Ich versuche unsere Hälse zu retten«, antwortete Pia verärgert, sah aber nicht zu ihr zurück, sondern starrte weiter Brasch an, um seinen Blick festzuhalten.

»Ich warte«, grollte der Fettsack.

»Also, wie gesagt, die Geschichte ist ein bisschen … ähm …kompliziert«, begann sie von Neuem. »Wir sind … also, wir wollten eigentlich gar nicht hierher, und genau genommen …«

»Ihr sagt mir jetzt auf der Stelle, wer euch mitgebracht hat, oder ich schmeiße die Kerle beide raus«, unterbrach sie Brasch. »Und euch beide überlasse ich der Wache, und ihr verbringt den Rest der Nacht im Karzer. Ihr wisst doch, dass ihr hier nichts zu suchen habt. Werdet ihr denn nie schlau?«

Karzer? Pia schwieg eine geschlagene Sekunde. Hatte er gerade Karzer gesagt? Sie ließ noch eine Sekunde verstreichen, in der sie darauf wartete, dass es hinter ihrer Stirn klick machte und sie sich ihres Irrtums bewusst wurde, aber das geschah nicht. Brasch starrte sie nur weiter finster an.

»Es ist eure Entscheidung«, sagte er.

»Bitte, Brasch«, sagte Pia. »Ich weiß ja, dass …«

»Ich heiße Brack«, schnappte der Fettsack und warf dem Betrunkenen, der mittlerweile auf dem Fußboden eingeschlafen war und lautstark zu schnarchen begonnen hatte, einen zornigen Blick zu. »Und ich bin ein gutmütiger Mann, der nicht umsonst für seine Geduld und seine Großzügigkeit bekannt ist, aber wenn du jetzt nicht bald den Mund aufmachst, Mädchen, dann rufe ich tatsächlich die Wache. Du weißt doch, wie sie mit solchen wie euch im Karzer umgehen. Willst du das wirklich? Und wenn es dir schon egal ist, dann denk wenigstens an deine Freundin! Der macht das ganz bestimmt keinen Spaß!«

Pia wollte lieber gar nicht darüber nachdenken, was er mit dieser beunruhigenden Bemerkung genau meinte. Sie zählte in Gedanken langsam bis drei, atmete tief ein und setzte noch einmal und mit sehr ruhiger Stimme an: »Es tut mir wirklich leid, Brack. Ich kenne keinen Teroc, und Alica auch nicht, und den anderen Namen haben wir auch noch nie gehört. Ich kann Ihnen nicht erklären, wie wir hierhergekommen sind. Es ist eine … ziemlich komplizierte Geschichte, und wir möchten Sie bestimmt nicht mit hineinziehen, schon in Ihrem eigenen Interesse. Ich schlage vor, Alica und ich entschuldigen uns einfach in aller Form bei Ihnen und gehen, und nichts ist passiert.« Sie bewegte sich wie zufällig so, dass ihre Bluse aufklappte und der Griff der verchromten Pistole sichtbar wurde, die sie darunter im Hosenbund trug. Brack entging das keineswegs, aber er sah allerhöchstens ein bisschen interessiert aus, nicht im Geringsten erschrocken.

»Gehen?«, wiederholte er. »Und … wohin?«

Pia zögerte einen winzigen Moment, in dem sie einen nervösen Blick auf die eigentlich allergrößte Unmöglichkeit von allen hier warf: Die Dunkelheit draußen hatte sie zwar in schwarze Spiegel verwandelt, aber es waren ganz eindeutig Fenster … mindestens zehn Meter unter der Erde?

»Dorthin?«

Brack riss die Augen auf. »Nach draußen? Ihr zwei? Zu dieser Stunde?«

»Was spricht dagegen?« Pia ließ ihre Hand demonstrativ über den Pistolengriff streichen und schloss ihre Bluse dann wieder. Brack wirkte immer noch nicht im Mindesten beeindruckt, aber jetzt gleichermaßen verwirrt wie auch ein bisschen amüsiert. »Ganz, wie du meinst, Kleine.« Er trat demonstrativ zurück und machte eine einladende Geste auf die Tür.

Pia wollte mittlerweile nur noch aus diesem Irrenhaus raus, und das so schnell wie möglich. Sie nickte nervös, bedeutete Alica mit einer wortlosen Geste, ihr zu folgen, und ging los. Brack grinste breit, aber sein Grinsen entgleiste mit jedem Schritt mehr, den sie sich der Tür näherten. Ganz offensichtlich rechnete er nicht damit, dass sie tatsächlich gingen. Seine beiden Gäste anscheinend auch nicht – zumindest der, der noch nicht eingeschlafen war. Seine Augen wurden groß, während sie sich der Tür näherten.

»Kannst du mir vielleicht sagen, was das gerade war?«, fragte Alica. »Ich meine: Ich muss ja vielleicht nicht alles wissen, Gott bewahre, aber …«

»Da hast du vollkommen recht«, fiel ihr Pia ins Wort. »Du musst wirklich nicht alles wissen. Und was du wissen musst, das erkläre ich dir, sobald …«

… sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

Sie hatte die Tür – mit erstaunlichem Kraftaufwand – aufgeschoben und war ins Freie und ganz automatisch einen Schritt weit auf die Straße hinausgetreten, und erst dann begriff Pia wirklich, was sie da sah. Oder auch nicht.

Alica trat hinter ihr aus dem Haus und stieß ein fast komisch klingendes Japsen aus. Pia ließ den schweren schmiedeeisernen Türgriff los, und die Tür fiel mit einem dumpfen Geräusch hinter ihnen zu. Nicht, dass sie es auch nur gehört hätten.

Pia schätzte, dass sie mindestens eine Minute lang nebeneinander gestanden haben mussten, vollkommen reglos und möglicherweise sogar ohne zu atmen, bevor Alica das Schweigen endlich brach.

»Wo … wo ist die … wo ist die Stadt geblieben?«

Pia sagte nichts. Wie auch? Außerdem war die Stadt noch da. Nur dass es nicht mehr die Favelas waren. Es war nicht einmal mehr Rio de Janeiro.

Vor ihnen erstreckte sich eine breite, schlammige Straße, die garantiert noch nie so etwas wie ein Pflaster gesehen hatte. Flankiert wurde sie von den sonderbarsten Häusern, die Pia jemals zu Gesicht bekommen hatte. Fast alle waren größer als die in den Favelas üblichen Gebäude, zwei-, manche dreigeschossig, wirkten aber sonderbar gedrungen, als wäre ein Riese über sie hinweg gelaufen und hätte sie allesamt zusammengestaucht, ohne sie dabei zu beschädigen, und sie waren ausnahmslos mit demselben Stroh gedeckt, durch das Alica und sie gerade so unsanft gefallen waren. Nirgendwo brannte Licht, weder in den Häusern noch auf den Straßen (es gab keine Straßenlaternen, wie sie fast beiläufig registrierte), und es war schon beinahe unheimlich still.

Zudem war alles voller Schnee.

Pia blickte fassungslos auf die einzelne weiße Flocke, die wie in Zeitlupe an ihrem Gesicht vorüberschwebte und dann einfach verschwand, als sie in den grauen Dunst ihres Atems geriet. Erst dann spürte sie die bittere Kälte, die hier draußen herrschte. Ihre nackten Füße fühlten sich an, als stünde sie auf blankem Eis, und als sie an sich hinabsah, stellte sie fest, dass ganz genau das auch der Fall war. Es gab keinen Bürgersteig. Der Morast der Straße setzte sich übergangslos bis zum Haus fort, und er war halb gefroren und mit blitzenden Eisscherben gespickt.

»Pia«, sagte Alica mit leiser, übermäßig betonter Stimme. »Wo sind wir hier?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, flüsterte Pia. Vielleicht dachte sie es auch nur. Auf jeden Fall war es die Wahrheit. Einen Ort wie diesen hatte sie noch nie zuvor gesehen, außer auf alten Bildern und in Filmen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es einen Ort wie diesen überhaupt gab.

Die Straßenlaternen waren nicht das Einzige, was fehlte. Es gab auch keine Satellitenschüsseln, Antennen, Strom- oder sonstige Leitungen, keine Briefkästen oder Hydranten und keines der tausend anderen Dinge, die sich so unauffällig in das Straßenbild jeder modernen Stadt (selbst der etwas zivilisierteren Bereiche der Favelas) gemogelt hatten, dass man sie eigentlich überhaupt erst registrierte – oder gerade eben nicht –, wenn sie nicht mehr da waren. Hier gab es nur Häuser.

Und damit es richtig spaßig wurde, Häuser, die aussahen, als hätte sie jemand direkt aus dem frühen Mittelalter hierhergeholt. Weit hinter den schneegepuderten spitzen Strohdächern glaubte sie eine gleichmäßig gezahnte Schattenlinie zu erkennen – eine zinnenbewehrte Stadtmauer?

»Ich träume«, murmelte Alica. »Das … das alles träume ich doch nur, oder? Sind wir im Gruselkabinett gelandet oder in einer Filmkulisse?«

Pia setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment drang ein gedämpftes, trotzdem aber unverkennbar metallenes Geräusch an ihr Ohr, und nahezu gleichzeitig brach sich ein verirrter Lichtstrahl aus Silber am Ende der Straße. Das war alles, was sie sah, aber ganz leise hörte sie auch schwere Schritte, und sie musste plötzlich wieder an Bracks sonderbare Worte von gerade denken. Es war nur ein Gefühl. Aber ein sehr, sehr schlechtes.

»Weg hier«, flüsterte sie. »Schnell.«

Alica sah sie nur verwirrt an, und Pia tat das Einzige, was ihr spontan einfiel – sie machte auf dem Absatz kehrt, drückte die Klinke herunter und zog Alica mit sich zurück ins Gasthaus.

Brack hatte wieder am Tisch Platz genommen, und auch der Betrunkene war wieder aufgestanden und auf den Hocker geklettert, wenn auch nur, um erneut nach vorne zu sinken und mit dem Gesicht in einer Bierlache einzuschlafen. Wenigstens hoffte Pia, dass es Bier war.

»Ach«, sagte er. »Das ging schnell!«

»Da … da draußen …«, stammelte Pia.

»Ist draußen, ja, ich weiß«, sagte Brack und trank schlürfend einen Schluck Bier.

»Ja, aber da waren auch …«

»Hinter der Theke«, unterbrach sie Brack und machte eine entsprechende Kopfbewegung. »Im Boden ist eine Klappe.«

»Was hat er gesagt?«, murmelte Alica.

Statt Zeit mit einer Antwort zu verschwenden, legte Pia ihr beide Hände auf die Schultern und bugsierte sie unsanft vor sich her hinter die improvisierte Theke. Der Boden war hier mit feuchtem Stroh bedeckt, das alles andere als vertrauenerweckend roch, und sie musste einen Moment suchen, bis sie die Klappe entdeckte, von der der Fettsack gesprochen hatte. Die Klappe maß kaum fünfzig Zentimeter im Quadrat, hatte schwere eiserne Scharniere und einen noch schwereren Ring, an dem Pia sie mit einiger Mühe in die Höhe zog. Sie hatte eine Leiter oder Treppe erwartet, blickte aber nur in einen kaum kniehohen Keller, dessen Boden noch weit weniger appetitlich aussah als der hier oben.

»Beeil dich lieber, Mädchen«, sagte Brack. »Sie sind gleich da.«

Dass ließ sich Pia nicht zweimal sagen. Da sie keine Lust auf weitere sinnlose Diskussionen hatte, schubste sie Alica kurzerhand in den Kriechkeller hinab, sprang hinterher und presste ihr rein prophylaktisch schon wieder die Hand auf Mund und Nase, während sie mit der anderen nach der Klappe angelte und diese über sich zuzog.

Keinen Moment zu früh. Sie schloss die Klappe nicht vollständig, sondern ließ sie einen halben Zentimeter weit offen, gerade genug, um durch den Spalt nach draußen spähen zu können, und kaum hatte sie es getan, wurde die Tür des Gasthauses aufgestoßen, und zwei schwere, mit zerschrammtem Metall beschlagene Stiefelpaare polterten herein.

»Brack!«, sagte eine raue Stimme. »So spät noch Gäste?«

»Mitnichten, Hauptmann«, antwortete Brack. Seine Stimme klang mit einem Mal vollkommen nüchtern. »Meine Cousins und ich sitzen hier nur noch ein bisschen beieinander.«

»So spät in der Nacht?«

»In der Tat, es ist spät geworden.« Sie konnte sehen, wie Brack aufstand und sich seine in Schnürsandalen steckenden Füße den beiden Stiefelpaaren näherten. »Wie die Zeit doch vergeht, wenn man ins Reden kommt und über alte Zeiten fabuliert.«

»Ist hier gerade jemand hereingekommen?« Neben den Stiefelpaaren senkte sich etwas zu Boden, das wie ein zu dick geratener Besenstiel aussah. Oder auch ein Speer.

»Hier?« Brack lachte. »Wer sollte sich denn hierher verirren? Die ersten Gäste seit Mitternacht seid Ihr, Hauptmann. Möchtet Ihr und Euer Begleiter einen Krug Bier? Oder einen heißen Becher Wein? Der hilft, die Kälte aus den Knochen zu vertreiben.«

»Und es ist ganz bestimmt niemand hereingekommen?«, beharrte der Hauptmann, ohne auch nur mit einem Wort auf Bracks Angebot einzugehen.

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Brack. »Ich gebe ja zu, dass ich ein wenig zu viel von meiner eigenen Ware probiert habe, aber so betrunken bin ich nun doch nicht. Ihr könnt Euch gerne hier umsehen, wenn Ihr wollt. Nur keine Hemmungen. Mein Haus steht ohnehin fast leer. Ich habe nur zwei Gäste, und die waren schon nach dem Abendessen so betrunken, dass ich meine liebe Mühe hatte, sie in ihre Zimmer hinaufzubekommen. Sie wachen bestimmt nicht auf.«

»Das … wird nicht nötig sein«, antwortete der Hauptmann; allerdings erst nach gehöriger Verspätung und alles andere als überzeugt. Vielleicht hatte er einfach nur keine Lust, die steile Treppe hinaufzugehen. »Aber Ihr haltet die Augen offen und meldet, wenn Euch etwas auffällt.«

»Sicher.«

Die beiden Stiefelpaare polterten wieder hinaus, und Bracks schmutzige Füße folgten ihnen und blieben eine geraume Weile vor der Tür. Schließlich hörte Pia das Geräusch eines schweren Riegels, der vorgelegt wurde.

»Ihr könnt jetzt rauskommen, Mädchen«, sagte Brack.

Pia wuchtete die schwere Klappe nach oben, zog sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Keller und griff hinter sich, um auch Alica hochzuhelfen, erntete aber nur einen zornigen Blick. Achselzuckend richtete sie sich endgültig auf und drehte sich zu Brack herum.

»Mädchen, Mädchen«, seufzte der Fettwanst. »Sagt mir einen einzigen vernünftigen Grund, aus dem ich meinen Hals riskiert habe, um für euch zu lügen.«

»Weil ich ansonsten gelogen und behauptet hätte, dass wir mit deinem Wissen hier sind?«, schlug Pia vor.

Einen Moment lang war sie fast sicher, den Bogen überspannt zu haben, denn in Bracks Augen blitzte es kurz und eindeutig wütend auf. Dann aber sah er eher verdutzt aus, und nach einem weiteren Atemzug lachte er sogar. »Ja, ich glaube, jetzt weiß ich es.«

Pia musste ein Lächeln unterdrücken. Erneut erinnerte Brack sie irgendwie an Esteban, auch wenn die beiden sich gar nicht ähnlich sahen; wenn man ihr Übergewicht einmal außer Acht ließ. »Danke«, sagte sie einfach.

»Wenn ihr euch bedanken wollt, dann sagt mir, wie ihr hergekommen seid«, antwortete Brack. Sein Lächeln war schon wieder erloschen. »Und welcher von diesen beiden Dummköpfen da oben auf die Idee gekommen ist, nicht nur meinen und eure Hälse zu riskieren, sondern auch noch die Zukunft meines Geschäfts.«

»Also, wie gesagt, das ist …«

»Nicht so einfach zu erklären, ich weiß, ich weiß.« Brack winkte ab. »Jetzt kommt erst mal da raus und setzt euch. Ich nehme an, ihr habt nichts gegen einen Krug Bier einzuwenden? Auf Kosten des Hauses, versteht sich.«

Pia hatte sogar eine ganze Menge dagegen einzuwenden. Sie hatten schon viel zu viel Zeit verloren. »Ich weiß nicht, ob wir …«, begann sie.

»Oh, ihr habt es eilig?«, grinste Brack. Er machte eine Geste zur Tür. »Nur zu. Ich bin sicher, der Hauptmann und sein Kamerad freuen sich über ein bisschen Gesellschaft. Die Nacht ist kalt. Da kommt einem jedes bisschen Wärme recht.«

»Hm«, machte Pia. Die Vorstellung, sich zu Brack und den beiden Betrunkenen an den Tisch zu setzen, rief nicht gerade Begeisterungsstürme in ihr hervor. Aber noch einmal nach draußen zu gehen … »Warum nicht?«

»Irgendwie dachte ich mir, dass du das sagen würdest«, grinste Brack. Er schlurfte voraus, stieß den Betrunkenen unsanft zur Seite (er fiel prompt wieder vom Hocker und schlief ungerührt auf dem Boden weiter) und fuhr mit dem Hemdsärmel über den Tisch, vermutlich in der Absicht, ihn sauber zu wischen, nichtsdestoweniger aber mit dem Ergebnis, die Schweinerei nur weiter zu verteilen.

»Setz dich, Mädchen. Ich hole dir einen Becher Bier. Deiner Freundin auch, nehme ich an?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern verschwand kurzatmig schnaubend hinter der primitiven Theke, und Pia nahm widerstrebend Platz. Alica auch. Noch widerstrebender.

»Kannst du mir vielleicht verraten, was hier gespielt wird?«, fragte Alica.

»Das weiß ich selbst nicht genau«, antwortete Pia. »Hör doch einfach zu.«

»Sehr witzig«, nörgelte Alica.

Pia sah sie verständnislos an und war fast erleichtert, als Brack in diesem Moment zurückkam und zwei hölzerne Trinkbecher vor ihnen auf die Tischplatte knallte. Sie sahen aus wie zwei winzig kleine in der Mitte durchgeschnittene Fässer, komplett mit einem eisernen Reif, der in den Henkel überging. Ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten, schenkte er ihnen aus einem bauchigen Krug ein, der auf dem Tisch stand, und machte eine aufmunternde Geste. Pia probierte vorsichtig, und Alica tat dasselbe und nahm dann einen fast schon unanständig großen Schluck.

»Das ist Bier«, sagte sie, nachdem sie sich den Schaum von den Lippen gewischt hatte. Brack runzelte die Stirn.

»Hat er doch gesagt«, antwortete Pia. Sie nippte noch einmal und musste zugeben, dass das Zeug gut schmeckte. Sehr gut sogar.

»Ha, ha«, sagte Alica. »Hab ich dir schon gesagt, dass du echt lustig bist?«

Pia verstand immer weniger, was sie überhaupt meinte, und wandte sich wieder an Brack. »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Und ich kann nur noch einmal sagen, dass es mir leidtut. Wir wollten Ihnen ganz bestimmt keine Schwierigkeiten bereiten.«

»Ich war gerade oben und habe mit Teroc und Brasil gesprochen, als deine Freundin und du draußen gewesen seid und die frische Luft genossen habt«, sagte Brack, ohne auf ihre Worte einzugehen. »Weißt du, was? Ich glaube fast, du sagst die Wahrheit. Die beiden sind so besoffen, dass sie sich nicht einmal mehr an ihre Namen erinnern. Also – wie seid ihr hier reingekommen?«

»Das ist wirklich eine lange Geschichte«, antwortete Pia ausweichend.

»Oh, wir haben Zeit«, sagte Brack. Er grinste weiter, aber seine Augen lachten nicht.

»Und wir wollen Sie wirklich nicht mit hineinziehen«, fuhr Pia behutsam fort. »Es könnte unter Umständen gefährlich werden. Ich möchte nicht, dass sie unseretwegen Ärger bekommen.«

»Gefährlicher, als diese Halsabschneider von der Wache zu belügen?« Brack schüttelte den Kopf. »Wohl kaum.«

»Sag mal – würde es dir viel ausmachen, mich an eurem vertraulichen Gespräch teilhaben zu lassen?«, fragte Alica leicht genervt.

»Was hat deine Freundin?«, fragte Brack.

»Ach, nichts«, antwortete Pia hastig. »Sie ist ein bisschen nervös, das ist alles. Wir sind …« Sie entschied spontan, so nahe bei der Wahrheit zu bleiben wie möglich, allein um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln und diesen sonderbaren Brack nicht noch misstrauischer zu machen, als er ohnehin schon war. »Jemand war hinter uns her.«

»Ein unzufriedener Kunde?«

»Wir sind einfach gerannt«, fuhr sie fort, ohne auf diese mit großer Wahrscheinlichkeit anzüglich gemeinte Bemerkung einzugehen. Bracks Zähne waren zwar zum Gotterbarmen schlecht, aber vermutlich zog er es vor, sie noch eine Weile zu behalten. »Das hier war einfach das erstbeste Versteck, das wir gefunden haben.«

»Und da seid ihr durch die Hintertür rein«, vermutete Brack und gab sich auch gleich selbst die Antwort. »Hundertmal habe ich diesem Nichtsnutz gesagt, er soll alle Türen und Fenster kontrollieren, bevor er geht, und hundertmal hat er es nicht getan! Ich sollte ihn den Schweinen zum Fraß vorwerfen!«

»Wen?«

»Lasar, diesen Taugenichts!«, schnaubte Brack. »Er hat behauptet, er wäre Küchenjunge bei Hofe gewesen, um sich die Anstellung hier zu erschleichen! Wahrscheinlich hat er das Schloss noch nicht einmal von Weitem gesehen! Ich werde ihn den Schweinen zum Fraß vorwerfen!«

Küchenjunge?, dachte Pia. Schloss?

»Ich verstehe kein Wort«, sagte Alica scharf.

Pia auch nicht. Sie sah Brack abwartend an, und erneut stieg ihr der Duft von gebratenem Fleisch und Brot in die Nase, mit einem Mal so intensiv, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief und ihr Magen hörbar knurrte.

»Klingt so, als wärt ihr wirklich lange auf der Flucht gewesen«, sagte Brack feixend. »Warte einen Moment.« Er stand auf, verschwand hinter der Theke und einen Moment später in den Schatten dahinter. Pia hörte ihn irgendwo rumoren.

»So, also allmählich langt es mir!«, fauchte Alica. »Was. Ist. Hier. Los?«

»Das weiß ich genauso wenig wie du«, antwortete Pia, so ruhig sie konnte. »Aber sollte mich plötzlich ein Blitzstrahl göttlicher Eingebung treffen, dann bist du die Erste, der ich es mitteile, ganz bestimmt.«

Sie wäre nicht erstaunt gewesen, hätte Alica noch zorniger reagiert – eigentlich erwartete sie es sogar –, aber die junge Frau sah eher verletzt aus.

Wenigstens hielt sie die Klappe.

Brack kam zurück. Hätte Pia auch nur die geringsten Zweifel an dem gehabt, was er war, hätte spätestens dieser Anblick sie zerstreut. Er balancierte zwei flache Teller aus Metall auf einer Hand und dem Unterarm, und das mit einem solchen Geschick, wie es auf der ganzen Welt nur Kellner und Gastwirte können. Schwungvoll stellte er sie vor Alica und ihr ab, zauberte zwei Essbestecke – zweischneidige kurze Messer und sonderbar geformte Gabeln mit nur zwei Zinken – aus der schmierigen Tasche seiner Weste und wedelte auffordernd mit der anderen Hand. »Greift ruhig zu.«

Pia musste sich beherrschen, um sich nicht wie eine ausgehungerte Löwin auf den Teller zu stürzen, auf dem zwei dunkle Bratenscheiben und eine großzügige Portion eines ihr gänzlich unbekannten Gemüses lagen, außerdem gleich drei Scheiben des köstlich duftenden Brotes. Alles schwamm in einer dickflüssigen, fetten Soße, die beinahe noch besser roch.

»Nur zu«, wiederholte Brack. »Bloß keine Hemmungen, Mädchen. Es kostet nichts. Ist sowieso von gestern Abend übrig geblieben. Früher sind die Geschäfte besser gelaufen, aber ich habe mir immer noch nicht angewöhnt, kleinere Portionen zuzubereiten.«

Pia zögerte zwar noch einen letzten Moment, nahm dann aber das seltsame Besteck zur Hand und probierte vorsichtig.

Und nach dem ersten Bissen gab es kein Halten mehr.

Es war nicht nur der nagende Hunger. In den ersten Augenblicken fiel es ihr nicht einmal auf, und sie schob es ganz und gar darauf, vollkommen ausgehungert zu sein, doch bald stellte sie fest, dass es eher am Essen selbst lag. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Köstlicheres zu sich genommen zu haben. Das Fleisch war frisch, zart wie Butter und trotzdem bissfest, das Brot kross und gerade weich genug, um nicht unangenehm auf der Zunge zu sein, und die Soße schmeckte nach nichts, was sie jemals probiert hätte. Aber absolut köstlich. Das Gemüse war ihr zwar immer noch fremd, doch es schmeckte einfach fantastisch. Sie leerte ihren Teller in Rekordzeit und ertappte sich dabei, einen fast schon gierigen Blick auf Alicas zu werfen, auf dem sich noch mehr als die Hälfte der ursprünglichen Portion befand.

Hastig sah sie weg und dann wieder zu Brack hin und wurde mit einem breiten Grinsen und dem Anblick seiner erbärmlich schlechten Zähne belohnt.

»Na, das ist doch mal eine Freude«, sagte er.

»Hmwasch?«, fragte Pia mit vollem Mund.

»Zu sehen, wie es einem Gast schmeckt«, sagte er lachend. »Man könnte meinen, ihr wart eine Woche auf der Flucht.«

»Was sagt er?«, fragte Alica. Pia ignorierte sie.

»Ganschscholangewaresch…« Sie schluckte den letzten Bissen hinunter und setzte noch einmal an. »Ganz so lange war es nicht. Aber es war ziemlich anstrengend. Und das Essen ist wirklich köstlich«, beeilte sie sich hinzuzufügen.

»Ja danke.« Brack verzog die Lippen zu einem plötzlich völlig humorlosen Lächeln. »Aber jetzt bist du mir ein paar Antworten schuldig, meine ich. Wer ist hinter euch her? Und warum?«

»Die Peraltas«, antwortete Pia. »Jedenfalls dachten wir das. Aber jetzt … bin ich nicht mehr ganz sicher.«

»Was erzählst du von den Peraltas?« Alica setzte sich stocksteif auf und wirkte alarmiert. Pia ignorierte sie weiter.

»Die Peraltas?« Brack sprach den Namen nicht nur auf eine sonderbare Art aus, sondern dachte auch sichtbar angestrengt über seinen Klang nach, und schüttelte dann den Kopf. »Nie gehört. Was wollten sie von euch?«

»Sie glauben, wir hätten ihnen etwas gestohlen«, antwortete Pia. »Aber das stimmt nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Brack.

»He, was quatscht ihr da von den Peraltas?«, fragte Alica.

»Verdammt, hör doch einfach zu!«, fauchte Pia. Allmählich gingen ihr Alicas Albernheiten gehörig auf die Nerven.

»Würd ich ja gerne«, antwortete Alica. »Wenn ich auch nur ein Wort verstehen würde. Das wolltest du doch jetzt hören, oder? Dass ich dämlich bin.«

»Na ja, das mag sein«, antwortete Pia gepresst, »aber das ändert nichts daran, dass du dich im Moment ziemlich albern benimmst, findest du nicht auch?«

»Nein«, sagte Alica.

»Wie ist dein Name, Mädchen?«, mischte sich Brack in leicht ärgerlichem Ton ein.

Pia, wollte Pia antworten. Stattdessen hörte sie sich zu ihrer eigenen Verblüffung sagen: »Gaylen.«

»Gaylen«, wiederholte Brack seufzend. »Ja natürlich. Was auch sonst?«

Pia starrte ihn mit einem Ausdruck von Fassungslosigkeit an, der einzig und allein ihr selbst galt. Gaylen? Warum um alles in der Welt hatte sie das gesagt? Gaylen, das war der Name, mit dem sie ihr seltsamer Verbündeter mit dem Silberhelm angesprochen hatte. Sie war sicher, ihn noch nie zuvor gehört zu haben, und noch nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich um einen Namen handelte, aber er war ihr so glatt und selbstverständlich über die Lippen gekommen, als wäre sie ihn zeit ihres Lebens gewöhnt.

Brack seufzte noch einmal und irgendwie resignierend, sah sie einen Moment lang fast erwartungsvoll an und deutete dann auf Alica. »Und deine seltsame Freundin?«

Pia musste trotz allem lächeln. Immerhin hatten sie gerade eine Gemeinsamkeit entdeckt: Sie beide fanden Alica seltsam. »Alica«, sagte sie.

»Alica«, wiederholte Brack. Er sprach es falsch aus, nicht wie Alischah, sondern mit einem harten, klackenden k.

»Wenn ihr zwei Hübschen wollt, dass ich ein bisschen spazieren gehe, während ihr über mich redet, dann musst du es nur sagen«, sagte Alica. Pia wandte widerwillig den Kopf und starrte sie an.

»Es ist nicht besonders höflich, in einer Sprache zu sprechen, die nicht alle am Tisch verstehen, Alica«, sagte Brack betont.

»Wie?«, machte Alica.

»Was?«, fragte Pia.

»Was ist mit deiner Freundin?«, fragte Brack. »Spricht sie unsere Sprache nicht?«

»Was brabbelt er da?«, fragte Alica.

»Wovon … redest du?«, fragte Pia verwirrt. Sie war nicht einmal ganz sicher, wem diese Frage galt.

»Seid ihr Ausländerinnen?«, wollte Brack wissen.

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica.

»Wenn ihr unsere Sprache nicht sprecht, dann müsst ihr wirklich von weit her kommen«, meinte Brack.

»Aber sie spricht doch …«, begann Pia.

Und dann verstand sie … oder auch nicht. Etwas wie eine unsichtbare Hand aus Eis mit viel zu vielen Fingern schien an ihrem Rückgrat entlangzustreichen. Fassungslos wandte sie sich zu Alica um.

»Du … verstehst nichts von dem, was er sagt?«, fragte sie ungläubig.

»Stell dir vor, nein«, antwortete Alica in patzigem Ton. »Kann ja sein, dass du dieses Kauderwelsch verstehst, aber für mich ist es nichts als Blabla.«

»Was sagt sie?«, wollte Brack wissen. Er klang ein bisschen ungeduldig. Vielleicht schon wieder misstrauisch.

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica.

Das drohte kompliziert zu werden. Pia verdrehte (innerlich) die Augen und zählte nicht zum ersten Mal lautlos bis drei, bevor sie antwortete. »Ja, wir haben hier offensichtlich ein kleines Sprachproblem.«

»Stimmt«, sagten Brack und Alica wie aus einem Mund.

»Ja, das scheint mir auch so«, seufzte Pia. Für einen Moment wurde es sehr still. Aber sie kam auch wieder in den zweifelhaften Genuss des (sehr unangenehmen) Gefühls, sowohl von Alica als auch von Brack durchdringend angestarrt zu werden. Von dem Betrunkenen am Tisch übrigens auch.

»Ihr … ihr versteht euch nicht?«, vergewisserte sie sich noch einmal.

»Nein«, antworteten Alica und Brack unisono.

»Dann sollte ich vielleicht das Wichtigste übersetzen«, sagte sie zögernd. Oder wenigstens das, was sie selbst verstand.

»Das scheint mir eine gute Idee zu sein«, sagte Brack.

»Würde sich anbieten«, meinte Alica. Sie sah immer noch völlig fassungslos aus.

Pia wünschte sich weit, weit weg.

»Vielleicht«, wandte sie sich direkt an Brack, »können wir es für den Moment dabei belassen, dass wir fremd hier sind und in gewissen Schwierigkeiten stecken?«

Brack nickte. »Ja, stell dir vor: Darauf bin ich auch schon von selbst gekommen.«

Alicas Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Die Geschichte ist wirklich kompliziert«, fuhr Pia fort, leise und nun wieder an Brack direkt gewandt. »Und ziemlich lang. Und wir wollen dich nicht in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste, wenn wir einfach aufstehen und unserer Wege gehen.«

»Bestimmt sogar«, sagte Brack. »Wenn du das möchtest …die Tür ist offen. Ihr könnt gerne gehen. Wohin auch immer ihr wollt.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica. Ihre Stimme klang jetzt beinahe hysterisch.

»Nichts«, antwortete Pia rasch. »Nur dass wir noch ein bisschen bleiben können, wenn wir wollen.«

Alica wirkte erleichtert, und Brack legte die Stirn in noch tiefere Falten und nahm einen gewaltigen Schluck Bier. »Eigentlich nicht.«

Pia seufzte. Noch tiefer.

»Ja, das verstehe ich. Und ich verspreche dir, alle deine Fragen zu beantworten, Brack …«

»Meine auch?«, fragte Alica.

»… soweit ich es kann. Aber dürfte ich vielleicht vorher ein paar Fragen an dich stellen?«

»Nur zu«, sagte Brack. Warum gefiel ihr der Blick eigentlich nicht mehr, mit dem er sie jetzt maß?

»Wo sind wir hier?«, fragte Pia. »Ich meine: dieses Gasthaus, diese Straße … die ganze Stadt? Wie heißt sie?«

Brack zog die Augenbrauen zu einem missbilligenden »V« zusammen. »Hat dir jemand auf den Kopf geschlagen, Mädchen?«

»In letzter Zeit nicht«, antwortete Pia. »Obwohl es der eine oder andere versucht hat.«

»Ja, das scheint mir auch so«, sagte Brack. Er trank einen weiteren, noch größeren Schluck Bier, und Alica hob ihren eigenen Krug und versuchte mit grimmiger Entschlossenheit, ihn zu übertrumpfen. Pia konnte nicht sagen, ob es ihr gelang oder nicht, aber es brachte ihr immerhin einen anerkennenden Blick von Brack ein.

»Deine Freundin hat einen kräftigen Zug«, kommentierte er.

»Wenn das eine Anzüglichkeit war, lernt er mich kennen«, sagte Alica.

»War es nicht«, antwortete Pia hastig. Sie nahm an, dass Alica die Bemerkung sowieso eher als Kompliment aufgefasst hätte, verzichtete aber darauf, sie zu übersetzen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, wandte sie sich an Brack. »Diese Stadt. Wie heißt sie?«

»Und du hast mir immer noch nicht gesagt, wo ihr herkommt«, erwiderte Brack lächelnd. »Und jetzt sag bitte nicht schon wieder, dass das eine komplizierte Geschichte wäre. Das habe ich mittlerweile begriffen.«

»Ist es aber«, seufzte Pia. Bracks Blick wurde bohrend. »Also gut, auch wenn es sich vielleicht verrückt anhört: Nimm einfach für den Moment an, wir wären vom Himmel gefallen.«

»Vom Himmel?«, wiederholte Brack.

»Oder aus den Wolken, meinetwegen«, sagte sie. Was der Wahrheit im Übrigen ziemlich nahekam. Näher, als ihr lieb war.

»Aus den Wolken.« Brack leerte seinen Becher, schenkte sich sofort nach und sah sie mit enttäuschter Miene an. Aber nicht nur. Da war noch etwas in seinem Blick, das ihr gar nicht gefiel. »Also gut, du willst nicht darüber sprechen. Das ist deine Sache. Aber es bleibt die Frage, was ich jetzt mit euch anfange.«

»Anfange?«, wiederholte Pia misstrauisch. Alica warf ihr einen leicht beunruhigten Blick zu, angelte nach dem Krug und schenkte sich selbst nach.

»Ich kann euch schließlich nicht einfach auf die Straße jagen, nicht wahr?«, erklärte Brack. »Vielleicht habe ich euch ja auch falsch eingeschätzt, und ihr kommt wirklich von weit her und kennt euch mit unseren Gesetzen nicht so gut aus, wie ihr es besser solltet.«

»So könnte man es nennen«, sagte Pia vorsichtig. Alica trank neben ihr mit so großen Schlucken, als hätte sie sich vorgenommen, Bracks Vorsprung innerhalb der nächsten sechzig Sekunden aufzuholen.

»Ihr wärt nicht die Einzigen, die Ärger bekämen, wenn die Wache euch aufgreift«, fuhr er fort. »Ich ebenfalls. Und wenn mir eines zuwider ist, dann ist es Ärger mit der Obrigkeit.«

»Wem nicht?«, fragte Pia. Alica hatte ihren Becher bereits wieder geleert und schenkte sich nach.

»Blabla«, sagte sie.

»Was meint sie?«, fragte Brack.

»Blablablablablablabla«, sagte Alica.

»Nichts Besonderes«, antwortete Pia rasch. »Sie ist nur … ein bisschen durcheinander.«

»Bla«, stimmte ihr Alica zwischen zwei Schlucken zu.

»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte Brack. »Warum bleibt ihr nicht für den Rest der Nacht hier, und morgen bereden wir alles in Ruhe. Wie es aussieht, scheint ihr wirklich Probleme zu haben. Vielleicht kann ich euch helfen. Aber dazu brauchen wir alle einen klaren Kopf. Und du und deine Freundin seht recht müde aus, wenn du mir die Bemerkung gestattest.«

»Morgen?«, wiederholte Pia.

»Ihr könnt hierbleiben«, sagte Brack. »Die Hälfte der Zimmer steht sowieso leer. Ihr könnt das gleich oben bei der Treppe haben. Es hat ein großes Bett und ist warm.«

»Einfach so?«, erkundigte sich Pia. Nach allem, was sie bisher hier erlebt hatte, stimmte sie Bracks plötzliche Großzügigkeit misstrauisch. »Aber wir haben kein Geld. Wir können nicht für die Unterkunft bezahlen.«

»Ach was«, sagte Brack großmütig. »Mach dir darum keine Sorgen, Gaylen. Wir werden uns schon einig.«

Und ganz genau das war es, worum sich Pia plötzlich Sorgen machte.

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